Du darfst, Vitor
Seit exakt siebenundsiebzig Stunden war sich Vitor Batista Moralis seines Problems bewusst. Wann er zum letzten Mal Verkehr oder wenigstens richtige Lust darauf hatte, konnte er nicht mehr genau ermitteln. Es muss vor etwa drei Wochen gewesen sein, bei seiner Ehefrau. Und nichts deutete damals darauf hin, dass irgendetwas bei ihm nicht stimmen würde.
***
„Ich heiße Mahagonny,“ stellte sich die junge Frau vor, der das Appartement im Lissabonner Stadtteil Benfica gehörte. „Wie soll ich dich nennen?“
„Vitor“, war seine ehrliche aber einsilbige Antwort, und im gleichen Moment überlegte er, ob er sie nicht besser mit einem anderen Namen hätte anlügen sollen. Aber wozu? „Ich habe ihren Namen noch nie gehört. Mahagonny
, klingt toll, woher kommt das?“ Moralis war sich sicher, dass die äußerst attraktive Endzwanzigerin eine Portugiesin war. Dazu passte dieser fremd klingende Name überhaupt nicht.
Mahagonny setzte sich auf das Doppelbett und dankte ihrem Freier für das kleine Kompliment mit einem erwärmenden Lächeln. „Es ist der Name einer erfundenen Stadt irgendwo im Norden Amerikas. Sie fängt die Männer ein, die Gold gefunden haben, und sie gibt Frauen wie mir eine Heimat. Das oberste Gesetz dort lautet: Du darfst!“ Mahagonny streckte ihre Arme einladend zum immer noch stehenden Moralis aus. „Du darfst alles, du musst es nur sagen!“ Moralis stand immer noch unbewegt und ließ sich vom Lächeln der ihm bislang unbekannten Prostituierten einfangen und entführen. Er stellte sich vor, wie die ausgehungerten und nach Sex gierigen Goldsucher zu solchen Mädchen kommen und selbstverständlich verlangen, wonach ihnen Lust ist. „Deshalb habe ich mir den Künstlernamen Mahagonny gegeben,“ und sie setzte ernüchternd hinzu: „ Ich bekomme 150 Euro pro Stunde.“
„Ja,“ erwachte Moralis aus fernen Gedanken, „im Voraus, ganz klar“. Er holte seine Brieftasche hervor und entnahm die bereits zurechtgelegten drei 50-Euro-Scheine und gab sie der Hure.
„Damit wäre auch die kleine Flunkerei wegen meines Namens bezahlt, Vitor“, überraschte Mahagonny den verdutzten Fünfzigjährigen, der sich keiner Lüge bewusst war und dies mit einem Schulterzucken ausdrückte. „Kein Mann kommt zu mir, der nicht erzählt bekommen hat, was er für sein Geld bekommen wird. Und du hast nicht nur zu mir gefunden, sondern sogar das Geld bereits genau abgezählt bereit gehalten. Also hat dir höchstwahrscheinlich ein Freund gesagt, was dich bei Mahagonny erwartet, oder nicht?“
Vitor hatte von einem Arbeitskollegen in seiner Bank, in der er als Revisor tätig war, vor zwei Tagen den Geheimtipp und die Telefonnummer bekommen. An den Namen der Prostituierten konnte er sich aber wirklich nicht mehr erinnern, sollte sein Kollege ihn überhaupt erwähnt haben. Er war sich nicht einmal sicher, ob Mahagonny, mit der er kurz zuvor zum ersten Mal telefonierte und das Treffen in diesem Appartement arrangierte, dabei ihren Namen oder nur „Hallo“ gesagt hatte.
