Cover

Ich fühlte mich grässlich. Die Nacht hatte ich in einem Lagerhaus verbracht, auf zwei Europaletten und einer Isomatte geschlafen und mich nur notdürftig mit meiner Jacke und einer dünnen Decke gegen die Kälte schützen können. Alle 15 Minuten sprang der Motor des Tiefkühlhauses an, das in diesem Lagergewölbe unter Londons Hauptbahnlinie untergebracht war, und alle paar Minuten donnerte ein Zug über dem Storage hinweg. Aber immerhin musste ich nicht unter einer Brücke oder auf einer Parkbank nächtigen, sondern hatte ein Dach über dem Kopf und sogar Toilette und fließend Wasser.

Vor zwei Tagen hatte ich bei meiner Bäckerei gekündigt und damit auch mein Zimmer in der Bäcker-WG verloren. Die erste Nacht verbrachte ich im kalten Führerhaus meines Lieferwagens. Danach brauchte ich aber Toilette, Wasser, Dusche, Internet, Kühlschrank, Patty … Sie fehlte mir. Seit zwei Tagen kein Lebenszeichen von ihr. Ob es ihr gut geht?

Ich musste mir eine neue Arbeit suchen. Also machte ich mich trotz meiner inneren Grässlichkeit und hungrig wie ein Wolf auf den Weg, die restlichen 14 deutschen Bäcker von London abzuklappern. Nr. 1, German Delicious, war mir unsympathisch. Ich will nichts mehr mit Menschen zu tun haben, die mir nicht sympathisch sind. „The Good Companions“, so würde meine eigene Firma heißen, von der ich mit Patty geträumt hatte, und der Name ist Programm. Ich will unter Freunden sein … will bei Patty sein.

Die nächste Bäckerei sollte ich in der Kabel Road finden. Die Adresse hatte ich von einem Bäckergesellen, der früher dort gearbeitet hatte. Er sagte mir, dass es nur fünf Minuten von der Towerbridge entfernt wäre. „Erst zu Starbucks, dann zur HSBC und auf die andere Straßenseite zur großen Moschee. Die Straße runter, und schon bist du da.“ Zwei Stunden irrte ich erfolglos in dem Viertel herum und erreichte meinen Freund telefonisch nicht. Ich schwitzte schon unter meiner Lederjacke und war nervlich ziemlich am Ende. Alles keine guten Voraussetzungen für ein wichtiges Vorstellungsgespräch. Ich stand alleine in der Commercial Road vor einem Laden, drehte mich im Kreis und wünschte mir, auf der Stelle einfach zusammenbrechen zu können. Patty, was tust du mir an?

***

Wir sahen uns zum ersten Mal in der Overground von Waterloo nach Richmond, und ich erkannte sie sofort wieder. Aber nein, das konnte nicht sein! Wir saßen gegenüber, beide ein Buch aufgeschlagen und taten so, als ob uns die anderen Fahrgäste im Abteil nicht interessieren würden. Sie las in „Der Spion, der aus der Kälte kam“ von John Le Carré, und ich hatte „The Spy who came in from the cold“ aufgeschlagen. Als ich bemerkte, dass wir sogar das gleiche Buch lasen, und dass sie offensichtlich auch eine Deutsche war, pochte mein Herz. So ein Zufall. Ich war auf Seite 73. Sie hatte 67 aufgeschlagen. Ich weiß es, weil ich aufstand und neugierig in ihr Buch schaute, um festzustellen, ob das Schicksal so eindeutig und zwingend sein würde, dass wir uns sogar auf der gleichen Seite, oder gar der gleichen Zeile befinden würden.

Anderen genügt es, am gleichen Ort zu sein, um sich kennenzulernen oder gar zu befreunden. Ich bin dazu zu schüchtern. Aber das gleiche Buch, annähernd die gleiche Seite, und dann diese Ähnlichkeit in ihrer Art, wie sie sich bewegte und die Beine übereinander schlug. Ich spürte eine besondere Wärme, die mir aus meiner Kindheit vertraut war. Da fasste sogar ich mir Mut, lächelte sie an und zeigte ihr mein Buchcover.

„I am not realy reading“, gestand sie mit einem bezaubernden Lächeln, weil sie wohl dachte, ich wäre Engländer. Und nach den richtigen Vokabeln suchend erklärte sie: „I only want to have something in my hands.“

„Oh, mir geht es ähnlich“, outete ich mich nun als Deutscher. „Ich lese die englische Version, um die Sprache ein bisschen zu trainieren. Ich heiße übrigens Tom, und: It’s amazing to meet you here with the same book in your hands.”

