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Meister Abromar und der Wolkenstein


Auf einen lächerlich großen Speer gestützt, respektive mit einer ebenso albernen weil ganz offensichtlich aus dem Theaterfundus stammenden Hellebarde bewaffnet, standen die zwei ungewöhnlich großen Zwerge vor dem mächtigen schmiedeeisernen Tor der Zwergenhöhle. Auch dieses war zwar eindeutig als Attrappe zu erkennen – der eigentliche Eingang war eine kleine Tür in der Mitte – aber trotz dieser offensichtlichen Schwächen in ihrer Ausstattung war zumindest einer der beiden gut genug gelaunt, um eine kleine Melodie zu summen. Der andere dagegen seufzte vernehmlich.
„Wann kommt jetzt endlich die Ablösung?“, fragte er. „Wie spät ist es?“
Auch der Kamerad hatte offenbar seine Armbanduhr vergessen. „Kann nicht mehr lange dauern. Schließlich hat der Hauptmann es noch gesagt, bevor er uns aufgestellt hat... Wir haben die erste Wache; dann, nach 24 Stunden, werden wir von Fassold und Flaschner abgelöst“, erklärte er immerhin.
Eine kleine Pause entstand, während der der Zwerg mit der Hellebarde angestrengt nachzudenken schien.
„Wir sind Fassold und Flaschner“, stellte er schließlich ganz korrekt fest.
Erneut folgte zunächst eine gewisse Phase der Stille, bevor Flaschner – um ihn handelte es sich bei dem mit dem lächerlich großen Speer bewaffneten ungewöhnlich großen Zwerg – losprustete: „Hab' doch gewusst, dass ich die Namen schon 'mal gehört habe. Ha, das wird lustig, wenn diese beiden Trottel hier auftauchen und uns ablösen wollen: 'Hallo, wir sind Fassold und Flaschner!' - 'Hallo. Wir auch!' Har-di-har.“ - Das sagte er wirklich; Fassold hasste ihn für die Angewohnheit, ihn selbst so offensichtlich stümperhaft zu imitieren.
„Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache“, brummelte er ohne Flaschner anzusehen und blickte stattdessen einem vorbei rasenden Falken nach, der sich offenbar verflogen hatte.
Flaschner wirkte verwundert, weniger über die so billig gemachte Anspielung auf den Krieg der Sterne als vielmehr über die Aussage seines Kumpanen. „Wieso das denn?“, fragte er ihn. „Mach' dir keine Sorgen, Fassold. In ein paar Stunden können wir's uns drinnen gemütlich machen und uns ausruhen.“
Fassold drehte sich ihm jetzt doch zu. „Drinnen, ja? Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass wir gar nicht durch diese kleine Tür passen, die sie in den Höhleneingang gebaut haben?“
„Das hat schon seinen Sinn. Der Hauptmann hat gesagt, deswegen sind wir ja so besonders geeignet für den Wachdienst, und außerdem...“
„Es interessiert mich nicht, was der Hauptmann gesagt hat. Ich glaube, man hat uns reingelegt“, stellte Fassold, wie er hoffte unmissverständlich, fest. Flaschner zeigte sich unbeeindruckt.
„Das siehst du zu schwarz, glaube ich. Denk porentief, wie unser Hauptmann immer sagt.“
„Wirst du endlich mit dem Hauptmann aufhören? Und außerdem heißt das 'po-si-tiv', Flaschner!“
Jetzt war Flaschner beleidigt. „Mir doch egal!“, schnappte er.
Wieder entstand eine – diesmal irgendwie peinliche – Stille. Dann fuhr Flaschner plötzlich zusammen, begab sich in – zumindest eine Art – "Stillgestanden"-Haltung und brüllte vernehmlich „Halt! Wer da?“ in die Herbstnacht. „Was soll die Frage?“, meldete sich Fassold verständnislos, um überflüssigerweise noch hinzuzufügen: „Ich bin's - Fassold!“
Flaschner zischte aus zusammengebissenen Zähnen: „Mit dir redet ja auch keiner, du Zwerg.“
„Das werd' ich mir merken“, gab Fassold grimmig zurück. Vor dem falschen Tor beziehungsweise der echten Tür zur Zwergenhöhle stand eine kleine Hexe, keineswegs jung, eben nur etwas kurz geraten, aber das sollte man ihr 'mal nicht persönlich sagen. Marsha hatte die Angewohnheit, jegliche Anspielung auf ihren Mangel an Körpergröße mit klassischen Hexenflüchen zu „belohnen“, was unter anderem dazu führte, dass die Froschpopulation Dominias enorm in die Höhe gegangen war, seit sie dort ihren neuen Erstwohnsitz angemeldet hatte. Durch Lizenzzahlungen aus dem betreffenden Zauberspruch-Patent (das nicht nur unliebsame Märchenprinzessinnen in Frösche sondern auch Prinzen in Staubsauger verwandelte) war sie als geschickte Jungunternehmerin immerhin zu gewissem Reichtum gelangt, was der geneigte Leser bitte nicht an das Finanzamt melden möge.
