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Tante Gudrun

Tante Gudrun

 

 

„Hallöchen, weißt du wer hier spricht? ...“

 

Tante Gudrun! Die ältere Schwester meines Vaters. Das letzte Mal sprach ich mit ihr vor etwa acht Jahren. Danach telefonierte sie noch einmal mit meiner Ex-Frau und beendete das Gespräch mit der Versicherung, niemals wieder bei uns anzurufen. Und jetzt, um 23:30 Uhr, ich war gerade eingeschlafen, krächzte der Rabe doch wieder durchs Telefon.

 

„Tante Gudrun!?!“ stammelte ich. Ich Idiot! Ich hätte einfach auflegen sollen.

 

„Du kennst deine liebe Tante noch!“ Die Worte waren mehr gesungen als gesprochen. „Das freut mich sehr!“ Mir hatte die erste Silbe genügt, um ihren harten preußischen Dialekt zu erkennen und ihr zuzuordnen. Meine liebe Tante ! Was für eine Verhöhnung.

 

Mein Vater Günter war der zweitjüngste von vier Geschwistern. Sein kleinerer Bruder starb als erster vor vielen, vielen Jahren im Gefängniskrankenhaus. Magendurchbruch. Er verweigerte eine OP. War unschuldig hinter Gittern. Wegen Mord. Verurteilt von einem verblödeten Richter aufgrund zweifelhafter Indizien. Und verstorben, bevor das Falschurteil revidiert werden konnte. Und Tante Gudrun, die mir diese Tatsachen erklärte, hatte 2000 Mark für Bossi ausgegeben, weil sonst keiner an seine Unschuld glaubte.

 

Danach starb auch mein Vater. Das ist viele Jahre her. Trockener Alkoholiker. Epilepsie. Vier Tage Koma. Schuld daran war meine Mutter, die – so die Tante; denn wir Kinder waren ja noch zu klein, um das alles zu bemerken, - den geliebten Bruder so weit trieb. Zum ersten Mal in meinem Leben ließ ich, der älteste Sohn und nächste Verwandte, lebenserhaltende Geräte abschalten. Zuvor meldete ich meinen Vater im Haus meiner Tante Gudrun an, damit er im Familiengrab in der gleichen Stadt beigesetzt werden konnte. Und es war eine schöne Beerdigung, so schön, dass die Nachbarn meiner Tante noch immer davon sprechen. Und der Pfarrer hatte so schön gesprochen. Nur die Beerdigung von Stine, meiner damals erst 19jährigen Cousine und einzigen Tochter meiner Tante, war noch schöner gewesen. Stine hatte gerade erst den Führerschein gemacht. Dann der Autounfall. Allein. Verletzt war nur der Kopf. Auch Koma. Und sterben musste sie – die Tante sagte es mir -, weil die Ärzte ihre gesunden Organe haben wollten. Deshalb retteten sie das Leben ihrer einzigen Tochter damals nicht.

 

2009 starb dann auch noch die älteste Schwester Birgit vereinsamt in einem Altersheim. Auch sie hatte nur ein Kind, einen Sohn, und dieser Sohn hatte sich nicht in der schwersten Zeit ihres Lebens um die arme alte Frau gekümmert, beklagte sich die Tante. Die Trauerfeier und Beisetzung fand auf Wunsch der Verstorbenen im engsten Familienkreis – also ohne Tante Gudrun – statt. Ich erfuhr davon erst vor wenigen Tagen von meinem Cousin.

 

Ja, ich kannte meine Tante! Ein verbitterter alter Drachen. Fast 90 Jahre alt, immerzu Dreck um sich schleudernd, und der wohl einzige Mensch auf der Welt, der nie in einen Spiegel geschaut hat – völlig unreflektiert. Es unterscheidet den Mensch vom Tier, dass er sich seiner selbst und seines Tuns bewusst ist. Ein Tier erkennt sich selbst im Spiegel auch nicht.

