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Maximus der Große


Vor gar nicht allzu langer Zeit, aber ziemlich weit weg von hier – es sei denn, ihr befindet euch bereits dort, dann natürlich genau da, wo ihr gerade seid – gab es, bevor ein Volksaufstand ein- für allemal die Herrschaft von Kaisern, Königen und anderen nicht gewählten Volksvertretern beendete, ein Königreich, das so klein war, dass es bei maßstabsgetreuer Darstellung auf einer regulären Deutschlandkarte so ausgesehen hätte wie ein Fliegendreck. Dies war der Grund, weswegen die meisten Leute es auch so nannten, die einen Atlas zu Hause in ihrem Regal stehen hatten und besagtes Königreich dort nachzuschlagen versuchten. In Wirklichkeit – das sei zu einer teilweisen Ehrenrettung hinzugefügt – hieß das Königreich natürlich nicht Fliegendreck, sondern Friedens-Eck. Das Problem war nicht nur, dass bereits die Grenzen so eng beieinander lagen, dass sie nicht richtig auf die Karte passten, sondern dass natürlich die Beschriftung erst recht nicht passte – beziehungsweise die Buchstaben so unendlich klein hätten gedruckt werden müssen, dass man es im Normalfall lieber ganz bleiben ließ. Schließlich wollte sowieso seltenst jemand genau dieses Königreich im Atlas nachschlagen, weil die meisten – selbst die, die schon einmal auf der Durchreise dort vorbeigekommen waren – seine Existenz nicht einmal bemerkten.
Das war König Maximus dem Großen überhaupt nicht recht, entgingen ihm doch deswegen die verschiedensten Steuern und Abgaben, mit denen selbst beispielsweise das bloße Betrachten des Grenzzaunes belegt war. Nachdem es in einem derart kleinen Land keine nennenswerte Wirtschaft außer der Gastwirtschaft gab (was ein weiterer Grund für seine im Namen verbürgte Friedlichkeit war, konnte man sich doch auch eine Armee oder überhaupt Bewaffnung ebenfalls gar nicht leisten), tat es sich unglaublich schwer, überhaupt irgend etwas zu finanzieren: Der Autobahnbau beispielsweise hatte in den Gründerjahren bereits den Verkauf von des Königs Tafelsilber erforderlich gemacht; man konnte von Glück sagen, dass es nur eine relativ kurze Autobahn war.
Doch jetzt hatte König Maximus der Große von Friedenseck einen nicht nur seiner durchaus nicht bescheidenen Meinung zufolge nachgerade genialen Einfall gehabt. (Seine unbezahlten königlichen Berater redeten ihm natürlich so oder so immer nach dem Mund, weil man ihnen sonst neben dem schon lange gestrichenen Gehalt auch noch die freie Kost und Logis im winters immerhin annehmbar beheizten Palast entziehen würde, aber das hatte er schon seit Jahren erfolgreich verdrängt.)
Er hatte eine Anzeige in die größte, weil einzige, Tageszeitung des Reiches setzen lassen und weder Kosten noch Mühen gescheut. Auch das war ihm relativ leicht gefallen, denn schließlich handelte es sich um ein staatliches Unternehmen, und der Staat – so betonte er immer sehr stolz, ohne sich bewusst zu sein, dass der Spruch technisch gesehen nicht von ihm selbst und nicht einmal aus seinem Universum stammte – war nun einmal er, König Maximus der Große!
Der Anzeigentext lautete:
„Wollten Sie schon immer einmal König sein? Das Königreich Friedenseck kann Ihres werden - kaufen Sie Aktien der Maximus AG und werden Sie legitimer Teilhaber am Thron! (Legislative und Judikative inklusive, Exekutive gegen Aufpreis). Zeichnen Sie noch diese Woche und Sie erhalten zwei goldene Anteilsscheine zum Preis von einem!“


Die Zeitungsanzeige füllte eine ganze Seite im Friedensecker Tagundnachtblatt aus und spezifizierte - immer gespickt mit den größtmöglichen Mengen an legalesischem Blabla - neben den finanziellen Anforderungen auch noch einige andere Aspekte, die darauf hinausliefen, dass König Maximus selbstverständlich nie die ganze Macht würde abgeben müssen, sondern jederzeit wieder übernehmen könnte. Zumindest hatten es ihm seine Rechtsgelehrten (ebenfalls unbezahlt) so erklärt, er selbst war ja nur für geniale Ideen, nicht für deren praktische Umsetzung zuständig. Und in der Tat hatten sich im Verlauf nur einer einzigen Woche königliches Konto und Schatzkammer auf einen nie dagewesenen Pegelstand gefüllt.
