Die Aufgabenstellung für die 24. Wortarena bestand darin, aus einem kleinen, aber feinen Gedicht (ich denke mal, dass es aus der Feder von FABIANA geflossen ist, weil es sich noch nicht
googeln lies) „etwas“
zu machen.
Tadelnd sprach der Freund zum Freunde:
"Spür ich doch mit viel Bedauern,
dass zum Schutze Du vor Menschen
Dich umgibst mit hohen Mauern."
Zögerlich kommt rauhe Antwort:
"Freund, wenn ich die Mauern nutze,
solltest Du Dich glücklich preisen,
denn sie dienen DEINEM Schutze!
Liebe Chiara
,
als ich hörte, dass Du meine Gegnerin bist, fiel mir das Herz in die Hose. A:) weil ich dich ganz besonders schätze, B:) weil du schon einmal einen „alten Sack“
auf diesem Schlachtfeld fertig gemacht hast, und C:) weil ich sowieso keine Chance gegen dich habe.
Aber ich gebe mich nicht kampflos geschlagen …
dein größter Fan, Joe
Im Nebel
– von Hermann Hesse
Seltsam im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
kein Baum sieht den andern,
jeder ist allein.
Voll von Freunden war mir die Welt,
als mein Leben noch licht war;
nun, da der Schleier fällt,
ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
der nicht das Dunkel kennt,
das unentrinnbar und leise
von allem ihn trennt.
Seltsam im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern.
Jeder ist allein.
Kinder im Nebel
Es war gerade Hausarbeitsunterricht, als Theresa von der Direktorin ihrer neuen Schule in den Klassenraum geführt und den anderen Mädchen vorgestellt wurde.
„So, meine Damen, ich möchte euch Theresa von Wahrenfels vorstellen, die ab heute zu eurer Klasse gehört. Miss Theresa konnte wegen eines Krankenhausaufenthaltes das Schuljahr nicht zusammen mit euch beginnen. Umso mehr freuen wir uns, sie nun bei uns begrüßen zu können.“ Misses Sterling drehte sich zur Neuen um, strahlte sie an und wünschte ihr: „Willkommen zu Hause, und viel Erfolg in der Elstree Ask School for Girls.“
Mädcheninternat. Ausgerechnet auch noch dieses Internat, das fast alle Mädchen aus ihrer Familie besuchen mussten. Nach außen sah es wie eine liebgewordene Familientradition aus, doch für Theresa war es ein schwerer Gang, diese Mauern aus hellbraunen und roten Ziegelsteinen zu betreten. Auch ihre Mutter hatte hier drei Jahre verbringen müssen. Drei Jahre, die sie aus dem Gedächtnis gelöscht zu haben schien; denn sie hatte niemals von ihrer Schulzeit erzählt.
***
„Von Wahrenfels?“ fragte die Mitschülerin, mit der sie sich das schicke Appartement mit zwei Zimmern im Mädchenhaus von nun an teilte. „Bis du eine adlige Deutsche?“
„Genauso viel oder wenig wie die Königin eine Deutsche ist. Meine Vorfahren haben lediglich darauf verzichtet, ihre Wurzeln zu verbergen.“ Theresa kicherte. „Sonst würde ich heute vielleicht Theresa of Real Crag heißen. Oder Juststone.“ Die beiden Teenager mussten lachen. Das Eis zwischen ihnen war binnen weniger Sekunden geschmolzen. Sie mochten sich auf Anhieb.
„Theresa, as true as a rock!” Die 15jährige Kommilitonin deutete eine tiefe Verbeugung an. „Wahrenfels klingt irgendwie religiös, wie Gott, der wahre Fels.“
„Oder der Fels in der Brandung. Mein Vater behauptet zumindest, ich wäre so stur wie das Zentralmassiv. Womit wir wieder bei den Battenbergs, pardon: den Mountbattens, sind.“ Theresa schaute sich in ihrem neuen Zimmer, der Hälfte des Appartements, um. „Wie kommt es, dass du diese schöne, große Wohnung für dich alleine hattest?“
Ihre neue Mitschülerin zwinkerte sie an: „Mathematik! Ich kann bis drei zählen. Und drei ist eine ungerade Zahl. Als vor vier Wochen das Schuljahr begann, stellte ich mich an das Ende der Reihe. Die Mädels vor mir mussten sich ein Zimmer teilen, und für mich, Nr. 11, blieb nur noch diese bescheidene Hütte am Ende des Ganges übrig. Tja, bis jetzt.“
„Den Letzten beißen die Hunde“, spielte Theresa die Bedauernde. „Ich jedenfalls bin glücklich hier nicht alleine sein zu müssen.“ Sie streckte Jane die Hand entgegen: „Meine Freundinnen sagen The-re zu mir. There, wie Terra.“
„The-re? Freut mich. Ja, wie Miss Sterling schon sagte: Willkommen zu Hause. Ich bin übrigens Jane Howard, wie die mit der Liane. Aber wir hatten auch ein paar Earls in der Familie.“
***
Die Elstree Ask School for Girls war eine religionsfreie Privatschule und Mädcheninternat für die höheren Töchter aus dem nördlichen London in einem. Das Credo der Schule seit nun schon über einhundert Jahren lautete: Werde, wer du bist
. Und die Gemeinschaft aus Lehrern und Schülerinnen verstand sich als eine freie Gemeinschaft, in der die verschiedenen Generationen unbefangen miteinander umgehen und voneinander lernen können. Ein Teil des Lehrkörpers wohnte im Internatsteil der Schule, und das Miteinander war sehr herzlich und offen.
Theresa und Jane wurden beste Freundinnen. Der Umstand, dass Theresa die ersten vier Wochen des Schuljahres verpasst hatte, war schnell ausgeglichen; denn die beiden Mädchen lernten fleißig und besuchten zu Recht eine Eliteschule. Die Tage vergingen rasend schnell, und die neuen Freundinnen verbrachten viel Zeit miteinander. Außer im Unterricht hatten sie kaum Umgang mit ihren Schulkameradinnen und vermissten diesen auch nicht.
„Wie lange warst du eigentlich im Krankenhaus?“ wollte Jane gutgelaunt wissen.
„Eine Ewigkeit! So kommt es mir vor. Doch es waren nur neun Wochen.“ Schlagartig verließ die gute Laune Theresa. Und die Erinnerung an ihre Zeit in der Tavistock Clinic und der Beschluss ihres Vaters, sie in das Internat nach Elstree zu schicken, um über das Erlebte besser hinweg zu kommen und eine normale Frau zu werden, waren plötzlich wieder präsent.
„Und weswegen …. ?“ Jane stellte diese Frage in aller Selbstverständlichkeit. Nicht aus Neugierde oder Sensationslust. Umso überraschter war sie, als Theresa schlussendlich erklärte:
„Darüber möchte ich nicht reden!“
Eine weitere Unterhaltung wäre in diesem Augenblick ohnehin nicht möglich gewesen, da es an der Tür klopfte und der Mathematiklehrer, Mister Kalahan, in das Appartement seiner Schülerinnen kam. „Theresa, Jane. Auf ein Wort. Ich mache mir Sorgen, weil ihr beiden euch verhaltet wie zwei Eremiten, die sich gefunden haben, und nun gemeinsam der Welt da draußen den Rücken kehren.“ Er stellte ohne Beschönigung fest: „Ihr nehmt an der Schulgemeinschaft kaum noch teil.“
„Wir lernen viel, weil…“, begann Theresa ihren Satz und sah erschrocken, dass Jane, als Mister Kalahan sie anschaute, nicht nur stark errötete sondern zu glühen schien. „Jane hilft mir dankenswerter Weise Anschluss an den Lehrstoff zu bekommen. Ich habe die ersten Wochen gefehlt …“
„Ja, das ist bekannt“, unterbrach sie ihr Lehrer. „Ein normaler Lehrer würde sich über euren Eifer wahrscheinlich sogar freuen. In Elstree ist der Lehrstoff aber nicht alles. Werde, wer du bist! lautet unser gemeinsames Ziel. Geschichte, Deutsch und auch Mathematik vermitteln nur einen kleinen Teil davon. Also sollte die Beschäftigung mit den Büchern nicht den ganzen Tag in Anspruch nehmen.“
„Ich verstehe, was sie meinen, Mister Kalahan“. Theresa bemühte sich um Artigkeit, wie sie es von zu Hause gewohnt war.
