Entschuldigung, haben Sie kurz Zeit?
Stellen Sie sich mal einen Flamingo vor. Rosa. Steht auf einem Bein. Neben einem kleinen, von Seerosen überwucherten Teich im Park. Döst vor sich hin. Haben Sie das? Gut.
Und weil ein vereinsamter Flamingo recht deprimierend wirken kann und Flamingos überdies ziemlich selten einsam in der Gegend herumstehen (es sei denn, jemand hätte einen aus dem Zoo entführt und ihn, in undurchschaubarer Absicht, dort abgestellt), stellen Sie sich am besten noch ein halbes Dutzend weiterer schlafender Flamingos im Halbschatten der nahen Trauerweide vor. Sie haben ihre Köpfe unter die Flügel gesteckt und mal das linke, mal das rechte Bein hochgezogen.
Es sei ein früher Nachmittag im September oder Oktober, mit einigen unordentlich verstreuten Wolken am Himmel. Kann sein, dass es vor kurzem erst geregnet hat – gelegentlich hört man vielleicht vereinzelte Wassertropfen von den Bäumen aufs feuchte Gras und ins Wasser des Teiches fallen. Aber der leicht kühle Windhauch, der aus unbestimmter Richtung um die Schnäbel der Flamingos weht, hat den Großteil der Wolken wohl schon vertrieben. Eine herbstliche Sonne erobert gerade den Park zurück, malt durch die Wolken Schäfte aus Licht in die Landschaft. Doch mag es in gerade diesem Stück Park, mit seinem ehemals gepflegten Rasen und den leicht verwahrlosten Blumenrabatten, noch vergleichsweise schattig und kühl sein.
Wenn Sie möchten, komplettieren Sie das geistige Bild mit einer Sitzbank, etwa grün gestrichen (die Farbe blättert wahrscheinlich bereits an einigen Stellen ab), am Rande des Teiches. Über der Bank, die zweifellos bessere Zeiten gesehen hat, schwebt noch die neblige Erinnerung an ein frisch verliebtes Studentenpärchen, oder wahlweise an ein älteres Ehepaar, die dort einst saßen und sich stumm in die Augen blickten.
Sind Sie soweit? Können Sie sich das alles so weit vorstellen? Fein. Dann richten Sie doch bitte Ihren Blick zurück auf den ursprünglichen Flamingo – also den, den Sie sich vorgestellt hatten, bevor sich aus unerklärlichen Gründen ein halbes Dutzend weiterer neben ihm materialisierten.
Wissen Sie was? Vergessen
Sie die anderen Flamingos!
Der allererste Flamingo also hat wohl ein wenig mit der Schwerkraft zu kämpfen – oder er träumt einfach schlecht; jedenfalls scheint er, anders als seine Artgenossen (oh, da sind sie ja wieder!) massive Probleme zu haben: Unruhig, unsicher, unelegant balanciert er auf seinem einen Bein herum.
Nutzlos, zu fragen, warum er dann nicht einfach das andere Bein auf den Boden stellt. Zum Einen könnte er, nachdem Sie ihn aufgeweckt hätten (und darüber wäre er vermutlich sehr ungehalten), ohnehin nur in seiner eigenen, dem menschlichen Fragesteller vermutlich nicht geläufigen Flamingo-Sprache antworten. Zum Anderen – und das dürfte der wichtigste Punkt sein – ist die Frage auch ohne Zurateziehen des Flamingos recht einfach zu beantworten: Weil es das ist, was Flamingos tun. Sie tun es einfach. Punktum.
Der kundige Ornithologe würde, befragten Sie ihn, in einen Versuch der Erklärung wahrscheinlich den Begriff „Kraftersparnis“ einfließen lassen, unterstrichen womöglich noch durch „Instinkt“. Aber das wäre an diesem Punkt bereits redundante Information. Denn der Flamingo steht auf einem Bein und denkt nicht weiter darüber nach. Er weiß nichts von einem Lexikoneintrag wie: „Flamingo - storchartiger Vogel mit langen Watbeinen und Hals sowie geknicktem Schnabel, rosa, schläft auf einem Bein stehend.“
Stattdessen demonstriert er jetzt, da die Sonne wieder vollends durch die Wolkendecke gebrochen ist, dass es immer andere Möglichkeiten, andere Orte geben wird, um instinktiv Kraft zu sparen.
Stellen Sie sich einen Flamingo vor... Und dann lassen Sie ihn fliegen.
Texte: Jörg Weese
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2012
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