Heute nun war es soweit: Einige der Hauptaktionäre würden beim König persönlich vorstellig werden und ihre neuen Rechte einfordern wollen. Maximus kicherte. In der Hand hielt er eine Schriftrolle mit Erläuterungen zum Kleingedruckten in der Zeitungsanzeige, das die meisten Leute – so war es beabsichtigt gewesen – für den üblichen Friedensecker Fliegendreck gehalten und, blind gemacht von versprochener potenzieller Königlichkeit, nicht weiter beachtet hatten.
Punkt zehn Uhr sollte der erste eingelassen werden, so hatte es König Maximus verfügt, der zur Feier des Ereignisses zum ersten Mal den frisch restaurierten Gala-Umhang seines unglücklichen, in der Nervenheilanstalt gelandeten Ur-Urgroßvaters (eine andere Geschichte) trug. Der ehrenamtliche Haushofmeister stand an der ehernen Pforte des Thronsaals bereit und hatte sogar den verwitterten Pförtnerstab aus dem Archiv geholt, mit dem früher, als das Reich noch etwas größer war und der damalige König wesentlich mehr Bittsteller und Staatsgäste zu empfangen hatte, selbige mit Hilfe eines lange in Vergessenheit geratenen Morsecodes angekündigt wurden. Als sich die Tür zum ersten Mal öffnete, klang das entsprechende Klopfzeichen daher effektiv wie eine sehr schlimm verunglückte Version von „Shave-and-a-Haircut“ (im deutschen Sprachraum nur als „Tam-tata-ra-tam“ bekannt).
„Ta-dah! Ein Fall für Kater Kalle, würde ich sagen!“, ertönte eine Stimme, die das Ganze deutlich mit Humor nahm.
König Maximus der Große blickte auf und sah – zunächst niemanden. Erst als er seinen Blick ein wenig Richtung Boden wandern ließ, fiel ihm die junge Katze mit dem Dreispitz, der Augenklappe und dem Holzbein auf. Auf der Kopfbedeckung prangte Jolly Roger, aber nicht er war es, der gesprochen hatte. König Maximus lächelte süffisant.
„Hat Er sich etwa im Märchen geirrt, mein Gutester? Die Stelle als gestiefelter Kater ist, soweit wir uns entsinnen, bereits vergeben, und für Piraten haben wir in unserem Königreich so oder so keinen Platz. Es gibt ja nicht einmal ein Meer, wie Er sicherlich bereits bemerkt hat. Was den Räuberhauptmann angeht...“ - Maximus' Gesicht hellte sich auf - „Moment, sagte Er 'Kater Cully'? Das ist seltsam, denn wir kannten da mal einen Captain Cully, Räuberhauptmann im Reich von König Harald dem Hageren...“
„Kalle, nicht Cully, wenn's beliebt, Euer Majestät.“
Der Kater verneigte sich scheinbar ehrerbietig, aber König Maximus winkte ab.
„Bedaure, auch an Hauskatzen haben wir keinen Bedarf. Die haaren uns immer alle königlichen Sofakissen voll.“
Kater Kalle schüttelte resigniert den Kopf. Mit Piraten, Räubern oder wilden Bestien aus dem Finsterwald zu kämpfen, war immer noch einfacher, als gegen die furchtbaren Vorurteile, die ihm von allen Seiten entgegenschlugen, nur weil er nun einmal war, was, wer und wie er war.
