Es war keinmal
Absurditäten aus dem
Märchenland
Copyright © 2020-21 Jörg Weese
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 9798685028662 (Taschenbuch) / 9798747488601 (Hardcover)
Maximus der Große
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Über den Autor
...ein Abenteuer mit Kater Kalle...
Vor gar nicht allzu langer Zeit, aber ziemlich weit weg von hier – es sei denn, ihr befindet euch bereits dort, dann natürlich genau da, wo ihr gerade seid – gab es, bevor ein Volksaufstand ein- für allemal die Herrschaft von Kaisern, Königen und anderen nicht gewählten Volksvertretern beendete, ein Königreich, das so klein war, dass es bei maßstabsgetreuer Darstellung auf einer regulären Deutschlandkarte so ausgesehen hätte wie ein Fliegendreck. Dies war der Grund, weswegen die meisten Leute es auch so nannten, die einen Atlas zu Hause in ihrem Regal stehen hatten und besagtes Königreich dort nachzuschlagen versuchten. In Wirklichkeit – das sei zu einer teilweisen Ehrenrettung hinzugefügt – hieß das Königreich natürlich nicht Fliegendreck, sondern Friedens-Eck. Das Problem war nicht nur, dass bereits die Grenzen so eng beieinander lagen, dass sie nicht richtig auf die Karte passten, sondern dass natürlich die Beschriftung erst recht nicht passte – beziehungsweise die Buchstaben so unendlich klein hätten gedruckt werden müssen, dass man es im Normalfall lieber ganz bleiben ließ. Schließlich wollte sowieso seltenst jemand genau dieses Königreich im Atlas nachschlagen, weil die meisten – selbst die, die schon einmal auf der Durchreise dort vorbeigekommen waren – seine Existenz nicht einmal bemerkten.
Das war König Maximus dem Großen überhaupt nicht recht, entgingen ihm doch deswegen die verschiedensten Steuern und Abgaben, mit denen selbst beispielsweise das bloße Betrachten des Grenzzaunes belegt war. Nachdem es in einem derart kleinen Land keine nennenswerte Wirtschaft außer der Gastwirtschaft gab (was ein weiterer Grund für seine im Namen verbürgte Friedlichkeit war, konnte man sich doch auch eine Armee oder überhaupt Bewaffnung ebenfalls gar nicht leisten), tat es sich unglaublich schwer, überhaupt irgend etwas zu finanzieren: Der Autobahnbau beispielsweise hatte in den Gründerjahren bereits den Verkauf von des Königs Tafelsilber erforderlich gemacht; man konnte von Glück sagen, dass es nur eine relativ kurze Autobahn war.
Doch jetzt hatte König Maximus der Große von Friedenseck einen nicht nur seiner durchaus nicht bescheidenen Meinung zufolge nachgerade genialen Einfall gehabt. (Seine unbezahlten königlichen Berater redeten ihm natürlich so oder so immer nach dem Mund, weil man ihnen sonst neben dem schon lange gestrichenen Gehalt auch noch die freie Kost und Logis im winters immerhin annehmbar beheizten Palast entziehen würde, aber das hatte er schon seit Jahren erfolgreich verdrängt.)
Er hatte eine Anzeige in die größte, weil einzige, Tageszeitung des Reiches setzen lassen und weder Kosten noch Mühen gescheut. Auch das war ihm relativ leicht gefallen, denn schließlich handelte es sich um ein staatliches Unternehmen, und der Staat – so betonte er immer sehr stolz, ohne sich bewusst zu sein, dass der Spruch technisch gesehen nicht von ihm selbst und nicht einmal aus seinem Universum stammte – war nun einmal er, König Maximus der Große!
Der Anzeigentext lautete:
Wollten Sie schon immer einmal König sein? Das Königreich Friedenseck kann Ihres werden – kaufen Sie Aktien der Maximus AG und werden Sie legitimer Teilhaber am Thron! (Legislative und Judikative inklusive, Exekutive gegen Aufpreis.) – Zeichnen Sie noch diese Woche und Sie erhalten zwei goldene Anteilsscheine zum Preis von einem!
