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Märchenhaft


Es war ein finsterer Kerker. Ein Verlies, wie es düsterer, muffiger und öder nicht sein konnte. Die rostigen Eisenbeschläge, mit deren Hilfe die Gefangenen an die Wände gekettet waren, taten ein Übriges, um Trost- und Hoffnungslosigkeit zu verbreiten: Wer hier einsaß (oder vielmehr „-hing“) hatte keine Chance, zu Lebzeiten noch einmal die Sonne des Tages zu sehen. Hier unten war Endstation für die traurigen Gestalten, die aufgereiht an der moosigen Mauer größtenteils verstummt waren oder allenfalls noch in einer Art Fieberwahn wieder und wieder dieselben Sätze stammelten.
„Weiß wie Schnee... rot wie Blut... schwarz wie Ebenholz“, krächzte es aus der einen Ecke; „heißest du etwa Rumpelstilzchen?“, fragte eine Alte mit eingefallenen, hohlen Wangen den Mann ihr gegenüber, der seinerseits nur – mit einem letzten Rest Stolz in der versiegenden Stimme – darauf bestand: „Ich bin der Doktor Allwissend.“
Ein Neuankömmling wurde unsanft durch die sich knarrend öffnende Tür gestoßen, von vier kräftigen Armen erneut gepackt und in einer freien Ecke des Raumes mit einem Satz noch marktfrisch blitzender Vorhängeschlösser an ein paar blutverkrusteten Metallringen befestigt. „Ihr habt den falschen Mann!“, entrüstete er sich noch und war sich gleichzeitig bewusst, dass es sich dabei so ziemlich um die ebenso älteste wie wirkungsloseste Protestnote in derartigen Situationen handelte. Die beiden Hilfsgefängniswärter hatten auch nur ein hämisches, heiseres Lachen für ihn übrig, als sie die Tür hinter sich zuwarfen, einen schweren Riegel knirschend in Position schoben und ihn mit den anderen Insassen alleine ließen. Hier saß er also nun – in Märchenhaft. Wer immer sich das Wortspiel ausgedacht hatte, würde sich zusammen mit all jenen, die für die Existenz dieser Perversion verantwortlich waren, hoffentlich schon bald vor einem Gericht verantworten müssen. Denn wie unser Held Hans schon sagte: Diesmal hatten sie den Falschen - seine sprichwörtliche Glückssträhne würde auch dieses Gefängnis nicht lange ausbremsen können...
Er hatte schon einen fertigen Fluchtplan gehabt, als er durch die Tür geschubst worden war. Als allererstes brauchte es einen Magier; hier drin einen zu finden, sollte doch nicht allzu schwer sein. Eine Zauberin oder Fee täte es auch. Mal sehen...
Na also: in einer anderen Ecke vernahm der junge Mann undeutlich, aber eindeutig ein „Bibbidi-Bobbidi-Buh“. Sie war also auch hier. Das war schon mal die halbe Miete. Der alte Gemüse-in-ein-Fahrzeug-Verwandlungs-Zauber! Um geeignetes Gemüse musste man sich freilich noch kümmern. Der gräuliche Brei in den seltsamerweise reichlich vorhandenen Tonschüsseln würde ihm natürlich nicht helfen, selbst wenn er – was der junge Mann schwer bezweifelte – irgendwann tatsächlich aus Gemüse bestanden hatte. Damit konnte man allenfalls ein Fahrzeug herbeizaubern, das aussah wie frisch aus der Schrottpresse. Wenn überhaupt.
Ein größeres Problem war dagegen, dass die gute Frau ebenso wie er selbst und alle anderen hier Gefangene und deshalb an die Wand gekettet war. Zur Ausführung des Zaubers benötigte man indes zwingend die dazugehörigen Bewegungen und Gesten. Mist. Auch mit dem Erfinder oder der Erfinderin dieser absurden Regelung würde man beizeiten ein paar unangenehme Takte zu reden haben. Das war ja fast so lästig wie bei den Verwandlungssprüchen Meister Abromars, die getreu seinem auf dem Familienwappen verewigten Motto „Qui habet aures audiendi, audiat!“ vom Betroffenen gehört werden mussten, um zu funktionieren.
„Ich weiß, was du vorhast, aber das kannst du vergessen", meldete sich eine besonders in Anbetracht der hier herrschenden Zustände verblüffend normal klingende Stimme aus einer unbestimmbaren Richtung, um fortzufahren: „Wer bist du?“ - Die Frage lag nahe.
„Nenn mich Hans.“
„Moment - DER Hans? 'Hans im Glück' etwa?“
„Welchen Eindruck macht das hier auf dich? Also, ganz sicher bin ich mir nicht mehr. Aber sag, du hast nicht zufällig Gemüse dabei?“, fragte er aufs Geratewohl.
„Ich würde es begrüßen" - man konnte nach wie vor nicht erkennen, woher die Stimme kam - "wenn du mich mit 'Hoheit' und im Plural ansprechen könntest. Schließlich bin ich ein Königssohn!“
Hans blickte sich um. Da hing tatsächlich ein noch erstaunlich gut frisierter Märchenprinz an einem ansonsten nur spärlich bevölkerten Stück Gefängnismauer. „Die Frage, was Ihr

