Cover

Das richtige Maß

„ Paul Willmore! Ist das der

Paul Willmore, von dem ich glaube, das er es ist, oder wer ist das?“ fragte Stefan Volkmann ziemlich verwirrt und kompliziert seine jungvermählte Braut, und hielt dabei einen an den Mädchennamen seiner Frau adressierten, auffallend kunstvollen Briefumschlag in der Hand, den er gerade vom Postboten bekommen hatte.

„Peewee? Ja, das ist der

, genau der, den du meinst. Wir gingen zusammen zur Schule bis zum Abitur,“ tat Verena so selbstverständlich, als würde sie alle paar Wochen Post vom erfolgreichsten Foto- und Videokünstler des zwanzigsten und vermutlich auch einundzwanzigsten Jahrhunderts bekommen. „Zeig mal her. Was hat er denn geschickt?“

Verena zog eine im Gegensatz zum Umschlag eher schlichte Einladungskarte aus dem Kuvert, las, während sie sich fortwährend am Kopf kratzte, und fasste für ihren Mann zusammen: „Wir beide sind eingeladen. Zu seinem 50sten Geburtstag, verbunden mit einer Vernissage DAS LEBEN – REDUKTION ZUM WESENTLICHEN. In Frankfurt am Main. Am 13. April, Ostermontag.“

„Und wie kommen wir zu dieser Ehre?“ zeigte sich Stefan hocherfreut , fast schon begeistert und ein wenig geschmeichelt.

„Du, als mein Partner, und ich als seine Gefährtin auf einer Strecke seines Lebens

.“

„Hattest du mal was mit dem?“ erklang Stefan empört.

Verena fächelte sich mit der Einladung kühlen Wind ins Gesicht und schaute ein Loch in die Wand. „Leider nicht!“ sinnierte sie, und machte keine Anstalten weiterzureden, gerade so, als ob es da doch ein Geheimnis geben würde.

„Frankfurt. Das sind fast 500 km von hier. Die Fahrt, Hotel oder Pension, mindestens ein Tag Urlaub. Alles zusammen kostet uns der Spaß eine schöne Stange Geld.“ Aber mehr noch als die Kosten verdrießte dieses vielsagende Leider-nicht

Stefans anfängliche Begeisterung. „Entscheide du, ist ja schließlich dein Freund, dieser Künstler.“

„Ich glaube, es ist schon entschieden“, überraschte Verena ihren Mann. „Außer der Einladung ist auch noch ein Scheck über 800 Euro in diesem Umschlag. Unser Erscheinen soll nicht aus monetären Gründen

scheitern,“ las Verena vor und zeigte das Wertpapier. „ Peewee lässt sich nicht lumpen.“

„Wow“, entfuhr es Stefan.

***



Die Galeristen bedeutender Künstler sind stets auch die besten Freunde ihrer Schützlinge. Peter Frinton schlug daher aus Freundschaft, nicht wegen vordergründig geschäftlichen Interessen, Paul Willmore für das 25jährige Jubiläum ihrer Zusammenarbeit und zum 50sten Geburtstag des Künstlers vor, gemeinsam jetzt den ganz großen Wurf zu landen. Willmore war bereits die Nr. 1, Starfotograf, ein Kind des Olymp. Seine Videoinstallationen wurden von Weltfirmen gekauft, seine architektonischen Großaufnahmen brachten Millionenumsätze.

