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Titel

Andererseits

 

Geschichten aus meiner

Twilight Zone

  

 

Copyright © 2022 Jörg Weese

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 9798406939499 (Taschenbuch) / 9798407158363 (Hardcover)

Inhalt

Relikt

Mehr nicht

Delay

Endstation

Ein ganz natürlicher Vorgang

Die letzte Reise der Gay Leonora

Entschuldigung, haben Sie kurz Zeit?

Wieder um die Hundertvierzig

 

Über den Autor

Relikt

Dem Feuer war egal, wen es verschlang. Deutsche, italienische, irische Einwanderer oder hier in New York Geborene, Protestanten, Katholiken, was störte es den zürnenden Erzengel mit Flammenschwert, wen er niedermetzelte. Doch er ließ ihnen einen Rest freien Willens: Wähle und stirb. Viele entschieden, lieber in den Tod zu springen, als sich von den Flammen verzehren zu lassen. Manche sprangen Hand in Hand. Man hat Opfer geborgen, deren Hände in der Totenstarre noch ineinander verschlungen waren. Andere dagegen fielen, als sie von Nachdrängenden, panisch Fliehenden über den Rand des Abgrunds gedrückt wurden.

Für einen eigentlich vor über 90 Jahren Verstorbenen fühle ich mich auffallend lebendig. Das liegt daran, dass im Grunde nicht ich tot bin, sondern mein ursprüngliches Selbst, während meine neue Identität die alte überschrieb.

Nein, das stimmt so nicht: Ein Teil davon hat den Neustart überlebt.  Heute ist mein Name John Zeigler, doch ich war einmal Charles Englemayer.

Oh, die Schreie der Frauen und Kinder!, klagt Catherine Connelly in Interviews. Eine Seelenverwandte; auch sie hat dieses Bruchstück wie auf Spezialfilm aufgezeichneten Bewusstseinsstroms in ihrem Kopf. Das Perfide: Er startet immer wieder neu, weil die Dame so prominent ist. Ähnlich wie die kleine Tiby Liebenow, damals erst ein halbes Jahr alt. Als »jüngste Überlebende« gibt sie immer eine wunderbare Titelfigur ab, kann aber nichts erzählen außer Second-Hand-Mären derer, die ihr erst sagen mussten, wer sie ist.

Wer ich war, konnte ich nicht bleiben. Nicht nach all dem. Die Auslöschung meiner Familie – so nachhaltig, dass es keinen mehr gab, der nach ihr hätte fragen können, weswegen auch unsere Namen nicht auf den offiziellen Opferlisten erscheinen – war für mich wie ein Zeichen Gottes. Ich bin überzeugt, Er hat diesen Weg gewählt, sich ihrer aller, ja meiner gesamten Sippe und Art zu entledigen: gleichsam eine exklusive Sintflut, bizarr in Zeit und Raum verschoben, zur Buße zukünftiger Sünden. Der einzig denkbare Ausweg für mein achtjähriges, von diesem hochheiligsten Vorschlaghammer getroffenes Ich war, buchstäblich ein neuer Mensch zu werden. Wie es aussieht, hat das bis heute funktioniert.

Das letzte Bisschen Charles Englemayer, das sich von John Zeigler nicht tilgen ließ, obwohl ich es lieber mit den Übrigen im East River versenkt hätte, ist genau sechzig Sekunden lang. Kein aus bizarren Gründen im Museum konserviertes oder als Spenderorgan künstlich am Leben erhaltenes Körperteil, einzig eine Minute Erinnerung. Verdrängtes Fragment einer fremd gewordenen Person, überdauernd in den Tiefen meines Unterbewusstseins. Diese eine Minute Englemayer konnte man nicht mehr umbringen, denn Englemayer war schon so tot, als hätte er nie existiert.