„Es ist also alles bezahlt, Vitor,“ stellte Mahagonny herausfordernd fest. „Sag mir deinen Wunsch!“
Moralis war noch nie zuvor bei einer Prostituierten gewesen. Er war in den einunddreißig Jahren seiner Ehe noch nie fremdgegangen. Und er hatte auch nicht vor, heute mit einer fremden Frau zu schlafen. Die Frage, die ihn in den letzten drei Tagen und fünf Stunden umher trieb war, ob er es denn könnte, wenn er wollte. Oder war er impotent. Aber das konnte er der hübschen Hure, die vom Alter her durchaus seine Tochter hätte sein können, doch nicht sagen. Also befahl er: „Gut, zieh dich aus!“
„Wow“, scherzte Mahagonny ironisch anerkennend und griff mit beiden Armen zum Verschluss eines Kettchens in ihrem Nacken, das ihr rückenfreies dunkelblaues Top festhielt. Der seidene Stoff rutschte über ihre Brüste hinab und blieb an ihrer Hüfte hängen. Sie war gleichmäßig gebräunt, als würde sie regelmäßig nackt in der Sonne sein. Ihre Achseln waren haarlos, und Moralis gefiel es sehr, dass Mahagonny offensichtlich kein Krafttraining betrieb sondern ihre Muskulatur natürlich ausgeprägt war. Vor ihm stand eine Traumfrau.
„Du darfst dir mehr wünschen!“ sagte sie, als könnte sie Gedanken lesen.
„Ja, zieh dich weiter aus und leg dich auf das Bett.“ Moralis glaubte ein Zucken in seiner Hose bemerkt zu haben, aber die Erregung fand nur in seiner Vorstellung statt.
Die Bezahlte tat, wie ihr gesagt wurde. Sie öffnete den Verschluss ihres schwarzen Minirocks, bewegte kurz ihre Hüfte, so dass Top und Rock zum Boden fielen und sie im gleichen Moment in prachtvoller Nacktheit vor Moralis stand. Sie trug keinen Schmuck und keine Tattoos oder Piercings. Moralis hätte leicht feststellen können, dass dieses Luxusweib nicht nur an den Achseln mit der Rasierklinge umzugehen verstand, doch er starrte auf die 11 cm hohen Absätze der Sandaletten, das einzige, das Mahagonny noch an ihrem Körper trug.
Sie hob langsam ihre Beine aus dem Stoffknäuel, der auf dem Boden lag, heraus und ging die drei Schritte auf Moralis zu, bis sie nur noch wenige Zentimeter von ihm getrennt war. Ohne ihn zu berühren, aber durch ihren Duft gänzlich in Besitz nehmend, fragte sie: „Wie möchtest Du, dass ich mich für dich auf das Bett lege, Vitor?“
Moralis war zu keiner Antwort fähig. Er war betört und fasziniert von dieser Frau, die vor ihm im Tageslicht der in Streifen durch die halb geschlossenen Jalousien in den Raum fallenden Sonne zum Greifen nahe war. Er hätte sie gerne angefasst, ihren Haarknoten geöffnet, mit dem sie die langen schwarzen Haare nach oben gesteckt hatte, um sie durch seine Hände gleiten zu lassen. Er hätte sie sogar gerne geküsst, doch er war verheiratet und wusste, dass man Nutten nicht küssen darf. Und er spürte immer noch nicht die ersehnte körperliche Regung, was ihn erschrecken ließ und in die Gegenwart katapultierte.
„So, dass ich dich sehen kann“, hörte er sich sagen.
„Du willst mich also ansehen, oder willst du mir zusehen?“ Mahagonny ging zum Bett, setzte sich auf den Rand und amüsierte sich heimlich über die schüchterne Hilflosigkeit ihres Kunden. Sie fand Moralis nett, und professionell setzte sie hinzu: „Du darfst, Vitor!“
„Ja, ich will dir zusehen“, wagte Moralis sich zu wünschen. Denn ein Zusehen wäre kein Fremdgehen. Zusehen wäre wie Fernsehen, jeder tut es.
