PUPILLA -DIE WAISE
Seit ich alt geworden bin, kommen in der Nacht die Bilder und der Schlaf ist ein seltener Gast. Sie rauschen zu mir herein, wenn ich das Licht ausmache, sie fliegen durch meinen Kopf und verlassen mich nicht, ehe der Morgen graut. Die Obstwiesen, über die ich barfuß lief, der Staub der Blüten, wie er aufwirbelte und sich auf meine Kleider legte. Die grünen Morgenstunden meiner Kindheit.
Und dann die Winter mit ihrer klirrenden Kälte, Schnee, meterhoch vor unserer Tür, Zimmer vollgeblasen mit dem Frost der Nächte, und ich, die ich mir die Füße an klammen Laken warmrieb.
1892, das war das Jahr in dem mein Vater starb. Wir lebten in einem dieser armseligen, breitgetretenen Dörfer in der Pfalz, in denen kein Haus wie das andere aussah und hohe Mauern die kleinen Höfe vor fremden Blicken schützen. Ich erinnere mich an diesen Winter, in dem ich acht Jahre alt wurde.
Das Haus lag ein wenig abseits, dort wo die Äcker in das Dorf hineinreichen; dunkel war es darin und verwinkelt. Ein Stube, in der Wand ein Alkoven, eine Standuhr auf dem schiefen Boden festgeschraubt, ein abgeschabter Tisch, Stühle und mein Bett. Nichts als ein Metallgestell war dieses Bett, mit einem Strohsack darauf, der piekte und knirschte in der Nacht. Überall der dumpf-süßliche Geruch feuchter Wände. Die Küche war links neben der Stube, in der stand ein wuchtiger Herd. Die Eisenringe, auf denen die hohen schwarzen Töpfe thronten, schepperten laut, wenn sie mit dem Schürhaken beiseite geschoben wurden. Immer lagen Wacholderbeeren darauf, die rochen wie ewiges Weihnachten. Der Herd zog mich an. Ich stand davor, klein und mager, hungrig auf den Inhalt der Töpfe, drehte an meinen Haaren, schaute zu, wie das Feuer zwischen den Ringen herausloderte. Ich sog den Duft der Speisen in mich ein, während sich mein Gesicht in der Hitze rötete.
Es gab noch ein Zimmerchen im Haus, das einzige das warm und gemütlich war. Darin wohnte meine Tante Josephine, der Fluch meiner Kindheit, der Besen, die Hexe. Mein Vater war der einzige Beamte unseres Postamts, viel Geld brachte er nicht nach Haus. Meine Mutter war gestorben, als ich fünf Jahre alt war und mit ihr mein ersehnter Bruder. Ich heiße nach ihr, Sophie Benheim.
Eine Fehlgeburt war der anderen gefolgt. Nichts blieb und niemand. Nur ich, ein Mädchen. Die vielen Enttäuschungen und diese ewige Armut, wie ein Staubschleier leg-ten sie sich auf alle Gefühle. Nach dem Tod meiner Mutter zog die Schwester meines Vaters, Tante Josephine, zu uns, um den Haushalt zu versorgen. Wir waren Protestanten, beteten viel und jeden Sonn-tag gingen wir in die Kirche.
Zwei Kirchen standen in respektvoller Entfernung voneinander auf unserem Dorfplatz, die katholische war groß, prachtvoll, und unsere Kirche war klein und leer. Prunk, das war die Sache der Anderen, der Papisten, wir lauschten dem Wort des Herrn. An jedem Sonntag morgen traf sich der ganze Ort fein säuberlich getrennt und sorgfältig herausgeputzt auf dem Platz. Dann zog jeder in seine Kirche. Unser Pfarrer wetterte von der Kanzel herab, ein ewig gleicher Sermon von Pflicht und Schuldigkeit, von Gottesgnade und Demut. Da saßen wir: Mein Vater in seinem schwarzen Sonntagsanzug, das Gesicht zu einem großen, hoffnungsvollen Fragezeichen ge-dehnt, die Tante, zugeknöpft bis unters Kinn. Und ich da-neben. Im immer gleichen blauen Kattunkleid, die blonden Haare zu Zöpfen geflochten, beobachtete ich verstohlen die braunen Flecken auf der Wange meiner Tante, wie sie lang-sam ineinander wuchsen, wenn der Sommer kam. Ich beobachtete ihre zusammengekniffenen Augen, und wie sie bei-fällig nickend und vor sich hinmurmelnd an den Lippen des alten, verdorrten Mannes dort vorne hing.
