In der Bedingtheit liegt die Chance sich dem Eigentlichen zu entziehen.
Das war kein Gedanke, das war eine Eingebung, die errungen werden wollte - so dachte er, bevor er das Schlafzimmer betrat.
Ein Leben aus Ringen und Kämpfen, aus Mühe und Last. Ein einziges Krampfen und Knechten.
Das Selbstmitleid hatte ihn wieder eingeholt. Es floß klebrig über seine Unterwäsche, quoll zäh wie Harz aus seinen Nüstern und suchte einen Weg der Verschmelzung. Nur im tiefsten Innersten wehrte er sich noch gegen diese Vereinigung von Selbstmitleid und Ego. Nach außen hin war er längst mit ihm verheiratet.
Er atmete tief. Es war ein inniges Ausatmen. Ein Strömen der Befreiung. Eigentlich hätte er von sich aus auf das nächste Einatmen gerne verzichtet. Aber es war Bedingung. Eine Bedingung für die Freitheit im Ausatmen.
Kurz bevor er einschlief, durchfuhr es ihn wie einen Blitz. "Einschlafen ohne die Zähne geputzt zu haben; welch ein Frevel am Widerstand gegen das Gesetz der Entropie."
Am nächsten Morgen erwachte er mit jenem Geschmack im Mund, den er wie die Pest verabscheute, vor allem dann, wenn er mit jenem gewissen Geruch verbunden war:
"Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund."
Aber seine Seele ward krank von diesem einem Wort. Deshalb vermied er es, den Mund zu öffnen, geschweige denn ein Wort zu formen.
Im Bad erblickte ihn das Antlitz eines 52jährigen Workoholic, dessen Resthaar ein eigentümliches Verteilungsmuster eingenommen und dessen Hautrelief einer Bofrost-Spinatoberfläche am nächsten kam.
Er begann mit dem üblichen Morgenritual:
Wasserhahn öffnen. Warten, bis das Wasser warm genug war. Den Mund ausspülen. Erneut den Mund ausspülen. Wasserhahn schließen. Mund abtrocknen. Im Spiegel kontrollieren, ob alles so in Ordnung war.
Das Ankleiden verlief unspektakulär und wird deshalb nur am Rande erwähnt. Er fühlte sich wohl im frischen Unterhemd, obwohl die Unterhose noch von Gestern stammte.
Der Tag verlief. Er verlief sich. Der Tag verlief sich nicht. Wohin er sich verlief zu erklären, würde den Rahmen dieser Seiten sprengen. Deshalb fahre ich mit den Informationen fort, die zu berichten sich lohnen.
"By the way": Lohnt es sich wirklich diese Geschichte weiter zu erzählen oder wäre es nicht besser zum Alltag überzugehen und weiter zu schweigen?
Auf dem Weg in die Oberstadt - dort arbeitete er seit fünf Jahren - dachte er an seine verstorbene Mutter. Sie hatte ihn wirklich geliebt. Sie war bisher die einzige gewesen, die ihn bedingungslos vergöttert hatte. Sie hätte alles für ihn getan.
So glaubte er zumindest. Er würde diese Überzeugung bewahren, bis er jemanden fände, der es ihr gleich tun könnte. Immerhin war er sich nicht sicher, ob es nicht doch einen Mitmenschen geben könnte, der ihn ebenso abgöttisch und bedingungslos lieben würde wie seine Mutter. Es würde schwer werden sie zu übertreffen. Aber er tolerierte die hypothetische Möglichkeit wie ein Agnostizist die Existenz Gottes nicht in Abrede stellen würde.
Die Straßenbahn hatte sich gefüllt. Fast alle Sitze waren besetzt. Direkt neben ihm hatte eine junge Frau Platz genommen. Er nahm ihren Geruch wahr und räumte ihr Chancen ein, seine Mutter übertreffen zu können. Gleichzeitig machte er sich Selbstvorwürfe, so schnell den Weg freigegeben zu haben. Er kannte sie überhaupt nicht, hatte noch kein Wort aus ihrem Munde vernommen, sie nicht einmal vom Äußerlichen her betrachtet. Aber ihr Geruch hatte es ihm angetan.
Es war ein nicht-männlicher, unscharfer Duft, den er nur deshalb als weiblich identifizieren konnte, weil er eben nicht männlich war.
Den männlichen kannte er allzu gut. Dieser schweißige, süßlich spitze Achseldampf, der sich vor allem in den Abendstunden hier in der Straßenbahn wie in Gewitterwolken sammelte, um sich in geeigneten Augenblicken dem Vorbeieilenden wie eine episodische Offenbarung zu präsentieren. Dann roch man Mann. Dann lag plötzlich Männlichkeit pur in der Luft, diese undeodorierte, natürliche, die sich nach vielen Stunden harter Arbeit auf der Körperoberfläche manifestierte. Ein Genuss für jeden Männerfetischisten (meist Frauen) und eine wahre Freude für Romantiker und Basisdemokraten. Vor allem letztere erkennen reine männliche Schweißabsonderungen als grundlegende Voraussetzung für ein erstarkendes und aufstrebendes Allgemeinwesen.