„Und willst du nur zusehen,“ fragte die Verführerische, die sich nun der Länge nach mit leicht geöffneten angewinkelten Beinen auf die seidene Tagesdecke des Bettes gelegt hatte und jeweils einen Finger jeder Hand auf dem Bauch und der Brust leicht kreisen lies, „oder willst du mich auch hören, Vitor?“
Moralis hatte eine gute Ehefrau, eine Frau, die sich den ehelichen Pflichten niemals verschloss, keine Ausflüchte benutzte oder Migräne vortäuschte, sondern die mit ihm schlief, wann immer er es wollte. Ausgenommen während der Periode, aber da wollte er auch nicht. Und Moralis schätzte sich sehr stolz, dass er es Aminda immer besorgen konnte. Seine Frau kam bei ihm vollends auf ihre Kosten. Die Vorstellung, dass sie sich selbst streicheln würde, war nur eine Vorstellung; denn sie tat es nicht. Und leider blieb Aminda sehr oft stumm, bis sie kam. Moralis wollte Mahagonny sehen und hören. Dafür hatte er bezahlt, und das war sein Recht.
Ohne es zu bemerken nahm Moralis seinen gekrümmten rechten Zeigefinger in den Mund und biss darauf. Der Schmerz machte ihm bewusst, dass er sich den Mund verschloss. Mahagonny war wunderbar. Sie verkörperte, was er niemals gewagt hätte auszusprechen. Sie war sein Traum, den er immer wieder nach dem Erwachen leider zu schnell vergessen hatte. Sie muss die Frau gewesen sein, nach der er sich schon immer in seinen Phantasien gesehnt hatte. Sein Geist und sein Körper waren gespannt. Wie sie dort lag und sich sanft und wohlig bewegte, während ihre Hände ihre Brüste und ihre Scham sichtbar erregten. Moralis erzitterte. Der Moment wäre perfekt gewesen, wenn die Spannung auch in seiner Hose stattgefunden hätte.
„Magst du mir nur zusehen, oder willst du mich auch anfassen? Du darfst es, Vitor! Ich hätte es sogar sehr gerne, wenn du mich berühren möchtest,“ hörte Moralis aus dem Irgendwo das Mädchen fragen. Er wollte, gewiss, aber er konnte nicht. Er durfte nicht. Er war zwar innerlich wie durch 20.000 Volt erregt, aber es gab keinen sichtbaren Beweis seiner Mannhaftigkeit.
„Ich bin verheiratet“, flüchtete Moralis zurück in die Wirklichkeit.
„Das ist dein Freund auch“, stellte Mahagonny fest, während sie lustvoll und andeutungsweise stöhnend ihre Schenkel weiter öffnete und sich frontal ihrem Kunden zeigte.
„Sie wussten, dass Goncalves mir ihre Telefonnummer gab?“ erschrak sich Moralis, weil dies bedeutete, dass die Prostituierte auch Rückschlüsse auf seine Person ziehen könnte. Bisher kannte sie ja nur seinen Vornamen.
„Nein, ich kenne keinen Goncalves“, korrigierte Mahagonny. „Aber alle Männer, die zu mir kommen, sind verheiratet. Sie kommen, weil ich ihnen jeden Wunsch erfülle, egal wonach sie sich sehnen. Und nichts davon verlässt diesen Raum.“
„Hören sie auf“, wollte Moralis das Geschehen beenden. Seine Stimulation war gänzlich zerstört. Er bereute, dass er hier war. Wäre er stattdessen doch nur zu einem Urologen gegangen.
„Aber du hast es dir doch gewünscht, Vitor. Und bezahlt!“ Mahagonny machte sich heimlich einen Spaß aus dem inneren Kampf, der sich vor ihren Augen gerade abspielte, und den diesmal – was nur sehr selten geschah – der blonde Engel und nicht der schwarze Teufel gewann.
„Und jetzt möchte ich, dass sie aufhören damit.“ Moralis hatte keine Argumente, und auch keine Stimmgewalt, um die Herrschaft zu übernehmen. Er schaute nicht mehr zum Bett hin, blieb aber nach wie vor im Zimmer stehen und wartete ab.