„Jeffrey“, lächelte Mister Kalahan nun auch sie an. „Die Lehrer, die in der Schule wohnen, werden von ihren Schülern gerne mit Vornamen angesprochen. Nur die Externen, aber auch nicht alle, sind Mister und Misses. Wir sind so etwas wie eine große Familie zueinander. Ich meine sogar, dass wir mehr als nur Familie sein sollten. Und deshalb ist der Vorname ein Muss
für mich!“
„Ja, Mister … Jeffrey“, brachte Theresa schwer über die Lippen.
***
„Was war mit dir denn eben los?“ wollte Theresa von ihrer Freundin wissen. „Du hast ja kein Wort gesagt aber geglüht, als hättest du die Röteln.“
„Darüber möchte ich nicht sprechen!“ sagte Jane in dem gleichen schnippischen Ton wie kurz zuvor Theresa, die sehr wohl verstand, worauf Jane anspielte. Und es tat ihr leid, dass sie so spontan reagiert hatte, als ihre einzige Freundin an dieser Schule sie an ihrer schmerzhaftesten Stelle berührte. Aber sie konnte in diesem Moment nicht anders.
„Okay“, sagte Theresa übergangslos nach kurzem Nachdenken. „Der Grund ist, dass es kein normales Krankenhaus, sondern eine Psychiatrie war, in der ich die letzten Wochen verbrachte, bevor ich hier auf das Internat kam. Darüber wollte ich nicht reden, wie du vielleicht verstehen kannst.“
Jane setzte sich neben Theresa auf das Bett und legte tröstend den Arm um sie. „Du bist der normalste Mensch, den ich kenne, There. Entweder war das eine verdammt gute Klinik, in die sie dich gesteckt haben, oder du bist die beste Schauspielerin der Welt. Du bist doch alles andere als gaga
!“
„Nein“, kicherte Theresa, „ich bin nicht gaga
. Ich habe dort Hilfe bekommen, weil ich mit einem Trauma nicht fertig wurde. Mir ist etwas passiert, etwas Peinliches, etwas, über das man nicht sprechen kann.“
„Außer mit seiner besten Freundin. Beste Freundinnen sind dazu da, dass man alles mit ihnen teilen kann. Stimmt doch, oder?“ Jane nahm beide Hände von Theresa beschützend in ihre Hände, drückte sie und zwinkerte mit den Augen. „Und ich hoffe doch, dass ich deine beste Freundin sein kann.“
„Ja, stimmt schon, aber … Es gibt da noch ein Geheimnis“, beschloss Theresa spontan das Thema zu wechseln: „Die Gründer dieser Schule, Paul und Edith Casirer, sind Teil meiner Familie. Edith war nicht nur eine Reformpädagogin, sondern auch die Schwester meines Ururgroßvaters, also eine Großtante oder so von mir. Alle meine Tanten und Großcousinen über Generationen waren hier an der Schule und teilweise sogar im Internat.“
„Dann gehört das Internat deiner Familie?“ schlussfolgerte Jane flüsternd.
„Nein, das alles hier gehört einem Trust, einer Art Stiftung. Und nur Misses Sterling weiß von meiner Abstammung. Ich bin eine ganz normale Schülerin.“
„Siehst du, jetzt sagst du es selbst: Du bist eine ganz normale Schülerin. Gar nicht gaga
.“
***
Die Simehall
war Aula und Musikraum der Schule in einem. Sie war vor allen Dingen deshalb ein beliebter Ort, weil hier auch die Jungs von der Elstree Ask School for Boys Zugang hatten. Und es gab eine gemischte Rockband beider Fakultäten. Die Simehall
war der ideale Ort, um Jungs kennenzulernen, ohne merkwürdigen Blicken oder Fragen ausgesetzt zu sein.
„Die brauchen noch eine Frau am Keyboard und eine Sängerin. Magst du dir die Band mal anschauen“ fragte Theresa ihre Freundin, die allerdings wenig Interesse an dieser Freizeitbeschäftigung zeigte. Theresa wurde erst jetzt wieder bewusst, dass sie über Monate alle künstlerischen Neigungen vernachlässigt hatte. ‚Verfluchte Elstreemauern
‘, dachte sie. Musik und Tanz waren doch ihre Leidenschaft gewesen, bis sie ins Krankenhaus und unmittelbar darauf hierhin kam.
„Musik ist nicht so mein Ding“, lehnte Jane die Einladung ab. „Außerdem brauche ich das mit den kindischen Jungs dort nicht.“
„Ich werde trotzdem mal hingehen“, entschied Theresa, und erklärte ihrer Freundin im Tonfall ihres Lehrers: „Mister Kalahan hat doch gesagt: In Elstree ist der Lehrstoff nicht alles. Werde, wer du bist!
“ There lachte. „Wer weiß, vielleicht bin ich ja eine Rocksängerin.“
„Schaden kann es ja nicht, ich schau mir die Band auch mal an“, wandelte Jane rasch ihre Meinung.
Auf dem Weg zur Aula kamen die beiden Teenager am Campermobil ihres Lehrers vorbei, das neben einem Vorbau des Appartementhauses der Mädchen dauergeparkt und mit Strom aus dem Haus versorgt wurde.
„Jeffrey hat einmal eine Exkursion mit dem Van und Fünfen aus unserer Klasse gemacht. Der Wagen ist cool“, berichtete Jane. „Wir fuhren zwei Tage auf eine Burg und studierten für Geschichte, wie man früher Mauern und Türme gebaut hat.“
„Ich habe Die Säulen der Erde
gelesen“, sagte Jane. „Da ist das auch ganz genau erklärt.“
„Jeffrey nutzt den Van auch als Refugium“, Jane kicherte, „wenn er seine Ruhe braucht oder für den Unterricht etwas vorbereitet.“
„Warum kicherst du?“ fragte Theresa.
Jane ging näher zum Ohr ihrer besten Freundin und verriet leise: „Na ja, meistens braucht er Ruhe vor seiner Frau. Die war übrigens mal seine Schülerin, aber gleich nach der Gratuation haben sie geheiratet, und Jeffrey wechselte hier auf die Elstreeschule.“ Und sie fügte nach: „Aber pst! Ist ein Geheimnis.“
„Ich dachte, Kalahan wäre schon sehr lange hier. Schließlich ist er der Vertrauenslehrer und mindestens vierzig Jahre alt, auch wenn er jünger aussieht.“ Theresa überfiel stets ein beklemmendes Gefühl, wenn sie in der Nähe dieses Lehrers war. Anders als die meisten anderen Mädchen war sie nicht von ihm begeistert. Und jetzt genügte es schon, über ihn zu reden, das sich dieses ablehnende Gefühl wieder bei ihr einstellte.
„Er sieht toll aus!“ meinte Jane.
Von der Probe der Rockband in der Simehall
war Musik zu hören. „Just the way you are“, erkannte Theresa das Lied. “Bruno Mars, der
sieht süß aus!” ‚Und er ist weit, weit weg
‘, dachte sie sich.
***
Jeffrey Kalahan war ein brillanter Lehrer, warmherzig, ein toller Typ, ein Vater. Als Sohn eines Doktor der Philosophie saugte er den Schöngeist schon mit der Muttermilch auf. Des Lebens Ernst lernte er als Heranwachsender auf einem Handelsschiff zu hoher See. Die fernen Länder Asiens in ihrer kindlichen Leichtlebigkeit hatten es ihm angetan. Trotzdem entschied er sich zurück ins kaltnasse England zu kommen und Erzieher zu werden. Eine Entscheidung, die weder er noch seine Schulen, an denen er als Pädagoge diente, jemals bereut hätten. Kalahan war stets derjenige, der mit der Gitarre am Lagerfeuer saß, der Zeit und Ohr für jedes Problem eines jungen Menschen auch abseits der schulischen Dinge hatte. Seine Schüler liebten ihn dafür. War er doch genau das Gegenteil der Erwachsenen, die ihnen die Räume immer nur einengten. Und sie dankten es ihm mit guten Noten und herausragenden Leistungen.
