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Verdunkelungsgefahr

Freitag, 17:15 Uhr:
Das Tor meiner Garage in der Reihenhaussiedlung am Frankfurter Riedberg öffnete sich automatisch, als ich mit meinem Dienstwagen 30m herangefahren war. Ich brauchte nicht einmal mehr einen Knopf zu drücken oder einen Voicebefehl abzugeben. Stattdessen rollte ich langsam auf meine Auffahrt zu und schaute, wer von meinen Nachbarn zu Hause war. Es dämmerte bereits an diesem goldenen Herbsttag, den ich leider vollständig in meinem „Büro“ in Frankfurt-Eschborn verbracht hatte, und hinter nur wenigen Fenstern brannte schon Licht. Zwei Einfahrten weiter sah ich einen olivfarbenen Helm, und ich bildete mir ein, die Buchstaben SEK darauf zu lesen. Mein letzter bewusster Gedanke in Freiheit war, dass ich wohl urlaubsreif bin, weil ich schon überall Polizei sehe. Dabei war ich doch selbst Polizist. Kriminalhauptkommissar und stellvertretender Leiter des Mobilen Eisatzkommandos, 49 Jahre, geschieden, kinderlos – und die Buchstaben hatte ich mir nicht eingebildet.

Freitag, 18:30 Uhr:
Der Haftbefehl, der vor mir auf dem Tisch lag, unterstellte mir Bestechlichkeit und dass ich Dienstgeheimnisse verraten hätte sowie ein Mitglied einer kriminellen Vereinigung sei, die sich darauf spezialisiert hatte, wegen Alkoholfahrten straffällig gewordenen Autofahrern für eine finanzielle Gegenleistung ihre Führerscheine wieder zurückzugeben, ohne dass es zu einem Entzug der Fahrerlaubnis oder hohen Geldstrafen kommen würde.

„Lächerlich!“ höhnte ich dem sehr jungen Staatsanwalt zu, der mich gleich nach meiner Festnahme noch in Handschellen auf dem Rücken vernehmen wollte. „Ich bin einer von den Guten, mein Junge. Oder macht ihr hier einen schlechten Scherz mit mir?“

Daran mochte ich aber selbst nicht mehr glauben, nach dem Programm, dass das Sondereinsatzkommando bei mir zu Hause abgezogen hatte. In Unterhosen lag ich auf dem Betonboden meiner Garage und war dankbar, dass sich das Tor nicht auch automatisch wieder schloss; denn sonst hätten die SEKler mich auf der Straße nackisch gemacht.

„Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung ist alles andere als lächerlich, Herr Scherer.“ Der Staatsanwalt schlug die zweite Seite des roten Haftbefehls auf und las den Namen des unterzeichnenden Richters vor: „Dr. Schmitt – Oh, der hat jetzt Wochenende. Und ich glaube gehört zu haben, dass er in Kürze auch in Urlaub geht.“

„Was soll diese Scheiße hier?“ fauchte ich den kleinen Arroganzling in seinem zweiter Klasse Anzug an. „Ich habe keine Dienstgeheimnisse verraten. Und erst Recht bin ich kein Mitglied irgendeiner Vereinigung. Ich bin noch nicht mal in der Kirche, sondern beim Mobilen Einsatzkommando, MEK, alles großgeschrieben.“

Mein Staatsanwalt lächelte mich nur mitleidig an. Sein Glück war, dass ich Handschellen anhatte. Auf dem Rücken. Das Hemd nicht zugeknöpft. Keine Schuhe mehr. Ich müsste mal aufs Klo, aber den Teufel würde ich tun, um darum zu betteln, mal austreten zu dürfen.

„Ich will sofort meinen Anwalt sprechen!“ Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Satz jemals in meinem Leben allen Ernstes aussprechen würde. Und jetzt wiederholte ich ihn sogar fast schon gebrüllt, weil dieses Kind mir gegenüber nur grinste. „Ich will sofort meinen Anwalt sprechen! Haben Sie das kapiert?“

„Sie haben einen Anruf frei. Ich nehme zu Protokoll, dass Sie von diesem Recht jetzt Gebrauch machen“. Der Staatsanwalt holte sein Handy heraus und machte sich bereit. „Wie lautet die Nummer?“

„Dr. Berger, Giselastraße in Bockenheim.“, beruhigte ich mich wieder und sagte in einem ruhigen sachlichen Ton: „“Ich weiß die Nummer leider nicht auswendig.“

Der Staatsanwalt fand die Rufnummer in seinem Laptop auf Anhieb und schaltete sein Handy auf laut hören. Es kam nur eine Bandansage, nach der ich die Nachricht hinterlassen konnte, das ich mich im Polizeipräsidium Frankfurt und in Untersuchungshaft befinden würde.

„Hören Sie, ich habe auch eine private Nummer von Herrn Dr. Berger. Ist in meinem Handy gespeichert. Wenn sie das bringen lassen könnten.“

„Ist sichergestellt. Beweismittel nach 98 StPO, tja“, bedauerte der Staatsanwalt. „Das kann ich ihnen vorerst nicht bieten. Aber Haftverschonung, wenn sie jetzt eine Aussage machen. Wenn es sein muss sogar Zeugenschutz. Ansonsten … Verdunkelungsgefahr und Happy Weekend!“

„Das wird Ihnen noch leidtun, Herr …“ Da bemerkte ich erst, dass ich noch nicht einmal den Namen von diesem Schnösel wusste.

Freitag, 22:20 Uhr:

Wie anders die Dinge doch sind, wenn sich die Rollen ändern? Durch das Tor und die Einfahrtschleuse der Justizvollzugsanstalt Frankfurt-Preungesheim war ich mindestens schon 100 mal gefahren. Jetzt saß ich auf dem Rücksitz eines uniformierten Mercedes-Vito und war selbst der „Fahrgast“; so lautete die Meldung über Funk, die der Streifenpolizist machte, als wir in die Schleuse einfuhren.

