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Limes

Limes

 

Es war eine dunkle und stürmische Nacht. Johann Maurer war gerade bei km 443, genau 300 m vor dem Parkplatz „Limes“ auf der Autobahn A 5 angekommen als sein digitales Kontrollgerät zu Blinken begann und das Ende seiner erlaubten 15-stündigen Tagesarbeitszeit anzeigte. Piep Piep Piep. Jetzt weiterzufahren bedeutete  ein sehr hohes Bußgeld und den Entzug seiner Lizenz für den Güterkraftverkehr zu riskieren. Es wäre ja nicht der erste und auf der aktuellen Fahrerkarte auch nicht der einzige Verstoß dieser Art. Johann, 59 Jahre alt, Deutscher – was qefühlt zum Alleinstellungsmerkmal für einen Fernfahrer in seiner Branche geworden ist – seufzte lang und tief und legte den Retarder seines 500-PS-starken Sattelzuges ein. Er rollte, die Bremsen schonend, in die Ausfahrt zu dem kleinen Parkplatz, an dem er sonst an jedem Werktag interesselos vorbei fuhr. Denn vor ihm lagen nur noch 90 Kilometer Entfernung bis zu seinem Ziel in Homberg/Efze, also nur noch ein Katzensprung für den er 75 Minuten Fahrzeit trotz des schlechten regnerischen Wetters benötigen würde.

 

„Limes“, murmelte der selbstfahrende Unternehmer vor sich hin und dachte an den Ausflug vor einem Jahr – nein, das war ja schon drei Jahre her – den er mit seiner Tochter und den drei Enkelkindern zur Saalburg im Taunus gemacht hatte. Die Römer hatten über Jahrhunderte ihr Imperium mit einem Grenzwall und mit Sicherungssystemen umgeben, die bis heute erkennbar und teilweise sogar noch erhalten sind. Er war schon am Limes in England, in Italien und in Osteuropa, und er wusste, dass es den Limes auch in Asien und Nordafrika gibt. Auf dem Parkplatz „Limes“ an der A81 war er auch schon einmal pinkeln gewesen. Ja, ganz Europa hatte er schon in seinem Imperium, seinem 40-Tonner-Truck, gesehen. Noch sechs  Jahre würde er weiterfahren, und dann? Seine Tochter nebst Informatiker-Schwiegersohn hatte kein Interesse an dem verkommenen Gewerbe. Also dann: Rente, Verkauf oder Verschrottung. Ende.

 

„Limes. Bis hier hin und nicht weiter!“  Johann stellte immer noch murmelnd den Motor ab. Auf der anderen Seite der Autobahn war eine Raststätte. In Fahrtrichtung Norden gab es nichts. Nicht mal einen Klo, den er sowieso nicht benutzt hätte, weil es ihn ekelte solche Dreckspissoirs zu betreten. Außerdem regnete es gerade wieder heftig. In seinem LKW konnte man vom Fußboden essen. Einmal wollte ein Bewerber, den er zum Probearbeiten bei sich hatte, mit seinen Straßenschuhen in das Führerhaus steigen. Na, den hatte Johann  aber schnell gezeigt, wo Bartel den Most holt. Der Rumäne, der wirklich gut deutsch sprach und eigentlich einen netten Eindruck auf ihn machte,  wollte partout seine Schuhe nicht ausziehen. Johann drückte ihm 20 Euro in die Hand und schickte ihn wieder weg. Wer auf sein Arbeitsmaterial nicht achtet ... „Ach, ist doch egal“, dachte Johann. „Gute Fahrer gibt es eh keine mehr. Alles nur Idioten, die eine Schadensspur nach sich ziehen oder einen beklauen oder gleich nach der Probezeit erstmal den gelben Urlaubsschein einreichen“.  Das waren so seine Erfahrungen mit dem fahrenden Personal, die er auch im Kollegenkreis genauso bestätigt bekam.

 

„Vielleicht hatte er ja nur Käsefüße gehabt“, wendete seine Tochter ein, die ihm den Bewerber damals geschickt hatte. „Es muss doch nicht jeder so penibel wie du mit deiner Kutsche sein.“

 

„Doch, Töchterchen, das muss! Die Kutsche ist mein Vermögen! Da steckt der ganze Gewinn drin! Wenn ich den Zündschlüssel endgültig abziehe will ich davon meinen Ruhestand finanzieren. Den lass‘ ich mir nicht mit dreckigen Schuhen schmälern. Das wäre ja noch schöner!“  Es gab damals Streit mit seiner Tochter, die sich ernsthaft Sorgen um ihren alleinstehenden Vater machte. Die Ehe ihrer Eltern war ja schon kaputt gegangen, und für den Rest der Familie hatte Johann – außer am Telefon – ja auch keine Zeit mehr. Nach dem Streit hatte der selbstfahrende Unternehmer die Suche nach geeigneten Fahrern endgültig aufgegeben. Was zur Folge hatte, dass er nicht mehr krank und überhaupt nicht mehr in Urlaub war. „Die Achsen müssen rollen! Sonst rollt der Rubel nicht!“ Johann fuhr jede Woche am Limit und darüber. Limes! Limit! „Scheiß Parkplatz. Drecks Regen. Nicht mal pissen kann man hier!“

 