Fassold und Flaschner nun ignorierte sie vollkommen; vielmehr war sie damit beschäftigt, im Gebüsch vor der Höhle nach etwas zu suchen.
Es war schließlich Flaschner, der sich ein Herz fasste.
„Das Passwort!“, rief er mit fester Stimme.
Marsha zeigte sich unbeeindruckt. „Hab' ich vergessen“, murmelte sie halbherzig und abwinkend.
Flaschner wirkte verunsichert. „Hmm“, machte er. „Hmmmm. Komisch. Ich auch. Trotzdem darf ich dich hier nicht reinlassen, bevor du nicht das Passwort gesagt hast.“ Marsha war schon etwas genervt. „Ich will ja auch gar nicht rein“, erklärte sie wahrheitsgemäß.
„Hast du gehört, sie will gar nicht rein!“, nutzte Fassold seine Chance, auch etwas Sinnvolles zum Gespräch beizutragen.
„Davon steht nichts in der Vorschrift. Da steht: 'Eine Einlass begehrende Person ist vor Gewährung des Einlasses in jedem Falle nach dem Einlass-Passwort zu befragen.' Davon, wonach ich eine nicht am Einlass gebärende Person befragen soll, steht da aber gar nix.“ „Einlass begehrende“, warf Fassold ein.
„Mir doch egal!“, polterte Flaschner erneut.
„Davon abgesehen, gefragt hast du sie jetzt. Steht da auch, dass sie antworten muss?“, bohrte Fassold nach. Flaschner zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Muss ich 'mal nachschauen.“
Er griff hinter einen Busch und zog ein angekettetes Buch hervor. Es hatte ungefähr die Größe zweier mittlerer Aktenkoffer. Auf dem Umschlag stand in großen, freundlichen Buchstaben „Keine Panik“. Nein, das steht auf einem anderen Buch. Auf diesem stand simpel das Wort „Dienstvorschrift“. Flaschner begann konzentriert darin zu blättern, während Fassold versuchte, Marsha in Smalltalk zu verwickeln.
„Was genau ist es eigentlich, das du hier suchst?“, erkundigte er sich.
Marsha blieb einsilbig. „Ein Stein“, erklärte sie widerwillig. Fassold grinste blöde. „Einstein? Ich glaube nicht, dass der hier ist. Der ist noch im Krankenhaus, weil er neulich in ein schwarzes Loch gefallen ist.“
„Witzbold“, murmelte Marsha wenig überzeugend.
„Nee, Fassold. Har-di-har.“ - Er tat es wieder.
Marsha bewies für ihre Verhältnisse eine Engelsgeduld. „Ich suche nicht Einstein, sondern einen Stein. Einen lebenden Stein, um's genau zu sagen.“
Fassold, so schien es, hatte in der Dienstvorschrift das Kapitel über „Verbotenen Humor im Dienst“ überlesen, denn nun deklamierte er mit mehr-als-britischem Akzent: „Doctor Living Stone, I presume?“, woraufhin beide Zwerge gleichzeitig in ein irres Kichern verfielen – Flaschner ließ dabei das Buch beinahe auf Marshas Füße fallen, und sie war NICHT AMÜSIERT.
„Genug!“, schrillte sie wutentbrannt, „oder ich verwandle euch in Zwerge!“
Fassold und Flaschner drehten synchron die Köpfe zueinander. „Sind wir schon!“ tönte es erwartungsgemäß gleichzeitig aus ihren Kehlen.
„Ach, ihr, ihr, ihr --- wisst genau, was ich meine“, stotterte Marsha, die dann doch grinsen musste.