„Schade“, hörte er Mahagonny sagen. „Ich mag es, wenn man sich gemeinsam in Stimmung bringt. Aber bitte, du bestimmst, was passieren soll, Vitor.“
„Bitte, ziehen sie sich wieder an“, Moralis sagte dies genau in dem Ton, in dem er auch in seiner Bank Anordnungen gab, denen nicht widersprochen werden durfte. „Ich habe es mir anders überlegt.“
Mahagonny kannte diesen Tonfall nur zu gut, und sie entschied sich spontan dafür, von nun an das Spiel in der Opferrolle weiter zu spielen. „Gefalle ich dir nicht, Vitor?“ Und weil Moralis nichts sagte: „Habe ich etwas falsch gemacht?“
„Nein, nein. Es liegt nicht an Ihnen. Ich habe es mir nur anders überlegt“, wiederholte sich der Banker.
„Ganz bestimmt gefalle ich dir nicht“, spielte Mahagonny nun die Verletzte. „Ich finde dich sehr nett. Nicht so ein Macho, wie viele andere. Und ich habe mich schon ein bisschen auf dich gefreut. Aber du hast dich ja noch nicht einmal ausgezogen.“
„Sie können das Geld behalten“, beendete Moralis seinen Besuch bei der Prostituierten und verließ verzweifelt das Appartement, in das er nie wieder zurückkehren würde.
***
Jennifer Machado hatte an diesem Tag keinen Kunden mehr. Sie räumte noch ein wenig auf und befestigte im Bad einen neuen Duschvorhang; eine Investition, die vorgeblich ihren Freiern diente, in Wirklichkeit aber nur ihr selbst, weil sich keiner ihrer Kunden nachher noch bei ihr duschte. Die Männer zogen ihre Hosen an und gingen, ohne weiter an sie zu denken. Allenfalls eine gute Nummer und Mahagonnys Name blieben in ihren Erinnerungen.
Der merkwürdige Vitor ging ihr dagegen nicht aus dem Kopf. Sie hatte Kunden, ältere Herren, die körperlich nicht mehr an jedem Tag aktiven Sex haben konnten, und die sich tatsächlich nur mit ihr unterhielten oder ihr zusahen. Das war okay. Dieser Vitor war aber ein anderes Kaliber. Sie bereute, dass sie mit ihm gespielt hatte.
Das Appartement war Jennys Eigentum. Sie wohnte von dieser Arbeitsstelle zwanzig Busminuten entfernt in der Bairro Alto, wo ihre Nachbarn glaubten, dass sie eine Top-Sekretärin sei. Auf dem Nachhauseweg entschied sich die alleinstehende Lisboa an diesem Tag nicht zu kochen, sondern in der benachbarten Alfama Essen zu gehen. Als sie das Restaurant betrat sah sie Vitor ebenfalls alleine bei einem Glas Rotwein an einem Tisch sitzen. Solches war ihr in den acht Jahren, die sie ihr Gewerbe schon ausübte, noch nicht geschehen. Niemals hatte sie einen Freier zufällig oder außerhalb ihrer Arbeitsstelle wieder gesehen.
Moralis erkannte sie sofort und erhob sich instinktiv von seinem Stuhl, wie er sich auch erhoben hätte, wenn ein Geschäftspartner oder Verwandter den Raum betreten hätte. Seine Geste wirkte einladend und der Kellner, der Jenny in den sal de mesa geführt hatte, deutete die Situation so, als ob Moralis die hübsche Frau erwartet hätte. Er rückte für Jenny den freien Stuhl an diesem Tisch zurück, und Moralis war derart überrumpelt, dass er nicht widersprach sondern dem Gast bedeutete, Platz zu nehmen.