dann hier verloren habt, Hoheit

, spare ich mir.“
„Nachdem du sie indirekt doch gestellt hast: Ebenfalls ein bedauerlicher Irrtum, der sogleich korrigiert werden wird. Man hat mich für meinen eigenen Doppelgänger gehalten und zu den anderen Doubles gesteckt, die ich habe einsperren lassen. Lange Geschichte.“
„Bekomme ich die Kurzfassung?“
„Es geschah ein Unfall mit einem Dimensionstor und seitdem haben wir von jeder Figur zwei Exemplare. Nachdem ein Rumpelstilzchen und eine Knusperhexe schon schlimm genug sind, wurde dieses Gefängnis eingerichtet.“
„...in dem aber die Guten genauso wie die Bösen landen?“
„Es ist eben genauso unmöglich und gegen jede Gesetzmäßigkeit, dass das Reich von zweimal dem gleichen König regiert wird, oder dass zwei gute Feen einem zweimal den gleichen Wunsch erfüllen. Wo kämen wir da hin? Beim Thema Wunsch fällt mir ein: Du benötigst also tatsächlich etwas Gemüsiges, ja?“
„Es muss vor allem unverarbeitet sein. Rübenpudding oder Rettichsirup tun's nicht.“
„Was ist mit einer Karotte? Ich hatte eine für mein Pferd mit, die sie bei der Beschlagnahmung meiner Wertsachen übersehen haben. Vermutlich, weil sie keine Wertsache ist. Wenn du damit einen Ausbruch bewerkstelligst, bist du entweder noch verrückter als ich bisher dachte oder ein zertifiziertes Genie.“
„Weder – noch. Es ist doch so offensichtlich: Wir werden dieses Gewächs in ein Fluchtfahrzeug verwandeln. Verwandeln lassen, um genau zu sein.“ – Hans wandte sich an die Double-Fee: „Exakt dafür gibt es doch gute Feen, nicht wahr? Alles, was wir noch brauchen, sind die Schlüssel für die verdammten Vorhängeschlösser.“
„Nun ja, das ist aus Kostengründen immer der gleiche – man kann einfach irgendeinen von dem Haufen unbenutzter Schlösser dort drüben neben der Zugangstür nehmen. Die Frage ist nur, wie kommen wir da ran?“ - Der Prinz zuckte mit den Schultern, soweit er es in seiner hängenden Lage vermochte.
„Ich weiß auch nicht, warum die Leute immer vergessen, dass die Brüder Grimm nicht die einzigen waren, die Märchen veröffentlicht haben“, seufzte der auktoriale Erzähler und ließ widerwillig wieder einmal einen deus ex machina

von der Leine. Der standhafte Zinnsoldat von Hans Christian Andersen, den die Wachen wegen seiner Miniaturgröße selbstverständlich übersehen hatten, kämpfte sich todesmutig zu dem Schlösserstapel durch, nahm einen Schlüssel an sich und befreite die Angeketteten einen nach dem anderen. Dann ging alles sehr schnell. Ein bisschen albernes Gefuchtel mit einem aus den Stilettos einer ebenfalls gefangenen Prinzessin eilends improvisierten Zauberstab, ein Spruch und statt der Karotte stand in der Mitte des Raumes plötzlich ein mehr als eigenwilliges metallicblaues Gefährt mit Erdgasantrieb und Goodyear-Werbung; halb in Trance stieg Hans auf den Rücksitz, als seine Hoheit auch schon den Zündungsknopf entdeckt hatten. Wie ein Rammbock durchbrach der raketenförmige Fluchtwagen sämtliche Türen, bis ein verirrter Strahl Sonnenlicht keinen Zweifel mehr ließ: Der Ausbruch war geglückt und der Weg in die Freiheit stand offen. Die dicke Fee gluckste vor Vergnügen und flog auf ihren absurd winzigen Flügelchen davon. Die anderen Insassen würden eine gewisse Zeit brauchen, um zu verstehen, was gerade passiert war – aber sie waren wieder frei. Frei, um Märchenwälder, Knusperhäuschen und Zauberschlösser zu bevölkern, wie es seit jeher ihre Bestimmung war. Sei's drum, dass sie jetzt alle zweimal vorhanden waren! Da musste man doch einen Vorteil draus ziehen können. Ein 24-Stunden-Lebkuchenhaus-Drive-In mit abwechselnden Schichten oder sowas in der Richtung.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann streiten sie noch heute um einen ordentlichen Tarifvertrag.

Impressum

Texte: Jörg Weese
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2012

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