„Schon gut“, beschwichtigte Fassold. „Aber das mit dem Stein solltest du uns erklären.“
„Wenn ihr's unbedingt wissen müsst“, lenkte auch Marsha ein. „Zugegeben, es ist wirklich albern. Also. Ihr kennt Abromar?“
„Was soll die Frage? Wer kennt ihn nicht?“, sagte Fassold. Marsha seufzte. „Danke, genau das wollte ich hören. Mein Name ist übrigens Marsha, angenehm, danke der Nachfrage.“
„Oh, Verzeihung, Gnädigste. Schöh mappell Fassold, und das ist mein mental herausgeforderter Kollege Flaschner.“ „Jawoll, herausgefordert!“, rief dieser freudig. „Äh -- was ist 'mental'?“, fügte er mit rätselndem Blick hinzu.
„Du siehst, was ich meine...?“, flüsterte Fassold in die Richtung Marshas, wogegen Flaschner nachhakte: „Bist du auch berühmt?“
„Sicher doch“, nickte Marsha eifrig. „Habt ihr noch nie von Froschex gehört? Die Werbung läuft auf allen Kanälen.“ Flaschner zuckte mit den Achseln. „Ach, wir kommen hier so selten zum Fernsehen...“
„Naja, jedenfalls ist der Stein namens Stein Abromars Gehilfe“, erklärte Marsha.
„Seine Geh-Hilfe? Scheint ziemlich alt zu sein“, kalauerte Fassold.
Marsha lachte etwas gequält. „Deine Witze waren auch schon mal besser“, versuchte sie es diplomatisch. „Aber im Grunde hast du recht. Nur dass es eigentlich eher eine Sitz-Hilfe ist. Abromar hat ihn sich gezaubert, weil er eine Bank brauchte, die ihm überallhin folgt. Nur für den Fall, dass er sich mal setzen will. Allerdings hat Stein ein bisschen zu viel Eigenleben entwickelt. Naja, und jetzt ist er auf und davon.“
„Und wo ist das Problem?“, fragte Fassold. „Soll er sich doch einen Neuen zaubern. Und es diesmal vor allem richtig machen.“
„Das Problem ist, dass sein Zauberlehrling aus Versehen Abromars Wolkenmagneten an Stein verfüttert hat.“
„Ach, essen kann der auch?“, wunderte sich Flaschner. Marsha nickte. „H-Hm. Ihr etwa nicht? Ich werde nur nie verstehen, warum Abromar das Teil mit Schokolade überziehen musste. Na, jedenfalls zieht Stein jetzt unkontrolliert sämtliche Unwetter an, konzentriert sie, und wenn wir ihn nicht finden und den Magneten unschädlich machen, wird Dominia von einem Blitz getroffen, der es in tausend Stücke hauen wird.“
„Nicht so nett“, stellte Fassold fest.
„Du sagst es.“ Marsha nickte erneut.
Flaschner war beeindruckt. „Tausend Stücke. Wow. So weit könnte ich nicht mal zählen“, philosophierte er nachdenklich.
„Wirst du dann auch nicht mehr müssen, schätze ich“, brachte es Fassold auf den Punkt.
Marsha nickte zum dritten Mal und organisierte zur besseren Veranschaulichung 'mal eben eine Rückblende. Sie beginnt mit den Worten „Als dem Großmeister Abromar zum ersten Mal auffiel, dass sein neuer Gehilfe Wilbur Simons mehr war als ein gewöhnlicher Zauberlehrling, war dieser gerade vierzehn Jahre alt geworden“, wofür man sich eine beeindruckende Erzählerstimme vom Schlage eines Hans Paetsch vorstellen müsste, den sich aber selbst Marsha nicht von den Toten aufzuerwecken in der Lage sah. Egal. Also:

Als dem Großmeister Abromar zum ersten Mal auffiel, dass sein neuer Gehilfe Wilbur Simons mehr war als ein gewöhnlicher Zauberlehrling, war dieser gerade vierzehn Jahre alt geworden. Das war natürlich generell ein schwieriges, gleichzeitig aber auch das Alter, in dem magische Fähigkeiten am deutlichsten zutage traten – zumindest gemäß Abromars höchsteigener Theorie. Abromar hatte ihn am dreizehnten Tag nach seinem dreizehnten Geburtstag als dreizehnten seiner Zauberlehrlinge eingestellt, nachdem er ihn unter dreizehn Kandidaten ausgewählt hatte, was viele als ein Zeichen sahen. Nämlich dafür, dass der Großmeister langsam senil wurde und in Pension gehen sollte. Seufzend ließ sich Abromar auf die Steinbank vor seiner Hütte nieder. Warum nur mussten alle Zauberlehrlinge dieser Welt die alberne Nummer mit den verzauberten Besen ausprobieren, wenn ihr Meister ein Bad nehmen wollte? Abermals seufzte er und sah nach unten auf seine nassen Pantoffeln, was die aus irgendeinem Grund grün lackierte steinerne Sitzbank mit einem leisen Kichern quittierte.