In Elstree war er seit fünf Jahren, nachdem er im Jahre 2003 geheiratet hatte, und seine Ehefrau in der Nähe ihrer Eltern sein wollte, die im nahegelegenen Radcliffe wohnten. Als Deputy Headmaster hatte Kalahan nicht nur große Verantwortung sondern auch alle Freiheiten an der Schule. Er war hier glücklich, und von dieser Gemeinschaft konnte ihn niemand mehr wegschicken. Das Leben für und mit den bestbehütetsten jungen Mädchen Englands, diesen wunderschönen und gescheiten Jungfrauen, die man in seine schützenden Hände gab, erfüllte ihn unendlich. Elstree war seit seiner Gründung ein Ort der Reformpädagogik, und erst hier konnte er die verschimmelten Tabus und Konventionen einer restaurierten Vätergeneration endgültig abwerfen. Der freie Geist dieser Einrichtung durchdrang den Alltag mit einem bis dahin für ihn völlig neuen Gefühl der Freiheit auf beruflichem, emotionalem und sogar sexuellem Gebiet. Elstree war seiner Zeit weit voraus, und Kalahan war davon erfüllt, Teil dieser Einrichtung zu sein.
Die Welt außerhalb der Elstreemauern war noch nicht soweit. Unvergessen haftete das heuchlerische Raunzen im Ohr Kalahans, von dem seine ehemalige Lehranstalt erfüllt war, als seine Schülerin Catherine von ihm schwanger wurde. Nach der Heirat – wegen eines Stück Papiers – war alle Aufregung nur ein Sturm im Wasserglas, und Kalahan konnte den biederen Ort aufrechten Hauptes und mit einer hervorragenden Empfehlung für das Internat im Norden Londons verlassen.
Catherine hätte es lieber gesehen, wenn ihr Mann an eine normale Schule gewechselt wäre. Dann hätte er mehr Zeit für sie und das Baby gehabt. Doch Kalahan gab sich mit ganzer Leidenschaft dem Internatsleben hin. Hier war er mehr als nur ein Lehrer. Hier war er, wie er immer schon sein wollte.
***
Einmal pro Woche besuchte Theresa Dr. Farrenwell, um ihre Traumabehandlung an der Tavistock Clinic
fortzusetzen. Der Psychiater freute sich, dass es seiner Patientin so schnell schon wieder so gut ging und sie neben der Gesprächstherapie nur noch wenige Psychopharmaka und ein schwaches Schlafmittel benötigte. Das Mädcheninternat erwies sich nach dem stationären Aufenthalt als eine sehr gute Fortsetzung der Behandlung.
„Du bist das einzige Mädchen hier, das jede Woche seine Tante besucht“, sagte Jane augenzwinkernd zu Theresa, als sie von ihrem Ausflug zurück kam. „Wie heißt er
denn?“
Theresa wollte ihre Freundin nicht belügen. Notgedrungen antwortete sie: „Doktor Farrenwell, und er
ist mein Arzt.“
„Du gehst immer noch zum Psychiater?“ mutmaßte und entsetzte sich Jane gleichermaßen. „Ich dachte, du wärst wieder okay, seit du hier bist.“
„Nein, nein. So schnell geht das
nicht. Das
kann dauern“, antwortete Theresa ausweichend.
„Was
kann dauern?“ hakte Jane nach. „There, wir sind beste Freundinnen. Hast du das vergessen?“
Nun war die Stunde gekommen, auf die sie Dr. Farrenwell in den letzten Wochen vorbereitet hatte, in dem er ihr erklärte: „Theresa, eines Tages wirst du über dieses Erlebnis sprechen müssen. Nicht, weil ein Richter dich fragt, und auch nicht weil ich oder ein anderer Arzt es so will, sondern weil deine Seele es von dir verlangen wird. Öffne dich!“
Es würde kein gerichtliches Nachspiel geben; dafür hatte ihr Vater gesorgt. Welche Familie möchte schon, dass es in der Zeitung steht, wenn der Onkel sich an seiner Nichte sexuell vergangen hat. Vergewaltigungen in guten Häusern begeistern immer noch die Massen. Ihr Vater hatte Schweigen befohlen und beschlossen, dass Onkel James nach Australien gehen und dort bleiben müsste. Die beste psychiatrische Klinik und das Mädcheninternat und eine gewisse Zeit würden ihr helfen, das Schlimme zu vergessen. Und ihre Mutter bestätigte, dass die Zeit alle Wunden heilt
.
In wenigen Sekunden flogen an Theresas Gedächtnis wie aus einem Nebel kommend noch einmal die Bilder der letzten Monate vorbei, und sie schämte sich. Von alledem erzählte sie Jane nichts. Ihre Antwort lautete: „Ich kann nicht!“
Das Gefühl der Scham wurde durch das Misstrauen, das sie gegenüber Jane durch ihre Haltung ausdrückte, verstärkt und im Laufe der Nacht sogar im Schlaf unerträglich. Jane war ihre einzige Vertraute, ihre beste Freundin. Sie war die Person, die sie noch nie enttäuscht hatte. Selbst ihre Mutter hatte sie im Stich gelassen und sich auf die Seite ihres Mannes, ‚wohin eine Frau gehört
‘, gestellt. Denn Theresa wollte lieber bei ihrer Mutter sein als in diesem Krankenhaus oder diesem Internat. Sie fühlte sich allein gelassen und empfand gleichermaßen Schuld wie Scham. Trotz des Schlafmittels wachte Theresa auf und ging in Janes Zimmer. Das Bett ihrer Freundin war leer.
Hin und wieder veranstalteten die Mädels nächtliche, aber leise Partys. Theresa hatte davon nur Flüsterberichte gehört; denn normalerweise schlief sie wie der sprichwörtliche Stein. Jane könnte in einem anderen Zimmer sein. Oder sie war eine Zigarette rauchen. Das war den Schülerinnen zwar verboten, doch hin und wieder hatte Theresa den Geruch dieses Lasters an Janes Kleidung wahrgenommen. Sie ging auf den Flur hinaus und horchte. Bis auf ein gleichmäßiges Schnarchen aus Sybilles und Annes Zimmer war es totenstill; ein sicheres Anzeichen dafür, dass auch in diesem Zimmer niemand Party machte. Wo war Jane?
Theresa schaute hinaus auf den Hof. Außer in Mister Kalahans Camper, in dem noch gedimmtes Licht brannte, war es stockdunkel in der Elstreeschool. Sie legte sich zurück in ihr Bett, konnte aber nicht einschlafen und stöpselte sich ihren I-Pod ins Ohr. Theresa machte sich zwar keine Sorgen um Jane, aber sie fand es sonderbar, dass ihre Freundin nun schon 15 Minuten spurlos verschwunden war. Irgendwann schlief sie doch ein.
***
Der nächste Morgen begann, wie fast alle Morgen im Internat. Misses Hopewood klopfte an jede Zimmertür, begrüßte fröhlich ihre Prinzessinnen und eine Karawane von Morgenmänteln begab sich schlaftrunken in den großen Waschsaal, der eines der wenigen Relikte aus der Gründerzeit des Internats geblieben war.
„Ich konnte heute Nacht nicht richtig schlafen“, leitete Theresa ihre Befragung ein. „Da merkte ich, dass du nicht in deinem Zimmer warst.“ Jane hatte gerade ins Brötchen gebissen und antwortete nicht sofort. „War heute Nacht wieder eine von diesen Partys?“ baute sie ihrer Freundin eine Brücke.
„Nein, keine Party. Ich hatte Bauchschmerzen und war längere Zeit auf der Toilette“, log Jane sie an.
