Das Mädchen wurde am frühen Sonntagmorgen von einem Taxifahrer auf dem asphaltierten Feldweg am Griesheimer Sand bei Darmstadt mehr tot als lebendig aufgefunden. Der Notarzt zuckte mit den Schultern, als Polizeioberkommissarin Elke Weigandt fragte, wie ihre Chancen stünden.
„20 %, eher weniger“, sagte Dr. Auerkamp. „Sie hat einen Schädelbasisbruch, multiple Rippenbrüche, auch ihr Arm ist gebrochen. Aber vor allen Dingen die Kopfverletzungen lassen mich zweifeln, ob sie überleben wird.“
„Armes Ding! Wir wissen noch nicht einmal wie sie heißt und wie alt sie ist. Anfang 20 schätze ich.“ Die 28jährige Schutzpolizistin deutete auf das noch fast leere Blatt auf ihrer Schreibkladde. „Der Taxifahrer hat sie um 5 Uhr 20 hier auf dem Weg gefunden. Wer weiß, wie lange sie schon da gelegen hat.“
Der Lärm des Rettungshubschraubers Christopher 7, der in diesem Moment mit der Schwerverletzten und einem weiteren Notarzt zur BG-Unfallklinik nach Frankfurt abhob, unterbrach das Gespräch zwischen der Polizistin und dem Arzt.
„Hoffen wir das Beste“, verabschiedete sich der Notarzt und reichte der jungen Beamtin die Hand.
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„Sie heißt Nadja Uhlmann, geboren am 03. September 1991 in Kuba, wohnt in der Heimstätten-Siedlung.“ Thorsten Maibaum legte eine Email auf dem Tisch, auf dem auch ein Foto des als vermisst gemeldeten Teenagers zu sehen war.
„1991. Dann ist sie ja erst 19 Jahre alt. Sieht gar nicht nach Karibik aus“, dachte Elke laut vor sich hin.
„Ist sie ja auch nicht“, glänzte ihr Kollege, „Baku und Kuba sind Städte in Aserbaidschan, also Russland oder GUS-Staaten oder wie auch immer.“
„Wissen ihre Eltern schon …?“
„Nein“, schüttelte Thorsten bedauernd den Kopf. „Die Säcke von K haben gerade eine Vermisstenanzeige aufgenommen und angeblich erst danach gemerkt, dass wir einen schweren Unfall mit einem passenden Opfer haben.“
„Dreckärsche!“ schimpfte Elke. Sie schaute Thorsten stumm aber fragend an.
„Nein“, das mache ich nicht. „Schick von mir aus den Pfarrer oder den Sozialdienst oder die Zeugen Jehovas. Ich gehe nicht! Und außerdem mache ich heute ausnahmsweise so früh wie möglich Feierabend. Nicht weil Sonntag ist, sondern Kindergeburtstag.“
„Okay, dann mache ich das selbst. Aber dann marschierst du jetzt gleich ins Krankenhaus, holst sämtliche Bekleidung von Nadja, stellst noch heute den Untersuchungsantrag bei der KTU und ärgerst dich mit der Spurensicherung herum, dass wir noch an diesem Wochenende ein erstes Ergebnis haben. Klar?“
„Deal!“ willigte Thorsten ein, der überzeugt war, die leichtere Aufgabe gezogen zu haben.
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Aus der Einwohnermeldedatei erfuhr Elke, dass Familie Uhlmann 1998 aus Aserbaidschan in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelte. Nadja war das einzige Kind, besuchte das Landgraf-Georgs-Gymnasium und es gab für die gesamte Familie keinen einzigen Eintrag in den Polizeiakten.
„Es tut mir leid, ihnen mitteilen zu müssen, dass ihre Tochter Nadja das Opfer eines schweren Verkehrsunfalls geworden ist. Sie befindet sich zur Zeit in Frankfurt in der BG-Unfallklinik. Aber wir haben Hoffnung, dass sie trotz schwerster Verletzungen überleben wird.“ Elke hatte sich während der Fahrt an die 100 mal diese Sätze zurecht gelegt, und wusste dennoch, dass sie eine solche Nachricht niemals richtig oder sogar gut herüber bringen konnte. Beide Eltern waren fassungslos. Sie hatten eine Stunde zuvor ihre Tochter auf der Kriminalwache vermisst gemeldet, weil sie am Vorabend nicht wie verabredet nach Hause gekommen war. Niemand ihrer Freundinnen wusste, wo Nadja war.