„Wozu?“ blockte Willmore seinen Freund ab. „Noch eine Millionen? Den Namen noch fetter im Kunstforum International

? Noch mehr Ärsche, die sich mit meinen Ideen ihre Paläste ausschmücken?“

„Du bist Künstler!“ versuchte Frinton ihn zu begeistern. „Mehr noch, du bist ein Avantgardist. Was du heute beginnst, wird in ein paar Jahren an den Kunstakademien gelehrt. Mensch Paul, komm‘ aus deinem Loch heraus. Du darfst deine Pfunde doch nicht vergraben.“

„Peter und Paul, die heiligen Kühe der Künste. Die Topcrew der Kunstgaleere. Ich am Ruder, du an der Trommel. Das ich nicht lache. Ich werde mich hüten irgendwas zu vergraben. Ich werfe die Scheiße weg. Ich will sie nicht mehr haben. Ich will endlich wieder frei sein, ein Mensch sein. Verstehst du. Ich will raus aus diesem Idiotenzirkus, und nicht noch eine Affenleiter weiter nach oben hangeln.“ Willmore kippte seinen doppelten irischen Whiskey in einem Zug ab und verzog das Gesicht, weil das Destillat ihm die Luft raubte.

Atemberaubend waren auch seine künstlerischen Aktionen. Willmores Foto der Leibermauer

, einer Hochhauszeile in der Nähe von Frankfurt , aus dessen 600 Fenstern alle Bewohner im gleichen Augenblick herausschauten und das Wort Friede gestikulierend darstellten, ging um die Welt. Es war keine Bildmontage, sondern nur ein Großleinwandfoto, doch es wurde für 3,5 Millionen Euro bei Sothebys in London verkauft. Seine Videoperformance Boated People

, die im Mittelmeer zu klassischer Musik treibende Leichen afrikanischer Flüchtlinge zeigte, schockierte die Weltöffentlichkeit. „Wenn irgendwo auf dieser Welt größtes Unrecht passiert, steckt garantiert eine Regierung dahinter“, untertitelte Willmore die gespenstige Szenerie, und zwang damit die Europäische Union zum Handeln gegen diesen Massensuizid.

„Ich wollte dir vorschlagen, etwas mit Satelliten zu machen“, phantasierte Frinton. „Das hat noch keiner gemacht, Satellitenbilder künstlerisch verarbeiten und einsetzen. Das stelle ich mir ganz groß vor.“

Der Whiskey war leer. „Was soll ich hier noch?“ dachte sich Willmore und ging ohne weitere Erklärung.

***



„In der Schule hieß er noch Paul Wilmer, wir nannten ihn nur Peewee

“, klärte Verena ihren Mann auf. Sie kannten sich seit 14 Monaten und waren erst seit kurzem miteinander verheiratet. „Na ja, und Wilmer klingt wie Will-mehr

, und daraus hat er schließlich seinen Künstlernamen Paul Willmore gemacht. Ich dachte, er lebt in New York.“

„Und wie war er in der Schule?“ Stefan neigte nicht zur Eifersucht. Doch dieses gehauchte Leider-nicht

klang immer noch in seinen Ohren. In zwei Tagen, am Ostermontag, würde die Vernissage in Frankfurt stattfinden, und er wollte auf dieses Event und alle Eventualitäten vorbereitet sein.

„Ein Langeweiler. Gar nichts Besonderes. Und ich glaube in Kunst war er sogar eine regelrechte Niete“, berichtete Verena mit Vergnügen. „Ich weiß auch gar nicht, was so Besonderes an seinen Pics sein soll. Alles viel größer als bei anderen, aber es sind doch nur Fotos. Sein Vater hatte einen Knipsladen in der Stadt und war Werbefotograf. Das hat Peewee am Anfang auch gemacht, bis er dann diese urbanen Riesenbilder machte und in die Kunstecke abdriftete. Ich habe nicht schlecht gestaunt, als ich hörte, was für Asche er mit seinen Aufnahmen macht. Peewee hat zig Millionen verdient.“

„Wow!“

„Meinst du damit sein Geld oder mein Kleid?“ lachte Verena und drehte sich in ihrem selbstgeschneiderten Kostüm, das sie zur Vernissage tragen würde, einmal um die Achse.

„Beides.“ Stefan war gerade dabei seinen besten Anzug in die Ledersuite zu hängen.