„Oh, das tut mir leid. Ich dachte schon, ich hätte etwas verpasst.“
Theresa spürte, dass Jane ihr nicht die Wahrheit sagte. Sie hatte zwar nicht explizit auf der Toilette nachgesehen, aber es erschien ihr seltsam, dass jemand so lange auf dem Topf sitzen würde. „Hättest doch etwas sagen können. Ich habe eine Wärmflasche. Die hätte dir bestimmt geholfen.“
Die Knappheit der Sätze und ihr nüchterner Blick verrieten, dass Theresa ihrer Freundin keinen Glauben schenkte. „Später!“ sagte Jane zu ihr, und beide Freundinnen verbrachten den Rest des morgens und den Unterricht mit Grübeln.
„Ich war bei Jeffrey“, erklärte sich Jane, nachdem die Mädchen aus dem Unterricht entlassen und wieder ungestört in ihrem Appartement waren. Beiden war nicht wohl zumute, denn das leise Misstrauen, das sich in ihre Freundschaft eingeschlichen hatte, nagte an Jane genauso wie an Theresas Gemüt. „Ich vertraue dir“, sagte Jane und offenbarte ihr nun ihr großes Geheimnis an. „Jeffrey und ich sind ein Paar! Ein Liebespaar!“
Theresa verschlug es die Sprache. Mister Kalahan war ihr Lehrer! Und Jane und sie waren erst 15. Die Art und Weise, wie Jane dieses Wort Liebespaar
ausgesprochen hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass es zwischen beiden zum Äußersten gekommen war.
Nachdem diese erste Hürde genommen war, brannte Jane förmlich darauf, ihrer Freundin die Geschichte zu offenbaren. Sie erzählte ihr, wie aufmerksam und liebevoll Mister Kalahan sich zu Beginn des Schuljahres fast täglich um sie kümmerte. „Er war stets zur Stelle, wenn ich ein Problem hatte oder Hilfe brauchte. Ich war ja die einzige, die alleine in einem Appartement wohnte.“ Vielmehr noch als diese kleinen praktischen Hilfen half Mister Kalahan seiner Schülerin auch über das Alleinsein hinweg. „Und schließlich war er genauso einsam wie ich. So gesehen haben wir uns gegenseitig in den Hafen der Liebe treiben lassen. Ich bin so glücklich!“
„Soweit ich es weiß, ist Mister Kalahan verheiratet!“ empörte sich Theresa.
„Leider ist er noch verheiratet, aber nur, weil eine Trennung in seiner Stellung unmöglich ist. Er müsste die Schule sofort verlassen, und solange ich hier bleiben muss, ist das das Letzte, was ich haben möchte. Jeffrey hat mir versprochen, dass er nur für mich da sein wird, wenn wir beide von hier weggehen können.“ Jane ließ sich zurück auf das Bett fallen, streckte beide Arme weit von sich und seufzte: „Ach, wenn das doch schon morgen sein könnte.“
„Er könnte dein Vater sein!“
„Er ist mein Vater! Und er ist mein Bruder, und mein Freund. Mein Geliebter, mein Ein und mein Alles. Was soll der Altersunterschied? Er akzeptiert ja auch mich, obwohl ich noch nicht volljährig bin. Jeffrey hat mir gezeigt, worauf es im Leben wirklich ankommt, nämlich glücklich zu sein und das zu werden, wozu man geboren wurde. Er hat mich zu einer glücklichen Frau gemacht.“
„Das ist doch nur ein Motto, ein Spruch, verstehst du. Du kannst doch nicht einen Kodex zur Maxime deines Lebens machen.“
„Ich mache ihn und seine Liebe zur Maxime meines Lebens, und ich hoffe, dass ich mich täusche, wenn ich aus deiner Stimme heraus höre, dass du das nicht akzeptieren willst, nur weil er nach überholter Konvention zu alt und ich zu jung dazu sein sollen. Hast du denn noch nie geliebt?“
Theresa schluckte. Am liebsten hätte sie ihre Freundin wachgeschüttelt. Aber das wäre zwecklos gewesen. Neben ihr auf dem Bett lag ein naiver Teenager, ein Kind, das von sich glaubte, den Schlüssel zum Paradies in der Hand zu haben. Verrückt vor Glück. Solch glückliche Leute hatte sie in der Klinik zuhauf gesehen und wusste, wie man sie dort ruhig stellt. Das wünschte sie ihrer Freundin nicht.
***
Die Situation schien ausweglos. Die Macht, die Kalahan über Jane hatte, bestimmte jede Erwartung und jede Empfindung ihrer Freundin. Erst jetzt nach diesem Geständnis registrierte Theresa die vielen zufälligen Berührungen und Bemerkungen zwischen dem Erzieher Kalahan und seiner Schülerin. Keine Unterrichtsstunde verging ohne solche Zärtlichkeit, verborgen hinter einem Lob für eine kluge Antwort oder einfach nur im Vorbeigehen auf dem Schulgelände. Theresa verzweifelte. Sie schilderte ihrem Psychiater in der folgenden Sitzung ihre Beobachtungen, freilich ohne Verrat an ihrer Freundin zu begehen, sondern in einer anonymen dritten Person. Dr. Farrenwell deutete diese Offenbarungen derart, dass Theresas Seele sich Luft und Raum verschaffte, um den selbst erlebten Missbrauch verarbeiten zu können.
„Deine Seele beginnt zu heilen“, erklärte er ihr seine Deutung. „Dein Innerstes akzeptiert wieder, dass Mann und Frau dazu bestimmt sind, zueinander zu gehören. Es ist gut, dass deine Projektionen auf einen Mann gerichtet sind, der zärtlich ist. Theresa, wir machen Fortschritte.“
Dr. Farrenwell erkannte nicht, dass Theresa nicht von Einbildungen, sondern von Realitäten berichtete. Kalahan hatte mit ihrer besten Freundin geschlafen. Er 45, sie 15. Was gab es da noch zu erklären? War denn die ganze Welt verrückt?
Nach dieser Sitzung beschloss Theresa die Psychopharmaka und Schlafmittel nicht mehr zu nehmen. Sie war ja normaler als der Rest der Welt. Irgendwie musste ihrer Freundin doch zu helfen sein. Und dazu brauchte sie einen klaren Kopf.
Jane bemerkte die Veränderung im Wesen ihrer Zimmergenossin, die zeitweise mehr Detektivin als Freundin war. Trotzdem war sie froh, Theresa an ihrer Seite zu haben, war sie doch die einzige, mit der sie ihre Heimlichkeit teilen konnte. Sie fragte sich, warum Theresa derart ablehnend auf Jeffrey reagierte.
„Du hast mir dein Geheimnis immer noch nicht verraten, There“, erinnerte Jane ihre Freundin.
‚Vielleicht öffnet ihr das die Augen!‘ dachte sich Theresa und begann schonungslos: „Na gut, wenn du es unbedingt wissen willst: Ich wurde von meinem Onkel missbraucht. Er kam eines Abends in mein
Zimmer und erklärte mir, dass es an der Zeit wäre, mich aufzuklären. Er war betrunken und entschlossen. Den Rest kannst du dir denken.“
„Mein Gott, ist das schlimm! Der eigene Onkel.“ Jane hatte das Bedürfnis ihre Freundin in den Arm zu nehmen. Doch Theresa stand auf und stellte sich mit verschränkten Armen vor sie.
„Mein Onkel war auch ein toller Typ. Er ist der jüngere Bruder meines Vaters, aber auch schon fast vierzig und geschieden. Na ja, meine Eltern waren in der Oper, ich war alleine mit ihm zu Hause. Er spielte mir seine Musik vor und erzählte melancholisch von den guten alten Zeiten, und trank. Ich hörte ihm zu, hörte mir auch an, weshalb seine Ehe in die Brüche ging, und ging dann in mein Bett. Er kam, bedankte sich für mein Verständnis und sagte mir, dass ich ja schon eine reife Frau wäre – bis auf diese eine Sache, von der ich noch nichts wüsste.“ Theresa schluckte den aufkommenden Kloß in ihrem Hals herunter. „Dann … Ich wollte das nicht. Ich bat ihn aufzuhören. Ich schob seine Hände weg und weinte. Doch er legte sich neben mich, fasste mich weiter an, und dann tat er es.“
„Wie schrecklich!“ Jane saß einfach nur auf dem Bett und konnte nichts weiteres tun.