“Ja,” lachte sie und hielt ihr Cover hoch. „Ich müsste auch mehr trainieren. Patricia, heiße ich. Und mein Englisch ist grässlich.“

***


War es nur ein Zufall, oder war es Schicksal? Immer wieder musste ich an diese Szene in der Overground und an die folgenden Wochen denken. Ich stellte mich in der Bäckerei, die Patricia und ihrem Mann Kurt gehörte, vor und bekam ein Stelle als Verkaufsfahrer an zwei Tagen in der Woche. Eigentlich wollte ich in England keiner Arbeit nachgehen, sondern Bücher schreiben. Wenn ich sparsam leben würde, müsste ich finanziell über die Runden kommen. Und vielleicht ließe sich ja endlich mal eines der Werke des noch nicht berühmten Tom Soundso verkaufen. Träumer. Ja, Träumer. Und ich träumte von nun an auch von Patricia. Ich genoss, an zwei Tagen in der Woche in ihrer Nähe zu sein, obgleich sie verheiratet war. Es war aber keine glückliche Ehe, sondern täglicher Streit und Respekt- sowie Lieblosigkeit. Eine kalte Zweckgemeinschaft. Sie tat mir leid, die kleine bezaubernde Traumfrau mit dem Blauschimmer in den langen schwarzen Haaren, die niemanden hatte, der sie liebte. Und meine Gefühle zu ihr waren heimlich.


In der Nacht, in der ich mit Mehl für die Bäckerei von Deutschland zurück kam, war die Backstube abgeschlossen und keiner erwartete mich. Ein Unwetter war über London gezogen, und teilweise war die Straßenbeleuchtung ausgefallen und riesige Pfützen überfluteten die Fahrbahn. Telefonisch erreichte ich weder Kurt noch Patricia, so dass ich mich in meinen Lieferwagen legte und einfach nur wartete. Natürlich träumte ich wieder, von ihr, und ich wünschte mir, dass irgendetwas geschehen würde. „Den Störischen treibt sein Schicksal, den Willigen führt es“, ist mein Lebensspruch. Ich hoffte auf mein Schicksal, wartete, um es anzunehmen. Es dauerte zwei Stunden.

Patricias Auto fuhr auf den Hof, und ihr Mann stieg mit einem Gipsfuss aus dem Wagen. „Die Ferse ist glatt durchgebrochen. So eine Scheiße. Das dauert Monate, bis ich wieder richtig laufen kann.“

„Wie ist das denn passiert?“ wollte ich wissen. Und Kurt erzählte, dass wegen eines Powercuts das Licht ausfiel und das elektrische Tor sich nicht mehr öffnen ließ. Er kletterte also über die Mauer und sprang in ein Loch. Knacks. Das war’s! Und ich dankte der Fügung von ganzem Herzen für diesen Unfall. Denn von nun an war ich an sieben Tagen fast rund um die Uhr an Pattys Seite.


Wie es der Zufall wollte, wurde überraschend auch der Mietvertrag für das Wohnhaus der Bäckersleute gekündigt – nein, das war kein Zufall, das war Schicksal. Denn wir fanden ein großes Haus mit Platz für uns alle ganz in der Nähe der Backstube, und nach drei Monaten wohnten Patty und ich, ein Geselle und Lisa, die junge Praktikantin aus Deutschland, sowie Pattys Mann unter einem Dach.

Patty war eine wunderbare Frau. Sie war lustig und gutherzig, immer für die anderen da, und sie war das traurigste aller Mädchen, wenn Kurt in der Nähe war. Er unterdrückte sie. Er ließ sie bis zur Erschöpfung schuften, machte sie seelisch fertig, bis sie nicht nur sprichwörtlich, sondern ganz real am Boden lag. Dann war er es, der zu ihr ging, die Hand hinstreckte und sagte: „Komm zu mir. Ich bin doch immer für dich da. Bei mir hast du es doch gut.“ Kurt war ein kranker Sadist. Patty war 17 als sie heiratete und in diese Kälte ging, und sie kannte nichts außer diesem Wahnsinn.