Aber zurück zum Duft des wirklichen Mannes. Denn er war es jedenfalls nicht, der ihn zu dieser frühen Stunde betörte.
Auch kein Parfum, kein Deo, kein Mix aus Puder und Naturkraut, nein ein Duft aus weiblichem Hormon und einer rosigen Wildheit zwangen seine Blicke in ihre Richtung.
Sie bewegte den Kopf nach hinten und ergriff die Haltestange, um aufzustehen. Dabei schwang ihr dichtes, nussbraunes Haar über ihre Schultern und benebelte seine Sinne. Er liebte Brunetten mit langen Haaren, aber vor allem liebte er jene, die sich vor Haaren nicht retten konnten.
Sie hatte viele Haare, sehr viele und roch und zog und drang in ihn ein wie ein Virus.
Er stand mit ihr auf und verließ die Straßenbahn - zwei Haltestellen zu früh.
Sein Compagnon würde es nicht verstehen können, zumal ein wichtiger Kunde im Anmarsch war.
Sie bog in eine kleine Seitenstraße ein und entzog sich seinen Blicken wie eine Fata Morgana, die aus Wünschen Illusionen macht.
Er starrte in eine leere Gasse. Sie war tatsächlich wie vom Erdboden verschwunden - wahrscheinlich in eines der vielen Gebäude.
Es war jedenfalls völlig sinnlos, ihr nachzuspionieren, denn er war längst überfällig und ohne Geruchsmarker nicht mehr bereit ihrem geistigen Schatten zu folgen.
An die Haltestelle zurückgekehrt, setzten er den Weg zum Büro fort. Der Kunde wartete bereits seit über 45 Minuten.
Bruno schnaubte hörbar und sprach von "unverständlich, unverantwortlich, unbegreiflich, unmöglich" und "unter aller Sau".
Als er seinen Mantel abgelegt hatte, war der kleine Zwischenfall in der Straßenbahn beinahe vergessen. Allein jener Duft hatte sich in seinem Arbeitsspeicher verewigt und wurde deshalb als jederzeit erinnerbares Pattern ins Stammhirn übernommen.
Der "wichtige Kunde" stellte sich als monumentaler Kotzbrocken heraus. Jedes Angebot durchleuchtete er kritisch und verzog mürrisch die Augenbrauen, wenn ihm die Antwort nicht zusagte. Am Ende verließ er die Besprechung ohne Zusage.
Bruno war sichtlich erschöpft und betrachtete ihn mit fragend, anklagendem Blick. Als läge die Erklärungslast allein bei ihm.
Er entschuldigte sich unnötigerweise wie ein Schuljunge und verließ erneut das Büro mit dem vorgeschobenen Argument noch einen fixen externen Termin wahrnehmen zu wollen.
Es regnete. Der nasskalte graue Tag kroch unter seinen Mantel und versetzten ihn in eine innere Spannung, die er nur aus Prüfungssituationen kannt. Es gab keinen rechten Grund für diese Unruhe.
Er überquerte den großen Platz vor dem Hilton und wollte sich gerade in die nächste Straßenbahn setzen, als jener Geruch erneut von ihm Besitz ergriff.
"Ihr Geruch" - das war diese Mischung aus Wildrose und weiblichem Hormonschweiß, aus Anmut und Unbezähmbarkeit. Er war plötzlich da, wie ein Hexenschuss, wie eine spitze Nadel, die ihr Serum sekundenschnell ins Gewebe verteilt. Es gab kein Entrinnen.
Aber weshalb und wovor hätte er entrinnen sollen?
Er gab sich ihr hin, dieser Schimäre aus Einbildung und Erinnerung. Er kostete sie aus wie einen Orgasmus und atmete tief als er endlich die Straßenbahn bestieg.
Er hatte Mühe aufzustehen, denn die erfahrene Anmut wirkte ermüdend. Dieser Odor hatte von ihm Besitz ergriffen wie eine Droge unbekannter Herkunft. Allein die Wirkung raubte ihm die Sinne und ließ ihn alle Tageslast vergessen. Erschöpft von so viel emotionaler Schwingung schwebte er aus der Straßenbahn und fand keinen Widerspruch in dieser unendlich zarten Müdigkeit und dem unglaublich leichten Flug, der ihn bis nach Hause führte.
Er klingelte bei seinem Nachbarn...
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
allen Pfeifen, die ihre Natur noch nicht erkannt haben