Elke bot sich an, Nadjas Eltern mit dem Streifenwagen zum Krankenhaus im Norden Frankfurts zu bringen. Das war zwar gegen die Dienstvorschriften, aber so hatte sie während der Fahrt Zeit, den Eltern Fragen zu stellen und Licht in das Dunkle dieses Falls zu bringen.
Die Eltern hatten von einer Freundin Nadjas erfahren, dass sie am Samstag zu fünft in der Darmstädter Diskothek an der A5 waren. Dort wurde sie zuletzt gegen 23 Uhr, also vor genau 10 Stunden gesehen.
„Hat ihre Tochter einen Freund? Oder Männerbekanntschaften?“ fragte Elke und bereute ihre Wortwahl, da sie nach den bisherigen Schilderungen der Eltern davon ausgehen konnte, dass Nadja eher ein Mädchen als eine junge Frau war.
„Unsere Nadja hat noch keinen Sex, wenn sie das meinen“, sagte der Vater. Und die Mutter erklärte: „Wir sind Evangeliumschristen, wir glauben an den Herrn und die Bibel“.
Hoffentlich können die Ärzte ihnen etwas Positives sagen, bangte Elke. Sagte aber: „Also keinen Freund?“
„Nein“, antwortete Nadjas Vater entschieden. „Nicht das wir wüssten“, relativierte die Mutter. „Aber wieso fragen sie danach. Sie sagten doch, es wäre ein Verkehrsunfall gewesen.“
„Leider wissen wir noch gar nichts genaues“, begründete die Polizistin ihre Neugier. „Dort, wo ihre Tochter gefunden wurde, ist eigentlich keine richtige Straße. Es ist nur ein Feldweg, der zu den Spargeläckern am Griesheimer Sand führt.
Normalerweise fahren da nur ganz selten Autos. Und wenn, dann nur ganz langsam. Tja, und es gibt keine Zeugen.“
„Einen Zeugen gibt es immer, junge Frau!“ verbesserte Nadjas Mutter diese Aussage.
„Richtig! Spuren. Aber noch haben wir keine Auswertungen. Und es ist immer vorteilhaft, wenn man weiß, was die Spuren sagen könnten. Wenn man eine Ahnung hat, woher die Spuren kommen, versteht man ihre Sprache. “
„Der Herr sieht alles. Und er sagt uns, was wir wissen müssen. Und wenn es nur eine Klitzekleinigkeit ist, die uns auf den Weg führt. Der Herr ist unser Licht!“ Ach, diesen Zeugen meinte Frau Uhlmann, dachte Elke. Der Glaube der Familie schien unerschütterlich.
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Thorsten Maibaum hatte die Klinik bereits mit den Kleidungsstücken verlassen und war auf den Weg zur KTU, las Elke in einer SMS ihres Kollegen. Gut, dass er nicht mehr im Krankenhaus war; denn sonst hätte er ihr bestimmt vorgehalten, dass man diesen Weg einmal hätte sparen können.
Nadja war wie zu erwarten immer noch ohne Bewusstsein. Sie war vor dreieinhalb Stunden mit dem Rettungshubschrauber eingeliefert worden und befand sich noch immer im Operationssaal. Seit dem Verlassen des Streifenwagens schienen ihre Eltern nicht mehr ansprechbar. Elke vermutete, dass beide unentwegt beteten und deshalb für sie nicht mehr zugänglich waren. Aber sie hatte unterwegs genug erfahren und war froh, dieser spontanen Idee nachgegeben zu haben, obwohl ihr Chef wohl etwas anderes dazu sagen würde. Ein Streifenwagen ist ja kein Taxi. Aber er musste ja nicht alles erfahren.
Der Klinikarzt versuchte erst gar nicht, die vielen Fremdwörter, die er benutzte, zu erklären. Es schien eine endlose Reihe zu sein, die er an Verletzungen aufzählte. „Ihre Tochter hat eine nur geringe Chance durchzukommen“, sagte der Chirurg. „Wir tun alles, was in unserer Macht steht!“
Nadjas Mutter bedankte sich. Wie kann man sich für solche Nachrichten bedanken? ging es Elke durch den Kopf. „Und wir tun alles, um den unfallflüchtigen Fahrer zu finden“, schloss sich Elke an, um den Eltern einen Trost zu geben.