Jenny setzte sich und lachte verlegen, aber so dass der Kellner dies nicht bemerken sollte. Auch Moralis konnte sich der Ironie dieser Situation nicht entziehen und lächelte. „Bringen sie uns eine Flasche Porta da Ravessa und stilles Wasser“, wies er den Kellner an. Und mit einem fragenden Blick zu seiner Tischpartnerin gewandt: „Und bitte auch die Speisekarte.“
Jenny nickte. „Was für ein Zufall?“ begann sie die Situation aufzuklären. „Ich wohne in der Nähe.“
„Sie sind mir wegen der dummen Geschichte vorhin nicht böse, Mahagonny?“ hinterfragte Moralis das gemeinsame Erlebnis. Er wirkte in der Restaurantumgebung wesentlich entspannter und männlicher als zuvor im Studio.
„Jennifer, oder einfach nur Jenny“, bat Mahagonny. „Die andere ist in Benfica in diesem Appartement geblieben.“ Und augenzwinkernd fügte sie hinzu: „Wir sehen uns sehr ähnlich!“
„Oh ja, aber sie sind sehr viel hübscher als die andere“, flirtete Moralis ebenfalls augenzwinkernd. Beide entschieden sich für eine Dourade im Salzteig, und Moralis genoss die Gegenwart dieser schönen Frau, die sich in der Wartezeit bis zum Essen als sehr unterhaltsam und überaus gebildet herausstellte. Ihre Leidenschaft waren das Theater und die moderne Oper. Und während Jenny ihm mit feuriger Begeisterung „vom Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“
erzählte, einem Bühnenstück, von dem der Banker zuvor nie gehört hatte, gefielen dem Fünfzigjährigen in der Midlifecrises mit jedem ihrer Sätze die Intensität der Worte und die genauso intensive Körpersprache dieser jungen Frau, und er ließ sich mitreißen und begeistern von ihren Deutungen und Gedanken zu diesem Werk. Jenny konnte nicht glauben, dass Vitor – ja, das war sein richtiger Name – noch nie davon gehört hatte.
Dann stand Jenny auf, stemmte die Arme in die Hüfte und begann zu singen: „Oh show me – the way – to the next Whiskeybar. - And don‘t ask why ... „ Dazu bewegte sie ihre Hüften, wie sie wohl auch die vier Mädchen auf der Brechtschen Bühne bewegt haben.
„The Doors!“ erriet Moralis zutreffend. Und er spürte nicht nur innerlich, sondern auch körperlich an der richtigen Stelle die Erregung, die von dieser Frau zu ihm ausging. Er freute sich nicht nur, dass er das Lied erkannt hatte, sondern auch, dass das Leben in seine Lenden zurück gekehrt war. „The Doors und van Morisson“, wiederholte er, und er war wieder ein Mann.
„Ja,“ rief Jenny aus und reckte die geballte Faust nach oben. „Und ob du es glaubst oder nicht, mein lieber Vitor. Dieses Lied haben Bert Brecht und Kurt Weill für meine
Oper gemacht.“
Mein lieber Vitor
, klang es in seinen Ohren nach. Ausgesprochen von der gleichen Frau, die er kurz zuvor noch lieblos und abweisend allein gelassen hatte. Das alles war aber vergessen, weil seine Männlichkeit zurück gekehrt war. „Was dachtest du, als ich vorhin so einfach weg ging von dir?“
„Ich weiß nicht recht. Es war schon sonderbar. Das erste Mal, dass so etwas passierte. Warum wolltest du mich denn nicht haben?“ Jenny stellte die Frage in aller Selbstverständlichkeit, als würden beide sich schon jahrelang kennen und vertrauen. Als wären sie beste Freunde.
Vitor trank langsam einen Schluck des köstlichen Rotweins aus dem östlichen Alentejo und überlegte eine Formulierung, die sein Problem in einem ansehnlichen Lichte erscheinen ließ, ohne die Unwahrheit sagen zu müssen. „Es war eine Art Test – für mich.“
Jenny verstand nichts und wartete auf eine weitere Erklärung. Der Gedanke, dass sie ungefragt für einen Test benutzt werden sollte war ihr unangenehmer als jeder frivole Wunsch, den Freier sonst bei ihr aussprachen und erfüllt bekamen. Man kann doch über alles reden. Es wird alles immer gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht.