Richter Dr. Schmitt war tatsächlich nicht zu erreichen gewesen, so dass die Bereitschaftsrichterin über die Invollzugsetzung der Untersuchungshaft zu entscheiden hatte. „Ich kann nur aufgrund der Aktenlage entscheiden, und demnach besteht der dringende Tatverdacht, dass Sie, Herr Kriminalhauptkommissar Scherer, Mitglied einer kriminellen Vereinigung sind, die …“

„Das ist doch Bullshit! Ich bin beim MEK. Wir jagen professionelle Autoschieber, und keine besoffenen Autofahrer. Die Drogen, mit denen ich es beruflich zu tun habe, sind Koks und Extacy, und das auch nur im großen Stil. Ich bitte Sie … Fragen Sie meine Dienststelle. Oder den Polizeipräsidenten, oder den Leiter der Lage im Innenministerium. Ich bin sauber!“


„Am Montag, Herr Scherer. Bis dahin gibt es nur einen einzigen Grund, sie nicht in Gewahrsam zu belassen, nämlich: Keine Verdunkelungsgefahr.“ Die Richterin schaute mich streng an, und ich wusste nicht, ob ich sie ob ihrer Naivität trösten sollte oder selbst Trost gebrauchte.

„Es gibt nichts auszusagen“, wiederholte ich zum x-ten Mal, „weil ich nichts getan habe. Also kann ich weder aufhellen noch verdunkeln, verdammt noch mal!“

„Ihre Kraftausdrücke sind hier wenig hilfreich, Herr Scherer. Mir sind keine Gründe ersichtlich, weshalb der Haftbefehl von Richter Dr. Schmitt aufzuheben wäre, und ich ordne hiermit die Untersuchungshaft in der nächstgelegenen JVA gegen sie an.“


Samstag, 00:30 Uhr:

Mindestens 100 mal stand ich vor dieser Stahltür und löste meinen Gefangenen die Handschellen, bevor sie in der Zugangszelle verschwanden. Dann desinfizierte ich die Acht und machte mich frei von allem für den nächsten Fall, den dieser war nun für mich abgeschlossen. Was hinter dieser Tür geschah, war nicht mehr mein Ding. Wie komplett anders war das doch heute?

Zwei Stunden war ich in der kleinen Zelle, die nur über eine Sitzbank und eine Wolldecke verfügte, eingesperrt. Mir kam es vor, als hätte man mich vergessen. Als die Stahltür wieder aufgemacht wurde, fragte ich, wie spät es ist.

„Nicht zu spät. Es ist nie zu spät, sich zu bessern“, sagte einer der drei Justizbeamten, die mich von der Zugangszelle in das Zugangszimmer brachten, und alle drei lachten. „Aber wenn Sie es genau wissen wollen: Geisterstunde, 00:30 Uhr.“

„Dann ist ja schon neuer Tag“, schlussfolgerte ich überrascht. Nur heute und morgen noch, und spätestens am dritten Tag wäre ich wieder frei. Ich erschrak bei diesem Gedanken. Hatte ich mich schon damit abgefunden, ein Gefangener zu sein? Wo war mein Widerstand? Meine Gegenwehr? Nein, es war besser, den Tatsaschen ins Gesicht zu sehen und die Realität, so wie sie ist, anzunehmen. Es musste nur dieses verfluchte Wochenende vorbei sein, und alles wäre wieder gut. Jetzt nur die Nerven behalten, befahl ich mir.

Im Zugangszimmer musste ich alle meine Sachen ablegen und registrieren lassen. Außer meinem Portemonnaie mit 167,40 Euro und dem, was das SEK mir nach der Festnahme von meiner Bekleidung übrig gelassen hatte, war das nichts.

„Sie können jetzt duschen“, sagte mir der Philosoph, der mir schon die Uhrzeit so bedeutsam machen wollte. „Das nächste Duschen ist erst am Donnerstag.“

„Da bin ich schon wieder zu Hause“, versicherte ich dem Beamten zuversichtlich, vor dem ich völlig nackt stand.

„Und wenn nicht?“ fragte er lakonisch. „Eins werden Sie hier ganz schnell lernen: Jeder Tag ist wie ein kleines Leben!“ Er zeigte mit der Hand nach rechts, wo ein Duschraum war. „Wollen Sie saubere Anstaltskleidung haben, oder wieder in ihre dreckigen Sachen schlüpfen?“

„Saubere Sachen“, sagte ich und ging trotzig ob meiner Ohnmacht unter die Dusche, die es nicht vermochte, den Schmutz und die Schande von mir abzuwaschen, die in diesen wenigen Stunden über mich gekommen war. Wenigstens konnte ich unbemerkt und ohne Bettelei Wasser lassen. Ich war unschuldig, verflucht noch mal, unschuldig.

Samstag, 01:15 Uhr:

Als stellvertretender Leiter des MEK Frankfurt war es meine Aufgabe, die Führung der brisanten Einsätze zu übernehmen, die meiner Dienststelle übertragen wurden. Ich war zwar nicht an den oftmals monatelangen Observationen und Ermittlungstätigkeiten operativ beteiligt, aber beim finalen Zugriff – ausgenommen ein SEK übernahm diese Arbeit – war ich regelmäßig vor Ort. Der letzte Zugriff erfolgte gegen Dragoslav Niemczerovic, einem nicht gerade zimperlichen ex-jugoslawischen Mädchenhändler, der zur Prostitution gezwungene junge Frauen aus Georgien und Moldawien nach Frankfurt verschleppte. Der zweite Teil seines Jobs bestand darin, die illegalen Gewinne seines Gewerbes durch einen Gebrauchtwagenhandel rein zu waschen. Nach vier Monaten intensiver Observation und hunderten von abgehörten Telefongesprächen, die den bis dahin „unbescholtenen Geschäftsmann“ mit Sicherheit für viele Jahre hinter Gitter bringen würden, nahm das Team ihn widerstandslos im Treppenhaus des bescheidenen Altbau-Mehrfamilienhauses in Offenbach am Main fest. Niemczerovic kam in Shirt und Unterhose aus seiner Wohnung, um im Sicherungskasten im Hausflur einen Schalter umzulegen, nachdem in seiner Wohnung kein Strom mehr war. Schlimmer als die Festnahme war für ihn, dass er sich von uns so einfach hatte bluffen lassen. Wir hatten herzlich über den Unterhosenmann gelacht.