„Unfall?“ fragte der Klinikarzt. „Ich bin zwar kein Gerichtsmediziner, aber nach einem Unfall sieht das eher nicht aus. Die Patientin hat primäre Verletzungen an beiden Körperperipherien. Die äußeren Verletzungen an ihrem Kopf korrespondieren nicht mit den Quetschungen und thoraxialen Schäden und Brüchen. Sie wurde mindestens zweimal überrollt.“
„Zweimal?“ wiederholte die überraschte Polizistin. „Dann suchen wir zwei Autofahrer?“
„Oder sie verabschieden sich von ihrer Unfallthese. Wäre ja nicht das erste Mal, dass ein Auto benutzt wurde, um jemanden …“ Der Doktor ließ den Satz mit Blick auf die Eltern des Opfers unvollendet.
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Herr und Frau Uhlmann blieben im Krankenhaus, und Elke telefonierte während der Rückfahrt mit ihrem Kollegen Thorsten.
„Ich bin praktisch nicht mehr auf der Dienststelle“, wimmelte der junge Vater seine Kollegin ab, die ihn bitten wollte, sich mit ihr nochmals an der Unfallstelle zu treffen.
„Kindergeburtstag. 12 Uhr. Klingelt es da bei dir? Ich tippe noch das Unfallprotokoll, und dann: Arriverderci Hans!“
„Der Klinikarzt meinte, dass es gar kein Unfall gewesen wäre. Nadja habe so schwere und viele unterschiedliche Verletzungen, dass sie mindestens zweimal überfahren worden sein muss.“
„Na, das ist doch prima. Dann bekommt die Kripo den Fall! Du tackerst deinen Schlussvermerk an die Unfallakte, und noch bevor der Toner trocken ist - ab damit zum K10. Die gründen dann die SOKO Kuba, heimsen sich 20 Kollegen ein, und erledigen den Rest.“
„Jetzt mach aber mal einen Punkt. Bist du Polizist oder trägst du die Rabattkutte nur, um billiger einzukaufen?“
„Sorry, ich muss noch mit dem Computer kämpfen, Papierkrieg. Nur das zählt. Und ich möchte keine Überminuten machen. Die sichergestellten Kleidungsstücke und persönlichen Sachen von dem Mädchen sind übrigens beim Bereitschaftsdienst der Spurensicherung. Also bis Morgen zum Nachtdienst, Frau Kollegin.“
Sollte sie einmal Dienstgruppenleiterin sein, dann hätten Typen wie Thorsten nichts mehr zu lachen, beschloss Elke in diesen Sekunden. „Arschloch“, warf sie ihm hinterher. Notgedrungen fuhr sie alleine an den Griesheimer Sand; denn die anderen Kollegen aus der Dienstgruppe waren mit Objektschutz und einer erneuten Unfallaufnahme ausgebucht. Egal, dachte sie sich, obwohl es aus beweistaktischen Gründen immer besser war, zu zweit an einem Tatort zu ermitteln.
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Die junge Polizistin im Streifendienst stand genau an der Stelle, an der Nadja knapp fünf Stunden zuvor auf dem Asphalt gelegen hatte. Als der erste Streifenwagen eintraf, war sie bereits in der stabilen Seitenlage; denn der Rettungswagen mit dem Notarzt war vor der Polizei am Einsatzort. Einen Schritt entfernt in der Mitte der Fahrbahn war eine Lache zu erkennen. Das musste Blut aus dem Ohr des Mädchens sein. Was nicht zu sehen war, waren Reifen- oder gar Bremsblockierspuren.
Elke ging in die Hocke und versuchte sich vorzustellen, wie der Unfall abgelaufen sein könnte. Nadja muss in der Mitte der Fahrbahn gestanden, gesessen oder gelegen haben. Der Autofahrer hat sie vielleicht nicht gesehen und ist ohne zu bremsen über sie gefahren. Als er es bemerkte, war das Schreckliche bereits geschehen. Hinter seinem Auto liegt nun die schwerverletzte Nadja und versperrt den Weg zurück. Der Feldweg ist eine Sackgasse, die nur zu den Spargelfeldern führt. Entweder, der Autofahrer legt den Rückwärtsgang ein und fährt blindlings ein zweites Mal über das am Boden liegende Mädchen, oder er wendet irgendwo im weiteren Verlauf der Sackgasse und überrollt das offensichtlich wehrlose Opfer auf seinem Rückweg. Aber in beiden Fällen ist es Vorsatz, und damit nimmt der Autofahrer billigend in Kauf, dass Nadja stirbt. Also ein Mordversuch, weil er vielleicht seine Beteiligung an diesem Unfall vertuschen will.