„Ruhe“, brummte Abromar verärgert. „Ich finde das ganz und gar nicht komisch. Auch wenn ich mittlerweile auf diesen Unsinn vorbereitet bin, heißt das noch lange nicht, dass ich bereit bin, ihn zu tolerieren.“
Was Abromar noch weniger zu tolerieren bereit war, war das fortwährende Gekicher seiner Sitzbank. Er hatte schon des Öfteren zähneknirschend zugeben müssen, dass er sich bei ihr etwas ver–zaubert hatte. Als er sie mit eingeschränkten Lebensgeistern ausstattete, hatte er eigentlich nur im Sinn gehabt, dass sie imstande sein sollte, ihm überallhin zu folgen, wo er sie benötigte. Was er nicht beabsichtigt hatte, war ihr andauerndes spöttisches Kichern. Abromar hasste Kritiker. Aber solange er keinen Weg gefunden hatte, der Bank das alberne Gekicher wieder abzugewöhnen, würde er wohl damit leben müssen, wollte er nicht auf ihren Komfort verzichten. Natürlich hatte die Bank allen Grund zum Spott. Abromar hatte eigentlich geglaubt, keine der Possen seiner Zauberlehrlinge könne ihn mehr überraschen, schon gar nicht die Standardnummer mit den Besen. Aber dieser Wilbur Simons hatte es tatsächlich geschafft, Abromar eines Besseren zu belehren. Zugegeben, Wilburs Lösung des Besenproblems war eine der Kreativeren gewesen. Der Meister hatte selbstverständlich nach den letzten Unfällen dieser Art Vorkehrungen getroffen und seinen gesamten Vorrat an Besen günstig an befreundete Hexen im Umland abgestoßen, um zukünftige Lehrlinge erst gar nicht auf die Idee kommen zu lassen, sie als Transportmittel für sein Badewasser zu missbrauchen. Und dennoch, um den gelegentlich anfallenden Zauber- Müll zu beseitigen, konnte keine Zaubererwerkstatt ohne zumindest einen Besen auskommen. Abromar hatte dessen Bedrohung ganz offensichtlich unterschätzt. Anstatt den Besen viele Male zum Brunnen laufen zu
lassen, was bei der Größe von Abromars multidimensionaler Badewanne unendlich lange gedauert hätte, war der Junge auf die Idee verfallen, ein einzelner Besen könne problemlos genügend Wasser auf einmal transportieren, wenn er nur groß genug wäre. Der Meister würde zufrieden sein, dass Wilbur seinen Auftrag so schnell erledigt hatte.
Abromar indes war keineswegs begeistert, als er dem gewaltigen Besen gegenüberstand, der die Türme des nahegelegenen Schlosses um ein Mehrfaches überragte und drohte, dieses – in einem Anfall von Orientierungslosigkeit bezüglich der Lage von Abromars Badewanne – mit seinem nicht minder gewaltigen Eimer in ein Wasserschloss zu konvertieren. Nachdem er seinen anfänglichen Schock überwunden hatte, begann der Großmeister resigniert die bewährte Gegenzauberformel zu deklamieren: „Besen, Besen, sei's gewesen“, brummelte er in seinen Zaubererbart hinein, in Gedanken bereits mit der folgenden Züchtigung seines neuen Zauberlehrlings beschäftigt.
Der Besen jedoch machte keinerlei Anstalten, gewesen zu sein. Er sandte einen fragenden Blick in Richtung Abromar, als wolle er sagen „Wie bitte?“ und schickte sich dann achselzuckend an, den Inhalt seines Eimers über das Schloss zu gießen. Das Wasser schwappte gefährlich über den Rand besagten Gefäßes.
Abromar stutzte. Was war falschgelaufen? Bis jetzt hatte dieser Spruch doch immer tadellos funktioniert. Der Gedanke an einen Wasserfall, der sich über die Türme und Dächer des Schlosses ergoss, begann ihn zu beunruhigen. Ausgerechnet samstags, wo kein Klempner erreichbar war!
„Heda!“ brüllte er den Besen an. Der unterbrach seine Arbeit und hielt eine Hand an die Stelle, wo sein linkes Ohr gewesen wäre, hätte er ein Gesicht gehabt. In Abromar begann es zu dämmern. Der Besen war so groß, dass er Abromars Gegenzauberspruch aus der Höhe einfach nicht verstehen konnte. Abromar verlegte sich auf die Zeichensprache.