Diese Festnahme lag erst vierzehn Tage zurück. Der Philosoph unter den Gefängniswärtern öffnete die Zellentür und zeigte auf ein freies Bett. Auf der anderen Pritsche lag sanft schnarchend ausgerechnet dieser Dragoslav Niemczerovic. „Das ist ihr neues Zuhause! Frühstück gibt es nach dem Zellenaufschluss um 8 Uhr, Weiber und anderer Besuch sind hier nicht erwünscht“, scherzte der Schließer.

Ich erkannte Niemczerovic sofort im spärlichen Licht der Zellennachtbeleuchtung. Schließlich hatte ich wochenlang seinen Fall auf dem Schreibtisch liegen und täglich neue Fotos und Berichte über seine Aktivitäten bekommen. Ich kannte nahezu jedes Detail seines Lebens, weil er sehr redselig und aufschlussreich mit seinem Bruder in Kroatien, der dort die Arbeit für die Mädchenschlepper-Bande verrichte, telefonierte.

„Kann ich eine andere Zelle haben?“ entfuhr es mir erschrocken.

„Das muss ich mal nachdenken“, fasste sich der Wärter an sein Kinn. „Die Fürstensuite wird gerade renoviert, und das Herrenzimmer mit dem Jacuzzi ist bis Ende Frühling bereits belegt. Zur Südseite ist gerade auch nichts mehr frei. Nein, tut mir leid. Das ist das beste, das wir im Moment frei haben. Also wenn Sie nicht später wiederkommen möchten …“

„Mann, ich meine das ernst. Ich bin Kriminalhauptkommissar. Bei der Festnahme von diesem Typ war ich beteiligt“, erklärte ich flüsternd die Unvermeidbarkeit meiner Bitte.

„Und ich bin Justizhauptsekretär, und ich kann lesen. Und auf meiner Dienstanweisung steht, dass ich sie in genau diese Zelle zu bringen habe. Basta!“ Der Schließer ließ sich auf kein weiteres Gespräch mehr ein, sondern schlug die Eisentür zu meiner Zelle zu und schloss doppelt ab.

Ich starrte auf Niemczerovic, der unverändert da lag, aber nun nicht mehr schnarchte. Nach einer Ewigkeit setzte ich mich auf mein Bett und versuchte mich zu konzentrieren. Kaum schaute ich nicht mehr zu meinem Zellennachbarn hörte ich ihn drohen: „Sobald du mich aus den Augen lässt, werde ich dich Bullenschwein umbringen.“

Samstag, 8:00 Uhr

Pünktlich um 8 Uhr wurden die Zellentüren im gesamten Trakt aufgeschlossen und kurz darauf das Frühstück verteilt. Es gab Kaffee und zwei Brötchen mit Marmelade. Ich stürzte gleich drei Tassen der braunen Brühe ab und wünschte mir, dass der Koffein mich nachhaltig beleben und wachhalten würde. Die Wärter hatten gewechselt, und mein Philosoph würde jetzt entspannt in seinem Bett liegen und sich schlimmstenfalls Ohrenstöpsel reindrücken müssen, um sich herrlich erholen zu können. Allmählich begann ich zu verstehen, was er damit meinte, dass jeder Tag hier wie ein kleines Leben wäre. Ich jedenfalls war froh, diesen Morgen unbeschadet zu erleben.

Gleich nach dem Frühstück wurde ich nochmals in das Zugangszimmer geführt, wo ich meine Waschutensilien, Zahnbürste und Handtücher bekam. „Sie sollen ja nicht sagen, dass sie hier wie ein Schwein leben mussten, wenn sie mal wieder draußen sind.“ Ein lustiges Volk waren das, diese Schließer. „Für die Bartstoppeln bekommen sie von mir einen Einwegrasierer. Den müssen sie mir hinterher aber wieder abliefern. Klar?“

Ich nickte.

„Rauchen Sie?“

Ich bin zwar Nichtraucher, nickte trotzdem abermals, weil ich mir dachte, dass es nur vorteilhaft sein kann, hinter Gittern ein neutrales Zahlungsmittel zu haben. Schon wieder ertappte ich mich, dass ich meine neue Situation innerlich bereits akzeptiert hatte. Was war nur mit mir los? „Marlboro“, sagte ich.

Der Beamte lachte vor sich hin. „Mann, sie haben doch alle Zeit der Welt. Kaufen sie sich Tabak und drehen Sie sich die Dinger selbst. Das ist billiger und verschafft Ihnen Beschäftigung. In der U-Haft dürfen Sie doch sonst nichts machen. Aber mir soll’s egal sein. Ist ja ihr Geld, von dem das abgeht.“

„Marlboro will ich haben, oder hören sie schlecht? Ich bin sowieso gleich wieder draußen. Also geben sie mir die verfluchten Marlboro!“ widersetzte ich mich dem gutgemeinten Ratschlag des Justizbeamten.

„Jetzt werden Sie mal nicht renitent, mein Herr!“ bremste der Wärter meinen Anflug von Eigenwillen. „Das läuft hier nicht so, wie sie es von Muttern vielleicht gewohnt sind. Wenn sie mir dumm kommen, gibt es eben keine Zigaretten, klar?“

„Entschuldigung“, gab ich klein bei, um eine für mich viel wichtigere Information abzufragen: „ Wann kann ich den Anstaltsleiter sprechen?“

„Frühestens am Montag, 10 Uhr. Wenn der Alte dann überhaupt da ist. Aber da haben Sie schon einen Termin, nämlich beim ärztlichen Dienst. Alle Neuen müssen dorthin. Blut und Pisse abliefern.“

„Ja, oder seinen Vertreter. Es ist wichtig!“

„Letzten Endes bin ich sein Vertreter. Oder der Vertreter des Vertreters. Aber ganz bestimmt bin ich derjenige, der hier und heute alle Entscheidungen trifft. Es ist nämlich Wochenende. Also, worum geht es, Herr Scherer?“

„Ich bin Polizeibeamter …“ begann ich.