Doch was macht ein Autofahrer mitten in der Nacht am Griesheimer Sand? Spargel stehlen? Das hatten sie in der Vergangenheit des Öfteren zur Anzeige genommen. Oder genau das gleiche, das auch der Taxifahrer vorhatte, der Nadja fand? Nämlich eine Pause und ein Nickerchen. Oder das andere Ickerchen, zu dem sich hin und wieder auch Pärchen hier abstellen, wenn sie ungestört sein wollten? Alles nur Vermutungen. Hätte, tätte, wolle, bolle.
Elke ging zu Fuß den Feldweg weiter. Dort wo die Anstossstelle war und der Körper der Verletzten den Weg versperrte, waren keine Reifenspuren rechts oder links neben der Fahrbahn. Wenn das Auto in der Nacht gewendet wurde, musste also an anderer Stelle von diesem Manöver etwas zu sehen sein. Nach ca. 150 Metern fand Elke diese Stelle. Auf beiden Seiten des Feldwegs führten Reifenspuren auf den sandigen Boden der Spargeläcker. Eine der Dünen war plattgefahren, und ein Stapel roter Boxen, in die die Erntehelfer den frisch gestochenen Spargel sammelten, lag umgestoßen auf dem Boden. Das alles waren frische Spuren! Hier musste das Auto gewendet haben.
Die Polizistin lief zu ihrem Streifenwagen zurück und holte Kamera, Zollstock und die Schreibkladde. Sie fotografierte die Spurenlage, machte sich Aufzeichnungen und nahm akribisch die Maße auf. Die Spurbreite des Fahrzeugs und das Muster des Reifenprofils waren jetzt bekannt. Das war ein erster Ermittlungsansatz.
Der Autofahrer ist also nach der ersten Kollision mit dem Mädchen noch 150 m weitergefahren und wendete dort. Von dieser Stelle konnte man das Ende des Feldweges aber noch gar nicht sehen. Daraus lässt sich schließen, dass der Fahrer entweder die Örtlichkeit kannte, oder bewusst zurück fahren wollte, obwohl der Weg versperrt war. Ein ortsfremder unfallflüchtiger Fahrer hätte ganz bestimmt Gas gegeben und wäre geradeaus weitergefahren, bis er an das Ende der Sackgasse gekommen wäre.
Elke bekam Herzklopfen. Der Klinikarzt hatte Recht. Es war kein Unfall. Dieser Fahrer wendete und fuhr mit Absicht zurück. Und er umfuhr das dort liegende Opfer nicht, sondern überrollte das Mädchen ein zweites Mal. Er wollte sie umbringen. Scheiße.
Die aufgewühlte Polizistin fotografierte alles, was ihr auch nur ansatzweise bedeutsam erschien. Als sie den Stapel der umgestoßenen roten Boxen aufnahm bemerkte sie ein handtellergroßes Plastikteil im Sand. Es war ein orangenes zerbrochenes Blinkerlichtglas. Ein Teil der rückwärtigen Beleuchtung des Fluchtwagens, bzw. der Mordwaffe. Auf der Scherbe war ein Teil der Prüfziffer enthalten, die auf jedem Autoteil angebracht sein muss. In einem Rechteck las sie „E3“ und danach die Ziffern „4872“. Die Zwei war bereits unvollständig in der Bruchstelle des Fragments.
Gute Arbeit
, bescheinigte sich die junge Oberkommissarin für ihren Ermittlungserfolg selbst. Sie packte das Bruchstück des Blinkerlichtglases in ein Tütchen und fuhr zurück zu ihrer Dienststelle im Darmstädter Polizeipräsidium. Jetzt musste sie nur noch das andere Teil der Beleuchtungseinrichtung finden, und das Auto wäre anhand der Passstücke identifiziert. Es gibt ja nur 160.000 Fahrzeuge in Darmstadt, und schlappe 45 Millionen in der Bundesrepublik.