„BE-SEN, BE-SEN“, gestikulierte er, wild mit den Armen fuchtelnd auf selbigen weisend. „SEI ́S GE-WE-SEN“, fügte er hinzu, wobei er sich mit dem Daumen der linken Hand von rechts nach links über die Kehle fuhr. Der Besen bog endlich sein oberes Viertel mehrmals nach unten, was Abromar als ein verstehendes Nicken wertete, und verschwand kurz darauf spurlos. Was nicht verschwand, war der gigantische Eimer, der mangels einer haltenden Hand zu Boden fiel und seinen Inhalt - - -
An diesem Punkt muss sich der Erzähler kurz in die Geschehnisse einmischen. Ganz offensichtlich hat Abromar bei Anwendung seines Spruchs auf den Besen kurzfristig nicht mehr bedacht, dass sein Zauberlehrling ja nicht nur diesen, sondern auch den dazugehörigen Eimer gewaltig vergrößert hatte. Um die aufgrund der so festgefahrenen Situation praktisch unvermeidliche Katastrophe abzuwenden, hat der Autor dieser Geschichte beschlossen, unserem Meisterzauberer durch Anhalten der Außenzeit eine kurze Pause zum Nachdenken zu gönnen.
Abromar starrte auf den in der Luft schwebenden Eimer. Vielleicht hätte man ihm vorher Bescheid geben sollen. Immerhin war er geistesgegenwärtig genug, die Zeit für einen Lösungsversuch seinerseits zu nutzen, anstatt ob der Beseitigung der unmittelbaren Gefahr ganz einfach nach Hause zu gehen und sich erst einmal eine Tasse Kaffee zu genehmigen. Er sprach einen Verkleinerungsspruch über den Wassereimer, trug die daraus immerhin noch resultierenden nassen Füße mit Fassung, woraufhin die Zeit weiterfließen konnte und die bereits bekannte Situation – Abromar, auf seiner kichernden Bank sitzend (die überdies die Vorstellung absurd fand, ein Zauberspruch müsse vom Betroffenen gehört werden, um zu funktionieren) – entstehen ließ.

Währenddessen, in einer anderen Galaxis... Die Schiffe der Rebellen, die von geheimen Stützpunkten aus angriffen (und damit schon wieder so eine idiotische Star-Wars- Anspielung produzierten), hatten eine Spur von Rauch, Asche und allgemeiner Verwüstung in Marshas Zauberwald am Rande des Zentralsees hinterlassen. Immerhin, die Schneise, die sie in den Wald geschlagen hatten, konnte jede Grundschulhexe mit Hilfe eines mehr als simplen Zauberspruches in Sekundenschnelle wieder aufforsten – mit derselben Formel übrigens, die auch Marshas eingelaufenen Baumwollpullovern jedes Mal wieder die passende Größe verlieh. Aber um die seither im Wald ansässig gewordenen lästigen teddybärigen Kreaturen loszuwerden, die nicht aufhörten, Marsha um Honigkuchen anzubetteln, bedurfte es schon drastischer Maßnahmen. Manchmal hatte Marsha wirklich das Gefühl, sie befände sich im falschen Film. Zu dumm, dass noch niemand selbigen erfunden hatte. Sie würde sich zu gegebener Zeit damit beschäftigen. Aber jetzt erst einmal – Marsha seufzte, holte ein Stück Honigkuchen aus ihrem Einkaufskorb und reichte es einem der Bären, der vorsichtig an ihrem Rock zupfte und mit seinem schlecht einstudierten Ach-guck-mal-wie-süß-Blick eher lächer- als niedlich wirkte – wo waren wir stehengeblieben? Richtig, genau dieses Viehzeug musste man loswerden, am besten ohne Rückfahrkarte in einem Zug nach Nirgendwo.... Verflixt. Nicht einmal der öffentliche Nahverkehr war erfunden. Was für ein Tag.