„Untersteh dich einen Anzug mitzunehmen“, drohte die top gekleidete Fünfzigerin. „Wir besuchen eine Vernissage und kein Versicherungsseminar. Schwarze Jeans, schwarzer Pullover, graue Kaschmirjacke. Anzüge und Krawatten tragen dort nur die Kellner.“

„Ich dachte, da erscheint alles, was Rang und Namen hat?“ entsetzte sich Stefan.

„Ganz genau, aber nicht wie der Azubi der Deutschen Bank verkleidet, sondern als Boheme, besser noch als Edelpenner.“

***



Paul Willmore hatte keine Midlifekrise. Sein Alter machte ihm keine Probleme. Er fürchtete die Belanglosigkeit, das Einerlei, das sich ständige Wiederholen in beliebiger Gleichgültigkeit. Wie viele Fotos hatte er geschossen? In welcher Hauptstadt der westlichen Welt gab es noch keine Ausstellung von ihm? Was würde sich ändern, wenn noch ein Dutzend solcher Metropolen auf die Liste kämen?

Er war nicht verheiratet. Hatte keine Kinder, keine Nachfahren, auch keine unehelichen. Er hatte einen Namen, eine Ehrenprofessur, einen Ruf, mit dem gewisse Erwartungen verknüpft waren. Ein Willmore hat mehrere Meter Kantenlänge. Keinen zentralen Gegenstand auf der Bildfläche und eine Vielzahl austauschbarer Objekte die ikonenhaft angeordnet und teilweise durch nachträgliche Bildbearbeitung verstärkt wurden.

Und ein Willmore hat seinen angemessenen Preis, häufig einen sechs- oder sogar siebenstelligen. „Von jetzt an bis in alle Ewigkeit. Amen!“

Nein, Willmore hatte weder einen Krebs noch eine Krise. Er war das alles nur so satt. Wollte zurück zum Ursprünglichen, zum Ausgangspunkt, zum Kern. Er wollte nicht ein weiteres Mal auf den Auslöser drücken, um dadurch was auch immer festzuhalten. Er wollte einfach nicht mehr. „Paul Will-not-more“, lachte er hämisch vor sich hin. „Reduktion“ kam ihn in den Sinn. Gegenströmung und reduzieren, verkleinern, zum Innersten finden, auf das richtige Maß. Er wollte bremsen, anhalten, die Reduktion zum Wesentlichen.

„Was ist das Wesentliche, das Wesen aller Dinge?“ fragte er sich, und war aufgeregt unzufrieden, weil er spürte, dass es gerade diese Dinge

waren, die ihm den Zugang und Weg zum Wesentlichen versperrten. „Weg! … Weg? … Weg: …“, formulierte er einem Mantra gleich und stundenlang in seinem Geist, sprach es, sang es und murmelte es vor sich hin, und beendete den in sich zusammengekehrten Wahnsinn zwei Tage später mit dem Schrei: „Weg damit, weg mit dieser Scheiße! Weg mit allem!“

Es hatte etwas Religiöses, befreiend und erhaben. Willmore glaubte nicht an einen Gott. Doch in dem Moment, als er diesen Satz herausschrie und seine Idee Gestalt annahm, glaubte er, der Messias zu sein.

„Peter, wir tun es. Wir machen den großen Wurf“, teilte er seinem Freund und Galeristen mit. „Keine Bilder, keine Videos, keine Satelliten. Sondern DAS LEBEN – DIE REDUKTION ZUM WESENTLICHEN

.“

„Das Leben?“ rätselte Frinton.

„Ja, das Leben. Reduziert auf das, was allein Leben ist.“ Willmore skizzierte seine Idee und beschrieb dem Freund einen ersten groben Plan. Er war bei seinen Ausführungen kaum zu bremsen und registrierte überhaupt nicht, dass Frinton mit jedem Satz immer mehr zur personifizierten Ablehnung dieses Vorhabens wurde.