 

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Das alles hatte ich verdrängt. Nicht mehr daran gedacht. Und alles war wieder da, als ich dieses „Hallöchen ...“ mitten in der Nacht ins Ohr gekrächzt bekam. Schlaftrunken machte ich den zweiten Fehler: „Was ist passiert? Wie kann ich Dir helfen?“

 

Die Tante begann zu weinen. „Dein Onkel liegt im Sterben. Im Krankenhaus. Ich kann nicht mehr.“

 

Mein Onkel Ewald, mein Patenonkel – das hat die Tante immer betont; eigentlich wäre sie ja meine Patentante geworden, aber meine Mutter war ja katholisch, und sie evangelisch und mein Vater nur konvertiert wegen der Heirat, aber der Onkel war ja auch katholisch, aber nicht praktizierend, sondern nur auf dem Papier, aber konvertieren würde sie zu den Weihrauchschluckern hin nie, und würde es auch nicht von ihrem Mann verlangen, denn was man mit dem lieben Gott hat, das ist doch jedem seine eigene Sache, aber über das Taufbecken hatte sie mich gehalten  – also dieser Onkel Ewald war seit langen schon Dialysepatient und nun gestürzt und mit einem offenen Bein, das nicht verheilen wollte, im Krankenhaus.

 

Am nächsten Tag waren meine Lebensgefährtin und ich bei der Tante. Erster Eindruck: Ich schämte mich. Nicht weil ich so lange nicht da gewesen war. Nicht weil die Wohnung nach Überhitzung, Urin und Abgestandenem roch. Sondern weil meine Tante die erste Stunde nach so vielen Jahren  damit verbrachte ausschließlich über ihr übles Schicksal, die schönen Zeiten von früher, ihre Stine und meinen Vater, der es ja auch nicht leicht hatte und Gott hab sie beide selig, zu reden. Vor allen Dingen schämte ich mich, weil die Tante es nicht unterdrücken konnte von neuem über meine Mutter, die an allem Schuld war, herzuziehen und meine Lebensgefährtin, die weder meinen Vater noch meine Mutter, noch deren Geschwister kennenlernen konnte,  über die Wahrheiten in dieser Familie zu informieren.

 

„Ich will ja nichts Schlechtes über Evchen reden“, sagte sie, „aber deine Mutter hat deinen Vater schamlos betrogen. Die ganze Sippe von ihrer Seite taugt nichts! Weißt du eigentlich ...“

 

„Ich will es gar nicht wissen, Tante!“ unterbrach ich. „Das Ganze ist schon 40 Jahre her. Es spielt keine Rolle mehr.“

 

„Ja, aber das sind auch Deine Gene! Ich spüre das bei Dir. Na ja, natürlich hängt man auch an der Mutter. Aber ihr hattet wahrlich keine schöne Kindheit. Wenn ich da an meine Stine denke, und wie schön sie es doch bei uns hatte ...“

 

„Tante! Bitte! Sag uns, was mit dem Onkel ist. Was ist mit Ewald?“

 

„Dein Onkel ist schwer gestürzt! Du weißt ja, dass er zur Dialyse muss. Dreimal die Woche. Aber er wollte sich wegen seinem Bein nicht helfen lassen. Und das hatte sich entzündet. Ich kann ihn einfach nicht mehr alleine aus dem Bett heben. Ich bin ja auch schon 88 Jahre, ja – da staunst du, dass deine Tante schon so alt ist! Früher habe ich das alles selbst gekonnt. Der Krankenwagen hat ihn jetzt mitgenommen, aber im Krankenhaus kann er nicht bleiben. Die können ihm auch nicht mehr helfen. Und er will ja auch nicht. Er ist ja immer so stur, das Ewaldchen.“

 

„Ja, und was soll jetzt passieren?“ fragte ich, weil ich nicht so ganz schlau aus diesen Informationen werden konnte.

 

„Ja, morgen oder übermorgen kommt er wieder nach Hause. Und die wollen mir so ein Krankenbett schicken, dass ich ihn nicht mehr heben muss. Was das kostet! Aber ich kann das Zimmer nicht frei räumen, wo das Bett hin muss. Denn Treppe kann der Ewald ja auch nicht mehr.“

 

Meine Freundin half mir, das Zimmer im Erdgeschoß frei zu räumen. Wir boten sogar an am nächsten Vormittag noch Laminat anstelle des muffigen Teppichs auszulegen. Aber die Tante war schon dankbar genug, dass die alten Möbel weg und dadurch Platz im Räumchen war.