„Genauso saß meine Mutter da, als ich mich ihr anvertrauen wollte. Sie schien so weit weg zu sein, als würde sie mich gar nicht hören. Der Vater würde wissen, was zu tun sei. Sie wolle mit ihm reden. Das war für mich noch schlimmer als diese Nacht. Ich kam mir so schmutzig vor. Und ich war unendlich allein.“ Es war das erste Mal, dass Theresa diese Gefühle ausdrückte. Dr. Farrenwell wartete seit Monaten auf diesen Moment. Und nun war es Jane, ihre beste Freundin, der weitaus Schlimmeres widerfuhr, die diese Öffnung erlebte. Theresas Martyrium war vorüber, doch Janes Vergewaltigung dauerte an.
„Wie kann ich dir nur helfen, There?“ wollte Jane mitfühlend wissen. „Was soll ich tun?“
„Begreifst du denn nicht?“ entsetzte sich Theresa nach weiteren Worten ringend. „Nicht ich brauche Hilfe, sondern du! Ich leide nicht mehr. Ich werde den Onkel nie wieder sehen, und bei mir ist nichts kaputt gegangen. Das einzige, das ich brauche, ist Zeit. Du bist diejenige, die in der Irre ist.“
„Du meinst wegen Jeffrey? Das kannst du doch nicht vergleichen! Jeffrey liebt mich. Und ich liebe ihn.“ Jane fühlte sich angegriffen. Sicherlich war es schlimm, was Theresa geschehen war, aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, Jeffrey in die gleiche Ecke wie den Mistkerl von Onkel zu stellen. Jeffrey war zärtlich und liebevoll. Gemeinsam entdeckten sie die Geheimnisse zwischen Mann und Frau ohne jede Spur von Gewalt. Was stellte sich Theresa eigentlich vor? Das Jeffrey ein Monster wäre?
Nachdem Theresa eingeschlafen war, schaute Jane aus dem Fenster auf den Schulhof. Zarter Nebel lag auf dem Asphalt. Im Camper brannte das Licht. Jeffrey war da. Im Morgenmantel schlich sie hinaus auf den Flur und hinunter über den Schulhof zu ihrem heimlichen Platz. Wie vertraut und liebgeworden ihr die Schritte waren. Sie hätte den Weg mit geschlossenen Augen finden können, ohne ein einziges Mal mit ihren Füssen anzustoßen.
***
Obwohl Theresa das Gespräch vom Vorabend als völligen Fehlschlag einordnete, fühlte sie sich am Morgen nach ihrem Bekenntnis sehr viel besser, auch wenn Jane sie nicht verstanden hatte und eine Kluft zwischen ihnen aufgebrochen war. Jane war nicht ihr Feind; sie war nach wie vor ihre beste Freundin. Und sie würde sie aus dieser absurden Beziehung mit Mister Kalahan herausholen. Ja, sie wusste auch schon wie.
Der Besuch ihrer Tochter bei ihren Eltern kam für Mister und Misses von Wahrenfels überraschend. Aber sie deuteten es als großen Fortschritt, dass ihre Tochter aus freien Stücken nach Manor House kam.
„Kind, was für eine Freude!“, begrüßte sie ihre Mutter. „Gut siehst du aus, erholt. Waren wir nicht erst fürs Wochenende in Elstree verabredet?“
„Ja, Mutter. Aber Dr. Farrenwell ist heute verhindert, und ich bin froh, die Schule mal nicht sehen zu müssen.“ Theresa freute sich wirklich.
„Kindchen, es ist ein Internat! Und üblicherweise … Na ja, umso glücklicher bin ich, dich hier und schon heute zu sehen. Komm, lass dich drücken.“
„Wir zahlen diesen Quacksalbern wohl nicht genug“, meldete sich ihr Vater mit einem breiten Lachen und nahm seine Tochter ebenfalls in den Arm. „Dir geht es besser?“
„Danke, Papa. Mir geht es gut,“ antwortete Theresa lakonisch. Sie konnte den Gedanken nicht verdrängen, dass es der Bruder ihres Vaters war, der ihr so viel Leid angetan hatte.
„Und die Schule?“ wollte ihr Vater wissen.
„Keine Probleme, schätze mal, ich bin so etwas wie die Klassenbeste. Aber die Schule ist der Grund für meinen Besuch. Darf ich offen reden?“
„Du bist meine Tochter. Ich würde dir etwas erzählen, wenn du anders als so mit mir sprichst, wie dir das Herz ist.“ Ihr Vater bemühte sich jovial zu erscheinen, obgleich er alles andere als jovial war. Doch er wollte nicht zu streng zu seiner Tochter sein.
„Es ist auch nicht wegen mir, sondern wegen meiner Mitschülerin. Ich dürfte eigentlich nicht darüber sprechen, aber ich weiß ihr nicht mehr anders zu helfen, und da die Schule irgendwie zu uns gehört …“
„Nein, sie gehört uns nicht, sondern dem Casirer Trust, einer Gruppe von Spendern, die es sich zum Ziel gesetzt haben, das Erbe …
„… unserer Vorfahren. Ich weiß. Deshalb wollte ich dich fragen, ob es irgendwie möglich ist, einen Lehrer vom Elstreeinternat umzusetzen. Also woanders hin.“ Damit war es ausgesprochen. Theresa war erleichtert, dass sie ihr Anliegen sagen konnte.
„Der Trust hat keinen Einfluss auf die schulischen Dinge. Wir verwalten lediglich den Fond, das Vermögen der Stiftung. Die Besetzung der Ämter ist Sache des Verwaltungsrates, dem ich aus gutem Grund nicht mehr angehöre. Außerdem finde ich es auch unverhältnismäßig hart, einen Lehrer umzusetzen, damit deine Freundin bessere Noten erhält“, unterstellte Mister von Wahrenfels.
„Papa, es geht nicht um bessere Noten“, protestierte Theresa.
„Schluss damit. Ich kann es nicht, und ich will es nicht. Deine Freundin möge sich an den Headmaster wenden, - es ist doch noch Misses Sterling -, dort kann ihr geholfen werden.“
Ihre Mission war ein Fehlschlag. Sie hätte es sich denken können, dass ihr sturer Vater seinen Einfluss nicht für sie, einen Teenager, würde geltend machen. Sie war ja nur seine Tochter, nicht einmal ein Sohn, auf den ihr Vater bestimmt sehr viel stolzer gewesen wäre. Theresa hätte heulen können. Aber sie zwang sich zur Contenance, wie es sich für eine von Wahrenfels geziemte.
Ihr Vater nahm sich noch weitere zehn Minuten Zeit für sie und Belanglosigkeiten, bevor er sich wegen dringender Termine verabschiedete. Seine Geschäftspartner waren ihm wichtiger als seine Tochter. Oder war es, weil sie immer noch schmutzig
war?
„Du weißt, dass er es nicht so meint“, versuchte ihre Mutter warmherzig die Situation zu retten. „Erzähle mir vom Problem deiner Freundin. Wie heißt sie denn?“
Theresa erzählte ihrer Mutter von Jane, wie die mit der Liana, und von Mister Kalahan, zu dem sie immer noch nicht Jeffrey sagen konnte, obwohl ihm die Vornamen doch so wichtig waren. Sie berichtete von den nächtlichen Spaziergängen im Morgenmantel, vom Campermobil und von den unzähligen zärtlichen Aktivitäten bei jeder Gelegenheit. Ihre Mutter war nicht entsetzt.