„Euer Majestät, weder bin ich gekommen, um euren nicht vorhandenen Bedarf an Hauskatzen zu decken, noch überhaupt in meiner Eigenschaft als Kater. Vielmehr, mit Verlaub, wart Ihr es doch, der diese Aktien ausgeben ließ, habe ich Recht?“
Kater Kalle griff in eine scheinbar unbestimmte Stelle seines Fells und zog tatsächlich eine der goldgeprägten Aktien aus dem Zeitungsangebot hervor. König Maximus war immerhin insofern beeindruckt, als er sich schon immer gefragt hatte, wo Katzen Gegenstände des täglichen Bedarfs aufbewahrten. Offenbar hatten sie es geschafft, über all die Jahrtausende ihrer Existenz die Tatsache geheimzuhalten, dass sie in Wirklichkeit Beuteltiere waren – oder aber, es handelte sich in der Tat um ein ganz besonderes, aus der Art geschlagenes Exemplar. Aber was sagte er da, das Vieh konnte sprechen, und allein das war schon mehr als ungewöhnlich. Maximus der Große schüttelte nun seinerseits den Kopf und beschloss, als der Kater danach immer noch vor ihm stand, dass es sich gleichwohl trotzdem um einen Traum handeln musste – wenn auch um einen ziemlich intensiven. Der Hofkoch würde Anweisung bekommen, abends demnächst nur noch leichtere Speisen auftragen zu lassen.
„Jaja, das ist unsere Unterschrift auf dem Dokument“, bestätigte der König widerwillig. „Er war zwar nicht die Zielgruppe, aber da Er nun schon einmal hier ist, möchte der Kater vielleicht kurz auf dem Thron Platz nehmen? Ich vermute, Er hat die Aktie zum Geburtstag geschenkt bekommen? Das reicht“ – er sah kurz auf die Umrechnungsliste – „für ziemlich genau dreieinhalb Minuten Herrschaft über das Land. Rein formell natürlich; exekutive Vorgänge kosten extra, wie Er wahrscheinlich aus dem Kleingedruckten weiß.“
Der Kater hob eine Augenbraue. Seltsam, dachte König Maximus. Er erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, Katzen seien nicht zu differenzierter Mimik fähig.
„Ein einziger legislativer Vorgang genügt mir völlig“, erklärte das Tier, das flink auf den angebotenen Thronsessel gehuscht war.
„Ich darf also“, fuhr Kater Kalle fort, „kraft meines mir für dreieinhalb Minuten verliehenen Amtes ein klitzekleines eigenes Gesetz verkünden. Naja, genau genommen sind es zwei, und eigentlich auch nicht sooo klein...“
Maximus wurde ungeduldig. „Nun sag' Er schon, es warten noch mehr Leute draußen, die auch drankommen wollen!“
„Das erste betrifft die für alle Zeiten gültige Unabänderbarkeit des zweiten. Mit jenem“ - Kater Kalle gönnte sich eine Kunstpause - „erkläre ich mich hiermit über die Laufzeit meiner Aktie hinaus zum uneingeschränkten Herrscher des Landes Friedenseck. Überflüssig, hinzuzufügen, dass auch sämtliche anderen eventuell ausgegebenen Aktien hiermit auf ewig ihre Gültigkeit verlieren. Ich bin König und mein Wort ist Gesetz. Ende der Durchsage.“
Maximus der Große verschluckte schockiert seinen Kaugummi und musste heftig husten. „Hrrrm“, räusperte er sich, nachdem er sich wieder gefangen hatte. „Hrrrrrrmmm!“, ergänzte er nachdrücklich.
„Nuuunnn... Er wird ohne Zweifel festgestellt haben“, keuchte er, noch nicht sicher, ob vor verblüffungsbedingtem Mangel an frischer Luft in seinen Lungen oder einfach nur im Ansatz eines Lachens, „dass auch dieser Posten... Hrrrmmmmmm! ... schon vergeben ist. Und zwar an uns, mein Bester!“
Er lächelte diesmal, wie er hoffte, gutmütig, und wiederholte seine abwinkende Geste. Vielleicht würde der Kater sie jetzt verstehen und sich endlich vom im Thronsaal verständlicher Weise nicht physikalisch vorhandenen Acker machen.
Kater Kalle machte keinerlei Anstalten dergleichen. „Majestät, ich muss leider darauf bestehen, was hier auf diesem amtlichen Papier, das ich übrigens keineswegs geschenkt bekommen, sondern mit Hilfe meines großen Geschicks im Pfeilewerfen und einer gewissen Anzahl an ersparten Kupfermünzen an einer Jahrmarktbude redlich gewonnen habe, geschrieben steht. Ich erfülle oder übertreffe gar sämtliche genannte Anforderungen, alles ist rechtens, und wenn Ihr aus irgendwelchen Gründen Vorurteile gegen meine Rasse hegt, solltet Ihr Euch das beim nächsten Mal überlegen, bevor Ihr derartige Versprechungen macht.“
Der Noch-König riss das Schriftstück des Katers an sich und überflog den Text noch einmal murmelnd, kam aber in der Tat zu keinem anderen Ergebnis, als dass der vor ihm stehende Angehörige der Gattung Felis Silvestris Catus wohl leider Recht hatte.