 

„Gudrun, wenn etwas ist, dann rufe uns bitte an. Wir helfen gern! Du musst nicht alles alleine stemmen. Ja, Gudrun?“  Meine Tante schluchzte und nickte. Ich war heilfroh,  gehen zu können und diesen Tag hinter mir zu haben.

 

...

 

Der nächste Anruf kam erst drei Tage später; ich hatte es nicht fertig gebracht in der Zwischenzeit Tante und Onkel zu besuchen oder selbst anzurufen und erhielt nun die Nachricht: „Dein Onkel ist wieder im Krankenhaus! Er hat sich den Oberschenkel am Hals zerbrochen.“

 

Natürlich sind wir gleich zu ihr gefahren, und Tante Gudrun  erklärte: „Ach mein Ewaldchen, das Dummerchen. Ich bin nur kurz in den Garten gegangen ein paar Kräuter für ihn zu sammeln, Du weißt ja, wir essen ja immer ganz gesund und ohne meine gute Ernährung würde er ja heute höchstwahrscheinlich gar nicht mehr da sein, das Ewaldchen, und er hatte hier am Tisch gesessen und seine Schnittchen gegessen ...“  Die Tante schluchzte. „Dann ist er dann an den Kühlschrank gegangen und dann gestürzt. Scheiße. Das Dummerchen. Ich habe dann gleich die Dialyse angerufen und die haben dann den Krankenwagen geschickt. Und die Ärztin – noch eine ganz junge - war sehr nett! Und die haben ihn dann gleich wieder mitgenommen.“

                                                                                         

Mein Onkel war nur eine Nacht zu Hause gewesen. Tante Gudrun sagte, dass die Nacht schlimm war. Der Onkel hätte kaum geschlafen, nur gemeckert und sich beklagt. Sie hätte auch kein Auge zugetan, und eigentlich sei Ewald ja ein Braver. Sie würde alles für ihn tun, aber jetzt kann sie einfach nicht mehr. Und die Scheibe vom Herd in der Küche – ich hatte es noch gar nicht bemerkt – war ja auch zerbrochen. „Wie denn das?“ fragte ich wie von selbst, wahrscheinlich auch nur um ihren Dann-dann-dann-Redeschwall zu unterbrechen.

 

Der Tante kamen die Tränen. „Ja, neben ihn lag die Likörflasche. Die wollte er haben, bevor ich in den Garten ging. Du darfst jetzt nicht denken, dass dein Onkel ein Alkoholiker war. Die Flasche habe ich auch gleich weg getan. Ich habe ja immer aufgepasst. Aber sein Likörchen wollte er immer haben.“

 

Aha! Der Onkel war also alleine aufgestanden, um sich seinen Alkohol aus der Küche zu holen! Die Tante hatte ihm den Likör verweigert, weil das Ewaldchen nicht brav war! Deshalb schleppte er sich bei erster Gelegenheit  alleine auf seinem verletzten Bein in die Küche und stürzte erneut. Oberschenkelhalsbruch! Das kann lebensgefährlich sein.

 

Tante Gudrun weinte und beteuerte, dass ihr Ewald ein guter Mann ist. So wie mein Vater Günter ja auch der Beste war und sie noch heute auf ihn angesprochen wird. Und auch der jüngere Bruder, der schon so früh sterben musste, weil keiner an seine Unschuld glaubte. Doch die Schmerzen, und sie hätte ja mitgelitten  ... Und das war meine Familie! Ich schämte mich.

 

Im Krankenhaus erfuhr ich, dass Onkel Ewald die Operation gut überstanden hatte. Man warnte mich, dass der Onkel wohl auch dement wäre. Aber er erkannte mich. Was war aus diesem Mann geworden! Viel wusste ich ja nicht über ihn. Bis zur Verrentung hatte er auf Großbaustellen als Polier gearbeitet. Sein Zuhause, ein Zweifamilienhaus, hatte er in Selbsthilfe erbaut. In jungen Jahren war er Box-Champion. Und er war ein begabter Schreiner und prämierter Kleintierzüchter. Den Hasengeruch hatte ich noch in der Nase. Und nun saß er in einem OP-Hemd auf einem Rollstuhl vor dem Tisch eingeklemmt vor einer Scheibe Brot und Apfelmus, den er von den Fingern ableckte.