„Sie liebt ihn wirklich“, sagte sie zu ihrer Tochter, nachdem sie eine ganze Weile nur zugehört hatte. „Ich kann sie verstehen, deine Jane. Hinter diesen Mauern funktioniert die Welt anders als hier draußen.“
„Mutter!“ entfuhr es Theresa wie nach einem Schock. „Du kannst das doch nicht gutheißen!“
„Ganz und gar nicht. Dein Lehrer, dieser Jeffrey, ist ein Pädophiler, wie man heute sagt. Catherine, Jane oder sonst ein Mädchen; das spielt bei diesen Männern keine große Rolle. Hauptsache, sie sind jung und unerfahren und schutzlos.“ Theresas Mutter schüttelte sich. Längst verdrängte Erinnerungen kamen in ihr auf und bescherten ihr eine Gänsehaut. „Vor zwanzig Jahren stürzte sich eine meiner Kommilitoninnen, sie hieß Lilian, aus dem großen Giebelfenster auf der Südseite der Elstreeschule. Sie war genauso hoffnungslos verliebt in ihren Lehrer wie deine Jane. Lilian hinterließ einen Abschiedsbrief, eigentlich einen Liebesbrief an M
. M
, wie Marvin. So hieß unser Lehrer. Aber Ms
gibt es ja so viele. Niemand belangte ihn. Es war ja auch Semesterende. Eine neue Klasse. Ein neues Mädchen. Ja, so war das.“
„Und niemand hat etwas gegen diesen Lehrer unternommen?“ Theresa war erschüttert.
„Niemand konnte etwas tun … ?“ Ihrer Mutter fehlten die Worte ihre Ohnmacht zu erklären, eine Beklemmung, die bis zum heutigen Tag andauerte.
Theresa verstand auf einmal, weshalb ihre Mutter nie von ihrer Schulzeit in Elstree erzählt hatte. Sie fühlte sich mitschuldig an dem, was geschehen war. „Umso mehr muss ich einen Weg finden, Jane zu helfen“, sagte Theresa willensstark.
„Kind, Du kannst nichts tun. Ich werde noch einmal mit deinem Vater sprechen.“ Misses von Wahrenfels nahm ihre Tochter abermals in die Arme, aber Theresa war sich unsicher, ob sie geborgen oder festgehalten wurde.
***
Nach dem Bericht ihrer Mutter sah Theresa die offene und freizügige Lebensweise zwischen Schülern, Betreuern und Lehrern im Internat mit anderen Augen. Wer weiß, wie viele Lilians und Janes es hier schon gab. Unter dem Vorwand Familienforschung zu betreiben, bekam Theresa Einblick in die Namenslisten der Internatsschülerinnen von Elstree. Marvin Stockwell, der Lehrer ihrer Mutter, war seit acht Jahren nicht mehr an der Schule. Ihr fiel auf, das es zu seiner aktiven Zeit mehrfach zu Schulabbrüchen während der laufenden Semester kam. In Kalahans Klassen waren es zwei Mädchen, die sofort das Internat verließen. Das erschien ihr verdächtig. Theresa hatte große Lust, diese Ehemaligen nach ihren Gründen zu befragen. Über das Internet versuchte sie Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Niemand war bereit mit ihr zu kommunizieren.
Überhaupt stellte Theresa fest, dass das Problem der Pädophilie in der Öffentlichkeit und in den Medien längst kein Tabu mehr war. Aber es wurde nur im allgemeinen darüber gesprochen. Konkrete Fälle wurden allenfalls aus Thailand und den Philippinen berichtet, wo der sexuelle Kindesmissbrauch an der Tagesordnung zu sein schien. Oder es handelte sich um katholische Einrichtungen, wo aus Liebe zu Kindern Missbrauch wurde. In England begrenzte sich dieses Phänomen, zumindest was die Wahrnehmung anging, auf die unterste soziale Schicht. Es waren Ausnahmen und Sonderfälle, die hier bekannt wurden. Und der Anblick von alten Männern mit jungen Mädchen im Arm, Honi soit qui mal y pense
, war regelmäßig auf den Titelseiten der größten Zeitungen und Illustrierten zu finden.
Die Vergewaltigung durch ihren Onkel sah in diesem Lichte wie ein Fauxpax aus, ein kleines Versehen, ein Zuweitgehen, entschuldbar für den Täter, und belastend für sie, weil sie jung und hübsch und alleine war. Ihr wurde schlecht, und sie übertrug die Wut auf ihren Onkel gänzlich auf Mister Kalahan, der sich genau in dem gleichen Lichte nach wie vor an ihrer besten Freundin verging.
Jane bemerkte den Forschungseifer ihrer Zimmergenossin, die sie daran jedoch nicht teilhaben ließ. Überhaupt spürte sie, dass sich ihre beste Freundin vor ihr verschloss. Sie brachte dieses Verhalten mit ihrer Krankheit in Verbindung und stellte sie zur Rede, als Theresa wieder einmal den Bildschirm ihres Computers ausblendete, weil Jane in ihr Zimmer kam.
„Denkst du, ich habe die Pest, oder warum kerkerst du dich vor mir so ein. Du baust Mauern und Türme, dass ich unsere Freundschaft dahinter bedauerlicherweise kaum noch erkenne. Wovor musst du dich schützen? Vertraust du mir nicht mehr?“ fragte sie provozierend und vorwurfsvoll.
Zögerlich antwortete Theresa ihr: „Doch ich vertraue dir, aber ich traue nicht mehr deinem Verstand. Deshalb muss ich das hier alleine durchziehen. Mag sein, dass du mich heute nicht verstehen kannst - ganz bestimmt sogar verstehst du es nicht - aber eines Tages wirst du sehen, wie Recht ich hatte.“
„Ich verstehe dich wirklich nicht mehr“, resignierte Jane. „Was tust du da? Was soll die Geheimniskrämerei?“
„Ich tue das zu deinem Schutz! Du wirst es später verstehen.“ Es schmerzte Theresa, aber sie konnte ihre Freundin nicht in ihre Gedanken und Pläne einweihen; denn zu sehr war sie auf Mister Kalahan fixiert, ja sogar hörig. Sie brauchte aber den Moment der Überraschung, um den pädophilen Lehrer – nein, den kriminellen Lehrer und die gesamte Internatsschule - an den Pranger zu stellen. Auch wenn die betroffenen Mädchen und Frauen nicht zu sprechen bereit waren, musste es genug Beweise für die Vorgänge hinter diesen Mauern geben. Sie kannte die Tür und brauchte nur noch den Schlüssel, um dahinter zu kommen. Und sie hatte nicht mehr viel Zeit; denn das Schuljahr war bald zu Ende.
***
Mister Kalahan rauchte in der Pause eine Zigarette am Rande des Schulhofs.
„Das ist doch verboten, Jeffrey“, sagte Theresa zu ihm.
„Ich blase den Qualm auf die Straße. So gesehen ist es nur halb verboten, denn auf der Straße ist Rauchen erlaubt.“ Mister Kalahan zog an seiner Gitanes und blies kunstvoll drei Ringe in die Luft.
„Darf ich auch mal?“ fragte Theresa.
„Die wird dir zu stark sein. Und es ist meine letzte. Aber bitte, wenn du mal versuchen willst.“ Mister Kalahan hielt ihr die halbgerauchte Zigarette hin. Theresa zog daran und musste heftig husten. „Na, nicht doch gleich auf Lunge“, ihr Lehrer klopfte ihr andeutungsweise auf den Rücken und Theresa legte sich gegen seine Brust, bis sie wieder normal Luft holen konnte. „Oder besser gar nicht!“ empfahl Mister Kalahan.
„Das war ja gemein von dir“, empörte sich Theresa. „Mich nicht zu warnen. Der Qualm bringt einen doch um.“
„War das dein erster Zug?“
„An so einer, ja. Ich habe schon mal eine Filterzigarette probiert. Die war aber harmlos im Vergleich zu deinem Kraut,“ log Theresa mit dem Tonfall eines flirtenden Teenagers.
„Na, da spricht ja die Erfahrung voll aus dir heraus.“ Kalahan studierte seine Schülerin, die ihn heute zum ersten Mal in einer Pause angesprochen hatte, von oben nach unten. Das Mädchen hatte etwas. ‚Aristokratisch
,‘ kam ihm in den Sinn. Und er grübelte, weshalb sie sich derart präsentierte.