Aber ganz so leicht würde er es ihm nicht machen! Sein geliebtes Königreich hand- oder meinetwegen pfotenstreichartig einfach mal eben so komplett übernehmen, so hatte man nicht gewettet!
Maximus schnippte mit den Fingern, woraufhin ein ziegenbärtiges Männlein mit einer spitzen Mütze und einem nachtblauen Umhang sich urplötzlich neben ihm materialisierte. Genau genommen gab es erst einen Knall, danach eine Rauchwolke, und dann stand er neben ihm. Es mag auch sein, dass er sich nicht so sehr materialisiert sondern vielmehr im Schutze der Verwirrung und des Rauches aus irgend einer finsteren Ecke heraus an die Seite des Königsthrons geschlichen hatte.
„Majestät haben geschnippt?“, stellte er überflüssigerweise fest.
Kater Kalle seufzte. Ein Hofzauberer. Das konnte ja heiter werden.
„Das haben wir in der Tat“, nickte König Maximus. „Es gäbe da ein lästiges Getier zu beseitigen, das“ - er lachte gekünstelt - „doch tatsächlich vorhat, uns den Thron, die Herrschaft und das Reich streitig zu machen.“
Das Männlein hüstelte. „Was Ihr nicht sagt, Eure Majestät. Na, das sollte doch kein größeres Problem darstellen. Sofern Ihr nicht darauf besteht, dass das Vieh die Sache überlebt.“
Kalle hob an, gegen jeglichen Versuch von Tierquälerei lautstark zu protestieren, der Bärtige kicherte jedoch kurz und fuhr fort: „War nur'n Witz. Keiner meiner Sprüche ist tödlich, aber deswegen nicht weniger endgültig.“
König wie Kater rührten sich nicht. Das wollten sie jetzt doch erst einmal sehen.
„Wohlan denn!", deklamierte der Zauberer. „Krutoliyez barsny, worsnism basdy, gampdy...“
„Sagt einmal, an wen richten sich eigentlich Zaubersprüche?“, sinnierte Kater Kalle.
König Maximus stutzte. Wie meinte der Kater das?
Kater Kalle bemerkte den rätselnden Blick des Königs und fuhr fort: „Ans Universum? An irgendeine Gottheit, einen magischen Geist oder Dämon? Ich meine, es muss da draußen doch so etwas wie einen Zuhörer, einen Empfänger der Botschaft geben, sonst würde es keinen Sinn machen, sie überhaupt laut auszusprechen. Das würde davon abgesehen auch bedeuten, dass er, sie oder es zumindest, was jemandes Gedanken angeht, gar nicht so allwissend oder telepathisch sein kann, wie einen das oft glauben gemacht wird, nicht wahr? Wie hat man sich das vorzustellen, eine Art kosmischen Wunsch-Erfüllungs-Service? Wie in der Telefonzentrale: 'Tüdelü, bitte bleiben Sie am Apparat, der nächste verfügbare Dämon ist gleich für Sie da'?“
König Maximus bekam große Augen. Eine Dämonen-Telefonzentrale? Sollte das ein neues Geschäftsmodell für seine marode Staatskasse sein? Er schüttelte den Gedanken ab. Sein letztes Erlebnis mit einem Dämon war relativ uneffektiv ausgegangen - und auf der Spesenrechnung war er sitzengeblieben.