Patty erzählte mir, dass sie auf dem Weg vom Krankenhaus nach Hause war, als wir uns zum ersten Mal in der Overground gesehen hatten. Sie hatte sich wegen unerklärlicher Herzschmerzen untersuchen lassen und wäre am Morgen dieses Tages beinahe mit dem Auto verunglückt, weil sie plötzlich Raum und Zeit um sich verloren hatte. Und sie erzählte mir, dass sie gerne gestorben wäre, um dem allen zu entfliehen. Sie zeigte mir ihre Brücke, und ich wünschte mir nichts sehnlicher als der Fluss sein zu können, der sie auffing und rettete. „Wenn du dein Leben wegwerfen möchtest, dann wirf es mir vor die Füße. Patty, ich verspreche dir, ich mache dich glücklich! Ich lasse dich nicht untergehen.“

Auch den anderen in der noch jungen Bäcker-WG tat die Kleine leid, und man konnte sehen, wie gut ihr die neue Gemeinschaft tat. Schließlich fasste sie sich Mut und erklärte ihrem Mann, dass sie sich von ihm trennen würde. Nein, es wäre kein anderer Mann im Spiel. Und nein, auch mit Tom würde nichts laufen, außer dass wir gute Freunde sind, aber das wäre Tom ja auch zu ihm, eben nur ein good companion. Sie wolle ihre Freiheit und brauche Zeit für sich. Mit einem hämischen Grinsen verließ Kurt das Haus. Sein letzter Satz war: „Du weißt ja, wo du mich findest.“


Die Situation danach war aberwitzig. Der Bäcker zog in das Büro, das zur Backstube gehörte, und verhielt sich während der Arbeit noch tyrannischer als zuvor. Doch abends waren wir unter uns, ausgelassen, fröhlich, singend, spielend, alle in der WG für- und miteinander da. Diese Tage gehören zu den schönsten meines Lebens. Und die Bombe tickte. Patty hatte furchtbare Angst alleine zu sein, weil sie sich zu Recht vor ihrem Mann fürchtete. Aber sie konnte auch nicht einfach weg gehen; denn dies hätte das Ende für die Bäckerei und damit auch ihren finanziellen Ruin bedeutet. Also arbeitete sie tagsüber mit ihm zusammen und fürchtete sich nachts vor seiner Gewalttätigkeit. Und niemand konnte ihr helfen.

Kurt war zwar ein guter Bäcker, aber ein miserabler Geschäftsmann. Trotzdem forcierte ich es um Pattys willen, der die Firma zur Hälfte gehörte, enger mit ihm zusammen zu arbeiten. Ich brachte meine Ideen ein, arbeitete ohne auf die Uhr zu schauen und bekam einen Angestelltenvertrag mit ordentlichem Festgehalt und Umsatzprovision. Wir waren companions, good companions. Und wir taten so, als ob das alles normal sei.

***

Nachdem wir uns wegen des Business sonntags im WG-Haus getroffen und besprochen hatten, wollte Kurt mit Patty noch etwas Privates bereden, und ich ging in mein Zimmer. Fünf Minuten später hörte ich, dass Kurt und Patty nicht mehr im Wohnzimmer, sondern in ihrem Raum, der vorher das Schlafzimmer der beiden war, gegangen waren. Patty weinte.
Ich ging mit Herzklopfen nach oben und hörte Kurt sagen: „Noch sind wir verheiratet, und du weißt, dass ich mit keiner anderen Frau schlafen kann. Also bitte …“ Ich klopfte an die Tür und wäre auch ohne das „Ja, was ist?“ eingetreten, wie ich auch als Zwölfjähriger in das Schlafzimmer meiner Eltern hineinplatzte, als ich meine Mutter eines Nachts dort weinen hörte.

„Patty, ist alles in Ordnung?“ Sie saß zwischen Kurt und der Wand eingeklemmt auf dem Bett und hielt sich die Hände vor dem Gesicht, damit man ihre Tränen nicht sehen konnte. Antworten konnte sie nicht.

Kurt sagte an ihrer Stelle: „Es ist alles in Ordnung. Kannst du uns bitte jetzt alleine lassen. Das ist eine Angelegenheit zwischen Mann und Frau. Also bitte …“

„Patty, soll ich bleiben, oder soll ich gehen?“ – Ein halbes Leben früher fragte ich: „Mami, soll ich bleiben oder gehen?“

„Du siehst doch was los ist“, instruierte mich Kurt. „Also mach es nicht noch schlimmer als es ist, sondern lass mich in Ruhe mit meiner Frau reden. Ich will nur mit ihr reden, kapierst du das?“

