Um eines gleich festzuhalten: Es war nicht mein Fehler. Ich kann schließlich nichts dafür, dass dieser Mensch eine dermaßen unleserliche Handschrift hat. Glauben Sie mir, Ihnen wäre es genauso ergangen.
Aber ich sollte vielleicht doch ganz von vorne beginnen.
Es war Mitte September und in meinem Geschäft begann sich die für diese Jahreszeit übliche Flaute bemerkbar zu machen. Im Frühjahr und Sommer ist die Auftragslage in der Regel besser, vor allem seit ich außer der Schildermalerei auch einige Anstreicher beschäftige. Ich für meinen Teil blieb allerdings bei meiner alten Leidenschaft und Spezialität. Seit ich vor zehn Jahren den Betrieb meines verstorbenen Vaters übernommen habe, habe ich meine Kunst beständig fortentwickelt und kann mit gewissem Recht behaupten, der beste Schildermaler des Königreichs zu sein. Sollten Sie jemals ein Schild in kunstvoller Gestaltung für Ihr Geschäft benötigen, sind Sie bei mir genau an der richtigen Adresse.
Aufgrund der Lage unserer Stadt, an der Südküste Englands, ergibt sich für mich auch noch eine andere Möglichkeit, meine Kunst auszuüben. Der Wind, das Salzwasser und die raue See setzen Schiffen zu. So kommt es, dass die Schriftzüge mit ihren Namen mit der Zeit verblassen und unansehnlich werden. Nun braucht es selbstverständlich einen geschickten Schildermaler, der die alte Pracht wiederherstellt. Was läge da näher, als sich an mich zu wenden? So habe ich schon mancher Fregatte zu neuem Glanz verholfen, und ich bin stolz darauf, dass jede einzelne den Ruhm meiner Handwerkskunst zu neuen Ufern trägt.
Aber solche Restaurierungen sind nicht mein einziger Einsatzbereich. Oftmals wechselt ein Schiff den Besitzer und damit oft seinen Namen – und was wäre außerdem der Stapellauf eines neuen Segelschiffs ohne eine Schiffstaufe, ohne einen passenden, kunstvoll gestalteten Namenszug am Bug oder Heck?
Doch zurück zu meiner Geschichte.
Eines Morgens kam ein Mann in meine Werkstatt, der sich mir als John Robinson vorstellte. Er erzählte mir, wie glücklich er sei, endlich ein passendes Schiff für sich und seine Brüder gefunden zu haben. In die Neue Welt wollten sie auswandern, soviel verstand ich von den Andeutungen des Fremden in dem eher unansehnlichen dunkelgrauen Gewand, da man sie hier an der freien Ausübung ihrer Religion hindere. Mir wurde gleich klar, dass es sich um ein Mitglied einer dieser religiösen Gruppen handeln musste, die sich vorgenommen hatten, die Bibel bis auf den allerletzten Buchstaben auf der letzten Seite rechts unten zu befolgen, und die sich von der anglikanischen Kirche abspalteten. Man hatte schon von ihnen gehört, aber wenn ich ehrlich sein soll, haben die meisten meiner Freunde und Nachbarn genauso wie ich der Sache bisher wenig Bedeutung beigemessen.
»Womit kann ich Ihnen also zu Diensten sein?«, fragte ich den alten Mann.
John Robinson runzelte die Stirn. »Das ist an sich schnell erklärt«, sagte er. »Sie müssen wissen, dass es derzeit wirklich äußerst schwierig ist, ein Schiff zu erwerben. Man muss sich tatsächlich mit allem zufriedengeben, was man nur bekommen kann. Und so blieb mir auch keine große Wahl, als man mir dieses dreimastige Segelschiff« – er machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung Hafen – »mit dem Namen Gay Leonora zum Kauf anbot.«
Ich nickte wissend. Die Gay Leonora war mir nicht unbekannt. Bis vor Kurzem hatte sie dem alten Seebären Jonathan Uptonwold gehört, der sie bis zu seinem Tod als Hausboot benutzte. Ein Haus an Land besaß er nicht – er behauptete immer, ihm würde übel, wenn der Boden unter seinen Füßen nicht ein wenig schwankte. Sein Sohn hatte jetzt offensichtlich beschlossen, sein Glück nicht wie der Vater in der Seefahrt zu suchen. Das Schiff war in tadellosem Zustand, wenn man von der etwas freizügigen Galionsfigur absah, die der Gay Leonora ihren Namen geliehen hatte – wenn ich mich recht erinnere, hatte Jonathan sie von einem gesunkenen Piratenschiff, oder zumindest behauptete er das. Dass eine Gruppe tief religiöser Menschen unmöglich mit einem derartigen … Ballast auf die Reise gehen konnte, war mir gleich klar.