Kater Kalle indes philosophierte unbeirrt weiter: „Oder sind Worte einfach für sich mächtig? Von wegen 'am Anfang war das Wort'? Aber warum sie dann unbedingt aussprechen? Kann man sie nicht auch auf einen Zettel schreiben? Ist natürlich manchmal eine Herausforderung an die individuelle Rechtschreibung und Rechenkunst. Ich stelle mir das immer so vor - der Zauberer fragt seine Frau, 'Schatz, wie schreibt sich nochmal 'fidibus' und genügt ein schwarzer Kater oder müssen es drei sein?' - Also, kurz gesagt, reicht es denn nicht auch, wenn die Dinger eben einfach im Zauberbuch stehen, man intensiv an sie denkt oder die Augen und damit auch die bewussten Gedanken darauf richtet?“
Endlich mischte sich Maximus' Hofzauberer ein, der die ganze Zeit über (er war es ja gewohnt, ständig durch unnötige Nachfragen in seiner Arbeit unterbrochen zu werden) geduldig darauf gewartet hatte, weitermachen zu dürfen: „Natürlich. Ist alles eine Frage des Effekts. Den Gegner beeindrucken oder zumindest verunsichern, und naiveren Mitbürgern das Gefühl vermitteln, man habe alles unter Kontrolle. Man habe die Macht. So gesehen könnte ich auch meinen Einkaufszettel auf Serbokroatisch übersetzen und auswendig lernen, von Zeit zu Zeit bedeutungsschwanger so etwas wie 'Einen Liter H-Milch, drei Komma fünf Prozent Fett!' murmeln und mein Gegenüber würde denken, ich hätte ihm gerade den Rinderwahnsinn an den Hals gewünscht. Seid gänzlich unbesorgt, Eure Schnurrigkeit: Wenn ich Euch verzaubern will, dann schaffe ich das höchst nachhaltig auch ohne das königliche Brimborium, aber es wird eben von mir erwartet. Wenn Ihr also gestattet, ich habe hier noch einen Fluch fertig zu... fluchen.“
„Dabei fällt mir ein: Wozu genau dient eigentlich der Spruch, den Ihr gerade auf den Lippen hattet, also vielmehr der dahinter stehende Zauber?“, erkundigte sich Kater Kalle.
„Schon mal davon gehört, dass Katzen an Neugierde sterben können?“, gab der Hofzauberer mürrisch zurück.
Kalle zuckte mit den Schultern. „Ihr hättet ja gleich zugeben können, dass Ihr es selbst nicht wisst“, bemerkte er.
Der Hofzauberer zuckte ebenfalls, allerdings nervös mit den Augenbrauen. Ertappt!
„Glaubt ja nicht, Ihr könntet mich mit derart plumpen Tricks dazu verleiten, irgend etwas zu verraten, das Euch nutzen könnte!“, knurrte er. „Das ist ein bewährter Fluch von einem großen Zauberer, der damals höchste Erfolge damit erzielt hat.“
„...und genau was

 

bewirkte?“, hakte der Kater nach.
„Er...“, setzte der Spitzbärtige an, als jäh König Maximus wieder das Wort ergriff.
„Zauberer! Kann Er jetzt, bitte schön, ausführen, wozu ich Ihn herbeizitiert habe, und die nervtötende Samtpfote in Luft auflösen oder zumindest in die nächstgelegene Paralleldimension befördern?“
„Selbstverfreilich“, murmelte der Zauberer nicht ganz überzeugend und knackte mit den Fingergelenken. „Wie gesagt, leichteste Übung. Nyekrasti, sbarly, hasti!“
Das Paralleluniversum, in welches der Zauberspruch den Kater hätte verbannen sollen, war immerhin so freundlich, Maximus' Zauberer zu erklären, dass ein plagiierter, überdies falsch betonter Zauberspruch, noch dazu, wenn er von einem seine Magie noch nicht gefunden habenden Schmendrick stammte, nicht der richtige Weg in es war. Noch bevor der Hofzauberer fragen konnte, wer das denn nun wieder sei, hatte sich der Kanal in die andere Welt wieder geschlossen (immerhin: das hatte der Zauber doch bewirkt!) und er würde - mindestens in dieser Beziehung, vermutlich aber noch mehr - wohl dumm sterben müssen.
„Hmm. Hhhmmmmmm", machte er verlegen. „Das – äh – war es wohl doch nicht. Vermutlich eine Inkompatibilität der magischen Schwingungskompensationsrate mit der Kalibration des... Moment!“
Eine neuerliche Rauchwolke brachte sämtliche Anwesenden zum Husten, dann war der Hofmagier verschwunden. Nur sein Umhang lag noch auf dem Marmorboden des Palastes.