„Okay, Patty. Ich bleibe draußen. Wenn etwas ist, dann rufe mich. Ich bin in der Nähe, hast du gehört?“ Patty nickte, und ich ging nach draußen und ein Stockwerk tiefer in den Flur. Dort setzte ich mich auf die Treppenstufen und überlegte, was zu machen wäre. Patty und ich waren kein Paar. Ich hatte mich zwar heimlich in sie verliebt, aber das war nur eine Schwärmerei, die aus Anmut und Mitleid und Melancholie und einem Wink des Schicksals entstanden war. Zwei gleiche Bücher! Ein Dejá Vu, weil ich im ersten Moment in diesem Zug erschrak und glaubte, meine Mutter dort mit dem Buch in der Hand zu erkennen. Die Frau, die dort saß, war mir so bekannt und so vertraut in ihrer Traurigkeit und ihrem Kummer. Pattys Körper sprach dieselbe Sprache wie ich sie damals, als ich noch ein Kind war, auch bei meiner Mutter lesen konnte. Auch sie wurde von ihrem Mann, meinem Erzeuger, geschlagen und gequält. Und sie hatte die gleiche Haltung, die gleiche Figur und die gleichen dunklen Haare mit diesem Blauschimmer. Nein, wir hatten keine Affäre, aber ich liebte sie vom ersten Moment an - ein ganz kleines bisschen.

Als ich sie wieder weinen hörte, sprang ich auf und klopfte abermals an die Tür. Diesmal gab es kein „Ja, bitte“. Ich stand einfach im Zimmer und sah, wie Kurt stark gestikulierend auf Patricia einredete, und sie ihren Kopf in ihren Armen vergrub. Nein, er hatte sie nicht geschlagen. Doch Gewalt beherrschte diesen Raum. Ich schrie ihn an, dass er verschwinden solle und nichts mehr im Leben von Patricia zu suchen hätte. Sie könne selbst entscheiden, was sie machen will und mit wem sie schläft oder auch nicht. Und ganz bestimmt sei er der letzte, der dafür noch in Frage käme.

„Ach, du willst sie selber ficken?“ schlug er zurück. Und hatte noch nicht einmal Unrecht, und völlig Unrecht zugleich, weil zwischen seiner Idee von Sex und meiner davon Welten lagen. Natürlich wollte ich Patricia für mich haben, aber doch nicht so barbarisch wie er.

„Mach, das du hier weg kommst. Sonst schmeiße ich dich trotz Gips die Treppe hinunter. Verschwinde, du Idiot!“ Ich ließ keinen Zweifel daran, dass meine Drohung ernst gemeint war. Und ich war lange genug beherrscht, um im nächsten Augenblick verheerend zu explodieren. Kurt humpelte zur Tür, warf seine Krücken die Treppen hinunter und rutschte auf dem Hosenboden die Stufen hinterher. Und auch diesmal wollte er das letzte Wort haben:
„Möchte wissen, was du an der da findest? Sie kommt ja doch wieder zurück zu mir!“ Ich hätte ihn in diesem Moment umbringen können.

***

„Ich kann das nicht, Tom“, begründete Patty ihr Nein. „Wenn ich jetzt die Firma verlasse, sitzt Kurt auf der Straße.“

„Na und! Dann sitzt er eben auf der Straße.“ Ich versuchte Patty zu überzeugen, dass eine vollständige Trennung von Kurt für uns alle das Beste wäre. Kurt solle sie ausbezahlen und sein Ding zukünftig alleine machen. „Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“

„Ich kann es trotzdem nicht!“ Patty trieb mich zur Verzweiflung. „Und außerdem kann ich Kurt nicht alleine lassen. Er hat schon seine Frau und Familie verloren. Soll er jetzt auch noch die Firma verlieren? Alleine kann er doch nicht backen und verkaufen. Das ist doch nicht zu schaffen.“

Sie verhielt sich genau wie meine Mutter, als damals ihre Schwester sie im Krankenhaus besuchte, in das sie mit geplatztem Trommelfeld eingeliefert wurde. „Es war nur Glück, dass er dir mit dem Küchenbrett nicht den Schädel eingeschlagen hat“, argumentierte damals meine Tante zu Recht. Und doch blieb meine Mutter bei diesem Mann, bis er sie unter die Erde gebracht hatte. Was hatte sie von ihrem Leben gehabt außer niemals enden wollender Arbeit und kalter Erniedrigung?

„Kurt ist ein Idiot und Mistkerl. So wie er dich behandelt hat, verdient er kein Mitleid. An deinem Hochzeitstag hast du zum ersten Mal Prügel von ihm bekommen, und ich möchte nicht wissen, was in all den Jahren er dir alles angetan hat.“ Ich zeigte mich von meiner härtesten Seite, weil ich wirklich entsetzt darüber war, wie man so einen Mann noch ertragen oder Zuneigung geben kann.