Mit sechs Jahren war ich in die Schule gekommen, in die protestantische Klasse. Das war ein großer, braungetünchter Raum, in dem wir Kinder nach dem Alter geordnet vor uralten Pulten hockten, die Luft schwanger von Bohnerwachs. Ich war ein wenig zu klein für mein Alter, blass und zart und schüchtern, und ich glaube, ich fiel nicht weiter auf. Einen einzigen Lehrer hatte diese Klasse. Er war ein ge-pflegter Mann, fast zu gepflegt für unseren kleinen Ort, wenn er auch immer den gleichen Anzug trug. Groß, mit polierter Glatze, weichen Lippen und sauber geschnittenen Fingernägeln. Immer wenn er schreien wollte, bekam er keine Luft und ein quietschender Laut entkam seiner Kehle. Wir begannen zu kichern. Dann lächelte er gönnerhaft in die Klasse hinein, nahm einen langen, dünnen Stock vom Pult und schlug uns auf die Hände, auf die Innenflächen, wo es weh tut. Ich gehörte nicht zu seinen Lieblingen, dazu war meine Familie zu arm. Also saß ich still und unbeachtet auf meinem Platz und träumte mich zum Fenster hinaus, den Wolken am Himmel hinterher. Ich war die Prinzessin auf dem Pferd ihres Prinzen, die Hände um seinen Leib geschlungen. Ich war Dornröschen, ich war Allerleihrau. Und ich war einsam. Alle anderen hatten Geschwister, und zwar jede Menge davon, nur ich war ein Einzelkind, eine Halbwaise, hinter der sie auf der Straße her tuschelten.
Im Sommer lief ich, wenn die Tante mich hinaus lies, durch die Felder und Wiesen. Ich kletterte auf Bäume und stahl Äpfel, Birnen, Kirschen, dann versteckte ich mich da-mit und gierig aß alles auf. Die Winter waren schrecklich. Mein Vater schaute müde aus seinen traurigen Augen, von früh bis spät saß er in seiner Postamtsstube, ein düsteres Loch ohne Fenster. Abends war er mürrisch und schweig-sam, er mochte die Tante nicht und ich war ihm auch zu viel. Manchmal nahm er sich dennoch Zeit für mich und erzählte von meiner Mutter. Es war die Geschichte ihres letzten Tages. Und soweit ich mich erinnern kann, war diese Geschichte das Einzige, was ich von ihm über meine Mutter erfuhr. Nicht ihr Alltag, nicht ihr Lachen und die kleinen Dinge, die man tut, wenn man einen Mann hat und ein Kind, nichts von alledem. Es war immer nur das: Wie er in der Küche saß, die Hebamme war bei der Mutter. Mich hatten sie fortgeschickt. Er hatte gewartet und gelauscht, doch es war irgendwann nichts mehr zu hören, kein Schrei, kein Laut. Endlich kam der Arzt aus der Stube, es war der gleiche vierschrötige Landarzt, der immer noch zu uns kam. „Gehen Sie nicht hinein“, sagte er und dann, als mein Vater sich nicht abhalten ließ: „Sein sie stark.“ In der Stube hielt die Hebamme das tote Kind, meinen Bruder. Das Bett war vol-ler Blut und über das Gesicht meiner Mutter war ein weißes Tuch gebreitet. Das war die Geschichte. Dann saß er noch eine Weile auf seinem Stuhl, betrachtete seine kleinen Hände und schwieg. Im Winter 92 war es entsetzlich kalt und auch bitterkalt im Haus. Es war bereits Dezember, kurz vor meinem achten Geburtstag. Die Tante saß in ihrer Stube, eine Frau von vierzig Jahren damals, bereits gebeugt, mit dichtem, strohigem Haar. Gekleidet war sie immer in schwarz, eine Witwe wäre sie wohl gern gewesen, aber sie war eine böse alte Jungfer. In ihrer Stube war es warm. Doch dort durfte ich nicht hinein, denn dort sollte alles ordentlich bleiben. Sie führte ein strenges Regiment über mich, ich war ja nicht ihr Kind.