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Auf der Wache berichtete sie ihrem Vorgesetzten Polizeihauptkommissar Hellmuth Färber, was sie in den vergangenen drei Stunden alles herausbekommen hatte, und der zeigte sich begeistert, dass dieser Fall damit für seine Dienstgruppe erledigt sei.
„Das packst du alles schön in einen Vermerk und schickst es mit dem Passstück an die Kripo“, ordnete der Dienstgruppenleiter an.
„Das ist mein Unfall!“ beharrte Elke. „Und den bringe ich zu Ende.“
Der Dienstgruppenleiter zeigte mit der Hand zu dem Gebäudeteil des Polizeipräsidiums, in dem die Kriminalpolizei untergebracht war. „Dort Kripomenschen! Klar?“ Er nickte selbst und zeigte nun in die andere Richtung. „Da die Ermittlungsgruppe - Halbmenschen, Fahrraddiebstahl, Sachbeschädigung. Du erinnerst dich?“ Elke wusste, was jetzt kommen würde und wollte den Unsinn gar nicht hören. Um so drastischer sagte ihr Chef nun: „Und du: Hutständer! Also schreib deinen Schlussvermerk und dann ab zu jüdischen Synagoge. Die andern wollen auch mal Streife fahren.“
„Da draußen treibt sich ein Mörder herum. Und ich könnte ihn vielleicht ermitteln. Mit dem Nummernteil auf dem Blinkerglas kriege ich über eine LUNA-Abfrage heraus, um was für ein Fluchtauto es sich handelt. Das würde eine konkrete Fahndung ermöglichen, und wir hätten die Chance, einen großartigen Ermittlungserfolg zu verbuchen.“ LUNA, die Leuchtendatei für Unfallnachforschungen der Uni Karlsruhe umfasste alle lichttechnischen Einrichtungen aller Fahrzeuge, die seit 1970 in Europa hergestellt wurden. Mittels einer LUNA-Abfrage konnte man binnen Minuten Hersteller, Modell und Produktionszeit- und ort des Fahrzeugs ermitteln, von dem das Glas oder Plastik stammte. Das engte den Kreis der in Frage kommenden Fahrzeuge erheblich ein.
Elkes Dienstgruppenleiter lächelte sie mitleidig an. Als würde er ein Märchen vortragen, sagte er: „Und es war ein verdammter Sonntagvormittag wie immer – nur LUNA war nicht da …“
„Was soll das heißen?“
„HEPOLAS ist bis gegen 20 Uhr heruntergefahren. Keine Abfragen möglich.“ Ihr Chef forderte Elke auf, einen abschließenden Bericht über die Ermittlungsergebnisse anzufertigen und den gesamten Vorgang an die Kripo abzuverfügen. „Damit sollen sich die Kripoteure herumärgern.“
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Frustriert setzte sich Elke in einen Arbeitsraum und schaltete den Computer ein. Nach dem Hochfahren bestätigte eine Bildschirminformation, was ihr der DGL schon gesagt hatte. Alle Onlineanwendungen und Datenabfragen waren bis zum Abend gesperrt, weil ein neues Betriebssystem aufgespielt wurde und die vorhandenen Datenbestände zuvor zentral gesichert wurden. Sie rief die Maske für ihren Ermittlungsvermerk auf und begann widerwillig ihre Erkenntnisse niederzuschreiben.
Elkes Telefon klingelte: „Weigandt.“
Sie erkannte die Stimme am anderen Ende der Leitung sofort. Es war Nadjas Mutter. „Ich wollte ihnen nur sagen, dass unsere Tochter die Operation überstanden hat. Aber sie ist noch nicht außer Lebensgefahr und braucht noch eine Menge Gebete. Mein Mann und ich rufen jetzt alle Menschen an, die Nadja kennen und mitbeten möchten.“
„Ich wünsche ihnen und ihrer Tochter alles Gute“, sagte Nadja und beschloss, heimlich auch ein Gebet zu sprechen.