„Es gab auch schöne Zeiten“, besänftigte sie mich.
„Ja, als er dich nach der Fehlgeburt fast hat verbluten lassen, nur um das Geld für das Krankenhaus zu sparen“, platzte es aus mir heraus. „Und ständig diese Kontrollen. Wo bist du? Was machst du gerade? Warum brauchst du so lange?“

„Er ist halt eifersüchtig. Aber doch nur, weil er mich irgendwie auch liebt.“

„Bist du so doof, oder tust du nur so?“ Mir fehlten die Worte. „Er kontrolliert dich, weil du sein Besitz bist. Du gehörst ihm, und er will mit dir machen, was er will. Dein Mann ist ein Psychopath. Und wenn du nicht spurst, dann bringt er dich eines Tages um … Und wird auch noch freigesprochen, weil er so eine schwere Kindheit hatte.“ Ich war wütend.

„Wenn du wüsstest, was er in seiner Kindheit hat durchmachen müssen, dann würdest du manches besser verstehen.“ Ich war vor den Kopf gestoßen. Jetzt verteidigte sie das Arschloch, das sie jahrelang fertig gemacht hatte, auch noch. Das konnte doch nicht wahr sein.

„Ich bleibe in der Firma, und es wäre schön, wenn du auch bleiben würdest“, teilte Patty mir in ihrer kindlichen Art mit.

„Patty, das kann ich nicht! Ich will mit dir zusammen leben, und zwar nur mit dir. Entweder du gehst mit mir, oder Kurt geht, und wir können hier in Frieden weitermachen.“

„Gib mir etwas Zeit“, verlangte sie von mir. „Ich kann Kurt doch nicht alles weg nehmen, was er noch hat. Wenn er die Bäckerei alleine behalten will, dann soll er sie haben. Auch wenn ich nicht weiß, was dann aus mir werden soll.“

Ich versprach ihr, sie nicht weiter zu bedrängen. Mir tat es leid, dass ich so streng mit ihr geredet und versucht hatte, sie zu manipulieren. Das letzte was ich wollte war, dass Patty bei mir vom Regen unter die Traufe kommen würde. Also musste ich ihren Willen unbedingt akzeptieren und sogar einfordern. Wie einfach wäre es gewesen, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen? Dann wäre ich aber nur das nächste Arschloch in der Reihe von Männern gewesen, auf die sie einmal hätte zurückschauen müssen.


Am nächsten Abend sahen wir einen Film zusammen. Wir lagen in meinem kleinen Zimmer auf meinem Bett und Patty schlief dabei ein. Ich deckte sie zu, nahm sie in den Arm und kuschelte mich an sie. Ich genoss ihre Nähe so sehr, und es machte mich glücklich, dass sie auch mich umklammerte und ihren Kopf auf meine Brust legte. Es war der erste Abend, an dem sie bei mir blieb. Sie schlief sonst immer bei offen stehender Tür alleine in ihrem Zimmer unter dem Dach, weil sie befürchtete dass Kurt sie beobachten und durchdrehen würde, wenn sie nicht da wäre. Wie Recht sie hatte.

„Wo ist die Leiter?“ Kurt stieß meine Zimmertür auf und schaltete das Licht ein. Patricia zog die Decke über den Kopf, dass sie nicht mehr zu sehen war, und ich fragte:

„Was willst du? Eine Leiter?“

„Ich brauche in der Backstube die Leiter. Aha, liegt sie jetzt also schon bei dir im Bett!“

Ich war aufgestanden, zog mir meine Jeans an, und fragte Kurt: „Und du glaubst die Leiter in meinem Bett zu finden? Wie krank bist du eigentlich?“

Patricia weinte unter der Decke. Ich musste mich aber um Kurt kümmern, der mir gefährlich zu werden schien.

„Ich wusste es schon, als die Tür oben nicht offen stand“, triumphierte er. „Das also ist Eine-Auszeit-nehmen. Na ja.“

„Eine Leiter steht im Garten. Also wenn du wirklich eine Leiter willst, und nicht nur zum Kontrollieren hier bist, dann lege ich dir das Ding ins Auto.“

Ich trug die Aluleiter durch die Küche und schaffte sie ins Auto. Kurt schien zu überlegen, und er entschied sich, wieder zur Backstube zu fahren. Tatsächlich hatte er in dieser Nacht die Gasheizung in den Produktionsräumen angemacht und brauchte die Leiter, um die Dachlukenfenster in der Halle zu schließen. Aber natürlich war das nur ein Grund für seinen Besuch. Und solange es sein Haus war, konnte ich auch schlecht die Hausschlüssel von ihm verlangen, um eine Wiederholung dessen zu verhindern.