„Nein, sind sie nicht. Sie sind Gefangener. Alles andere lassen gerade Sie hier besser niemanden wissen“, korrigierte mich der Beamte entschieden und mit ernstem Gesicht. „Kinderschänder und Ex-Bullen halten hier besser die Fresse, die haben im Knast nämlich keine Freunde, klar?“

„Niemczerovic, geboren am 20.03.67 in Zagreb, Kroatien … Ich weiß alles von ihm, und er weiß, dass ich Polizist bin. Ich habe ihn selbst festgenommen.“

„Scheiße“, bedauerte der Beamte. „Ich will sehen, was ich tun kann.“


Samstag, 16:00 Uhr

Um 16 Uhr erfolgte der Einschluss in die Zellen. Niemczerovic hatte den ganzen Tag kein einziges Wort mit mir gewechselt und so getan, als wäre ich Luft. Doch mir war klar, dass er mich genau beobachtete. Und je weniger Interesse er an meiner Person zeigte, um so ernsthafter fasste ich seine Drohung auf, sich an mir zu rächen. Vor genau einem Tag hatte es mich noch mit großer Genugtuung erfüllt, diesen Mädchenschänder hinter Gitter gebracht zu haben, und nun wünschte ich mir, dass dieses Scheusal in Freiheit wäre. Vor 24 Stunden war ich ja auch noch leitender Kriminalbeamter gewesen.

Ich errechnete, dass ich noch rund 40 Stunden aushalten musste, bis die Anstaltsleitung für mich zu sprechen wäre. Das wären zusammen dann mehr als drei Tage ohne Schlaf, weil ich bereits seit 36 Stunden wach war. Wie hält es ein Mensch aus, solange wachzubleiben und einfach nur dazusitzen und die Kacheln an der Wand zu zählen. Meine Zelle hatte 3660 Fliesen. Ich Dummkopf habe nicht nur addiert, sondern Anzahl der Zellenbreite mal Anzahl der Raumhöhe multipliziert und war nach weniger als fünf Minuten mit dieser Aufgabe fertig.


Samstag, 23:30 Uhr:

Wann beginnt eigentlich ein neuer Tag? Wenn es die Stunde um Mitternacht ist, dann würde bald der dritte Tag meines Martyriums anbrechen. Wenn es der Moment des Erwachens ist, dann würde der erste Tag immer noch andauern; denn ich hatte noch keine Minute geschlafen. Schlaf. Wenigstens ein Bisschen. Einfach die Augen zumachen und einen Moment nicht denken. Und danach den neuen Tag genießen.

Ich würde den neuen Tag nicht erleben, wenn ich jetzt meiner Müdigkeit nachgeben würde. Der Jugoslawe war mir körperlich deutlich überlegen, und ohne eine Waffe war ich gegen ihn chancenlos. Ich zerlegte nochmals jedes Detail und jeden Aspekt meiner Lage. Denken war aufschlussreicher, als die Kacheln an der Wand zu zählen:

Punkt 1. Ich war unschuldig. Nicht einmal im Ansatz war ich bestechlich, korrupt oder kriminell. Und ich war auch nicht in die Nähe solcher Delikte zu bringen. Die Tatvorwürfe gegen mich müssen konstruiert sein. Gut konstruiert, sonst hätten Staatsanwalt und Richter ihnen nicht geglaubt. Immerhin bin ich Polizeibeamter, also jemand, dem man nicht leichtfertig in eine Zelle steckt.

Punkt 2. War es ein Zufall, dass ich in Niemczerovics Zelle eingesperrt wurde? Die Wahrscheinlichkeit sprach dagegen, weil er schon vierzehn Tage inhaftiert war, und nach so langer Zeit einen festen Zellengenossen haben sollte.

Punkt 3. Wer wusste, dass ich maßgeblich an den Ermittlungen und der Festnahme Niemczerovics beteiligt war? Das MEK ist nur gegenüber der Lageabteilung im Innenministerium berichtspflichtig. Niemand sonst weiß, an welchen Fällen wir arbeiten.

Außer Niemczerovic selbst! Er wusste, dass ich ihn festgenommen hatte. Und er hatte auch ein Motiv, Rache! Und ihm war klar, dass er sich nur dann persönlich an mir rächen könnte, wenn ich zu ihm kommen würde; denn er war die nächsten Jahre verhindert. Wahrscheinlich hatte er den Staatsanwalt, dieses Jüngelchen, über Hinterleute erpresst oder geschmiert und so erreicht, dass ich in die Untersuchungshaft musste und letztlich in seiner Zelle eingesperrt wurde.

Was hatte Niemczerovic mit mir vor? Wollte er mich erst sadistisch quälen und psychisch fertig machen, bevor er mich umbringen würde? War seine Rachelust nicht befriedigt, wenn er mir einfach und billig einen Auftragskiller geschickt hätte? Wollte er es eigenhändig erledigen?

Die Situation war aberwitzig. Vermutlich war ich der sauberste Polizist Hessens, und ausgerechnet ich saß wegen Korruptionsverdacht in der gleichen Zelle mit dem Schwerverbrecher, der mich in diesen Verdacht gebracht hat. Weiß der Teufel, wie Niemczerovic es angestellt hatte, aber ich war ihm ausgeliefert. Ich musste ihn von der Sinnlosigkeit seines Vorhabens überzeugen.

