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Der Familienrat tagt

 

„Hallo, Ihr Lieben! Sicherlich fragt ihr euch, warum der Familienrat heute einberufen wurde?“ begrüßte Herr Grundmann seine Lieben am reichlich gedeckten Frühstückstisch, und gab die Antwort erwartungsgemäß und unverzüglich selbst. „Ich will auf den Punkt kommen und es euch gleich zu Beginn sagen: Mutter und ich sind ja nicht mehr die Jüngsten. Und deshalb möchten wir – natürlich offen und ehrlich und zuvor mit euch abgesprochen – über unsere Pläne bezüglich des Vermögens und was davon einmal bleiben wird, mit euch sprechen und ein Vermächtnis machen.“

 

„Ich muss dich leider korrigieren, Vadder“, meldete sich Semjon, der Jüngste aus dem Clan. „Der Familienrat wurde nicht heute einberufen, sondern einbestellt, und das geschah vorgestern. Reichlich knapp, wie ich ehrlich meine. Heute ist also nicht Einberufung, sondern bereits Sitzung. Keiner ist vorbereitet, und ich sag es dir gleich ganz offen: Ich habe nur bis 12 Uhr Zeit. Dann muss ich wieder an die Uni.“

 

„Jetzt mach‘ dich mal nicht gleich in die Hose. Die drei Sachen, die Papa zu vererben hat … da sind wir in einer viertel Stunde doch locker mit durch“, stichelte Silas, der ältere der beiden Grundmannsöhne. „Oder gibt es da noch ein geheimes Nummernkonto, von dem wir bislang nichts wissen?“

 

„Vermächtnis“, korrigierte Herr Grundmann. „Nicht Erbe, sondern Vermächtnis. Das ist ein kleiner aber feiner Unterschied. Mutter und ich sind nicht mehr die Jüngsten …“

 

„Das sagtest du bereits!“ fielen ihm nicht nur die beiden Jungs, sondern auch Bianca, die einzige Tochter und das älteste Kind der Grundmanns, unisono in den Vortrag.

 

„… Und deshalb … Ja, wie ich schon sagte: Wir möchten uns vermachen. Äh, ich meine, wir möchten euch etwas vermachen, unser Erbteil. Nein Quatsch. Nicht Erbe, sondern einen Teil hinterlassen und es schon jetzt gerecht und sinnvoll unter uns aufteilen. Jeder soll etwas von Mutter und mir haben. “

 

„Kann ich mehr von Mutter haben? Und ein bisschen weniger von dir?“ fragte Bianca, bevor einer ihrer Brüder sich formulieren konnte. „Du hast mir schon genug vermacht, Papa“, lächelte die Chefsekretärin und griff sich an ihre Nase, mit der sie schon seit ihrer Pubertät, und damit mehr als der Hälfte ihrer Lebenszeit, haderte. Ihre Brüder schauten sich erst Biancas und dann gegenseitig ihre eigenen Nasen an. Dann nickten sie, unisono. Und so, als hätten sie es schon hundertfach geprobt, drehten beide in vollendeter Symmetrie ihre Köpfe zur Mutter, starrten fünf Sekunden auf ihre Brüste, wendeten den Blick zurück zu Bianca und schüttelten bedauerlich ihre Köpfe.

 

„Das kannst du von uns aus alles haben!“ entschied Silas. „Die Nase können wir tauschen, wenn du willst.“

 

„Jetzt hört doch mal mit dem Quatsch auf!“ maßregelte Herr Grundmann seine Kinder, um wieder ernsthaft auf das Thema zu sprechen zu kommen. „Claudia, sag‘ du doch auch mal was!“

 

„Die Kinder sind nicht nur physiognomisch unverkennbar deine. Auch der Scharfsinn ihrer …“ Claudia ruderte bedächtig über der Butterdose mit der ausgestreckten Handfläche und tat so, als würde sie ein bestimmtes Wort suchen.

 

„Analyse“, bot Semjon an.

„Denke“, rätselte Silas.

„Charaktereigenschaften?“ fragte Bianca.

 

„Ihr seid geschissen und gekotzt euer Vater!“ spuckte Claudia heraus.

 

„Kann ich die Marmelade?“ fragte Silas seinen Bruder.

 

„Was?“

 

„Haben“

 

„Als Erbteil?“

 

„Nee, als Aufstrich.“

 

„Ach so! Ja. Nimm sie dir ruhig. Was weg ist, ist weg.“ Semjon schaute auf seine Uhr. „11 Uhr 50. Mach‘ hin, Vadder. Ich muss noch zur Uni.“ Und zu seiner Mutter gewandt fragte er: „Wie seid ihr denn auf den Trichter mit dem Vermächtnis gekommen?“

 

Claudia überlegte, ob und wie sie antworten sollte. „Euer Vater hat einen Brief von Ärzte ohne Grenzen bekommen. Wir finden diese Organisation toll, und …“

 

„Ganz toll!“, unterbrach Bianca und ließ offen, ob sie die Ärzte oder ihre Eltern meinte.

 

„Auf jeden Fall haben wir darüber nachgedacht, welche Spuren … „

 

„Und welchen Betrag“, fabulierte Silas.