„Man bekommt einfach kein vernünftiges Personal mehr“, konstatierte Maximus der Große resigniert. „Der Wach- und Schließdienst hat auch vor ein paar Tagen gekündigt, sodass wir Ihn, fürchte ich, weder werden einschließen noch bewachen lassen können. Und der Riese, den wir als Rausschmeißer angefordert haben, musste wohl wegen irgendeiner nicht für seine lichte Höhe zugelassenen Brücke auf dem Weg hierher unverrichteter Dinge wieder umkehren. Er ist uns überlegen, Kater Kalle. Er hat gewonnen, wir geben auf.“
Maximus hatte seinen Blick gesenkt und wartete ab. Eine unangenehme Stille wehte ihm entgegen. Minutenlang sagte niemand etwas, dann wagte der designierte Ex-König es, sich kurz umzusehen. Er war allein im Thronsaal. Nicht einmal mehr der Haushofmeister stand an der Pforte, und irgendwie war es auch merklich düsterer und kälter geworden. Zu allem Überfluss ertönte nun eine körperlose Stimme, die überdies auch noch in Reimen sprach, wie Maximus – der, seit ihn seine königlichen Eltern zusammen mit seinem Haus- und Hoflehrer damals als Kronprinz dazu gezwungen hatten, Schillers 'Bürgschaft' nicht nur auswendig zu lernen, sondern auch noch vorzutanzen, gegen jegliche Art von Lied, Gedicht und rhythmischer Bewegung allergisch war – zähneknirschend feststellen musste.

Wenn ein mutiges Katzenkind
Auf dem Rummel 'nen goldenen Preis gewinnt
Wenn ein Herrscher angeblich sein Reich verschenkt
Und dabei doch nur an sich selber denkt

Wenn der König, der alle nur ausgebeutet,
Schließlich nach seinem Magier läutet
Dann wird's auf dem ganzen Schlosse still
In Friedenseck, nicht Canterville.



Irgendwie kam ihm das verdammt bekannt vor. Und irgendwie fragte er sich, was das Ganze sollte.
„Das kommt dir sicherlich bekannt vor. Und du fragst dich, was das Ganze soll“, stellte die Stimme fest.
König Maximus nickte stumm.
„Ja, das dachte ich mir“, sagte sie. „Also, zum Ersten, der Grund weshalb dir das so bekannt vorkommt, ist, dass wir uns damals keinen eigenen Dichter für die Formulierung der Prophezeiung leisten konnten, sondern einfach ein gut klingendes, prophetisches Gedicht aus einer Geschichte von Oscar Wilde entsprechend modifiziert haben. Der Schluss ist ein wenig albern, aber reimen musste es sich ja auch noch.“
Der König räusperte sich, schwieg aber weiter.
„Wir wissen natürlich auch, dass du dagegen allergisch bist; mach' dir keine Sorgen, wir reimen nicht mehr heut' Morgen.“
Maximus musste niesen.
„Ups“, sagte die Stimme.
„Und geläutet habe ich auch nicht, sondern mit den Fingern geschnippt“, protestierte er endlich.
„Wir wollen doch jetzt nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, nicht wahr?“ Die Stimme klang amüsiert. „Eine unserer Prophezeiungen gilt als erfüllt, wenn 75 Prozent der vorhergesagten Ereignisse tatsächlich und wortwörtlich eingetreten sind. Das ganze Geschäftsmodell würde zusammenbrechen, wenn man nicht gelegentlich ex post facto noch nachbessern könnte. Obwohl ich zugeben muss, dass es schon etwas schwierig war, in den gesamten Vorhersagen über die Erschießung Obamas das „b“ durch ein „s“ ersetzen zu lassen, ohne dass es die Prophezeiungs-Skeptiker mitbekamen...“
„Wir wissen wirklich nicht, wovon Er redet.“
„Ach, Entschuldigung, falsche Paralleldimension. Ist auch nicht so wichtig.“
„Davon einmal ganz abgesehen, was ist der Sinn dieser Vorhersage? Jetzt ist es im ganzen Schloss still, und dann?“
„Ich war gerade dabei, es dir zu erklären, als du angefangen hast, den Besserwisser raushängen zu lassen“, erklärte die Stimme indigniert.
Der König räusperte sich erneut. Er wollte der Stimme verärgert mitteilen, dass sie ihn, wenn sie nicht gerade während des letzten Krieges zusammen im Schützengraben gelegen hätten, gefälligst nicht zu duzen habe, entsann sich dann aber weder eines passenden Schützengrabens noch überhaupt eines Krieges, auf den das hätte zutreffen können, und beließ es dabei.