Man sagt, es war die größte Katastrophe in der Geschichte des Big Apple, den Verlust von Menschenleben betreffend. Als die Trauer verarbeitet und die Schlagzeilen und Zeitungsartikel immer kleiner wurden und irgendwann von den Titelseiten verschwanden, zeigte es das typische Wesensmerkmal der New Yorker: Sich nicht unterkriegen zu lassen. Gottergebenheit – wer ergründet die Wege des Herrn? Im Namen des Allmächtigen, des All-Erbarmers starben über tausend Menschen: So pathologisch pathetisch klingt das in Predigten bei den Gottesdiensten, die man Jahr um Jahr für die Opfer abhält. Die in den Trümmern Unauffindbaren, bis zur Unkenntlichkeit Verbrannten, die kein eigenes Grab bekamen, sondern denen der Unglücksort Grab wurde. Ich kenne das wahre Gesicht Gottes. Er existiert, nur Erbarmen hat er keines.

Immerhin beim kondolierenden Bürgermeister war ehrliches Mitgefühl spürbar, Verantwortung, Zorn den Pflichtvergessenen und den eigentlich Schuldigen gegenüber, denen man hätte Einhalt gebieten müssen und können, wenn man nur auf frühere Warnungen gehört hätte. Es ging nicht um Wiederwahl oder um seine mögliche Präsidentschaftskandidatur, von der man offen sprach; er war einfach New Yorker wie wir alle.

Ein Schriftsteller nannte das Ereignis »Holocaust«. Das Wort bezieht sich seit WWII nahezu ausschließlich auf den Versuch der Ausrottung aller Juden durch die deutschen Nationalsozialisten. Wörtlich übersetzt beschreibt es nicht mehr und nicht weniger als die Realität: Alle sind sie verbrannt.

Fast. Es fällt gleichwohl schwer, angesichts der hohen Opferzahl diejenigen positiv zu vermerken, die verstümmelt an Leib und Seele, für alle Zeiten gebrandmarkt, aber eben doch mit dem Leben davongekommen sind. Nein: Des Überlebens schuldig. Auch deswegen konnte ich nicht länger sein, wer ich war – weil ich auf Kosten der Toten weiterlebte.

Es spielt keine Rolle mehr. Nachdem ich kinderlos geblieben bin, um nicht Seinen Zorn über die unbefleckte nächste Generation heraufzubeschwören, wird in Kürze Gottes Werk an den Meinen vollendet sein. Ich spüre, meine Zeit läuft endlich ab; sie nicht selbst zu beschließen war mein einziger Akt des Trotzes. Bevor ich gehe, soll dem vor 97 Jahren von mir abgestreiften Charles Englemayer die letzte Ehre erwiesen werden, indem ich seine in mir konservierte, auf eine Minute eingedampfte Lebensessenz letztmals hervorhole. Ihn und John Zeigler endgültig voneinander scheide.