»Sie werden verstehen, dass wir an dem Schiff noch einige kleine Änderungen vornehmen müssen, bevor wir England endgültig den Rücken kehren. Vor allem einen neuen Namen braucht es. Und da sie sich in der Gegend eines gewissen Rufes rühmen dürfen« – und schon hatte er meinen Berufsstolz getroffen – »wären wir erfreut, wenn Sie sich der Sache annähmen. Selbstverständlich zu Ihrem Preis.«
Er brachte mit seinem zerfurchten Gesicht tatsächlich ein sympathisches Lächeln zustande und blickte mich erwartungsvoll an. »Nun, wie steht es?«
»Abgemacht«, erwiderte ich nach nur kurzem Überlegen. Das war ja eigentlich ein Auftrag wie jeder andere auch …
»Sehr gut«, entgegnete der Mann und reichte mir seine Hand zum Abschied. »Wir haben uns bereits auf einen neuen Namen geeinigt. Sie finden ihn auf diesem Papier. Gott segne Sie.«
Er gab mir einen gefalteten Zettel und ging dann ziemlich rasch in Richtung Hafen davon.
Und da stand ich nun mit jenem Stück Papier, das mir soviel Kopfzerbrechen bereiten sollte. Ich faltete es auseinander und las den Namen, den Robinsons ›Brüder‹ für die Gay Leonora vorgesehen hatten. Ich erwähnte bereits, dass mir das Entziffern äußerst schwer fiel. Immerhin gelang es mir nach einiger Zeit, die neun Buchstaben zu einem einigermaßen vernünftigen und sinnvollen Wort zusammenzusetzen, wenn da nicht, ja wenn da nicht dieser verflixte erste Buchstabe gewesen wäre. Das Problematische daran war, dass beide möglichen Varianten durchaus einen Sinn ergaben und dass sich eben zufälligerweise die beiden Buchstaben in handschriftlicher Ausführung auch noch so ähneln konnten. Hätte es sich nicht um solch einen frommen, strenggläubigen Mann gehandelt, würde ich jetzt sagen, hier wäre doch tatsächlich der Teufel im Spiel gewesen. Und dennoch mag das durchaus der Fall gewesen sein, denn jetzt meldete sich auch noch meine Berufsehre zu Wort. In all den Jahren meiner Tätigkeit hatte ich meine Aufträge immer zur vollsten Zufriedenheit der Auftraggeber erledigt, nie hatte es irgendwelche Unklarheiten, nie Streitigkeiten oder einen Grund zur Beschwerde gegeben. Und das sollte sich auch wegen dieses Herrn Robinson nicht ändern – wäre ich jetzt, nach fast einer Stunde, zu ihm gegangen und hätte unterwürfig gebeten, ich könne das nicht lesen, er möge mir doch bitte … nein, das wäre mir einfach gegen den Strich gegangen. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, aber in dieser Beziehung bin ich eben Perfektionist.
Also brütete ich weiter über der Notiz, als ob ich die richtige Bedeutung ausbrüten könnte wie eine Henne, wenn sie nur lange genug auf ihrem Ei sitzen bleibt. Doch auch nach weiteren Stunden blieb mir der wahre Wortlaut dieser neunbuchstabigen Botschaft verschlossen. Anstatt einer Erleuchtung suchten mich Kopfschmerzen heim und dabei wurde es wirklich langsam Zeit, mich an die Arbeit zu machen. Es war schon beinahe Mittag und ich hatte noch immer nicht begonnen, den Auftrag des ehrwürdigen Herren in Grau zu erfüllen, wie man dies von einem Mann meines Rufs erwarten konnte. Ich hatte eine Reputation zu verlieren, und das alles wegen dieses einen kleinen Zeichens, das eine so gewichtige Sinnänderung auf jenem Stück Papier hervorrufen konnte. Das heißt, bei näherer Betrachtung …
Irgendwann entschied ich kurzerhand, dass der Unterschied so gravierend dann wohl doch nicht sein würde. Ich griff eine der beiden Varianten heraus – es war ohnehin gleichgültig; immerhin hätte ich so eine Chance von fünfzig zu fünfzig, diejenige zu erwischen, die der Schreiber im Sinn gehabt hatte. Ich packte also mein Handwerkszeug – Farbe, diverse Pinsel, Schablonen, Lineale, Zollstöcke, Zirkel, Stifte zum Vorzeichnen – auf den kleinen Handkarren und machte mich auf den Weg zum Hafen.