 

„… Papa und ich auf dieser Welt hinterlassen.“

 

Dankbar und feierlich setzte Herr Grundmann hinzu: „Ein Vermächtnis zu hinterlassen heißt, im Gedächtnis jener zu bleiben, die man bedacht hat.“

 

„Und ihr wollt, dass auch die Ärzte sich eurer erinnern, oder wie muss ich das verstehen?“ schlussfolgerte Silas. „Also mein Arzt denkt immer am heftigsten an mich, wenn ich meine Rechnungen nicht bezahle.“ Und augenzwinkernd zu seinen Geschwistern schlug er vor. „Lasst euch doch einfach auch privat versichern!“

 

„Also ehrlich, Papa“, brachte sich Bianca fingerzeigend und das Gewissen regend wieder in das Gespräch ein. „Man kann sich die Erinnerung an einem doch nicht erkaufen!“ Upps, das saß. „Das wäre ja so wie der Ablass bei den Katholiken, die du nicht leiden kannst. Nur umgekehrt. Wenn der Taler in die Kasse springt, erinnern sich die Leute ganz bestimmt.“

 

„Also wirklich, Tochter“, empörte sich Herr Grundmann. „Ich habe doch nichts gegen die Katholiken!“

 

„Und hoffentlich nicht auch für sie.“ Semjon, Mathematikstudent auf Lehramt, rechnete in Windeseile nach: „25 Millionen Katholiken allein in Deutschland. Das macht bei nur einem Cent für jeden …“

 

„Mehr als das Haus wert ist und die Ärzte jemals erlauben würden!“ machte Silas den weiteren Lösungsweg dieser Aufgabe gänzlich obsolet. „Und außerdem haben die Rechtsgläubigen schon genug abgegriffen. Ich sage nur: Das Vermächtnis der Inka! Oder das Bistum zu Limburg!“

 

„Also ehrlich, Papa“, wiederholte sich Bianca. „Kein Mensch denkt doch heute noch an Martin Luther, JFK oder Nelson Mandela wegen des schnöden Mammons.“

 

„Ja, Papa“, sagte Semjon. „Und abgerechnet wird doch erst nach dem Leichenschmaus, wenn dann noch was übrig ist, und nicht schon zwanzig Jahre vorher. Es sei denn, du bist mindestens ein C-Promi, gerade aus dem Parlament geflogen oder aus dem Dschungelcamp zurück. Dann fragt man sich auch schon mal früher, was dein Leben uns zu sagen hatte, oder nicht?“

 

Claudia schaute lächelnd auf ihr Brettchen und die Brötchenkrumen, damit keiner ihr Schmunzeln bemerken würde. Vergeblich. Alle schauten nun zu ihr hinüber.

 

„Jetzt sag du doch auch mal was!“ verlangte Herr Grundmann schon wieder hilfesuchend von seiner Frau.

 

„Ja, wie ich schon sagte: Euer Vater und ich haben überlegt, wo wir uns in den verbleibenden Jahren auf dieser Erde noch einbringen können. Jetzt, wo wir beide in Rente sind, Zeit haben und keine Rücksicht mehr auf andere nehmen müssen – außer natürlich auf euch, unseren drei Juwelen – könnten wir endlich reisen, andere Kulturen kennenlernen, und tatkräftig helfen, wo die Not am größten ist. Zum Beispiel Ärzte ohne Grenzen besuchen und vor Ort unterstützen.“

 

Herr Grundmann legte sich in seinen Esszimmerstuhl zurück und lächelte. Besser hätte er es nicht auf den Punkt bringen können. Die Kinder schwiegen, unisono. Und Mutter Claudia vollendete: „Wir möchten uns ein einigermaßen luxuriöses Reisemobil kaufen und auf Weltreise gehen. Dafür verkaufen wir das Haus. Die Möbel könnt ihr euch aufteilen, oder Ebay. Und den Hund nehmen wir mit.“

 

Claudia war sichtlich zufrieden und erleichtert, als sie nun ihre Kinder eines nach dem anderen erforschte, wie sie die Botschaft aufnehmen würden. Doch Bianca, Silas und Semjon schienen nicht verstanden zu haben. Der zutiefst demokratische Akt ihrer Eltern, sie vor der Umsetzung der Pläne darüber zu informieren und über die Tragweite der Beschlüsse vorab in Kenntnis zu setzen, ging ins Leere. Keine Nachfrage. Kein Widerspruch. Keine Kriegserklärung. Nicht einmal Zustimmung, geschweige denn Applaus.

 

Semjon regte sich als erster: „Es ist fünf vor zwölf. Ich muss zur Uni.“ Dennoch blieb er regungslos sitzen.

 

Stille und Bewegungslosigkeit allenthalben, die Herr Grundmann durchbrach, indem er seinen Kindern ein Foto vorlegte. Es zeigte ein schickes Concord-Reisemobil, auf dem dezent in der linken oberen Ecke neben den sieben Sternen, die den Luxus im Innern des Gefährts andeuteten, ein Sticker aufgeklebt war, auf dem stand: „Wir verprassen das Erbe unserer Kinder!“

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich danke dir, liebe Moni von den Rapunzels, für deine beständigen Erinnerungen, dass man mit seiner Zeit und seinen Buchstaben auch noch etwas anderes machen kann, als arbeiten.

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