 

„Na, Onkel Ewald, wie geht es Dir?“

 

Er schaute mich mit glasigen stumpfen Augen an. „Schuld an allem ist die Gudrun!“ hörte ich ganz schwach. Ja, mein Onkel war dement.

 

...

 

„Hallöchen, hier ist deine Tante!“ Gudrun teilte mir am nächsten Tag mit, dass das Krankenhaus eine Betreuung für Onkel Ewald beim Gericht beantragt hatte. „Die wollen mich entmündigen!“ entsetzte sich die Tante. „Der Ewald darf nicht mehr nach Hause, und du hast ja keine Ahnung, was das alles kostet. Nein, mich bringen die nur mit den Beinen vorwärts aus diesem Haus. Und den Ewald auch. Das hätte dein Onkel auch so gewollt!“

 

Ich hatte keine Erfahrungen in solchen Angelegenheiten. Auf mein Anraten fuhren meine Freundin und die Tante zu unserem Rechtsanwalt, um sich beraten zu lassen. Der empfahl,  einen Antrag bei Gericht auf Betreuung durch die Familienangehörigen zu stellen; denn das Gericht wollte einen Berufsbetreuer einsetzen. Wir sollten uns beeilen, bevor das Gericht einen anderen Beschluss erlässt.

 

Ich fuhr ins Krankenhaus, um einen Arztbericht über den Zustand meines Onkels zu bekommen. Dort erfuhr ich, dass meine Tante kein einziges Mal ihren Mann im Krankenhaus besucht hatte und telefonisch nicht zu erreichen war. Deshalb konnte man nicht mit ihr besprechen, welche Dinge eingeleitet und vorbereitet werden mussten. Der Onkel sei zwar ein Pflegefall, aber kein Dauerpatient auf der Unfallstation. Von weiteren Angehörigen wusste man anfangs nichts und war nun höchst beglückt, dass ein Neffe, nämlich ich, existierte. Eine Betreuung durch meine Tante lehnte die zuständige Leiterin der Sozialstation des Krankenhauses ab. Denn wenn der Onkel über seine Frau sprach, dann immer nur darüber, dass sie an allem Schuld war. Deshalb hatte man eine professionelle Betreuung beim Gericht angeregt.

 

Das Gericht trug stattdessen mir die Betreuung über meinen Onkel auf. Nicht mehr und nicht weniger. Ich sagte der Tante, dass wir uns nun um alles Weitere kümmern konnten und auch mussten. „Das Ewaldchen kommt wieder nach Hause?“ fragte die Tante.

 

„Nein“, sagte ich ihr. „Du schaffst das nicht alleine. Und wir können es nicht. Der Ewald muss in einem Heim gepflegt werden. Das Krankenhaus hilft uns, einen Platz zu finden. Und die Krankenversicherung zahlt einen Zuschuss für die Pflege. Und wenn du willst, kannst du jeden Tag zu deinem Mann gehen, das Händchen halten und ihm etwas vorlesen oder mit ihm spazieren gehen. Aber nach Hause wird der Ewald höchstwahrscheinlich nicht mehr kommen.“

 

Die Tante kramte in einer Kiste und zog ein uraltes Foto heraus. „Schau, das ist mein Opa, also Dein Uropa!“ Auf dem Bild stand ein Mann in strammer Haltung an einem Bett, in dem eine tote Frau aufgebahrt war. „Und das ist seine Schwiegermutter, ich weiß gar nicht mehr wie sie hieß. Sieh doch mal, was für ein stattlicher Mann dein Uropa war! Und die Lampe, die Bilderrahmen und das Leinen so wie das große Bett. Das ist kein billiger Kram. Deine Familie war einmal sehr reich! Dein Uropa hatte damals schon ein Auto! Das war lange vor dem Krieg und der Vertreibung aus Königsberg.“

 

Ich wusste, was sie mir damit sagen wollte. Sie hatte Angst, dass das Altenpflegeheim ihr alles nehmen würde, was in diesem Haus versammelt war. Tante Gudrun lebte in der Vergangenheit. Die Schränke quollen über all den Erinnerungen – wie sie es nannte – und Andenken. Und inmitten dieses Trödelladens thronte wie eine Ikone der Geist Stines, deren Jugendzimmer in diesem Haus so bewahrt wurde, wie sie es vor nunmehr 45 Jahren am Tage ihres Unfalls verlassen hatte.  Irgendwie tat meine Tante, der Drache, die Dreckschleuder, das raffinierte intrigante Biest, mir auch leid.