„Stopp!“ schrie Frinton seinen Schützling an und packte ihn an seinen Schultern. „Das ist nicht Kunst, was du da faselst. Das ist Idiotie! Vergiss es!“

Das Projekt hatte noch nicht begonnen, und schon kam es zum Zerwürfnis mit Frinton. Willmore erkannte augenblicklich, dass die Trennung unausweichlich, ja sogar an erster Stelle stehen musste, wenn seine Reduktion am Ende nicht eine reine Show und lediglich eine weitere Montage in einer unendlichen Reihe sein sollte. Der Preis dafür war hoch. Es kostete ihn einen seiner ältesten Freunde und den Manager für seine Ideen. Willmore stand fortan alleine da.

***



Die Nachricht im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass der Foto- und Videokünstler sowie Ehrenprofessor der DüsseldorferUniversität Paul Willmore, auf eigene Kosten im Frankfurter Stadtteil Dornbusch das Sinai-Gelände gekauft hatte, um darauf ein Kunstausstellungsgebäude zu errichten, warf in der Kunstszene mehr Fragen als Antworten auf. Das Gebäude sollte ein gläserner Würfel mit 11,03 m Kantenlänge sein, in dem Willmore die Ausstellung DAS LEBEN – REDUKTION ZUM WESENTLICHEN unterbringen würde. Die finanzklamme Stadt zeigte sich über dieses Millionen-Investment hocherfreut und ebenso hochgeehrt. Man wolle dem Künstler, der es ja schon immer ein bisschen größer gemacht habe, mit nichts im Wege stehen und werde sein neuestes Kunstprojekt wohlwollend und nach Kräften unterstützen.

Die Stadt hielt Wort und erteilte die Baugenehmigung für das Ausstellungsgebäude im beschleunigten Verfahren, sodass im März nach nur drei Monaten Bauzeit der Glaswürfel fertig war. Zum Erstaunen nicht nur der Bauleute verfügte das absolut symmetrische Gebilde nur über einen einzigen Zugang, und der war in zwei Meter Höhe angebracht. Der Kubus selbst bestand aus vier Etagen und hatte keinerlei Installationen oder Mobiliar. Willmore hatte darauf bestanden, seine künstlerischen Pläne mit diesem Gebäude bis zur Vernissage geheim zu halten, um das Projekt keiner vorzeitigen Diskussion, Kritik oder Beurteilung auszusetzen. Seine Zusage, dass im Innern des Würfels kein Besucherverkehr stattfinden würde, machte die ordnungs- und feuerpolizeilichen Bedenken wett. Die Stadt war nun gespannt, welche Performance auf seine Bürger und die Kunstwelt zukommen würde.

„Eines ist ja mal klar“, erläuterte Dr. Deuser, Kulturdezernent der Stadt Frankfurt, auf Anfrage der Presse: „Dieses Kunstobjekt bleibt in unserer Stadt, egal wie viel die Amerikaner dafür zu zahlen bereit sind.“

Paul Willmore fieberte Ostern und seinem Geburtstag am 13. April 2009 entgegen. Er verbrachte Tage damit, sein bisheriges Leben in Gedanken nochmals abzuschreiten. Daraus resultierte ein Katalog von 370 Namen und Gesichtern, die ihn auf einem Stück seines Lebensweges begleitet hatten. Die Zufallsbekanntschaften, die Nassauer und Schmeißfliegen, selbst die Berühmten unter ihnen, klammerte er aus. Aber diese 370 Personen wollte er an seinem Jubiläumstag und gleichzeitig zum Beginn seines neuen Lebens als Zeugen bei sich wissen. Er ließ die Adressen dieser Weggefährten ermitteln und verschickte persönliche Einladungen, denen er jeweils einen großzügigen Scheck für die Kosten der Anreise und Logis beifügte. Ein Willmore hat stets eine beachtliche Kantenlänge.