„Niemczerovic?“ forderte ich ihn zu einem Gespräch auf. „Respekt, wie du die ganze Sache hier eingefädelt hast. Aber glaubst du wirklich, dass du am Ende ungeschoren davonkommen kannst?“

Niemczerovic tat so, als würde er mich nicht hören. Stattdessen klopfte überraschenderweise einer der Wärter mit seinem Polizeistock gegen die Tür und wies mich an: „Scherer, quasseln sie keine Opern, sondern schlafen sie.“

Schlaf. Ich durfte gar nicht dran denken. Meine einzige Hoffnung war, dass Dr. Berger sich bald melden würde. Er würde alle Hebel in Bewegung setzen, um mich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Berger hatte mich schon bei der Scheidung von meiner Frau erfolgreich vertreten und klagte gerade mit mir gegen das Land Hessen, weil ich zweimal hintereinander bei Beförderungen übergangen wurde. Hunderte klagen gegen das Land, weil das Auswahlsystem für die Beförderungen unzulänglich, ja geradezu willkürlich ist. Und Berger wollte aus meiner Klage so etwas wie einen Präzedenzfall machen. Der Anwalt versicherte mir, dass es schlimmere Auswirkungen auf meine Karriere gehabt hätte, wenn ich nicht auf das mir widerfahrene Unrecht reagiert hätte. Dann würde ich bis zum Sankt-Nimmerleinstag nicht mehr befördert werden.

In meiner aktuellen Lage würde ich auf diese Beförderung und alle weiteren pfeifen, wenn ich zu Hause in meinem Bett liegen könnte. Ein Königreich für ein Bett, für ein paar Minuten Schlaf, für einen neuen Tag. Ich beschloss, dass künftig ein neuer Tag für mich dann beginnt, wenn ich ausgeschlafen habe. Vorausgesetzt, ich würde die nächsten Stunden überleben.


Sonntag, 08:00 Uhr:

Zellenaufschluss. Waschen. Immer wieder schütte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, um wach und frisch zu werden, bis mich ein Wärter vom Becken wegzieht.

„Die Anmeldefrist für DSDS ist abgelaufen. Sie brauchen sich nicht mehr aufzubrezeln, Scherer. Für unseren Laufsteg sind Sie fein genug.“ Ach wie lustig ist doch dieses Knastleben. Immer einen flockigen Spruch auf der Lippe, und sei er noch so flach. Hauptsache, es wird gelacht. Doch mir war nicht nach Lachen. Mir war auch nicht nach Essen. Den Kaffee, oder was auch immer dieses Gebräu in Wirklichkeit war, schüttete ich in mich hinein, und darüber hinaus wollte ich nur meine Ruhe haben. Es sei denn … ?

„Darf ich telefonieren?“ fragte ich den Beamten, der mir am Vortag versprach, dass er etwas für mich tun würde.

„Geht nicht. Verboten. U-Haft. Da könnten Sie ja gleich was in die Zeitung setzen“, lehnte der Mann ab.

„Mein Anwalt hat mich noch nicht kontaktiert. Er weiß vermutlich nicht, wo ich bin“, flehte ich den mir einigermaßen menschlich erscheinenden Wärter an. „Dr. Berger aus Bockenheim. Können Sie ihn nicht mal für mich anrufen? Ich habe doch das Recht auf einen Anwalt?“

Der Justizbeamte wurde ganz komisch. „Dr. Berger, so ein graumelierter Endfuffziger, etwas größer als Sie? Brille?“

Ich nickte nur.

„So einen hatten wir am Freitagnachmittag hier. Als U-Hafter. Wurde nach Darmstadt ins Fritz-Bauer-Haus verlegt. Kein Wunder, dass der sich nicht bei Ihnen meldet. Braucht jetzt wohl selbst einen guten Anwalt. So etwas wie den Bossi, wenn’s den noch gibt.“ Der Wärter drehte sich um und wollte gehen.

„Bitte, noch eine Frage. Wissen sie, weshalb dieser Anwalt in U-Haft musste?“

„Normalerweise interessiert mich das nicht, weshalb hier einer einrückt. Vor dem Gesetz – also auch bei mir – sind alle gleich. Aber bei einem Rechtsanwalt guckt man schon mal hin. Kriminelle Vereinigung, wie bei Ihnen.“ Und da schien dem Beamten ein Licht aufzugehen, und er setzte eine Miene auf, die zweifelsfrei bedeutete, dass er diese Antwort nie gegeben hatte, und auch keine weitere mehr geben würde.

Berger in U-Haft. Und das wegen des gleichen Tatvorwurfs. Kriminelle Vereinigung. In meinem Schädel rasselte es. Auch das konnte kein Zufall sein. Das war der gleiche Fall. Doch was, um Himmels willen, sollte es genau sein. Der junge Staatsanwalt hatte doch Andeutungen gemacht. Ich zermarterte mir das Gehirn, aber mir wollte nicht mehr einfallen, was genau der Schnösel mir als Tatvorwurf genannt hatte. Es war doch irgendetwas mit Führerscheinen und Drogen. Ich war einfach zu müde, um mich an den Wortlaut erinnern zu können. Dabei war es doch gerade erst gewesen, dass ich im Polizeipräsidium im Vernehmungszimmer an einem Tisch mit diesem Menschen saß.


Sonntag, 10:00 Uhr:

An Sonntagen haben die Gefangenen die Möglichkeit an einem Gottesdienst ihrer Konfession teilzunehmen. Ich gehöre zwar keiner Kirche mehr an, aber an diesem speziellen Sonntag besuchte ich die Anstaltsmesse des katholischen Geistlichen und betete schon zuvor, dass Niemczerovic keinerlei Ambitionen auf geistliche Erbauung haben würde. Ich nutzte die 40minütige Andacht, um ein wenig zu entspannen und die Augenlider zu schließen. Im 30-Sekunden-Takt wurde ich von meinem Banknachbarn sanft in die Rippen gestoßen, weil ich drohte vollends einzuschlafen oder zusammen zu klappen. Ich bildete mir ein, erholter aus der Versammlung herauszukommen, als hinein gegangen zu sein. Wahrscheinlich war jedoch nur der Wunsch der Vater dieses Gedankens.

Zurück in meinem Zellentrakt suchte ich die Nähe anderer Gefangener, um nicht alleine mit Niemczerovic sein zu müssen, der äußerlich keinerlei Anzeichen machte, mir auch nur ein Haar zu krümmen. Offensichtlich wussten auch die anderen Gefangenen nicht, dass ich ein Polizeibeamter war oder bin. Ich wusste ja selbst nicht mehr, wer ich war.