Vitor erklärte seinen Test: „Ich bin schon sehr lange und immer noch glücklich mit meiner Frau zusammen. Es stimmt fast alles zwischen uns. Kürzlich konnte ich aber nicht mit ihr schlafen, obwohl wir es wollten, denn ich konnte nicht in sie eindringen. Und auch in den Tagen danach klappte es nicht mehr. Er
war irgendwie … bewußtlos. Meine Frau weinte. Sie dachte, es würde an ihr liegen. Sie würde mir nicht mehr gefallen, oder ich hätte keine Lust mehr auf sie. Sie schämte sich dafür, und schließlich schliefen wir sogar in getrennten Zimmern, weil sie mir nicht glaubte, das ich sie immer noch und trotz alledem liebe.“ Vitor lächelte an dieser Stelle, und Jenny stimmte in dieses Lächeln, dass etwas befreiendes hatte, ein, obwohl sie den Test immer noch nicht verstand.
„Ich ging zu Mahagonny, weil ich nicht glauben wollte, dass ich impotent sein könnte. Früher war ich ein richtiger Mann, wenn ich nur an eine hübsche Frau dachte – oh nein, ich war nie treulos, aber Gedanken kann man doch haben -, aber nun: Schlaffheit. Stille. Ich wollte einfach wissen, ob da noch Leben ist.“ Vitor lächelte schon wieder.
„Und deshalb kam Vitor zu Mahagonny: Um die Härte und Männlichkeit eines Stieres in seiner Herde zu bekommen“, konstatierte Jenny sachlich. „Normalerweise funktioniert es ja genau anders herum. Aber von mir aus, bitteschön. War ich denn mein Geld wert?“ Beide mussten über die Verdrehtheit der Situation lachen.
„Nein“, antworte Vitor spontan und korrigierte sich sogleich: „Ich meine ja, natürlich warst du dein Geld wert. Aber nein, ich hatte keine …“ Vitor hatte sich total verfranzt und konnte sich abermals nur durch ein Lächeln aus der Misere behelfen.
„Aber du scheinst trotzdem glücklich zu sein“, bemerkte Jenny, ohne es verstehen zu können oder eine Erklärung dafür zu haben.
„Ja, jetzt“, gestand Vitor ein wenig zurückhaltend; denn er war voller Sorge, als er sich alleine für den Restaurantbesuch entschieden hatte. „Die Härte kam mit etwas Verspätung zurück. Praktisch erst vor wenigen Minuten, als du zu singen und tanzen begannst. Das war wirklich … das ist … inspirierend!“
„Sage noch einer, dass die alten Musen und Künste nichts mehr erregen könnten“, erstaunte sich Jenny und hob ihr Glas zum Anstoßen.
***
Als Vitor Batista Moralis an diesem Abend nach Hause kam, hatte er eine Flasche Sekt und Blumen für seine Frau dabei. Er bat sie, eine Vase und frische Gläser zu holen und zündete zwei Kerzen an, die schon seit langen ungenutzt auf dem Wohnzimmertisch standen.
„Blumen für mich?“ zeigte seine Frau sich überrascht. Ihr war nicht nach Spaß zumute, sonst hätte sie die altbekannte Zote von den Männern, die ihren Frauen Blumen bringen, aufgesagt und gefragt: Wie heißt sie?
Und er hätte vermutlich gesagt: Es gibt keine außer dir.
Sie liebte ihren Mann, und sie wusste, was dieser Strauß zu bedeuten hatte. Und Moralis liebte seine Frau, die er niemals betrogen hatte.
Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 09.01.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Wettbewerbsbeitrag in der Gruppe "Kurzerzählungen" auf www.bookrix.de
im Januar 2011
Thema: Es wird alles immer gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht. (Hermann Hesse)