Bevor sie den Telefonhörer aus der Hand legte, schaute sie auf den Apparat. LUNA ist eine bundesweite Datei, ging ihr durch den Kopf. Und Datensicherung erfolgte nur für Hessen. Also konnten in Bayern und Baden-Württemberg LUNA-Abfragen gemacht werden. Sie rief aufgeregt die Auskunft an und verlangte die Nummer der Polizeidirektion Karlsruhe. Genauso gut hätte sie auch Pforzheim oder Heidelberg verlangen können. Aber in Karlsruhe stand der Rechner mit den Informationen, die sie brauchte, und sie dachte sich, dass die Kollegen dort auf Anhieb wussten, was für Informationen sie benötigte. Die Badener Kollegen wollten ihr telefonisch keine Auskunft erteilen, da Elke das Kennwort für telefonische Datenabfragen nicht kannte. Aber per Faxabfrage bekam sie binnen 20 Minuten Antwort:
„Die orangene Lichtstreuscheibe gehört zu einem Sportwagen der Marke De Tomaso, einem Pantera, Baujahr 1989, in Italien von der Turiner Firma Embo gebaut. Insgesamt wurden weniger als 500 dieser Sportwagen hergestellt. PS: Wenn sie den Wagen gefunden haben, machen sie bitte ein Foto für uns. Der Wagen ist ein Klassiker, eine wahre Soundmaschine.“
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„Was glaubst du, wieviele De Tomaso Pantera gerade in Darmstadt herumfahren?“ fragte Elke ihren Chef.
„Null!“ kam prompt die Antwort von PHK Färber.
„Wir suchen einen, und zwar den, der heute Nacht im Griesheimer Sand sich sein Blinkerglas demoliert hat!“ triumphierte Elke.
„Sind wir wieder online?“ Färber drehte sich zu seinem Computer um, sah aber sofort, dass er noch offline war.
„Ich habe direkt in Karlsruhe angerufen. Die Plastikteile gehören an so einen Sportwagen. Wir sollten sofort eine Funkfahndung ausstrahlen. Solch ein seltenes Auto fällt doch auf!“
„Ungezogenes Mädchen“, frotzelte der DGL seine Mitarbeiterin. „Gut gemacht! Und du hast Recht. Funkfahndung und Bereichsfahndung in Westen der Stadt. Und du fährst mit Thorsten zur Diskothek an der A5, wo das Mädchen zuletzt gesehen wurde. Wenn der Wagen dort gestanden hat, ist das bestimmt jemanden aufgefallen oder es gibt sogar ein Video. Der Parkplatz ist doch kameraüberwacht.“
„Thorsten hat gleich Dienstende. Kindergeburtstag“, erinnerte Elke.
„Gestrichen. Schönen Gruß von mir. Und wenn ich auch nur einen Ton deswegen höre, kann er sich die nächste Beförderung abschminken.“
Thorsten war in der Tat nicht begeistert. Und seine Laune wurde erst besser, als er von einem der Geschäftsführer der Großraumdiskothek hörte, dass die Überwachungsbänder der Diskothek auch die Aufzeichnungen vom Parkplatz 14 Tage lang storten. Der Unternehmer erklärte sich bereit, sofort zu kommen und die Bänder zu sichten.
Sämtlicher Frust schlug in Begeisterung um, als keine halbe Stunde später auf einem Videoband ein gelber Sportwagen der Marke De Tomaso, Modell Pantera, mit italienischem Kennzeichen zu erkennen war.
„Yepp!“ jubilierte Elke und gab telefonisch das Kennzeichen an die Dienststelle durch, um die Fahndung zu konkretisieren und die Grenzüberwachung zu veranlassen. Das war Hellmuth Färbers Job. Auf dem Bild war auch ein Fahrer zu erkennen, jedoch nur schemenhaft, weil die Beleuchtung an der Zufahrt zum Parkplatz defekt war.
„Ist die Ausfahrt auch videoüberwacht?“ fragte Elke den Geschäftsführer.
„Yepp!“ wiederholte der Mann im gleichen Tonfall wie die Polizistin und fügte hinzu: „Und dort funktioniert sogar die Lampe.“
„Dann spulen sie mal vor, ab 23 Uhr könnte dieses Auto den Parkplatz verlassen haben“. Elke und Thorsten waren gespannt auf die folgenden Bilder.
„23 Uhr, da geht es bei uns erst richtig los. Ungewöhnlich, wenn um diese Zeit jemand schon wieder abfährt.“
Der De Tomaso fuhr um 23:27 Uhr vom Parkplatz. Auf dem Beifahrersitz saß eine junge Frau, vermutlich Nadja Uhlmann. Und der Fahrer hinter dem Lenkrad war einwandfrei zu erkennen.