Dann brachten sie ihn. Es klopfte heftig, so dass ich aufschrak. Der Gastwirt kam herein und rief der Tante zu: “Der Postamtmann ist schwer krank.“ Man schleppte meinen Vater ins Haus, ein zitterndes Bündel ohne jede Kraft. Die Tante lamentierte. Da lag er dann in seinem Alkoven, die Augen halb geschlossen, unablässig röchelnd und schnarchend. Sein Mund war weit geöffnet, ein Tor, aus dem er sein bisschen Leben entließ. Nicht einmal eine Woche, dann war er tot. Es war ein Begräbnis mit allen Ehren, die man in einem kleinen Ort dem Postbeamten erweisen konnte. Man legte ihn zu meiner Mutter, die Erde fiel auf den schmalen Sarg. Der Pfarrer fand würdige Worte, die ich nicht verstand, und ich weinte leise den beiden Toten hinterher. Es vergingen keine drei Tage nach der Beerdigung, da erklärte Tante Josi, sie wolle mich nicht bei sich haben. Und Geld habe sie auch keines. Was immer mir mein Vater ver-erbt hatte, ich habe nichts davon gesehen. Großeltern hatte ich keine, nur ein Großonkel lebte im Ort, den ich so gut wie nie zu Gesicht bekommen hatte. Das war ein uralter, schmutziger Schmied, der nach Urin stank. Er kam nicht in-frage, um mich aufzunehmen. So blieben am Ende nur die Geschwister meiner Mut-ter, Onkel Maximilian und Tante Franziska. Tante Franziska wohnte im nicht allzu fernen Neustadt und war dort mit dem Pastor verheiratet. Tante Josi schrieb ihr und bat um eine schnelle Antwort. Ich hatte solche Angst, sie würde mich nicht wollen, dass ich mich damals fast jeden Tag erbrach, ich konnte nichts bei mir behalten. Ich dachte nur das Eine: „Wollte sie mich, wollte sie mich nicht?“ Endlich kam der Brief aus Neustadt, Tante Franziska und ihr Mann waren einverstanden. Umgehend schrieb Josi zurück, kündigte mich an und setzte mich, als alles arrangiert war, mit dem Wenigen, was ich besaß, in den Pferdewagen meines Großonkels, der mich zur Eisenbahnstation nach Ludwigshafen fuhr. Es war kühl und feucht an jenem Tag. Ich saß auf dem Bahnsteig mit meiner Puppe im Arm. Der Großonkel sprach kurz mit dem Bahnhofsvorsteher. Dann fuhr der Zug ein, schwarz, rauchend und fauchend wie ein böser Drache und hielt endlich mit Klirren und Quietschen vor uns. Die schweren Waggontüren sprangen auf, die Schaffner in ihren neuen Uniformen standen darin wie die Wettermännlein im Wetterhaus. Und der alte Schmied schob mich, die Tasche und das Bündel die Waggontreppe hinauf. Der Brief wurde übergeben. Dann nickte mir der Alte zum Abschied zu, brabbelte in seinen Bart und verschwand. Und ich stand zitternd und allein im Zug, den fremden Schaffner vor mir. Das war das erste Mal, dass ich eine Eisenbahn sah, von innen wie von außen. Es roch in diesem Drachenleib nach Kohlenstaub und Schmierfett. Der Schaffner nahm mich an die Hand und wies mir einen Platz zu. Dann baute er sich vor mir auf und las den Brief, den der Onkel übergeben hatte. Endlich lächelte er mich an. Er werde mich schon ordnungsgemäß aushändigen, meinte er nur. Ich schloss die Augen und summte leise das Lied von den Königskindern, das Lied meiner Mutter, und kuschelte mich zusammen mit der Puppe in meinen Mantel. Tante Franziska, so hatten sie mir erzählt, hätte Ähnlichkeit mit ihr. Mama! Sie besuchte mich oft in meinen Träumen, es waren manchmal Tagträume, manchmal kam sie im Schlaf. Sie lief auf mich zu, ihr Gesicht war eine helle, leuchtende Fläche, warm und wahr. Ich griff nach ihr und meine Hände spürten sie. Und dann sagte ich: „Mama, du bist ja gar nicht tot.“ Und ich war erstaunt und böse, wie auch nur ein Mensch annehmen konnte, sie lebe nicht. Dann setzte Mama sich neben mich und hielt meine Hand oder küsste meine Wange. Oft wollte ich nach einem solchen Traum nicht mehr aufstehen und weinte am Morgen, weil ihr Bild fortgeflogen war. Und so flüchtete ich mich auch auf meiner Fahrt in Richtung Neustadt zu ihr. Mama strich über mein Haar. Immer wieder, immer wieder strich sie darüber, bis ich tief und traumlos schlief.
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
"Was sollen wir tun, Albertine?"
"Dem Schicksal dankbar sein, glaube ich, dass wir aus allen Abenteuern heil davon gekommen sind - aus den wirklichen und aus den geträumten."
Traumnovelle, Arthur Schnitzler, 1926
„Nur die schönen Vögel sperrt man in Käfige.“
Chinesisches Sprichwort