 

Diejenigen, die sich am schwersten von den weltlichen Dingen, nämlich ihrem Geld und ihren Häusern trennen können, sind oftmals die Gläubigsten. Meine Tante begann zu lächeln und zu singen: „Meine Heimat ist dort in der Höh‘, wo man nichts weiß von Trübsal und Weh!“ 

 

...

 

Bei meinem nächsten Krankenbesuch setzte sich die Stationsärztin mit mir in einen Besprechungsraum. „Ihr Onkel lässt sich nicht mehr dialysieren. Er reißt sich die Schläuche aus dem Arm und wehrt sich gegen Spritzen. Der Kollege von der Nephrologie muss den Patienten narkotisieren, um die Blutwäsche durchzuführen. Außerdem haben sich die Werte ihres Onkels sehr verschlechtert. Er leidet auch an einer fortgeschrittenen akuten Leberzirrhose. Wir haben keine positive Prognose oder Aussicht auf eine Verbesserung. Ein Pflegeheim ist dieser Aufgabe nicht gewachsen! Selbst unsere geriatrische Station ist dafür nicht der richtige Platz. Wir überlegen ihren Onkel auf die Palliativstation zu verlegen.“

 

Sterbebegleitung. Jemanden sterben lassen. Alles dafür tun, dass der Patient nicht leiden muss. Aber er muss sterben, weil man nichts weiter tun kann, außer ihm mithilfe von Maschinen und Medikamenten Zeit zu geben. Sinnlose Zeit. Zusätzliche Leidenszeit. Additional time, in der kein Tor mehr fallen wird! Zum zweiten Mal in meinem Leben ließ ich das Sterben eines Menschen zu. Ich musste nur „Ja“ sagen, und ich sagte: „Ja“.

 

Tante Gudrun war erleichtert. „Er muss doch nicht leiden?“

 

„Nein“, versicherte ich ihr. „Er bekommt alles, was er braucht, um nicht zu leiden. Er wird friedlich einschlafen und nicht mehr kämpfen müssen. Wäre ich in der gleichen Situation, würde ich mir wünschen, auch so zu sterben.“

 

„Heute hat so ein Blödmann vom Gericht angerufen“, wechselte Tante Gudrun unvermittelt das Thema. „Er hat gefragt, weshalb nicht die Ehefrau sondern stattdessen ein anderer Verwandter, also warum Du, die Betreuung machst.“

 

„Nein, Tante, der war nicht vom Gericht!“ korrigierte ich sie,  weil ich vermutete zu wissen, wer sie angerufen haben könnte. „Das war bestimmt der Anwalt, der zuvor vom Gericht als Betreuer bestimmt wurde, ein Herr Rechtsanwalt Fischer. Aber das hat sich ja erledigt, weil das Amtsgericht ja einen neuen Beschluss zu meinen Gunsten erlassen hat.“

 

„Nein, das war ein Ausländer mit so einem unmöglichen Namen. Üzmül oder Ülgül oder so. Ich kann mir das doch immer nicht merken. Aber das hat sich jetzt ja erledigt, sagst Du.“

 

Auf der Heimfahrt rief mich der vom Gericht parallel zu mir eingesetzte Verfahrenspfleger für die Betreuungssache meines Onkels an. Er hatte da ein paar Fragen. Wie es denn um meine wirtschaftliche Situation bestellt sei, wollte er wissen, und ob ich schon einmal eine eidesstattliche Versicherung abgegeben hätte.