Niemczerovic hatte also mit niemanden geredet. Ich musste noch 20 Stunden überstehen; dann hätte ich die Möglichkeit etwas an meiner Situation zu ändern. Und sei es ein falsches Geständnis, dass ich vor Gericht später widerrufen würde. Was immer auch vorgefallen war: Ich wusste, dass ich unschuldig bin, also konnte es auch keine ernsthaften Beweise gegen mich geben. Mehr als 40 Stunden hatte ich bereits hinter mir. Das waren Zweidrittel der Zeit seit meiner Festnahme bis Montagmorgen, wenn das normale Leben wieder beginnt. Strafgefangene werden gemeinhin nach Zweidritteln ihrer Haftzeit vorzeitig entlassen. Ich war aber unschuldiger Untersuchungshäftling, und für solche Menschen gibt es kein Erbarmen.


Sonntag, 21:00 Uhr

Nach dem Einschluss legte sich Niemczerovic auf seine Matratze und starrte mich an. Ich behielt ihn im Blick. Plötzlich stand er vor mir und beugte sich zu mir herunter. Ich hatte ihn zwar auf mich zukommen sehen und rechnete mit einem Angriff von ihm, aber ich blieb beinahe bewegungslos auf meinem Bett liegen. Lediglich meine Arme verschränkte ich zum Schutz vor meinem Kopf.

„Heute Nacht wirst du sterben!“ prophezeite mir der Kroate. „ Wenn du gnädig sterben willst, dann bring dich selbst um.“ Er legte einen kleinen Löffel, dessen Griff zu einem stillet ähnlichen Messer gefeilt war, auf meine Decke und ging zurück in seine Ecke, wo er sich auf das Bett setzte und wartete. „Wenn ich dich töten muss, dann wirst du leiden wie ein Tier“, versprach er mir flüsternd und begann das perverse Warten.

Der Gedanke an das Sterben schreckte mich nicht mehr. Sterben bedeutete Ruhe haben. Frieden. Ich versuchte, mir vorzustellen wie das ist, wenn die Pulsadern offen liegen und warmes Blut über die eigene Haut läuft. Ein Gedanke, der nicht so grässlich war wie die Vorstellung, von zwei Händen wie Schraubstöcken den Hals zugedrückt zu bekommen, dass die Blutgefäße platzen und die Augäpfel hervortreten. Ich habe schon viele Tote gesehen. Aber die Vorstellung des eigenen toten Körpers ließ mich erschauern. Ich nahm den Löffel in die Hand und starrte meinen Gegner an. Freiwillig würde ich nicht gehen.


Montag, 04:30 Uhr:

Die zurückliegenden Stunden hatte ich zwar wach, aber ohne Bewusstsein erlebt. Meine vitalen Funktionen waren reduziert auf Ein- und Ausatmen, Beobachten, Leben. Ich atmete ein, atmete aus, spürte die Schwerkraft, gegen die ich mich wehrte, und blieb regungslos auf meinem Bett sitzen. Hinlegen bedeutete einschlafen und absolute Wehrlosigkeit.

Voller Entsetzen hörte ich Niemczerovic schnarchen. Wie konnte dieses Tier in so einer Situation die Augen schließen. Er selbst hatte mir die Waffe auf das Bett gelegt und mir praktisch keine andere Wahl gelassen, als „Er oder Ich“. Ich schloss meine Faust um den Löffel und überlegte angestrengt, in welches Körperteil ich zustechen würde. Könnte ich ihn kampfunfähig machen, ohne ihn zu töten, oder musste ich das Unvermeidliche tun?


Montag, 08:00 Uhr:

Er hatte die ganze Nacht geschlafen. Friedlich wie ein Kind und gleichmäßig vor sich hin geschnarcht. Ich wollte in der Sekunde aufspringen, in der dieses Schnarchen aufhören würde. Stattdessen erschrak ich beim Schrillen der Morgensirene, die pünktlich um 8 Uhr morgens die Gefangenen weckt. Wie konnte der Aufschluss der Zellen erfolgen, bevor ich meinen Job erledigt hatte?
„Scherer! Geht’s Ihnen nicht gut?“ fragte ein Schließer. „Sie sehen ja scheußlich aus. Wie ein Gespenst. Schauen Sie bloß heute nicht in den Spiegel – Sie fallen sonst tot um vor Schreck. Na ja, zum Glück haben Sie ja gleich ihren Termin beim ärztlichen Dienst.“

„Ich will den Staatsanwalt sprechen“, presste ich aus meinen ausgetrockneten Stimmbändern heraus.

„Erst mal sehen Sie zu, dass Sie wieder ein Mensch werden. Sonst sagen die noch, ich wäre daran schuld, dass Sie wie ein Zombie auf Entzug aussehen, und bekomme eine Anzeige – also Frühstück, Waschen, Arzt, und dann schauen wir mal.“

Ich versuchte aufzuspringen; es war klägliches Erheben. Genauso kläglich wie das Heben meines Armes mit der Stichwaffe in der Hand und der mühevolle Schritt auf den Wärter zu, der lediglich einen Schritt zurück gehen musste, um außer Gefahr zu sein.

„Scherer, sind Sie noch bei Trost?“ fragte der Beamte fast mitleidig und nahm mir den Löffel aus der Hand. „Sie kommen jetzt mal mit!“ Und mit lauter Stimme rief er in den Zellentrakt: „Alle zurück in die Zellen! Einschluss bis auf weiteres!“

Niemczerovic hatte die Szene von seinem Bett aus beobachtet und knurrte mir hinterher: „Dobar dan, Drecksbulle. Ich lass mich doch nicht von einem Wichser wie dir hier ficken! Dachtest wohl, du könntest mich mit deiner billigen Nummer zu einem Mordversuch verleiten. Mit mir nicht, du Arschloch.“


Montag, 13:10 Uhr:

Um kurz nach 13 Uhr wurde die Tür der Beruhigungszelle, in der ich eingeschlossen war, geöffnet. Der Philosoph und sein Kollege hatten die größte Mühe, mich zu wecken, so fest schlief ich. Meine Zunge klebte am Gaumen, und ich brachte kein Wort heraus.