Die Zeitungsanzeige füllte eine ganze Seite im Friedensecker Tagundnachtblatt aus und spezifizierte – immer gespickt mit den größtmöglichen Mengen an legalesischem Blabla – neben den finanziellen Anforderungen auch noch einige andere Aspekte, die darauf hinausliefen, dass König Maximus selbstverständlich nie die ganze Macht würde abgeben müssen, sondern jederzeit wieder übernehmen könnte. Zumindest hatten es ihm seine Rechtsgelehrten (ebenfalls unbezahlt) so erklärt; er selbst war ja nur für geniale Ideen, nicht für deren praktische Umsetzung zuständig. Und in der Tat hatten sich im Verlauf nur einer einzigen Woche königliches Konto und Schatzkammer auf einen nie dagewesenen Pegelstand gefüllt.
Heute nun war es soweit: Einige der Hauptaktionäre würden beim König persönlich vorstellig werden und ihre neuen Rechte einfordern wollen. Maximus kicherte. In der Hand hielt er eine Schriftrolle mit Erläuterungen zum Kleingedruckten in der Zeitungsanzeige, das die meisten Leute – so war es beabsichtigt gewesen – für den üblichen Friedensecker Fliegendreck gehalten und, blind gemacht von versprochener potenzieller Königlichkeit, nicht weiter beachtet hatten.
Punkt zehn Uhr sollte der erste eingelassen werden, so hatte es König Maximus verfügt, der zur Feier des Ereignisses zum ersten Mal den frisch restaurierten Gala-Umhang seines unglücklichen, in der Nervenheilanstalt gelandeten Ur-Urgroßvaters (eine andere Geschichte) trug. Der ehrenamtliche Haushofmeister stand an der ehernen Pforte des Thronsaals bereit und hatte sogar den verwitterten Pförtnerstab aus dem Archiv geholt, mit dem früher, als das Reich noch etwas größer war und der damalige König wesentlich mehr Bittsteller und Staatsgäste zu empfangen hatte, selbige mit Hilfe eines lange in Vergessenheit geratenen Morsecodes angekündigt wurden. Als sich die Tür zum ersten Mal öffnete, klang das entsprechende Klopfzeichen daher effektiv wie eine sehr schlimm verunglückte Version von »Shave-and-a-Haircut« (im deutschen Sprachraum nur als »Tam-tata-ra-tam« bekannt).
»Ta-dah! Ein Fall für Kater Kalle, würde ich sagen!«, ertönte eine Stimme, die das Ganze deutlich mit Humor nahm.
König Maximus der Große blickte auf und sah – zunächst niemanden. Erst als er seinen Blick ein wenig Richtung Boden wandern ließ, fiel ihm die junge Katze mit dem Dreispitz, der Augenklappe und dem Holzbein auf. Auf der Kopfbedeckung prangte Jolly Roger, aber nicht er war es, der gesprochen hatte. König Maximus lächelte süffisant.
»Hat Er sich etwa im Märchen geirrt, mein Gutester? Die Stelle als gestiefelter Kater ist, soweit wir uns entsinnen, bereits vergeben, und für Piraten haben wir in unserem Königreich so oder so keinen Platz. Es gibt ja nicht einmal ein Meer, wie Er sicherlich bereits bemerkt hat. Was den Räuberhauptmann angeht...« – Maximus' Gesicht hellte sich auf – »Moment, sagte Er ›Kater Cully‹? Das ist seltsam, denn wir kannten da mal einen Captain Cully, Räuberhauptmann im Reich von König Harald dem Hageren...«
»Kalle, nicht Cully, wenn's beliebt, Euer Majestät.«
Der Kater verneigte sich scheinbar ehrerbietig, aber König Maximus winkte ab.
»Bedaure, auch an Hauskatzen haben wir keinen Bedarf. Die haaren uns immer alle königlichen Sofakissen voll.«
Kater Kalle schüttelte resigniert den Kopf. Mit Piraten, Räubern oder wilden Bestien aus dem Finsterwald zu kämpfen war immer noch einfacher als gegen die furchtbaren Vorurteile, die ihm von allen Seiten entgegenschlugen, nur weil er nun einmal war, was, wer und wie er war.