„Ich halte das nicht durch“, weinte Patty immer noch unter der Decke. „Ich wusste, dass er kommt. Ich kenne ihn.“

„Dann geh doch bitte mit mir von hier weg“, flehte ich sie an. „Auf diesen Scheiß kann man doch wahrhaftig verzichten. Ich will dich Patty, und nicht deine verfluchte Firma oder sonst irgendetwas. Zusammen schaffen wir beide alles. Das weiß ich!“

„Tom, ich kann nicht. Es tut mir leid“. Und sie stand auf und sagte: „Ich geh nach oben.“

„Na ja, für drei ist ja sowieso kein Platz hier im Bett. Und dein Mann liegt ja immer noch dabei“, beendete ich sarkastisch die gemeinsame Nacht.

„Ich kann nicht“, sagte sie noch einmal.

***

Keiner von uns hatte geschlafen. Ich war verletzt, weil Patty nicht mit mir alleine zusammen sein wollte und sich stattdessen in ihrem Zimmer verkroch. Sie schlief nicht, weil sie vor der nächsten Begegnung mit Kurt Angst hatte. Und Kurt hatte durchgearbeitet und triumphierte wieder einmal als wir in die Firma kamen. Mit keinem Wort ging er auf die Nacht ein und spielte business as usual.

„Ich kündige“, sagte ich den beiden im Büro und legte einen Auflösungsvertrag vor, den ich zwei Stunden zuvor aufgesetzt hatte. „Und ich gehe – sofort!“ Denn ich wollte eine Entscheidung.

Kurt schien überhaupt nicht überrascht sondern fragte mich: „Magst du noch einen Kaffee vorher trinken?“ Ohne meine Antwort abzuwarten unterschrieb er ungelesen das Dokument.

„Bleibe bitte!“ Patty zitterte am ganzen Leib.

„Das kann ich nicht. Du musst dich entscheiden. Kurt oder ich. Alles andere spielt keine Rolle.“

***

Und seitdem ging es mir grässlich. Seit 53 Stunden hatte ich nichts von Patricia gehört. Kein Anruf, keine Mail, kein Zeichen, kein Wink des Schicksals, keine Fügung, keine Weichenstellung, nur Irre und Leere. Kein Wunder, dass ich mich verlaufen hatte und jetzt irgendwo völlig erschöpft und kurz vor dem Nullpunkt am Resignieren war. Vor 50 Jahren wären die Menschen an dieser Stelle und in meiner Situation einfach in Ohnmacht gefallen. Doch ich stand da, mit dem Wunsch zusammenbrechen zu können, aber ich blieb stehen. Vor 100 Jahren wären sie auf die Knie gegangen und hätten ein Gebet gen Himmel geschickt, und auch ich schloss die Augen und murmelte: „Bitte hilf.“

„Sorry, we are looking for Cable Street?“ fragten zwei muslimische Frauen in ihren schwarzen Burkas eine Ladenbesitzerin, die keine zwei Meter von mir entfernt eine Zigarettenpause machte. „Can you help us?“

„Yes, indeed. Cable Street is just two corners away. Take this street to the left and the second crossroad is Cable Street. It’s the street parallel to the railway”, erklärte und deutete die Ladenbesitzerin den Weg.

Kabel Road und Cable Street. Der Bäckergeselle war Deutscher, ein bisschen zu sehr Deutscher, wie ich meine. Ich schloss mich den beiden Frauen aus dem Morgenland an, und gemeinsam fanden wir wenige Minuten später Cable Street. Die Bäckerei war in genau so einer Lagerhalle wie mein Storage, in dem ich zuvor genächtigt hatte. Ein Zeichen, oder gar eine Gebetserhörung? So wie es die Frage an die Ladenbesitzerin war, die ja eigentlich meine Frage gewesen ist? Der Bäcker, er heißt Peter, war ein sympathischer Kerl. Er hörte mir zu, während er seine Arbeit machte, und er kannte Kurt und Patricia persönlich, so dass er auch nachempfinden konnte, dass und warum ich mit Kurt nicht mehr zusammenarbeiten wollte, ohne dass ich viel erklären musste. Und dann klingelte sein Telefon, und nach den ersten Sätzen raunzte er mir zu: „Das ist Kurt. Er braucht Mehl.“

Ich ließ die beiden ungestört telefonieren, und bekam von Peter anschließend erzählt, dass Kurt von meiner überraschenden Kündigung, von der vorübergehenden Trennung seiner Frau, die aber Gott sei Dank nun überwunden sei, und dem damit verbundenen Rohstoffmangel berichtet habe. Patricia würde erst am Sonntagabend nach Deutschland fahren können, und er brauche noch fünf Sack Roggenmehl für das bevorstehende Wochenende. Ein weiteres Zeichen?