„Also. Du wirst dich nicht an den letzten großen Krieg erinnern, in dem wir zusammen im Schützengraben gelegen haben, weil es ihn, genau genommen, nicht gegeben hat. Jedenfalls nicht, nachdem die Großen Temporalweisen die historischen Ereignisse entsprechend angepasst haben. In jenem nicht stattgefundenen Krieg gelang es den Schergen des feindlichen Feldherrn, eines Herrn Apunkt Hapunkt aus Bepunkt am Ipunkt in Öpunkt... den Namen haben wir aus Sicherheitsgründen unkenntlich gemacht... von einem mächtigen, in falschen Händen sogar potenziell gefährlichen magischen Artefakt Besitz zu ergreifen.“
Der König sog zwischen zusammengebissenen Zähnen geräuschvoll Luft ein. „Der Bundeslade?“, fragte er ehrfürchtig.
Natürlich nicht. Weiß gar nicht, wie du darauf kommst. Obwohl, einen irgendwie religiösen Hintergrund hatte die Sache schon. Es handelte sich um eine Art Mönchsgewand, mit dessen Hilfe man mit Tieren kommunizieren konnte, wenn man die Kapuze über den Kopf zog. Zuletzt bei einem Prediger des frühen 13. Jahrhunderts in der Nähe von Perugia in Italien gesehen, dann auf lange Zeit verschwunden. Es hört sich vielleicht eher Dr.-Doolittle-mäßig lustig als gefährlich an, mit Tieren zu reden, aber man stelle sich vor, die Nazis hätten ein paar von den intellektuell eher einfach gestrickten Mitgliedern des Tierreichs mithilfe ihrer Propagandamethoden verklickern können, wo ihrer Meinung nach der Feind sitzt...“
„Wird das die Inhaltsangabe eines Dan-Brown-Romans?“
„Ich glaube nicht - jedenfalls wieder mal nicht in diesem Universum. Was soll's, ich gebe dir einfach die Kurzfassung: Der Grund, weshalb du diesen Kater, der sich Kalle nennt, verstehen konntest, liegt in der Tatsache, dass dein königlich-ururgroßväterlicher Umhang offenbar aus dem Stoff des verschollenen Gewandes hergestellt ist. Frag' mich jetzt bitte nicht, wie das sein kann, soweit sind wir mit unserer Geschichtsforschung selbst noch nicht gekommen. Aber die Tatsache ist unbestreitbar. Oder hast du vorher schon einmal Tiere sprechen hören?“
„Nun ja...“
„Nein, die Frage ziehe ich zurück.“
„Verrat' Er mir eines noch: Er sprach von dem 'Kater, der sich Kalle nennt'. Woher weiß Er, wie sich der Kater nennt, wenn es doch nur durch unser königliches Gewand möglich ist, ihn sprechen zu hören?“
„Ich habe nicht gesagt, dass das Gewand mit dem magischen Artefakt identisch ist, das Eine wurde lediglich aus dem Stoff des Anderen hergestellt. Wir sind im Besitz eines anderen Stückes Stoff, einer Narrenkappe, gekommen, die dieselbe Eigenschaft hat. Mit dem Gaukler, dem sie gehörte, muss der Kater wohl vorher umhergestreunt sein. Das erklärt auch seine eigenartige Kostümierung zu einem gewissen Grad, nicht wahr? Und er muss von dem Umhang erfahren haben. Wahrscheinlich über einen seiner Ahnen, der deinen Ur-Urgroßvater kannte.“
„Moment, sehe ich das richtig - der Narr, der mit dem Kater sprechen konnte, hat seine Kappe verloren und war über den Verlust dieser Fähigkeit so traurig, dass der Kater beschloss, König unseres Reiches zu werden, um als Ersatz das königliche Gewand zu erhalten?“
„Miau. Ungefähr so verhält sich das“, bestätigte Kater Kalle, der ebenso samtpfotig-lautlos, wie er verschwunden, vor Sekunden wieder aufgetaucht war. „Nachdem Ihr allerdings, wie Ihr gerade zugegeben habt, im Besitz der Kappe meines Freundes seid, würde ich mich durchaus auch mit dieser zufriedengeben und die Herrschaft über das Reich weiterhin in den... kompetenten Händen König Maximus' des Großen belassen.“
Die körperlose Stimme schien einen Augenblick zu überlegen, was insofern schwierig erkennbar war, als man lediglich ihr Schweigen als Hinweis darauf sehen konnte. Dann sprach sie: „Wenn wir stattdessen ein Stück des Königsmantels als Forschungsobjekt bekommen könnten: Deal.“
Der König nickte geistesabwesend. „Ja, unseretwegen gern, nehm' Er sich, was Er braucht. Die ganze Geschichte ist ohnehin schon verworren genug.“
„Wieso? Ist doch alles prima!“, freute sich Kater Kalle. „Wenn das mal kein Happy Ending ist – alle haben, was sie wollten, alle sind glücklich und zufrieden, und so weiter, und so fort. Was bedrückt Euch denn noch, Majestät?“
„Die Prophezeiung natürlich! Was sollte der ganze Spuk? Wozu müssen körperlose Wesen und sprechende Katzen...“
„Kater!“, erklärte Kalle mit Nachdruck.