„Erfahrungen habe ich keine“, lächelte Theresa. „Aber ich lerne ja gerne.“
Theresas Schachzug brachte ihr sofort die Aufmerksamkeit Kalahans ein. Im darauffolgenden Unterricht kreuzten sich ihre Blicke häufig, und Theresa registrierte, dass ihr Lehrer sie regelrecht musterte. Sie durfte das Spiel nicht übertreiben und beschloss, es dabei zu belassen, im richtigen Augenblick ein wenig lasziv mit ihrem Finger am Mund zu spielen.
Am gleichen Nachmittag kam Kalahan in das Appartement von Jane und Theresa, was nicht ungewöhnlich war. Bisher beschäftigte er sich bei diesen Besuchen jedoch vorzugsweise mit Jane, während er diesmal an Theresa gewandt fragte, ob es weiteren Aufklärungsbedarf bezüglich der Gefahren des Rauchens geben würde.
„Zuerst die Hausaufgaben“, gab Theresa zur Antwort. „Dann das Vergnügen.“
„Ist das
dein großes Geheimnis, mit dem du mich schützen willst, dass du dich an Jeffrey heran machst und ihn mir ausspannen willst?“ giftete Jane Theresa an, nachdem Kalahan wieder gegangen war. „Ich wusste doch, dass du eine ganz gemeine Sache vor hast.“
„Jane, glaube mir. Ich habe kein Interesse an Kalahan. Du darfst nicht denken, dass ich etwas mit ihm haben will.“ Theresa versuchte nüchtern und klug zu bleiben.
„Ich habe doch Augen im Kopf. Und was sonst soll denn deine Heimlichtuerei?“ Tränen liefen Jane über die Wangen.
„Es ist nicht so, wie es aussieht. Glaube mir“, bettelte Theresa.
„Ich glaube dir gar nichts mehr, und mit unserer Freundschaft ist es vorbei. Am liebsten wäre mir, wenn du ein anderes Zimmer hättest.“
Wie so oft ging Jane auch an diesem Abend ans Fenster um zu schauen, ob im Campermobil Licht brannte. Aber es war dunkel. Genauso finster wie der heutige Tag, der schlimmste, den sie bisher in Elstree erlebte. Theresa war gleich nach dem Abendessen verschwunden, und sie ahnte, wohin sie gegangen war. Ihre beste Freundin versuchte sich an ihren Geliebten heran zu machen. Wie konnte sie das verhindern?
Tatsächlich war Theresa zu Mister Kalahan in dessen Büro im Verwaltungstrakt gegangen. Sie hatte ein Päckchen Filterzigaretten dabei und fragte ihn, wie man das mit den Ringen macht.
„Überhaupt nicht macht man das“, antwortete Kalahan ihr, „wenn man eine junge Dame aus besserem Hause mit angemessener Bildung und Anstand ist. Soll ich das deiner Mutter verraten? Rauchen ist ein Laster, eine Abhängigkeit. Rauchen schadet deiner Gesundheit und erhöht das Risiko eines Herzinfarktes – steht sogar auf der Packung.“
„Und wenn man es trotzdem versuchen will?“ kokettierte Theresa.
„Dann ist das dumm und bestenfalls eines dummen Flittchens würdig. Und beides willst du ja nicht sein, oder?“ Kalahan stand von seinem Drehstuhl auf und öffnete die Bürotür wieder. „Also lass das. Es passt beides nicht zu dir!“
Theresa war abermals gescheitert. Ihr Lehrer hatte die Scharade durchschaut und sie abblitzen lassen. Sie hatte gehofft, dass sie ihn zu einer Dummheit, zu einem fatalen Fehler oder gar zu einem Bekenntnis verleiten könnte. Wie naiv von ihr. Sie war 15, und er spielte in einer ganz anderen Liga. Was hatte sie sich dabei nur gedacht? Nein, der einzige, der ihr tatsächlich helfen konnte, war ihr Vater. So unangenehm dieser Weg auch für sie war, Theresa musste nochmals mit ihm reden. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sie ihn nicht für sich gewinnen konnte. Ihr Vater hatte doch Anstand und schon einmal bewiesen, dass mit ihm in solchen Sachen nicht zu verhandeln war.
Es war noch nicht zu spät, erst 20 Uhr. Theresa bestellte sich ein Taxi zum Internat und verließ das Mädchenhaus, ohne jemanden Bescheid zu sagen.
***
„Zwei Besuche in einer Woche? Und dann auch noch so spät,“ brachte ihr Vater im Manor House
sein Erstaunen auf den Punkt. „Was ist passiert, meine Tochter?“
„Es ist nochmals wegen meiner Freundin. Und ich bitte dich, dass du mich anhörst; denn es geht nicht um bessere Noten oder irgendwelche Teenagerflausen. Das musst du mir glauben.“ Die Verzweiflung auf Theresas Gesicht erübrigte jede weitere Erklärung.
Mister von Wahrenfels lächelte seine Tochter verständnisvoll an und sagte: „Na, dann in die Bibliothek. Da ist es warm und es gibt etwas zu trinken.“ Er schenkte sich einen Whiskey und seiner Tochter pures Sodawasser ein. Ihr Vater hatte ein Herz, das wusste Theresa, und sie konnte es kaum abwarten mit ihrem Bericht zu beginnen.
Ohne sie auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen, hörte sich ihr Vater 15 Minuten lang Theresas Erzählung an. Als er den Umfang ihrer Beschuldigung vernommen hatte fasste er sie an den Händen und versprach sein Möglichstes zu tun. „Wir werden diesem Mister Kalahan das Handwerk legen. Er wird an keiner Schule mehr unterrichten und es bitter bereuen, jemals ein Kind auch nur angesehen zu haben.“ Mister von Wahrenfels war ehrlich betroffen, und nur die schlimme Tat an seiner eigenen Tochter übertraf den Ekel, den er vor diesem Menschen empfand.
„Du bleibst selbstverständlich heute Nacht hier“, legte er fest und entschied weiter: „Du kannst bei deiner Mutter schlafen.“ Denn seit dem Vorfall vor etwas mehr als sieben Monaten hatte Theresa nicht mehr das Zimmer betreten, in dem es geschehen war.
Theresa akzeptierte diese Entscheidung und fragte: „Wo ist Mutter?“
Bevor ihr Vater ihr sagen konnte, dass seine Frau am frühen Abend zu einer alten Schulfreundin gefahren sei, klingelte es, und der Hausdiener verkündete, dass zwei Herren von der Polizei dringend Einlass erbaten. Theresa und ihr Vater schauten sich fragend an.
„Bitten sie die Herren doch herein.“
Die Beamten von Scotland Yard erschienen kurzatmig aber befriedigt, als sie Theresa am Kamin stehen sahen. „Wir kommen wegen ihrer Tochter. Theresa von Wahrenfels ist dringend tatverdächtig ihren Erzieher, Mister Jeffrey Kalahan, heute Abend getötet zu haben.“
„Machen Sie Witze?“ empörte sich Theresas Vater. „Meine Tochter ist seit einer Stunde hier, und alles andere als eine Mörderin. Ihr Vorwurf ist unglaublich!“
„Es gibt eine Zeugin, die uns darüber informierte, dass ihre Tochter und der Getötete heute Abend zusammen waren. Eine Kommilitonin, die auch ein Motiv nannte: abgewiesene Liebe. Im Terminkalender von Mister Kalahan war für 20 Uhr der Name ihrer Tochter eingetragen: v. Wahrenfels. Ein weiterer Zeuge, ein Taxifahrer, berichtete uns, dass ihre Tochter in einem sehr erregten Zustand war, als sie von ihm hierher gefahren wurde. Das war unmittelbar nach der Tat.“
„Kein Wort mehr! Meine Tochter hat niemanden etwas angetan. Wie sollte sie auch? Sie ist erst 15 Jahre alt.“ Mister von Wahrenfels war kurz davor die Beamten aus seinem Haus zu werfen. Sein Herz raste.
„Es tut uns leid, aber wir müssen ihre Tochter mitnehmen“, verkündete der Kriminalbeamte routinemäßig.