Ein Wink mit dem Zaunpfahl! Ich buchte sofort ebenfalls eine Fähre über den Ärmelkanal, um Patty am Sonntag „zufällig“ auf ihrer Reise zu treffen. Wenn es sein müsste, würde ich den ganzen Tag im Fährhafen warten, um Patty wieder zu sehen. Ich war wie elektrifiziert. Rasieren, frische Klamotten, vielleicht sogar Blumen. Eben das ganze Programm ging mir durch den Kopf. Und am Ende schämte ich mich, ihr wie ein Wegelagerer am Waldrand auflauern zu wollen. Wie unwürdig! Wie wenig schicksalhaft! Einfach nur gebogen, und nicht gerade heraus.

Ich gab diese Pläne genauso schnell auf, wie ich sie gemacht hatte. Ich wollte Patty immer noch, aber nicht durch Tricks und Täuschungen gelockt und eingefangen, sondern aus freien Stücken, aus eigenem Willen, aus Liebe. Patty, du brichst mir das Herz. Ich kann noch nicht einmal mehr spielen. Und das, obwohl ich dieses Spiel so sehr geliebt habe.


Der Donnerstag und Freitag vergingen sinnlos. Am Samstag rief mich Patty an und fragte, wie es mir so gehen würde und ob ich in England bleiben wolle.

„Ich habe für morgen eine Fähre gebucht, aber die Fahrt nach Deutschland brauche ich eigentlich gar nicht, weil ich in England bleiben werde“, erzählte ich. „Und, by the way, mir geht es miserabel. Du fehlst mir.“

„Ich werde nach Deutschland fahren“, antwortete sie ohne auf meine Klage einzugehen. „Wir werden uns eine Zeitlang nicht sehen können.“

„Ja, ich habe schon gehört, dass Kurt und du …“ Ich konnte es nicht aussprechen.

„Es tut mir leid.“ Ihre Stimme war kaum zu verstehen, so leise sprach sie. Sie sagte mir, dass sie weder zu ihrem Ehemann zurück gegangen ist, noch einen letzten Entschluss gefasst habe, was ihren Verbleib in der Firma anging. Und da meine Position ja auch unverrückbar war, fühlte sie sich verloren und völlig allein. Sie tat mir leid, und trotzdem musste ich hart bleiben.

„Ich bin dir lange genug hinterher gelaufen, Patty. Was soll ich denn noch machen? Du musst eine Entscheidung treffen, eine endgültige Entscheidung. Sonst wird das mit uns beiden nichts mehr.“ Ich sprach diese Sätze aus wie ein Geschäftsmann, der die Eckpunkte einer Handelsvereinbarung noch einmal abklopft, bevor er sein letztes Angebot macht. „Jetzt oder nie!“

Ich war mir sicher, dass Patty sich für mich entscheiden würde, ja entscheiden müsse. Diese vielen Zeichen, und dieses mahnende Beispiel meiner Mutter, die bis zum bitteren Ende in ihrer traurigen Ehe blieb. Sie starb, als ich 16 Jahre alt war. Meine Tante sagte mir, dass sie friedlich gestorben wäre und sogar zu lächeln schien, wie sie dort ohne jede Furcht und ohne Klage in ihrem Bett lag, um nie wieder leiden zu müssen. Erst viele Jahre später, als ich auch meinen Erzeuger auf seinem letzten Weg begleitete, erfuhr ich, dass sie eine Überdosis Schlaftabletten eingenommen hatte.

Gleich nach dem Aufstehen am Sonntagmorgen erinnerte ich mich auch an diesen dunklen Teil meiner Familiengeschichte, den ich bislang verdrängt und verborgen hatte. Mein Vater war mir egal, aber das Schicksal meiner Mutter, an die ich nach so langer Zeit durch diese liebenswürdige Frau in der Londoner Overground auf dem Weg von Waterloo nach Richmond so stark erinnert wurde, wühlte mich auf. Ähnliches durfte sich in meiner Gegenwart nicht wiederholen. Ich versuchte Patty telefonisch zu erreichen, um ihr zu sagen, dass alles gut werden würde. Ich war bereit ihr jede Brücke zu bauen, die sie benötigen würde, um zu mir zu kommen. Das war naiv, ja, aber es war ehrlich und sollte sie überzeugen können. Sie ging nicht ans Telefon. Wahrscheinlich hatte Kurt ihr das Telefon abgenommen, damit sie für niemanden außer ihm auf ihrer Einkaufstour zu erreichen war. Patty hatte mir erzählt, dass er solches schon früher praktiziert hatte, um sie zu kontrollieren.