Dass jetzt auch noch die anhängliche kleine Gewitterwolke über Marshas Hütte gefährlich donnerte, wie sie es in den letzten Tagen immer wieder einmal getan hatte, konnte sie eigentlich nur noch peripher tangieren. Sie begab sich zurück zu ihrer Designerhütte, von ihren Kolleginnen auch „Hexenhäuschen“ genannt, was Marshas Stolz ein wenig verletzte. Immerhin hatte Meister Giorgiaro persönlich die Pläne entworfen. Die Tatsache, dass sie jetzt das Privileg einer Giorgiaro-Hütte zum Selbstkostenpreis besaß, verdankte Marsha allerdings dem Umstand, dass Meister Giorgiaro die Pläne, kurz nachdem er sie ent-, auch gleich wieder ver- und schließlich weggeworfen hatte. Was soll's, dachte Marsha, auch ein verworfener Giorgiaro blieb verflixt noch mal immer noch ein echter Giorgiaro. Und niemand besaß das Recht, daran herumzumäkeln. Auch wenn die eigenartigen Fledermaus-Flügeltüren recht gewöhnungsbedürftig waren. Meister Giorgiaro hätte eben doch dabei bleiben sollen, das Design für die fliegenden Wagen Abromars zu verfeinern, was sein ursprünglicher Job gewesen war.
Die Flügeltüren öffneten sich mit einem Zischen, das einer Fledermaus in jedem Falle unwürdig war, und Marsha wollte gerade eintreten, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen schien. Marsha starrte auf die Wolke. Hatte sie nicht gerade gezuckt?
Tatsächlich.
„Na, es wurde auch wirklich Zeit, dich wieder auf die Reise zu machen, altes Mädchen“, lachte Marsha. Die Wolke allerdings bewegte sich zwar tatsächlich, aber kein bisschen von der Stelle. Stattdessen nahm sie in pulsierender Weise immer mehr an Umfang zu. War es ihr bis jetzt einigermaßen misslungen, drohend über Marshas Hütte zu stehen, stand sie bald mehr als beunruhigend über dem Dorf und verdunkelte die Mittagssonne. Ein seltsames Gefühl beschlich Marsha. Das sah fast so aus, als hätte Abromar, der senile Knacker, schon wieder irgendeine potenzielle Katastrophe ausgebrütet.

Wilbur Simons hatte unterdessen allen Grund, ausgelassen zu sein. Nicht nur hatte ihm sein ganz offensichtlich genialer Einfall für heute einen früheren Feierabend ermöglicht - er hatte sich, ohne lange auf diesen zu warten, einen von Meister Abromars Flugwagen ausgeborgt und war gerade auf dem Weg nach Hause - nein, es war außerdem noch der erste Jahrestag seit seiner Berufung zum Zauberlehrling, und das bedeutete, er würde ab morgen endlich ein eigenes Gehalt bekommen. Zudem erwartete er mit, wie er meinte, gutem Grund eine zusätzliche Vergütung für seinen kreativen Besenspruch, den er gleich in sein persönliches Zauberbuch eingetragen hatte. Eines Tages, das wusste Wilbur einfach, würde er der große Zauberer des Landes sein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Meister Abromar seine wahren Qualitäten endlich anerkennen würde. Wilbur musste allerdings zugeben, dass Abromars über den Wolken fliegende Wagen von einer für ihn noch unerreichbaren Genialität zeugten. Wenn er nur herausbekommen würde, was sie zum Ticken brachte.
Zum Ticken.
Wilbur stutzte. Ja, irgendetwas tickte hier in der Tat. Eigentlich hatte er es doch nur metaphorisch gemeint. Aber wie sollte man dem Wagen erklären, was „metaphorisch“ bedeutete? Jedenfalls, so war sich Wilbur sicher, sollte er dieses Geräusch an sich nicht von sich geben. Zumindest nicht, wenn alles mit ihm in Ordnung war... hmmm...
Der Wagen verlor plötzlich rapide an Höhe, und Wilbur begann sich ernsthafte Sorgen zu machen. Kurz darauf tauchte er, oder besser: sie beide tauchten in eine Wolkenfront ein. Wilbur wurde extrem schwarz vor Augen. Vielleicht sollte er sie erst einmal wieder öffnen und den Tatsachen ins Auge sehen. Besser wäre es natürlich, wenn der Sturm sein Auge zudrücken würde... ach was, jetzt war keine Zeit, mit Worten zu spielen! „Es gibt eine Zeit für die Arbeit und eine Zeit fürs Spiel“, oder so ähnlich würde es seine Großtante aus Großbritannien ausdrücken, die eigentlich gar nicht so groß (aber immer für ein pseudo-altersweises Zitat gut) war, schoss es Wilbur Simons durch den Kopf, und dann reichte es ihm wirklich.