Ich war so sehr in Gedanken, dass ich irgendwann ganz überraschend plötzlich vor der Gay Leonora zum Stehen kam. Man hatte das Segelschiff seiner anstößigen Namensgeberin bereits entledigt und der ursprüngliche Name war ebenfalls schon fein säuberlich abgeschliffen worden. Auf dem Schiff werkelten einige der Gefährten und auch meinen Auftraggeber erspähte ich nun. Er war gerade damit beschäftigt, zusammen mit anderen die Habseligkeiten der Auswanderer an Bord zu verstauen. Er erkannte mich und kam kurz zu mir herunter. Ob es etwa irgendwelche Probleme gegeben habe, fragte er mich freundlich. Ich gab vor, bis jetzt an Entwürfen für die Schrift gearbeitet zu haben, und diese Erklärung schien ihn in höchstem Maße zufriedenzustellen. Ohne es eigentlich zu wollen, hatte ich es mir mit meinem überflüssigen Stolz nun endgültig unmöglich gemacht, ihm noch einzugestehen, dass ich seinen Zettel nicht richtig hatte lesen können. Mit einem etwas flauen Gefühl im Magen machte ich mich schließlich an die Arbeit. Um noch etwas Zeit zum Nachdenken herauszuschinden, ließ ich den Anfangsbuchstaben zunächst weg.
»Ich werde ihn besonders schön mehrfarbig gestalten«, erklärte ich – das hatte ich ohnehin vorgehabt – als mich John Robinson darauf ansprach.
»Ich sehe, wir haben die richtige Wahl mit Ihnen getroffen«, nickte er respektvoll. »Sie nehmen Ihre Arbeit wirklich ernst.«
Mir wurde die Sache immer unangenehmer. Was, wenn ich mich nun tatsächlich für die falsche Variante entscheiden würde? Ich wäre beruflich am Ende. Ganz England würde über mich lachen, und ich könnte in Zukunft an der Straßenecke betteln, weil mir niemand mehr einen Auftrag erteilen würde. Ich malte mir meine Zukunft in den schwärzesten Farben aus, während ich hier in leuchtend weißen Buchstaben jenen schicksalsträchtigen Namen auf das Schiff pinselte.
Die Fertigstellung des Anfangsbuchstabens verlegte ich auf den nächsten Vormittag. Auch wenn ich inzwischen fast jegliche Hoffnung aufgegeben hatte, glaubte ich, es wäre nützlich, die Sache noch einmal zu überschlafen. Meine Albträume belehrten mich eines Besseren. Ich glaube, noch nie habe ich so schlecht geschlafen wie in jener Spätsommernacht. Im Traum wurde ich in siedendes Öl geworfen, gerädert und von sämtlichen Unter- und Oberteufeln gepiesackt. Und das war noch der angenehmere Teil davon.
Am nächsten Morgen fasste ich den grimmigen Entschluss, der Sache – so oder so – möglichst schnell ein Ende zu setzen und auch gegebenenfalls die Konsequenzen zu tragen. Ich wollte endlich Ruhe haben vor der quälenden Grübelei über jenen einzigen Buchstaben, von dem Sein oder Nichtsein abhing. Noch einmal nahm ich mir den Zettel vor, den mir der Mann am vorigen Morgen – war es wirklich erst vierundzwanzig Stunden her? – überreicht hatte. Die Buchstaben, die ich ohnehin kaum entziffern konnte, verschwammen vor meinen Augen. In einem letzten Akt verzweifelten Protestes zerknüllte ich das Papier und warf es ins Kaminfeuer.
Ich begab mich – möglicherweise zum allerletzten Mal, das wurde mir immer klarer – an meine Arbeitsstätte. Oh, wenn ich diesen dreimal verwünschten Buchstaben doch hätte lesen können …
Ganz plötzlich ging in meinem Geist die Sonne auf. Ich fragte mich, warum ich nicht schon früher auf diese zugegebenermaßen recht billige Lösung gekommen war. Es würde vielleicht funktionieren. Ja, auf jeden Fall hätte ich weniger zu verlieren, als wenn ich tatsächlich und endgültig den falschen Namen auf den Segler schreiben würde. Eigentlich müsste ich den Alten praktisch nur mit seiner eigenen Waffe schlagen: der Unleserlichkeit. Ich würde den mysteriösen ersten Buchstaben so sehr verzieren und verschnörkeln, dass es gar nicht mehr auffallen würde, sollte es sich möglicherweise um den falschen handeln.
Das Ende ist schnell erzählt. Meine Idee hatte mich derartig mit neuem Mut und Tatendrang erfüllt, dass der Namenszug tatsächlich noch an diesem Tag vollendet wurde. Ich erhielt das bescheidene Honorar, das ich dafür forderte, und mein Auftraggeber versicherte mich seiner höchsten Zufriedenheit. Und doch packt mich jedes Mal, wenn ich zurückdenke, ein wenig das schlechte Gewissen. Aber schließlich war es doch nicht meine Schuld, dass der Zettel dieses – wie nannten sie sich? – ›Puritaners‹ so ein unreines Schriftbild besaß.
Und so stach denn an jenem 16. September 1620 in der südenglischen Hafenstadt Plymouth das Schiff mit den ersten englischen Amerikasiedlern, den Pilgervätern, mit Kurs auf die Neue Welt in See – die Hayflower.
Texte: Jörg Weese
Bildmaterialien: Jörg Weese
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2012
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