»Euer Majestät, weder bin ich gekommen, um Euren nicht vorhandenen Bedarf an Hauskatzen zu decken, noch überhaupt in meiner Eigenschaft als Kater. Vielmehr, mit Verlaub, wart Ihr es doch, der diese Aktien ausgeben ließ, habe ich Recht?«
Kater Kalle griff in eine scheinbar unbestimmte Stelle seines Fells und zog tatsächlich eine der goldgeprägten Aktien aus dem Zeitungsangebot hervor. König Maximus war immerhin insofern beeindruckt, als er sich schon immer gefragt hatte, wo Katzen Gegenstände des täglichen Bedarfs aufbewahrten. Offenbar hatten sie es geschafft, über all die Jahrtausende ihrer Existenz die Tatsache geheimzuhalten, dass sie in Wirklichkeit Beuteltiere waren – oder aber, es handelte sich in der Tat um ein ganz besonderes, aus der Art geschlagenes Exemplar. Aber was sagte er da, das Vieh konnte sprechen, und allein das war schon mehr als ungewöhnlich. Maximus der Große schüttelte nun seinerseits den Kopf und beschloss, als der Kater danach immer noch vor ihm stand, dass es sich gleichwohl trotzdem um einen Traum handeln musste – wenn auch um einen ziemlich intensiven. Der Hofkoch würde Anweisung bekommen, abends demnächst nur noch leichtere Speisen auftragen zu lassen.
»Jaja, das ist unsere Unterschrift auf dem Dokument«, bestätigte der König widerwillig. »Er war zwar nicht die Zielgruppe, aber da Er nun schon einmal hier ist, möchte der Kater vielleicht kurz auf dem Thron Platz nehmen? Ich vermute, Er hat die Aktie zum Geburtstag geschenkt bekommen? Das reicht« – er sah kurz auf die Umrechnungsliste – »für ziemlich genau dreieinhalb Minuten Herrschaft über das Land. Rein formell natürlich; exekutive Vorgänge kosten extra, wie Er wahrscheinlich aus dem Kleingedruckten weiß.«
Der Kater hob eine Augenbraue. Seltsam, dachte König Maximus. Er erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, Katzen seien nicht zu differenzierter Mimik fähig.
»Ein einziger legislativer Vorgang genügt mir völlig«, erklärte das Tier, das flink auf den angebotenen Thronsessel gehuscht war.
»Ich darf also«, fuhr Kater Kalle fort, »kraft meines mir für dreieinhalb Minuten verliehenen Amtes ein klitzekleines eigenes Gesetz verkünden. Naja, genau genommen sind es zwei, und eigentlich auch nicht sooo klein...«
Maximus wurde ungeduldig. »Nun sag' Er schon, es warten noch mehr Leute draußen, die auch drankommen wollen!«
»Das erste betrifft die für alle Zeiten gültige Unabänderbarkeit des zweiten. Mit jenem« – Kater Kalle gönnte sich eine Kunstpause – »erkläre ich mich hiermit über die Laufzeit meiner Aktie hinaus zum uneingeschränkten Herrscher des Landes Friedenseck. Überflüssig, hinzuzufügen, dass auch sämtliche anderen eventuell ausgegebenen Aktien hiermit auf ewig ihre Gültigkeit verlieren. Ich bin König und mein Wort ist Gesetz. Ende der Durchsage.«
Maximus der Große verschluckte schockiert seinen Kaugummi und musste heftig husten. »Hrrrm«, räusperte er sich, nachdem er sich wieder gefangen hatte. »Hrrrrrrmmm!«, ergänzte er nachdrücklich.
»Nuuunnn... Er wird ohne Zweifel festgestellt haben«, keuchte er, noch nicht sicher, ob vor verblüffungsbedingtem Mangel an frischer Luft in seinen Lungen oder einfach nur im Ansatz eines Lachens, »dass auch dieser Posten... Hrrrmmmmmm!... schon vergeben ist. Und zwar an uns, mein Bester!«
Er lächelte diesmal, wie er hoffte, gutmütig, und wiederholte seine abwinkende Geste. Vielleicht würde der Kater sie jetzt verstehen und sich endlich vom im Thronsaal verständlicherweise nicht physikalisch vorhandenen Acker machen.
Kater Kalle machte keinerlei Anstalten dergleichen.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 25.01.2022
ISBN: 978-3-7554-0624-2
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