„Hoher Besuch!“ verkündete der Wärter, der mir verheißen hatte, dass hinter diesen Mauern jeder Tag wie ein kleines Leben sein würde. „Der Herr Polizeipräsident persönlich. Mit Gefolge und einem Adlatus des Innenministers, einem Ministerialrat. Sind das ihre Freunde?“

Ich versuchte zu lächeln. Auch das hatte mein Körper vergessen. Ich lief zwischen den beiden Wärtern wie ein Mensch, der zum ungezählten Male zu seinem Folterer gebracht wird. Wäre doch alles nur vorbei. Könnte ich jetzt irgendein Papier unterschreiben, um danach in Ruhe gelassen zu werden, ich würde nicht einmal wissen wollen, was darauf geschrieben steht.

„Herr Scherer! Bester Scherer!“ begrüßte mich der Polizeipräsident und stand von seinem Stuhl im Büro des Anstaltsleiters auf, um auf mich zuzukommen. „Um es gerade heraus zu sagen: Das alles ist ein bedauerliches Missverständnis, ein Vorfall, der nie hätte passieren dürfen. Wir stehen tief in ihrer Schuld. Niemals hätten sie hier hergebracht werden dürfen. Das wird für den ein und anderen auch noch Konsequenzen haben. Ihnen sei gesagt, dass wir natürlich von ihrer Unschuld überzeugt sind.“

Ich verstand überhaupt nichts. Ich wusste als einziger in diesem Raum nicht, was passiert war und schaute meinen Behördenleiter und die Versammelten verständnislos an. Anstelle einer Antwort, für die meine Stimme noch nicht erprobt war, zuckte ich mit den Schultern und räusperte mich.

Der Ministerialrat aus dem Innenressort schien meine Geste richtig zu deuten und setzte zu einer Erklärung an: „Seit vier Monaten ermittelt die Hessische Polizei mit Hilfe Berliner Kollegen gegen mehrere ranghohe Polizeibeamte und Mitarbeiter der Führerscheinstelle Frankfurt-Nord sowie einem Amtsarzt, einem Oberamtsanwalt, einem Richter und letztlich auch gegen zwei Rechtsanwälte. Einer davon ist Dr. Berger. Ihnen allen kann nach intensiven Ermittlungen und hieb- und stichfesten Beweisen nun vorgehalten werden, eine Art Führerscheinmafia hier in Frankfurt betrieben zu haben. Gegen Bares hat diese feine Gesellschaft Alkoholsündern die Führerscheine zurück gegeben, ohne dass es zu gerichtlichen oder führerscheinbehördlichen Entzügen gekommen wäre. Bestechlichkeit und Amtsmissbrauch in höchster Kultur.“

Ich räusperte mich abermals. „Und was hat das mit mir zu tun?“ Ich wollte, meine Frage hätte etwas von einem Vorwurf enthalten. Aber es war nur eine reine Informationsabfrage, die ich mit dünner Stimme über meine Lippen brachte.

„Sie haben mit Dr. Berger mehrfach telefoniert und in diesen Gesprächen geäußert, dass sie – na sagen wir mal – eine gewisse Abneigung gegenüber ihrem Dienstherrn groß werden ließen. Und der ein oder andere Satz konnte im ersten Moment so interpretiert werden, dass sie bei dieser Mafia mitwirken würden. Bedauerlicherweise …“

Ich fiel dem Ministerialrat ins Wort, weil mir plötzlich einige Zusammenhänge klar wurden: „Und warum meine Festnahme? Untersuchungshaft? Und die Folter in dieser Zelle?“ Jetzt dominierte ein Vorwurf meine Stimme.

„Das war die Idee der Staatsanwaltschaft, die in Ihnen den am wenigstens belasteten Verdächtigen sah, und sie zum Kronzeugen gegen diese Mafia machen wollte,“ erklärte der Polizeipräsident.

„Kronzeuge? Sagten Sie nicht etwas von hieb- und stichfester Beweislage? Wozu brauchen sie also einen Kronzeugen? “

„Als Kronzeuge hätten Sie keine Haftstrafe zu erwarten gehabt, Herr Scherer“, beteiligte sich nun auch der Oberstaatsanwalt, dessen Rolle ich nun erfuhr, an den Erklärungen. „Eine sehr kurze Untersuchungshaft sollte ihnen die zu erwartende wahrscheinlich sehr lange Haftstrafe ersparen, wenn sie bereit gewesen wären, als Kronzeuge auszusagen. Rein rechtlich gesehen bestand ja auch in ihrem Fall Verdunkelungsgefahr …“

„ … ein bedauerlicher Irrtum im Eifer des Gefechts“, entschuldigte der Behördenleiter mit ausschweifender Theatralik die Konstellation der tatsächlichen und der angenommenen Lage. „Der junge Staatsanwalt, der bislang - und auch nur kommissarisch - die Ermittlungen der Berliner Kollegen koordinierte, bewertete die mitgehörten Telefonate zwischen Ihnen und Herrn Dr. Berger etwas einseitig, um nicht zu sagen falsch.“


„Ja, und aufgrund dieser teilweise falschen Informationen wurde der Haftbefehl gegen Sie ausgestellt. Das öffentliche Interesse an diesem Fall wird überaus hoch sein, und wir wollten uns nicht nachsagen lassen, dass wir auch nur einen einzigen der angeschuldigten Amtsträger schonen oder decken wollten. Erst als die schriftlichen Protokolle der abgehörten Telefonate im Ministerium vorlagen“, stellte der Ministerialdirigent klar, „erkannte man den Irrtum, und Herr Staatssekretär Candiz persönlich veranlasste sofort die Aufhebung Ihres Unterbringungs- und Haftbefehls. Wir bedauern sehr, dass die Staatsanwaltschaft derart oberflächlich und einseitig gehandelt hat. Im Namen von Herrn Staatssekretär Candiz möchte ich Sie um Entschuldigung für die Geschehnisse dieses Wochenendes bitten.“