„...sprechende Kater in meinem Palast herumwuseln und mir etwas von parallelen Welten und magischen Artefakten erzählen?“
„Ist Euch das nicht klar geworden, Majestät?“, fragte die Stimme etwas verwirrt und vergaß sogar für einen Augenblick, den König zu duzen.
„Ganz ehrlich? Nein“, brummte der König.
„Oh. Verflixt. Ich hasse diese langen expositorischen Monologe, die körperlose Stimmen wie ich immer zu liefern haben, und hatte gehofft, es dieses Mal zu vermeiden...“
„Seid froh, dass Ihr kein Bösewicht geworden seid, die

 

nerven richtig“, warf Kater Kalle ein. „Wie damals, als wir vom fiesen Stiefbruder der wunderschönen Prinzessin in den tiefsten Kerker geworfen wurden, weil mein Freund Till einen blöden Witz über sein Muttermal gemacht hatte...“
„Was war denn mit seinem Muttermal?", wollte Maximus wissen.
„Es konnte sprechen. Aber das ist doch jetzt gar nicht wichtig; ich meinte nur, der hat uns eine ewiglange Rede darüber gehalten, was er in der Folterkammer alles Schreckliches mit uns vorhat, und gar nicht gemerkt, dass Till mittlerweile unsere Kettenschlösser geknackt, die Prinzessin geheiratet, mit ihr auf Fidschi Flitterwochen gemacht, wieder zurück kurz den Thron bestiegen und abgedankt hatte, nicht ohne den Gemeinling vorher zu lebenslanger Zwangsarbeit in den südamerikanischen Puddingminen zu verurteilen...“
Diesmal war es an der körperlosen Stimme, sich zu räuspern. „Ich verstehe, was du meinst, Kalle, aber je schneller du mich zu Ende erzählen lässt, desto eher können wir hier alle wieder friedlich unserer Wege gehen.“
„Na dann. Aber versucht's noch einmal mit der Kurzfassung", forderte der Kater.
„Daran hätte ich auch Interesse", bestätigte König Maximus.
„Fein. Wisst ihr, was ein roter Hering ist?“
Der König und der Kater sahen sich fragend an.
„Ein McGuffin? Benzin für die Kettensäge? Nein?“
Beide schüttelten die Köpfe.
„Ach, bis ich euch das

 

erklärt habe... Schlagt's in der Wikipedia nach. Oder lasst euch die Geschichte von Marsha aus Dominia erzählen. Ich muss los! Kann ich bitte noch die Gewebeproben von Eurem Umhang haben, Majestät? – Vielen Dank und auf Wiederhören!“
„He, hättest du nicht einfach den Umhang des Zauberers nehmen können? Der hat mich schließlich auch verstanden!“, rief Kalle der Stimme noch hinterher. Doch er erhielt keine Antwort mehr. Der König patschte sich mit der flachen Hand an die Stirn. Dass ihm das nicht aufgefallen war!
Seit diesem Tag war es Tradition, dass die Könige des Landes Friedenseck in einem kurzärmeligen Gewand regierten. Kater Kalle dagegen zog weiter mit seinem Freund, dem Gaukler (und der Prinzessin, die das königliche Leben ohnehin schon lange satt gehabt hatte), durch die Welt und erlebte noch viele Abenteuer - aber davon wird euch vielleicht ein anderer Autor an einem anderen Tag in einer anderen Geschichte erzählen...

Impressum

Texte: Jörg Weese
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2012

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