 

„Ich habe einen Antrag auf Privatinsolvenz gestellt und befinde mich in der Wohlverhaltensphase“, klärte ich ihn auf. Dazu meinte er, dass es ja denkbar wäre, dass es zu Komplikationen im Falle von Vermögensverfügungen kommen könnte, da es ja wahrscheinlich wäre, dass ich auch Erbe wäre, und deshalb befangen sein könnte in meinen Entscheidungen, die Geldsachen betreffend.

 

„Herr Ünlü, ich sage es Ihnen frei weg. Es ist weniger kompliziert als ihre Formulierung. Ich habe keine konkreten Geldprobleme! Und erben will und werde ich auch nicht! Meine Tante lebt noch, und ich vermute, dass sie uns alle überleben wird! Nein, ich kann derzeit nichts erben, und ich will auch nichts erben! Fragen Sie doch einfach meine Tante.“

 

„Ihre Tante hat bei mir angerufen und mich gefragt, wie es sein kann, dass sie statt ihrer die Vermögensverwaltung übertragen bekommen haben. Nun, ich werde das dem Gericht mitteilen, und dann muss das Gericht klären, wie hier verfahren werden soll. So einen Fall hatte ich bislang noch nicht, muss ich gestehen. Und ich mache das schon seit 12 Jahren.“

 

Mir war, als hätte ich mich ausziehen und mit einem Riemen für etwas bestrafen lassen müssen, das ich gar nicht getan habe.

 

...

 

Mein Onkel lebte noch zehn Tage. Ich war dreimal bei ihm im Krankenhaus. Die Stunden an seinem Bett nutzte ich auch, um Klarheit in meine Gedanken zu bekommen. Zur gleichen Zeit lagen eine sehr gute Freundin mit einer lebensgefährlichen Darmerkrankung und mein bester Freund nach einem Absturz mit dem Gleitschirm in verschiedenen Krankenhäusern. Mir fehlte die Zeit auch sie zu besuchen, obwohl beide entscheidend auf mein Leben und mein Sein gewirkt haben und obwohl beide mir sehr, sehr viel bedeuten. Der Onkel dort im Bett, der leise „Wasser?“ röchelte, hatte nichts getan, dass irgendeine sichtbare Relevanz  auf meinen Werdegang oder meine Zukunft haben würde. Eigentlich war er mir ein Fremder. Angeheiratet. Ich wusste nur sehr wenig von ihm. Ich hatte zwar die Betreuung für ihn übernommen, aber das war reine Pflicht! Verfluchtes Preußen! Verfluchte Gene! Verfluchte Tante!

 

Ich träufelte meinem Onkel kleine Tropfen aus der Schnabeltasse in den Mund. „Danke. Es reicht!“ röchelte er.

 

Beim Verlassen des Krankenhauses schaltete ich wieder mein Handy ein. Ewald + Gudrun war eingespeichert; die Tante hatte angerufen. Ich setzte mich in den Audi Quattro, der meinem Onkel auf der Palliativstation gehörte und seit zwei Jahren unbewegt aber vollkaskoversichert in der Garage stand. Ich hatte das Auto über den TÜV gefahren und meiner Tante angeboten, es zu übernehmen. Ich wollte ihr den amtlichen Schätzwert des Autos bezahlen, wies sie aber gleich darauf hin, dass der Wagen erhebliche Schäden hatte, weil mein Onkel praktisch auf allen vier Seiten mit dem Fahrzeug Kollisionen hatte und das eigentlich teure Auto nicht mehr so viele Euros bringen würde, wie es in der Liste stand. Allenfalls 3500 Euro. Die längere Fahrt zum Krankenhaus nutzte ich auch, um die nicht vollgeladenen Batterien des Autos wieder aufzuladen. Zwischenzeitlich wollte die Tante den Fahrzeugbrief, von dem sie nicht wusste, wo er aufbewahrt sei, suchen und bereitlegen.

 

„Ich möchte, dass Du das Auto Deines Onkels wieder in die Garage stellst“, ordnete die Tante in ihrem harten Tonfall und ohne weitere Einleitung nach meinem Rückruf an.