Was sein Vermögen anbetraf, traf Willmore ebenfalls diskrete, ja sogar heimliche Entscheidungen. Die zweite Hälfte seines Lebensjahrhunderts würde er als mittelloser Mensch beginnen. Ein Franziskanermönch sollte im Vergleich zu ihm wohlhabend genannt werden. Nicht die Kirche und auch keine staatliche oder religiöse Einrichtung würden sein beträchtliches Vermögen erhalten, sondern eine von ihm gegründete Stiftung, die ausschließlich Hilfe für die ärmsten und schwächsten der Armen und Schwachen fördern dürfte. Diese Stiftung hatte er mit seinem gesamten Vermögen, annähernd 20 Millionen Euro, bedacht. Mehr als einmal musste er den Juristen und Notaren unter Beweis stellen, dass er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, als er diese Pläne in Verträge umwandeln ließ. Aber sein Wille war klar; Willmore will das alles nicht mehr.

***



Verena und Stefan trafen pünktlich an der Ausstellungshalle im Sinai-Park im Frankfurter Dornbusch ein. Der Taxifahrer hatte argwöhnisch hinterfragt, welcher Art die Vernissage denn sei; ihm war aufgefallen, dass seine Fahrgäste heute irgendwie anders als bei ähnlichen Veranstaltungen waren. Er hatte bereits reichlich Trinkgeld erhalten, obwohl er einige der Kunden direkt am Hauptbahnhof aufgenommen hatte.

„Keine Ahnung“, gab Stefan freimütig zu. „Es ist die erste Vernissage meines Lebens. Hauptsache wir sind pünktlich.“

„Na, dann passen Sie nur mal auf, dass sie nicht zu weit vorne stehen. Wer vorne steht kommt als Letzter ans Buffet, wenn sie verstehen, was ich meine.“ Der Taxifahrer kniff ein Auge zu und hielt die Hand für den Tipp und seinen Fuhrlohn entgegen.

Vom Glaskubus war nur die obere Hälfte zu erkennen. Der untere Teil war rundherum mit einem brokatähnlichen dunkelroten Vorhang umschlossen, auf dem sich in einem endlosen schwarzen Schriftzug das Thema der Ausstellung wiederholte: DAS LEBEN – REDUKTION ZUM WESENTLICHEN. Auf dem Platz davor standen sieben große und gänzlich weiße Rundpavillons, in denen sämtliche Möbel und Einrichtungsgegenstände absolut weiß oder farblos waren. Die einzigen Farbkleckse neben den Kleidern und Kostümen der anwesenden Damen waren die Delikatessen und Kostbarkeiten, die der Veranstalter als Buffet hatte anliefern und anrichten lassen. Tatsächlich war die vorherrschende mobile Farbe schwarz, nämlich das Schwarz der anwesenden Herren und der Hostessen, die in Abendkleidern Sektkelche anboten.

„Wow!“ Stefan, der in seinem grauen Kaschmir ein wenig abhob, war ansonsten sprachlos.

Dezent erklang klassische Musik, und im Vorbeilaufen konnte Verena einen Gast hören, der bemerkte, dass Willmore an der Musik wohl gespart habe, sonst würde das Gedudel nicht vom Band kommen. Wo war Peewee eigentlich? Verena hatte diesen flüchtigen Gedanken in dem Augenblick, als ihr eine andere ehemalige Klassenkameradin freudestrahlend und mit erhobenem Sektglas entgegen kam und sie aufs herzlichste begrüßte.

„Nach so vielen Jahren! Na sag doch mal, du siehst aber gut aus. Hast dich ja gar nicht verändert!“ lobte Carmen die Ehemalige. „Ich habe Klaus schon getroffen. Das wird ja ein richtiges Klassentreffen, ein klasse Treffen.“

Stefan und Verena hatten sich in den letzten Tagen einiges Wissen über Kunst an sich, die Kunstszene im allgemeinen und Peewees Werk, das als ein work in progress

bezeichnet wurde, angeeignet. Irgendwie störten sie sich an der Vorstellung, dass sie diesen Abend mit Leuten verbringen könnten, die seinerzeit Wetten darauf abgeschlossen hatten, welcher Pfahlhocker im Heidepark als erster abstürzen würde. Sie hatten andere Gespräche im Sinn als so etwas Banales, wie ein Klassentreffen es erwarten ließ.