„Die Russen machen während der Fahrt in ihre leeren PET-Flaschen rein“, schilderte Johann einmal den Enkelkindern, die er auf eine seiner Touren mitgenommen hatte, als sie ihn fragten, warum immer die vollen Limoflaschen auf den Parkplätzen herum stehen. „Wie eklig, Opa“, sagte die Enkelin. „Machst du das auch?“ fragte sie naiv. „Nee Kindchen!“ lachte Johann, „ich bin ein Chauffeur in einer Lastenlimousine. Ich werfe meinen Müll auch nicht aus dem Fenster. Und ich esse im Rasthof von einem Teller und nicht aus Dose so wie diese Kanacken.“

 

Einmal hatte Johann einen solchen Fernfahrer-Sklaven in der Parkbox neben sich gesehen, wie der mit dem Taschenmesser die Rinde vom Brot abschälte und den verbleibenden Rest prüfend in die Höhe hob. Der war außerherum schon angeschimmelt gewesen und Johann hatte ihm durch das offene Fenster entsetzt zugerufen: „Du willst diese Scheiße doch jetzt nicht fressen, Kollege?“  Der erschrak und bemerkte erst jetzt, dass er bei seinem Rettungsversuch beobachtet wurde. Es war ein Bulgare der mit einem 120.000 Euro teuren Truck auf Rundkurs durch Deutschland, Frankreich und England fuhr und nach 10 Tagen erst wieder zu Hause war. Alles, was er unterwegs brauchte, musste er sich von dort mitnehmen, da es für sein Einkommen zu teuer war, unterwegs einzukaufen. Er schilderte Johann mit Händen und Füßen und den wenigen Brocken Deutsch, die er kannte, dass er auf dieser Fahrt wegen einer Panne drei Tagein der Werkstatt stand (so lange dauerte es, bis das Geld für die Reparatur von seiner Spedition dort eingegangen war). Deshalb war ein Teil der Lebensmittel verdorben.

 

 „Mann, Mann. Ihr seid doch ein paar Deppen! Was kriegst‘e denn im Monat netto?“ fragte Johann, und rieb Daumen und Zeigefinger weil er nicht verstehen wollte, dass der Mann einfach zu ALDI geht und sich etwas neues holt.

 

Der Bulgare streckte an der einen Hand fünf und an der anderen Hand zwei Finger in die Höhe. „Was? Siebenhundert Euro! Du bist doch wirklich bekloppt!“ Johann schüttelte fassungslos den Kopf. 700 Euro waren exakt der Betrag, den sein LKW laut IHK kalkulatorisch an jedem Arbeitstag, also 21mal im Monat, einfahren musste. Das schaffte er zwar auch nicht. Aber Johann hatte keine Schulden und fuhr daher trotzdem mit Gewinn. Johann wusste nicht, worüber er mehr entsetzt sein sollte: Dass der Mann im Führerhaus seines Trucks aß und krümelte, oder dass er für peanuts arbeitete. Seine Spedition war mit 3500 LKW eine der Branchenriesen, und oft sah man zwei Fahrer in den Führerhäusern dieses ungarischen Unternehmens sitzen. „Kein Wunder“, dachte sich Johann. „Bei solchen Sklavenlöhnen!“

 

Der Limes konnte nicht verhindern, dass das römische Reich unterging. Heute spielt der Grenzwall keine Rolle mehr. „Limes“, übersetzt bedeutet es auch „Türschwelle“.  Der Regen prasselte auf das Dach des Führerhauses. Rechts von der Autobahn war alles dunkel. Und auf dem Parkplatz bewegte sich nichts. Wenn Johann hier stehen bleiben und seine Zwangspause von mindestens neun Stunden verbringen würde, wäre er seinen Auftrag los! In dem HUB, das er in spätestens zwei Stunden erreicht haben musste, kamen außer ihm noch 120 andere LKW sternförmig aus ganz Deutschland, Belgien, Holland, Polen, Tschechien, Slowenien und Österreich an. 6000 Tonnen Stückgut wurden dort jede Nacht umgeschlagen, also von den ankommenden LKW abgeladen und auf andere LKW, die zu ihrem Heimatdepot zurück fahren würden, umgeladen. Innerhalb von 24 Stunden erreichten so die Waren aus jeden Ort in diesen Ländern den Empfänger. Das Vertriebsnetzwerk war ein „Logistik-Imperium“; der HUB nur einer von vielen in diesem Netz. Und das System funktionierte Nacht für Nacht wie ein Uhrwerk. Verspätungen waren die Ausnahme. Und jeder Fahrer wusste genau, was er zu tun hatte.

 

Auch Johann wusste, was er zu tun hatte. Es war eine dunkle und stürmische Nacht! Die Polizisten würden sich ihren Kragen bestimmt nicht nass machen wollen. Und er würde aufpassen, dass er nicht zu schnell, nicht zu dicht auf und ohne Unfall fahren würde. Also wechselte er die Fahrerkarte und ließ die letzten eineinhalb Stunden von seinem Kollegen, der vor zwei Jahren eigentlich schon in Rente gegangen war und nur noch ab und zu zur Aushilfe „eingesetzt“ werden konnte, theoretisch, fahren.

 

„Limes! Was für eine Scheiße“, dachte Johann und fuhr wieder auf die Autobahn.

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 30.09.2017

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