 

„Das kann ich gerne machen. Wenn Du willst, jetzt gleich. Aber was ist geschehen. Du wolltest doch nur den Fahrzeugbrief noch suchen, und wir waren uns einig, oder?“ Ich wollte nicht um das Auto betteln. Eigentlich brauchte ich es gar nicht. Und namentlicher Eigentümer konnte ich wegen der Insolvenzgeschichte ja gar nicht werden. Meine Freundin hätte das Auto für mich gekauft, und das war mit ihr auch schon besprochen.

 

„Du hast mir zu viel an dem Auto herumgemäkelt. Da ein Kratzer. Da eine Beule und hier eine Schramme. Und sogar die Spuren von den Katzenpfötchen auf der Motorhaube, die man nur mit einer Lupe sehen kann, hast Du hervorgehoben. Mir scheint, Du weißt das Andenken an deinen lieben Onkel, das teure Auto, nicht zu schätzen.“  Der Tonfall meiner Tante wurde schneidend. „Ich hätte Dir das Auto so gerne geschenkt! Aber so nicht!“

 

Ich brachte das Auto erst am nächsten Tag zurück. Warum nicht sofort? Nun, ich habe das Drehbuch dieser Geschichte nicht geschrieben! Denn ich wollte das Auto auf der Stelle wieder loswerden und organisierte schon die Abholung durch meine Freundin, wenn ich das Auto bei meiner Tante stehen lassen würde. Aber während der Drache mir feuerspuckend vorwarf, das Andenken ihres Mannes nicht zu würdigen, verstarb dieser friedlich im Krankenhaus. „Es reicht!“ waren seine letzten Worte.

 

Statt zu meiner Tante fuhren meine Lebensgefährtin und ich spät am Abend abermals auf die Palliativstation und nahmen Abschied vom armen Ewaldchen. Die Stationsschwestern waren in den letzten Wochen überaus liebevoll mit ihm umgegangen und hatten ihn sehr gut behandelt und gepflegt. Ich habe diese Leistung anfangs gar nicht zu schätzen gewusst. Heute nötigt es mir höchsten Respekt ab, was diese Menschen für einen Einsatz leisteten, um dem Sterbenden und Verlorenen Liebe, Würde und Fürsorge zu geben. Ich und meine Familie waren mit dieser Aufgabe überfordert. Meine Tante hat das Ewaldchen erst wieder im offenen Sarg gesehen.

 

...

 

„Er soll atmen können, und er soll frei sein“, wünschte sich die Tante. „Von der Beerdigung Deines Vaters sprechen die Leute heute noch. Ein offener Sarg zeugt von großer Liebe weit über den Tod hinaus! Weißt du es noch? Du hattest damals Deine Uniform an!“ erinnerte sich Gudrun. „Wie hieß doch noch mal das Beerdigungsinstitut?“

 

Ich beauftragte abermals die Firma Grün, Bestatter in dritter Generation. Überhaupt setzte ich fast alle Wünsche der Tante Punkt für Punkt um, obwohl ich mir das meiste anders gewünscht hätte. Bei der Trauerfeier sollten nur Gudrun, ich und – weil es wohl unvermeidbar war – meine Lebensgefährtin dabei sein. Nein, auf keinen Fall ein katholischer Pfarrer. Von dem Weihrauchkram wird es der Tante schlecht, erklärte sie. Und keine Annonce, und auch keinen Aushang am Friedhof. Die neugierigen Nachbarn haben sich zu Lebzeiten nicht für Ewald interessiert, dann können sie auch jetzt bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ja, der Ewald wäre ja am liebsten verbrannt und in alle Winde verstreut worden. Aber das geht ja nicht. Also eine Urne und diese ins Familiengrab.

 

„Und wer soll das Grab denn zukünftig pflegen“, fragte ich. „Du bist 88 und kannst nicht mehr. Und ich will es nicht. In sieben Jahren läuft das Grab aus. Ich werde es jetzt nicht mehr verlängern.“

 

Eisige Augen antworteten mir: „Dann kommt er in die Urnenwand!“

 