Nachdem sie Carmen abgewimmelt und mit Moet & Chandon Brut Imperial in ihren Gläsern in den Nachbarpavillon gewechselt waren, standen sie nun bei Leuten, die offensichtlich ein anderes Niveau hatten.

„Was hältst du von Big Brother für Intellektuelle

? Wäre doch ein geiler Aufhänger“, überlegte der bärtige Pfeifenraucher, offensichtlich ein Zeitungsmann.

„Weiß man eigentlich schon, was genau Willmore in dieser Vitrine ausstellen will?“ fragte ihn sein Kollege.

„Der Kulturdezernent munkelte, dass es um die Menschenrechte gehen würde. Die Problematiken, die in dieser Ausstellung aufgeworfen werden, seien dazu da, den Betrachter anzuregen, in sich zu gehen, sich zu fragen und eine Antwort zu finden.“

„Das habe ich wortwörtlich bei mindestens der Hälfte der Foto-Vernissagen in den letzten sechs Monaten gehört“, belächelte der Jüngere von den beiden das Statement. „Hohles Geschwätz, typisch Deuser. Aber das Buffet ist spitze.“

Verena fragte sich, wozu sie in den letzten Tagen ihre Zeit in Kunstforen und bei Wikipedia zugebracht hatte. Hier wurde über alles geredet, nur nicht über Kunst.

***



Hinter dem Brokatvorhang schossen zwei zwölf Meter hohe Flammen in die Luft, deren rot-gelbes Licht den Wänden der Pavillons eine warme flirrende Farbe gaben. Die Musik in den Zelten wurde etwas lauter, und einige der Gäste erkannten Bilder einer Ausstellung

von Modest Mussorgsky. Nach der Promenade

wurde die Musik wieder leiser, spielte im Hintergrund weiter, und Paul Willmores Stimme erklang mächtig aus den Lautsprechern.

„Die Existenz des Menschen reflektiert in einem Spiegel. Mein Spiegel war die Kamera. Sie lieferte Zeit meines Lebens Bilder im Überfluss. Und obwohl ich keine Portraits, sondern vorzugsweise schweigende Architektur oder brüllende Landschaften festhielt, wurde ich mit zunehmender Intensität und gerade auch wegen des kommerziellen Erfolges immer weniger Herr meiner Bilder. Und ich verlor die Herrschaft über mein Dasein. Die überwältigende Flut bildlicher Eindrücke, festgehalten auf Papier, Folie oder in einem Monitor, für eine kleine Zeit der Ewigkeit zweidimensionalisiert, erstickt mich, den Bildschaffenden, und erstickt euch, die Bildleser. Wir verkümmern vor und hinter diesem Spiegel, der uns gelegentlich aufrüttelt, erheitert oder schockiert. Am Ende verlieren wir unsere Menschlichkeit, in dem wir immer mehr sehen müssen, und kaum noch etwas wahrnehmen können. Wir ersticken in diesem riesigen Haufen, und jeden Tag scheißt der Teufel - oder ist es Gott? - aufs neue darauf.

Meine lieben Gäste, ich heiße Sie, ich heiße Euch, willkommen zur Ausstellung DAS LEBEN – REDUKTION ZUM WESENTLICHEN, die in wenigen Minuten beginnen wird.“

Mussorgskys Musik wurde wieder lauter, und die Flammen hinter dem Brokatvorhang verkleinerten sich, während der Sichtschutz rundherum von livrierten Kellnern zur Seite geschoben wurde, um den Blick auf den Glaswürfel frei zu machen. Eine Vielzahl attraktiver junger Damen in schwarzen Abendkleidern, allesamt Modells, animierten die etwa 600 Gäste die Zelte zu verlassen und auf den Platz vor dem Ausstellungsgebäude hinauszutreten. Jetzt konnte man sehen, dass die beiden Flammen rechts und links außen auf einer Art Siegertreppe loderten, die in diesem Augenblick langsam hydraulisch angehoben und zum höher gelegenen Eingang des Glaswürfels auffuhr.