„Sie werden niemanden von hier mitnehmen! Haben sie verstanden? Meine Tochter wollte diesen Jeffrey Kalahan wegen sexuellen Missbrauchs anzeigen. Sie hat mir gerade heute Abend die ganze Angelegenheit erzählt, und morgen früh wären wir sowieso bei ihnen gewesen.“ Theresas Vater war in Rage. Der Alkohol und sein Herz setzten ihm zu.
„Ach, noch ein Missbrauch. So wie der des Onkels an ihrer Tochter, den sie niemals zur Anzeige gebracht haben?“ Der Beamte zeigte sich bestens informiert und lächelte herablassend. „Das alles werden wir später klären.“ Und zu Theresa sagte er: „Sie sind festgenommen, Miss von Wahrenfels. Bitte kommen sie mit uns.“
Theresas Vater fiel in seinen Sessel und fasste sich an die Brust. Er konnte nicht mehr sprechen und nur noch flach atmen. Der Hausdiener lockerte ihm die Krawatte und sagte, dass er unverzüglich einen Arzt rufen würde. Theresa stand unbewegt am Kamin und spürte, wie der Nebel um sie herum immer dichter wurde. Die letzten Worte, die sie vernahm waren die ihres Vaters:
„Anwalt!“ presste er aus seinem Brustkorb, um den sich ein Panzer gelegt hatte. „Einen Anwalt!“
***
Jeffrey Kalahan war aus dem bodentiefen Giebelfenster auf der Südseite der Elstreeschule aus sieben Metern Höhe auf den Schulhof gestürzt. Es war das gleiche Fenster, aus dem 20 Jahre zuvor Lilian Heatherway sich zu Tode gestürzt hatte. Der Coroner stellte mehrere Knochenbrüche fest. Todesursache war letztlich inneres Verbluten durch den Abriss von Leber und Milz. Es gab keine Anzeichen eines Kampfes oder äußere Verletzungen, die dem Sturz vorausgegangen sein mussten.
„Wenn es nicht die Vorgeschichte gäbe, wäre die Polizei auch diesmal von einem Freitod ausgegangen“, eröffnete der Anwalt Robert Delaney seiner Mandantschaft die Lage. „Ihre Tochter wird von ihrer Zimmergenossin, Miss Jane Howard, schwer belastet. Welches Motiv könnte die junge Frau haben? Eifersucht unter Teenagern ist zwar nicht undenkbar, aber doch eher unwahrscheinlich. Dagegen spricht die Indizienkette stark dafür, dass Theresa tatsächlich ein emotionales Problem mit dem Opfer hatte.
- Das Ausspähen der Schülerdaten aus den Schulakten.
- Die Dateien auf ihrem Laptop.
- Ihre Beschäftigung mit dem Phänomen der Pädophilie.
- Ihr provokantes Verhalten am Tattag im Unterricht, das auch die anderen Mitschülerinnen bestätigten.
- Der Kalendereintrag und das Päckchen Zigaretten mit ihren Fingerspuren im Büro Kalahans.
- Ihre Flucht mit dem Taxi.
- Die Zeugenaussage des Fahrers.“
Delaney zog die Schultern nach oben. „Eines kommt zum anderen, und ihre Tochter spricht seit Wochen kein Wort. Wie ist das zu deuten?“
„Theresa ist traumatisiert. Zuerst ihre Vergewaltigung …“ erklärte ihr Vater.
„.. die nicht zu beweisen ist“, wendete der Anwalt ein.
„… aber dennoch Fakt ist.“ Mister von Wahrenfels bestand auf dieser Feststellung.
„Es gibt weder Anzeige noch Zeugen noch einen Beschuldigten. Ihr Bruder ist in Australien derzeit unauffindbar, und wenn man ihn findet ist es fraglich, ob er eine Tat zugeben wird. Was also bleibt?“
„Es mag ein Fehler gewesen sein, nicht zur Polizei gegangen zu sein. Aber dann war es nicht Theresas Fehler, sondern meiner“, bedauerte Mister von Wahrenfels.
„Solange ihre Tochter in der Psychiatrie ist, wird ihr nichts geschehen. Und ich gehe davon aus, dass auch das Gericht später von einer Schuldunfähigkeit wegen psychiatrischer Erkrankung ausgehen wird. Ihre Tochter war zur Tatzeit bereits in fachkundiger Behandlung und sollte Medikamente einnehmen, die sie jedoch verweigerte. Unsere Strategie sollte daher sein, diesen besonderen Entschuldigungsgrund für die Tat möglichst zu verstärken. Von daher ist es gut, dass Theresa schweigt. Was wir auf jeden Fall vermeiden müssen, ist, Kalahan als sexuell abartigen Lehrer darzustellen. Es gibt keinen einzigen Beweis dafür, dass er sich Theresa genähert hat. Dagegen sieht es so aus, dass sich Theresa ihm – vielleicht in schwärmerischer Verliebtheit – nähern wollte. Und das er nett zu seinen Schülerinnen war, konnte man von ihm sogar erwarten.“
„Nein, nicht Theresa. Ihre Schulfreundin Jane war das Opfer dieses Erziehers“, versuchte Theresas Mutter klarzustellen. „Theresa hat es mir schon drei Tage vor dem Sturz anvertraut.“
„Miss Howard streitet dies ab. Warum sollte sie einen Missbrauch vertuschen, wenn der Täter ihr nicht mehr schaden kann? Und das Gericht wird sie fragen, warum sie nichts unternommen haben, als ihre Tochter ihnen von diesem angeblichen erneuten Missbrauch berichtet hat. Haben sie Theresa etwa nicht geglaubt?“ Der Anwalt schüttelte den Kopf. „Nein, wenn wir Theresa gut und erfolgreich verteidigen wollen, dann müssen wir aus dieser diffusen Pädophilenecke heraus treten. Theresa kann nicht aussagen. Und sollte es trotzdem zu einer Anklage kommen, dann plädieren wir auf Schuldunfähigkeit!“
„Aber wie sollte meine Tochter denn diesen ausgewachsenen kräftigen Mann aus dem Fenster gestoßen haben?“ bezweifelte Theresas Vater die Möglichkeit der Tatausführung.
„Hoffen wir doch, dass diese Frage niemals beantwortet werden muss. Denn das weiß allein der Täter, wenn es überhaupt einen solchen gab.“
***
Die Ermittlungen der Polizei verliefen nach weiteren acht Monaten im Sande. Es kam genau so, wie der Anwalt es vorausgesagt hatte. Dem staatlichen Ankläger genügten die Indizien nicht für eine Klageerhebung, und der Zweifelssatz in dubio pro reo
wurde bemüht, um das Verfahren gegen Theresa endgültig niederzuschlagen.
Theresa wurde von der Tavistock Clinic
in eine Heilanstalt bei Birmingham verlegt. Ihre Mutter nahm sich dort ein Zimmer, um in der Nähe ihrer Tochter zu sein. Doch der Nebel um ihr Gemüt wollte sich nicht lichten. Theresa sprach nicht, obgleich die behandelnden Ärzte davon ausgingen, dass sie sprechen könnte, wenn eine Barriere überwunden sei. Sie hatten Hoffnung.
Am 18. Geburtstag ihrer Tochter bekam Theresas Mutter ein Päckchen mit dem Poststempel von Elstree zugestellt. Im Karton lag der Bürokalender von Jeffrey Kalahan, der nach der endgültigen Einstellung des Strafverfahrens vom Gericht der Witwe des Verstorbenen zurück gegeben wurde. Das Lesezeichen war immer noch auf dem Blatt für den Todestag des Lehrers eingelegt, der für 20 Uhr „v. Wahrenfels
“ notiert hatte. Auf dem Absender des Päckchens stand nur der Name Catherine
.
Misses von Wahrenfels öffnete das Päckchen im Krankenzimmer ihrer Tochter, in der Annahme, dass es ein Geschenk für sie sei. Als Theresa den Absender und den Eintrag vom 27. November 2008 sah, lichtete sich der Nebel um sie und sie begriff: Ihre Mutter war die ganze Zeit für sie da gewesen. Und Catherine hatte ihnen vergeben.
Texte: Niemand hat das Recht, ein Kind zu missbrauchen - auch nicht aus Liebe.
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2010
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