Eins, zwo, drei, Rauchgeruch in der Luft – ist der Clam Chowder vom Mittagsmenü angebrannt? Eine Schockwelle, Gerüttel, Alarmglocken, vier, fünf. Jemand ruft: Feuer! Ich wirble herum. Momma? Sechs, sieben, acht, mehrere stämmige Männer schieben mich voran, beiseite. Neun, zehn, Momma! Otto! Ma! Anna! Die Rufe gehen durcheinander, man ist sich nicht mehr sicher, wer nach wem verlangt. Elf, mehr Menschen, mehr Tumult, wir gleiten eher wie auf Schlittschuhen über den Bodenbelag, zwölf, als dass wir laufen. Dreizehn, vierzehn, vor uns fliegt eine Tür mit lautem Getöse auf, eine Scheibe splittert, fünfzehn, Flammen schießen einen halben Zentimeter vor meiner Haartolle heraus, sechzehn, weiter das Geschubse, Gedränge, siebzehn, eine Hand greift nach meiner, achtzehn, ein verzerrtes, fremdes Gesicht sieht mich an, neunzehn. Zwanzig. Die Hand lässt los, einundzwanzig, Junge! Spring, wenn dir dein Leben lieb ist, zweiundzwanzig, du kannst doch schwimmen! Dreiundzwanzig, die Schwerkraft bemächtigt sich meiner, vierundzwanzig, ich bleibe mit dem Hemdsärmel irgendwo hängen, fünfundzwanzig, der Zug nach unten ist stärker, sechsundzwanzig, hart, kalt, nass, salzig. Taub. Siebenundzwanzig. Achtundzwanzig. Himmlische Ruhe. Neunundzwanzig. Dreißig. Schwimmbewegungen sinnlos. Die Strömung zerrt. Über Wasser, einunddreißig, ein Knirschen, ein schleifendes Geräusch, als der Dampfer mit voller Kraft, zweiunddreißig, in den Sand von North Brother Island rammt, dreiunddreißig, ein schwimmender Komet mit vom Fahrtwind angefachtem Feuerschweif. Vierunddreißig. Darüber die Kakophonie, fünfunddreißig, mit Schwerpunkt auf Alt- und Sopranstimmen, sechsunddreißig, unmenschliche menschliche Stimmbandvibrationen, wofür die eine oder andere Opernsängerin ihre Seele, siebenunddreißig, an den Leibhaftigen verkauft hätte. Eine Hand packt, achtunddreißig, meinen linken Fuß, Fingernägel, neununddreißig, graben sich in meine rechte Schulter. Ich strample, um sie, vierzig, abzuschütteln, einundvierzig, zweiundvierzig, ich trete, dreiundvierzig, vierundvierzig, wild um mich, bin, fünfundvierzig, wieder unter Wasser, der Atemreflex zieht Salzwasser in meine Lungen, sechsundvierzig! Ich muss heftig husten. Siebenundvierzig! Achtundvierzig! Überraschend ist mein Fuß frei. Meine Schulter auch. Neunundvierzig. Ist das mein Blut? Fünfzig. Lebe ich noch? Einundfünfzig. Ist das der Strand? Zweiundfünfzig. Ist das Sonnenlicht? Dreiundfünfzig. Vierundfünfzig. Pfleger! Hier ist noch einer! Fünfundfünfzig. Ein Junge. Er atmet! Sechsundfünfzig. Bringen Sie ihn weg von hier! Siebenundfünfzig. Wachtmeister! Mister Kilt! Achtundfünfzig, neunundfünfzig, hier herüber! Sechzig. Vorbei.

Endlich frei. Alles vergessen. Ein klarer Morgen, fast wie damals – ein sonniger Tag wird das heute: Der elfte September 2001. Vielleicht das Datum auf meinem Grabstein.

Charles Englemayer, Überlebender der Feuerkatastrophe auf dem Ausflugsdampfer »General Slocum«, die Kleindeutschland, New York, auslöschte.

Mehr nicht

Eine Stunde habe ich. Eine, nicht mehr, haben sie gesagt. Sie haben mir ein Laptop gegeben und gesagt, hier, schreib. Dabei kann ich gar nicht tippen, habe nie einen Schreibmaschinenkurs besucht, muss ständig auf die Tasten und zurück auf den Bildschirm und zurück auf die Tasten blicken. Immerhin die mit dem Linkspfeil, zum Löschen, finde ich inzwischen ganz gut, was natürlich dadurch begünstigt wird, dass sie sich in der rechten oberen Ecke des Hauptblocks befindet.

Jetzt tippsele ich also auf diesem gummigefederten Keyboard herum. Klingt irgendwie wie Schmelzwassertropfen auf meiner Baseballkappe, nur noch eine Spur weicher. Ganz sicher weicher als die Hammerschläge draußen, die durch die Vibrationen der schweren Metalltür des Kellerraums eher noch verstärkt als gedämpft werden. Verdammt, und heiß ist das hier. Es ist Winter, hier gibt’s eigentlich keine Heizung, aber ich fühle mich trotzdem wie im Sommerurlaub. Außer natürlich, dass das hier nicht der Club Med ist. Ganz und gar nicht.

Ich pausiere nur für einen Moment, wische mir mit dem Hemdsärmel über die Stirn. Alles klar, fragt der Weißkittel aus dem Flur. Passt schon, rufe ich. Weiterschreiben, befiehlt er.

Der Weißkittel. Ich habe keine Ahnung, wie der Kerl wirklich heißt, er hat sich mir nicht vorgestellt oder so. Keiner von ihnen hat das. Hätte auch komisch gewirkt, wenn wir uns erstmal im Kreis die Hände geschüttelt hätten. Der Weißkittel ist halt der Kerl mit dem weißen Kittel, weiß der Geier, warum er den trägt. Ist jedenfalls

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.01.2022
ISBN: 978-3-7554-0623-5

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