Statt weiter auf seine wenig hilfreichen inneren Stimmen zu hören, spielte der Zauberlehrling lieber an einigen der Kontrollhebel des Flugwagens herum, woraufhin ein paar mehr oder weniger unangenehme aber auch gegenteilige Dinge nahezu zeitgleich passierten. Relevant und deswegen in der Erzählung enthalten ist davon genau genommen aber nur eines, und das betraf den tickenden, vibrierenden Apparat, der den Wagen überhaupt erst ins Trudeln gebracht hatte: Der nämlich fiel aus dem ebenso wie Abromars Badewanne multidimensionalen Kofferraum des Fluggeräts, worauf dieses wieder deutlich an Stabilität und Höhe gewann.
Wilbur atmete auf. Hätte er gesehen, dass unter ihm gerade Stein, die magische Sitzbank Abromars, stand und gelangweilt gähnte, hätte er das nicht getan. Vor allem nicht, wenn er dann auch noch mitbekommen hätte, dass der aufgerissene Schlund des magischen Wesens mit einem zumindest für leider nicht existierende Umstehende theoretisch deutlichen Schluckgeräusch Abromars neueste Erfindung in sich verschwinden ließ, die ihm so überraschend aus dem Himmel entgegen stürzte.

„Ja, so war das“, murmelte Marsha am Ende der Rückblende, der sie mit ihrem Besen noch einen optischen Wisch-Effekt verlieh, was die beiden ungewöhnlich großen Zwerge mit vierhändigem Applaus quittierten. Also jeder mit jeweils zwei Händen, versteht sich; zumindest diesbezüglich waren die Märchenfiguren des Königreichs Dominia doch recht konventionell.
Apropos Märchenfiguren und Königreich! Ein ganz wichtiges Paar Figuren wurde bis jetzt noch nicht vorgestellt: Der Prinz und die Prinzessin. Die beiden – seit langem miteinander verlobt, aber noch keinen passenden Hochzeitstermin gefunden zu haben vorgebend sowie generell nicht nur wegen schleichender Abschaffung der Monarchie bei der Bevölkerung unbeliebt – gab es nicht nur, sie hießen auch so. Das war natürlich Marshas patentiertem Zauber geschuldet, denn um zu vermeiden, irgendwann ebenfalls als Froschkönigin respektive Staubsaugerkönig zu enden, waren die beiden auf die Idee verfallen, regelmäßig ihre Namen zu ändern, um unerkannt zu bleiben. Das war inzwischen aber schon mit so großer Häufigkeit geschehen, dass sie sich nicht mehr an ihre ursprünglichen Namen erinnern konnten und sich nun tatsächlich nur noch mit ihrem Titel ansprachen. Ansonsten waren sie ein gaaanz normales Paar. So normal das eben ging im Märchenland. Hatte ich den Fluch erwähnt, mit dem das Königreich belegt war? Na, das ist eine andere Geschichte.
Aber auch in dieser hier haben die beiden Adelsvertreter ihren großen Auftritt, und zwar genau jetzt.
„Mein Pri-hinz!?“, flötete die Prinzessin durch den Zauberwald. „Wo sa-haid Ihr?“
Ein Geräusch sprotzenden Wassers war zu hören, als der Prinz aus dem Brunnen auf der Lichtung stieg. In der Hand hielt er einen vergoldeten Basketball, mit dem sich die Prinzessin regelmäßig die Zeit vertrieb, und übergab ihn ihr mit sauertöpfischer Miene.
„Hier. Ich weiß, es ist ein Basketball und wird deswegen per Definition in kreisrunde Öffnungen geworfen, aber soweit ich mich erinnern kann, bedeutet „basket“ nicht „Brunnen“. Davon abgesehen bin ich froh, gerade noch KEIN Froschkönig zu sein, weswegen eigentlich das Herausholen von goldenen Prinzessinnenspielbällen aus Brunnen nicht zu meiner Jobbeschreibung gehört...“
„Ach, Ihr seid so herrlich kompliziert“, seufzte die Prinzessin verzückt. „Wir sollten wirklich heiraten!“
Der Prinz nickte. „Ja, ja, irgendwann vielleicht. Für den Moment – bei allen Heiligen, was ist denn DAS?“
„Ein bestimmter Artikel?“, vermutete die Prinzessin.