„Ich erinnere mich an den Typ“, sagte der Diskothekenbesitzer. Ein Italiener. Er zahlte bar. Ich weiß das, weil die Bedienung mir erzählte, er hätte eine fette Rolle mit Euroscheinen einstecken gehabt.
„Dann war der Mann wohl nicht zufällig da, sondern hat gezielt nach einem Mädchen gesucht. Und das Auto und die Geldrolle waren der Fliegenfänger. Es gibt ja genug junge Dinger, die auf solche Tricks herein fallen.“ Thorsten schüttelte den Kopf, weil sie es immer wieder mit solch leichtsinnigen Menschen zu tun hatten. Die Hälfte der Arbeit gäbe es nicht, wenn jeder nur ein bisschen vorsichtiger und manchmal auch misstrauischer wäre.
„So dumm sind die Mädchen gar nicht“, meinte der Geschäftsführer. „Ein bisschen Spaß will schließlich jeder von uns haben. Aber wenn dann noch KO-Tropfen oder sogar Drogen ins Spiel kommen ... Aber das wissen sie ja besser als ich“, ergänzte er. „Leider können wir kaum etwas gegen solche Dinge unternehmen.
„Den kriegen wir! Hundert Pro!“ Elke fragte, ob sie die Bänder mitnehmen kann, wogegen der Diskothekenbesitzer keine Einwände hatte. Er wünschte noch viel Glück und einen schnellen Erfolg.
„Wie geht es denn dem Mädchen?“ fragte er.
„Sie hat Chancen durchzukommen. Aber noch ist sie nicht über den Berg.“ Elke freute sich, dass der Mann diese Frage gestellt hatte. Normalerweise interessieren sich die Menschen nicht für das Opfer, sondern nur für die Scheusale, die deren Leid verursacht haben.
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Nach Rücksprache mit ihrem DGL fuhren Thorsten und Elke nochmals ins Krankenhaus nach Frankfurt. Elke wollte den Eltern persönlich die guten Nachrichten überbringen.
„Wir wissen noch nichts genaues über den Tathergang. Aber ihre Tochter hat die Diskothek an der A5 nicht alleine verlassen. Sie saß vermutlich in dem Auto, von dem sie anschließend überfahren wurde. Wir haben das Kennzeichen und sogar Bilder vom Fahrer. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn wir diesen Typen nicht schnappen können.“
„Es ist mit dem Teufel zugegangen, meine Liebe“, sagte Herr Uhlmann ganz sanft. „Oder woher sonst kommen solche Gedanken und Taten auf die Welt?“
„Ja, Herr Uhlmann. Das ist eine berechtigte Frage. Genauso berechtigt wie ihre Gebete, die ja, wie es scheint, geholfen haben.“
***
Nadja Uhlmann musste noch neun Wochen im Krankenhaus bleiben, bevor sie in eine REHA kam. Die Folgen des Verbrechens, das an ihr verübt wurde, werden sie ihr Leben lang begleiten. Aber sie wird weiterleben können. Sie hatte ihren Beinahe-Mörder in der Diskothek getroffen und sich von ihm einen Cocktail spendieren lassen. Es war das erste Mal, dass sie Alkohol getrunken hatte. Dessen Wirkung in Verbindung mit der Chemikalie wirkten bei ihr so stark, dass sie aus ihrer Ohnmacht nicht mehr erwachte. Der Italiener glaubte, sie wäre tot, und warf sie bei der ersten Gelegenheit aus dem Auto. Dabei wollte er es so aussehen lassen, dass es wie eine Unfallflucht aussah und überrollte die vermeintliche Leiche zwei Mal.
Ihr Täter wurde zehn Tage später in Wien festgenommen. Wie es sich heraus stellte, war Nadja nicht sein erstes Opfer. Die Kripo, die den Fall weiter bearbeitete, konnte fünf Vergewaltigungen und einen weiteren versuchten Mord aufklären. In drei Fällen war ein Sportwagen unbekannten Fabrikats in den Ermittlungsakten erwähnt.
Diese Fälle wurde alle dank LUNA aufgeklärt, der Leuchtendatei für Unfallnachforschungen.
Texte: Alle Rechte beim Autor.
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2011
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