Ich war entsetzt, dass die Tante jedermann der Möglichkeit berauben wollte, dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Es war doch nicht ihre Trauerfeier, sondern die von Ewald. „Sein Bruder kommt nicht“, erklärte dazu die Tante. „Ewald und Luis haben seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Du weißt es ja nicht, aber dein lieber Onkel hat seinem Bruder alle Schreinerarbeiten in seinem Haus umsonst und in so einer Qualität gemacht“, die Tante hob den Zeigefinger zu einer Eins, „und sein Bruder wollte für den Pfusch, den er hier als Verputz hinterlassen hat, auch noch Geld haben!“ Die Tante hob verächtlich eine Seite ihres Mundes an. „Ich habe ihn gestern trotzdem angerufen. Er kommt nicht!“

 

Ich kann es nicht erklären, warum, aber das Scheusal tat mir schon wieder leid. Aus Angst davor, dass möglicherweise niemand zur Trauerfeier kommt, weil sie sich mit allen überworfen und ihrerseits getrennt hatte, isolierte meine Tante sich selbst in diesem Moment vom Rest der Welt. Was hatte das Ewaldchen in all den Jahren an ihrer Seite wohl erdulden müssen? Und trotzdem tat sie, die Verwandte, mir leid. Tragischer Weise – oder Gottseidank - sind die Täter fast immer auch Opfer.

 

Natürlich blieb der Todesfall nicht geheim. Ich bekam Anrufe. Auch Nachbarn der Tante fragten, was mit Ewald sei und wie es ihm geht. Man konnte sich doch nicht verweigern oder gar lügen. Und meinerseits informierte ich natürlich meinen Bruder und den Cousin, die ja genauso wie ich einen Onkel verloren hatten.

 

Zwei Tage vor der Trauerfeier schwenkte meine Tante um. Also die Nachbarn würden auch zur Trauerfeier kommen wollen, und ich sollte doch bitte meinen jüngeren Bruder einladen. Den hatte ich bereits informiert, aber mit der Botschaft, dass es keine Trauerfeier geben würde. Und irgendwie hatte die Tante es geschafft, sogar den evangelischen Pfarrer zu instrumentalisieren. Denn der hatte sich bereit erklärt die Trauerrede für den Katholiken zu halten und war einen ganzen Nachmittag bei der Witwe, um die Familiengeschichte zu erfahren. Und eine Freundin aus Österreich war angereist, um in dieser schweren Zeit bei Gudrun zu sein.

 

Der Pfarrer begann mit Dietrich Bonhoeffer und den guten Mächten. „Sterben wir, so sterben wir dem Herrn“ folgte. Alle vier Evangelien wurden zitiert. Und zum Schluss der 23. Psalm vom guten Hirten in ganzer Länge. Wer und was mein Onkel war, erfuhr ich in dieser Stunde auch nicht. Der Pfarrer war gnädig und beließ es beim Allgemeinen und den Versen. Aber mein Bruder war da und somit noch ein Mensch, den die Tante seit vielen, vielen Jahren nicht gesehen und gesprochen hatte.

 

„Du warst der Lieblingsneffe von meinem Ewaldchen. Dich hatte er immer auf dem Schoß, weißt Du das noch?“ fragte sie meinen Bruder. „Du bist deinem Vater ja wie aus dem Gesicht geschnitten. Ein zweiter Günter, mein Gott, diese Ähnlichkeit. Ich möchte glauben, dass mein Bruder vor mir steht!“

 

Für mich war klar: Meine Tante spürte, dass ich nach der Beisetzung der Urne nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte und hatte sich einen neuen Favoriten auserkoren! Einen Erben. Jemand, der ihr in den folgenden Zeiten helfen würde bei dem ganzen Papierkram, der Rente, den Einkäufen, der Pflege von Haus und Garten. Jemand dem sie von neuem erzählen konnte, was meine Mutter – diese Hure - alles falsch gemacht und an ihrem Günter verbrochen hatte. Den ganzen Dreck, vor dem mein jüngerer Bruder bislang verschont geblieben war, musste nun auch über ihn ausgeschüttet werden. Denn mein Bruder hatte einen Fehler gemacht: Er war gekommen!

 

Eigentlich müsste ich ihn warnen. Doch er würde mir nicht glauben. Er würde mich vielmehr dafür hassen! Würde denken, dass ich neidisch wäre und mir diesen Dreck nur ausgedacht habe, um alleine zu erben, oder ... ja, wer weiß, was ich auf dem Herzen hatte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 18.08.2017

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