„Nein, ich meine doch DIES!“
„Demonstrativpro-?“ - Der Prinzessin verschlug es umgehend sowohl die Sprache als auch die Sprachwissenschaftlerwitze, als sie sah, was bereits Marsha beunruhigt hatte: Eine immer dichter werdende Wolkendecke, die in ihrer Plastizität fast greifbar wirkte, obwohl sie theoretisch noch immer wie jede andere Wolke auch primär aus Wasserdampf bestehen musste, überzog die vor ihnen liegende Landschaft nicht nur mit Schatten, sondern auch mit Blitzen und erfüllte die Luft mit zunehmendem Donnerhall. Von jetzt auf gleich war es um gute 2000 ANSI-Lumen dunkler geworden, was der Prinz zunächst zum Anlass nahm, eine Neuberechnung der Leuchtmittelsteuer in seine gedankliche To-Do-Liste für die nächste Sitzung mit den königlichen Steuerberatern aufzunehmen. Die Prinzessin nahm den gleichen Anlass zum Anlass, endlich die Sonnenbrille abzunehmen, die sie die ganze Zeit getragen hatte, und das Unglück nahm seinen Lauf. Der Prinz, der den logischen Zusammenhang zwischen den nun folgenden Ereignissen ebenfalls nicht auf Anhieb verstand, ließ sich das Ganze später von Marsha wie folgt erklären:
„Und dann kam der 'Alignment-Effekt' zum Einsatz. Ähnlich wie die Planeten des Sonnensystems, die wie beispielsweise im Dezember des Jahres 2012 alle exakt auf einer Linie lagen und damit irgendwie zum Zentrum der Galaxis zeigten (was sich im Nachhinein als eine aufwändige Propagandamaßnahme der Zentrumspartei herausstellen sollte, aber auch das ist eine andere Geschichte) standen ich, Abromar und Wilbur in diesem Moment ohne es zu wissen in genau der richtigen Reihenfolge auf einer Linie...“
„Moment – was war denn die 'richtige' Reihenfolge?“, hakte der Prinz nach.
„Nach Zauberkraft sortiert. Erst Abromar vor seiner Hütte, dann ich an der Zwergenhöhle, dann Wilbur Simons, der inzwischen zu Hause angekommen war...“
„Ja, aber was hatte die Sonnenbrille der Prinzessin damit zu tun?“
Marsha lächelte wissend. „Sehr viel. Genau genommen war sie der Schlüssel zu allem, der Dreh-und Angelpunkt, ohne den es wirklich zur Katastrophe gekommen wäre...“
„Faszinierend. Wir sollten uns dafür einen Orden verleihen. 'Weltenretter 1. Klasse, goldene Sonnenbrille am Strumpfband' oder sowas...“, murmelte der Prinz.
„Jetzt werdet nicht albern“, ermahnte ihn Marsha. „Wollt ihr die Geschichte zu Ende hören oder nicht?“
„Oh, natürlich, doch, schon, wirklich...“ stammelte der Prinz in entschuldigendem Ton.
„Also. Ihr werdet es nicht glauben...“
„Ja?“
„Denn es war...“
„Ja?!“
„Nichts anderes als...“
„JA???“
„Ein roter Hering.“
„Wie, ein roter Hering? Du meinst, es war ein nutzloser Gegenstand, der aber unglaublich nützlich aussah, mit dem man nur die Leser und Zuschauer irritieren wollte? Wie das Benzin für die Kettensäge?“
„Welche Leser? Welche Zuschauer? Und was um Himmels Willen ist eine Kettensäge?“
„Naja – es wäre doch immerhin möglich“, murmelte der Prinz kleinlaut.
Marsha schüttelte tief seufzend den Kopf. „Nein, es war, wie sich herausstellte, ein echter Hering, der durch seinen intensiven Duft und Geschmack dazu führte, dass Stein den Wolkenmagneten wieder hochwürgte. Gefahr gebannt, Ende der Geschichte.“
„Das ist aber jetzt ziemlich antiklimaktisch“, warf die Prinzessin ein, die nebenbei bemerkt in der Tat Sprach- und Literaturwissenschaft studiert hatte.
„Ja, nicht? Hab' ich mir selbst ausgedacht. Und ich wünschte, es hätte tatsächlich so funktioniert. Aber natürlich war alles noch viel komplizierter...“
Von irgendwoher kam Musik. Man spielte das Lied „Like a Rolling Stone“.
Vor den Darstellern erschienen die schwebenden Worte „Fortsetzung folgt“, bevor ein einsamer Feldhamster (erhältlich bei http://www.feldhamsterverleih.de) sich eine ganze Weile damit beschäftigte, die Textrolle mit dem Serienabspann an den Zuschauern vorbeizukurbeln.

Impressum

Texte: Jörg Weese
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

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