Um 16 Uhr setzte ich mich in meinen Wagen und fuhr nach Dover zur Fähre. Sie müsste jetzt auch auf dem Weg dorthin sein. Die Menge der Fahrzeuge und Fahrgäste am Fährhafen war unüberschaubar, obwohl ich als einer der ersten dort angekommen war. Ganz England schien auf den Kontinent fahren zu wollen, so dass alle drei Decks der Fähre voll besetzt waren. Ich versuchte mein Glück in den Schnellrestaurants an Bord und bei den drei Café auf den Passagierdecks. Keine Spur von Patty. Während der zwei Stunden andauernden Überfahrt konnte ich meine Traumfrau mit den schwarzen Haaren und dem Blauschimmer nicht entdecken. Doch sie musste da sein. Ich spürte es.

Als die Fähre in Dunkerque anlegte, fuhr ich als einer der ersten auf die Mole und blieb dort einfach am dunklen Fahrbahnrand stehen. Jemand von der Fährgesellschaft wollte mich erbost wegschicken, aber ich sagte ihm, dass ich eine Panne hätte. So konnte ich jedes Auto in Augenschein nehmen, das von Bord kam. Das Auschecken dauerte 35 Minuten, doch der Lieferwagen der Bäckerei fuhr nicht an mir vorbei. Ich war frustriert und verstört; denn ich war mir so sicher gewesen, Patty auf dem Schiff zu finden.


Die Angestellten von der Fährgesellschaft interessierten sich nicht weiter für mich. Sie hatten sich an der weit geöffneten Luke der „Pride of Dover“ versammelt und gestikulierten lautstark. Ich ging ein paar Schritte in ihre Richtung und sah nun den Lieferwagen inmitten der ansonsten völlig leeren Halle stehen. Es war Pattys Auto. Ohne mich aufhalten zu lassen eilte ich an den Angestellten vorbei und war als Erster am Wagen angekommen. Er war leer.

„Wo ist die Fahrerin?“ schrie ich die Leute an.

„Sie wissen, wem der Lieferwagen gehört?“ fragte mich eine Mitarbeiterin der Norfolkline in meiner Sprache.

„Ja natürlich. Er gehört meiner Bäckerei. Aber wo ist meine Chefin? Ist etwas passiert?“

„Pardon, Monsieur, aber sind sie nicht zusammen gereist?“

„Nein, wir sind nicht zusammen gereist. Ich wollte Patty hier auf der Fähre treffen. Wir waren sozusagen verabredet. Ich habe sie aber nicht gefunden. Ist sie noch auf dem Schiff?“ Ich ahnte, dass die Leute von der Fährgesellschaft weniger wussten als ich; denn ich bekam nur Achselzucken als Antwort.

Nach 15 Minuten kam ein Abschleppwagen in den Laderaum und transportierte den Lieferwagen ab. Auch ich musste nun das Schiff verlassen und wurde in das Büro der Fährgesellschaft geführt, wo bereits die Gendamerie uns erwartete. Mein Pass wurde verlangt, und ich wurde gebeten ein paar Fragen zu beantworten. Während ich auf meine Vernehmung wartete, hörte ich den Beamten mit seiner Dienststelle telefonieren und bestätigend wiederholen, dass kein Passagier mehr auf dem Fährschiff wäre. Man müsse in Erwägung ziehen, dass die vermisste Frau während der Kanalüberquerung über Bord gegangen sei, zumal kurz nach Einbruch der Dunkelheit auf einer der Videoaufnahmen vom Schiffsheck ein Bündel im Wasser zu sehen wäre. In diesem Fall wären ihre Überlebenschancen gleich null; denn es war viel zu kalt da draußen.

„Nein, Patty, das kannst du nicht getan haben. Das darf nicht passiert sein!“ war mein flehender Gedanke, mein Gebet und meine Bitte an den Mächtigen, der Dinge auch ungeschehen machen kann. Ich hatte ihr versprochen, dass ich sie auffangen würde; dass ich ihr Fluss sein würde, der sie trägt. Meine Beine wurden schwach, und ich tauchte in eine Art Nebel ein, in der ich nur noch mechanisch hörte und antwortete. Aus weiter Ferne fragte mich der französische Polizist:

„Excusez-moi, Monsieur, wie lange kennen sie schon Madame Patricia Tauber?“

Vom anderen Ende des Tunnels hörte ich mich sagen: „Mein ganzes Leben schon kenne ich sie. Ich kenne Patty, solange ich bin.“


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.11.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum 24. Wortspiel auf www.bookrix.de

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