Aus der Zusammenfassung des Ministerialdirektors konnte ich schlussfolgern, dass nicht das Polizeipräsidium Frankfurt und auch nicht das Landeskriminalamt, sondern das hessische Innenministerium selbst oder die Staatskanzlei federführend war. Die Rolle meines Behördenleiters war mir noch unklar. Ich fragte ihn: „Haben Sie auch nur ansatzweise eine Ahnung, eine Vorstellung, was ich in den letzten Stunden durchgemacht habe, Herr Polizeipräsident?“

„Wir bedauern das alle, Herr Scherer. Wir wissen um Ihre Unschuld – leider erst jetzt, nachdem Herr Dr. Berger heute Morgen ein umfangreiches Geständnis abgelegt hat. Er hat Sie 100%ig entlastet. Der Haftbefehl gegen Sie ist aufgehoben. Sie können …“

„Nein, Sie können mich mal!“ Ich musste den entscheidenden Kraftausdruck gar nicht aussprechen. „Um ein Haar wäre ich gestorben, oder ich hätte dieses Dreckschwein in meiner Zelle abgestochen und wäre jetzt selbst ein Mörder!“

„Ihre Wärter hatten Anweisung, ihre Zelle stündlich zu kontrollieren“, milderte der Oberstaatsanwalt die Gefahrenlage, in der ich mich vermeintlich befand. „Und der Kroate kann ganz gut auf sich selbst aufpassen. Wir hatten ein Auge auf Sie!“

„Wer hatte ein Auge auf mich?“ wollte ich wissen. „Sie?“ fragte ich den Polizeipräsidenten. „Oder Sie“, schaute ich den Ministerialdirigenten an. „Und was ist mit Ihnen?“ fragte ich auch den Leiter der Vollzugsanstalt. „Waren Sie etwa alle gleichgeschaltet? Oder wer, wenn nicht einer von Ihnen, hatte die Verantwortung? Der Innenminister? Der Justizminister?“ Oder gar der Ministerpräsident selbst?“
Ich bekam von den Herren keine Antworten mehr.


Montag, 14:15 Uhr

„Das ist ja menschenunwürdig, in solche Klamotten zu steigen“, sagte der Philosoph unter den Wärtern zu mir, als er mir im Zugangszimmer meinen Karton mit meinen teilweise zerrissenen und verschmutzten Sachen übergab und sich deren Vollzähligkeit quittieren ließ.

„Kleider machen Leute“ , antwortete ich sarkastisch und erinnerte mich an Wilhelm Voigt in der Rolle des Hauptmanns von Köpenick. „Die Lumpen sind mir momentan lieber als die Anstaltssachen.“
„Je feiner der Zwirn, desto schlichter das Hirn“, feixte der Wärter, und er und sein Kollege lachten. Und mit völlig ernsten Tonfall direkt im Anschluss fragte der Philosoph: „Was werden Sie jetzt tun, Herr Scherer?“

„Heimfahren, ausschlafen. Und vielleicht ein neues Leben beginnen, ein kleines.“


Epilog:

Dr. Berger ist selbstverständlich nicht mehr für mich tätig geworden. Ich erfuhr im Nachhinein, dass er bereits nach acht Stunden Untersuchungshaft (nicht erst am Montagmorgen) sein Geständnis vor dem gleichen Staatsanwalt ablegte, der auch mir ein Happy Weekend gewünscht hatte. Das muss zu dem Zeitpunkt gewesen sein, als ich in Frankfurt-Preungesheim eingeliefert wurde.

Niemczerovic hatte mit meiner Verhaftung und dem Umstand, dass ich ausgerechnet in seine Zelle eingesperrt wurde, absolut nichts zu tun. Auch er glaubte nicht an einen Zufall sondern vermutete, dass man versuchen wollte, ihn zu einem Angriff auf mich zu provozieren, um ihn möglichst lange in Haft nehmen zu können. Da er den Gefängnisalltag bereits kannte, war ihm aufgefallen, dass „unsere“ Zelle besonderer Aufmerksamkeit seitens des Wachpersonals unterlag, und er ließ sich nicht provozieren. Niemczerovic wurde kurz darauf wegen Menschenhandels zu drei Jahren Haft verurteilt. Nach insgesamt 6 Monaten wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen und als ein sogenannter MIT (Mehrfachintensivtäter) nach Kroatien abgeschoben.

Offiziell nimmt die hessische Landesregierung keinen Einfluss auf die operativen Entscheidungen der Polizei und Justiz. Selbst im Fall des ermordeten Bankierssohns Jakob von Metzler, dessen Entführer man während der Untersuchungshaft androhte, ihm Finger und Knie zu brechen, wenn er das Versteck des vielleicht noch lebenden Kindes nicht verrät, behaarte die LR auf diese Sprachregelung. Vor Gericht stand der damalige stellvertretende Polizeipräsident von Frankfurt – und wurde wegen Nötigung (nicht Folter) verurteilt. Die Begriffe Rechtsstaat und Folter schließen sich in der Theorie gegenseitig aus. Die Praxis - auch der Untersuchungshaft - ist eine andere, trotz

§ 343 StGB Aussageerpressung
(1) Wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung an
1. einem Strafverfahren, einem Verfahren zur Anordnung einer behördlichen Verwahrung,
2. einem Bußgeldverfahren oder
3. einem Disziplinarverfahren oder einem ehrengerichtlichen oder berufsgerichtlichen Verfahren
berufen ist, einen anderen körperlich misshandelt, gegen ihn sonst Gewalt anwendet, ihm Gewalt androht oder ihn seelisch quält, um ihn zu nötigen, in dem Verfahren etwas auszusagen oder zu erklären oder dies zu unterlassen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.



Das ist ein Verbrechen.

Impressum

Texte: Jede Ähnlichkeit mit Personen oder realen Sachverhalten (soweit sie nicht zur Zeitgeschichte gehören)ist frei erfunden und rein zufällig.
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum April-Wettbewerb der Kurzgeschichtengruppe auf www.bookrix.de zum Thema "Jeder Tag ist wie ein kleines Leben"

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