Paul Willmore stand vollkommen nackt auf dem mittleren Podest zwischen den beiden Feuersäulen, der einzigen, aber völlig ausreichenden Lichtquelle dieser Performance, deren choreografische Harmonie je zerbrach, als Reporter begannen mit Blitzlichtern Fotos zu schießen.

„Ich bitte Sie, werte Kollegen“, unterbrach Willmore scherzend die Blitzlichter, „ich bin nicht Oskar, und das hier ist nicht Hollywood. Ich laufe ihnen auch nicht weg, sondern ich habe mein Habitat hier gefunden.“ Willmore erhob die Arme und zeigte auf das Gebilde aus Glas hinter sich. In der Zwischenzeit war er in Höhe der Eingangstür angekommen und das Podest blieb stehen. „Hier, in dieser Leere, die alles nicht enthält, was es gibt, wird Paul Willmore den Rest seiner Zeit beginnen. Ich betrete meinen neuen Lebensraum, mein Zuhause, mit nichts außer meinem Leben. Und ich will diese neue Heimat nie wieder verlassen.“

Die Zuschauer standen still wie Gläubige mit ihren Sektgläsern vor dem Podest und warteten. Keine Blitzlichter störten mehr die Szene. Unbemerkt verstummte auch die Musik.

„Mit nichts!“ wiederholte Willmore, und warf ein Papier in die Flammen. „Mit nichts!“ und warf wieder ein Papier in die andere Flamme. „Mit nichts!“, und diesmal erkannten die vordersten Gäste, dass es Geldscheine waren, die Willmore verbrennen ließ. „Mit nichts!“, und Stefan, der den Wert der Scheine erkannt hatte, murmelte: „2000 Euro“.

„Mit nichts!“ zelebrierte Willmore ein weiteres Mal und vernichtete den nächsten Geldschein und zunehmend auch die Geduld seiner Gäste. „Mit nichts!“ Ein erster spitzer Schrei einer Zuschauerin, die sich hilfesuchend an ihren Nachbarn klammerte, eröffnete den Widerstand der Anwesenden. „Mit nichts!“ und nun wurden auch imperative Wortfetzen hörbar: „Schluß damit! … Paul, beende das! … Aufhören!“ Einer rief: „Was soll das?“ und als ob Paul Willmore auf diese Frage gewartet hätte, hielt er abrupt ein und schrie in die Menge:

„Habt ihr das auch verlangt, als 1972 das nackte vietnamesische Mädchen in Trang Bang vor den Napalmbomben davonlief? … Mit nichts!“ Willmore warf einen ganzen Bündel Geldscheine in die Flammen. Ein paar Zuschauer weinten.

„Das war mein letzter Besitz! Ich habe nichts mehr auf diesem Planeten, wenn ich den Würfel aus Glas betrete. Mein Leben reduziert sich auf das Wesentliche, auf das, was ich bin, und nicht mehr auf das, was ich habe. Wenn ihr es so wollt, bin ich das Kunstobjekt, und die Kameras, die Spiegel dieser Welt, begleiten mich von nun an durch die gläsernen Mauern dieses Hauses. In Wahrheit aber seid ihr, meine Gesellschaft, die Ikone dieser Vernissage. Ich betrete nun Habitat, und diese Tür hinter mir wird für alle Zeiten verschlossen und versiegelt sein. Ich brauche und will nicht mehr!“

***



„Ganz schön abgefahren, dein Schulkamerad.“ Stefan wedelte mit der Hand vor dem Gesicht. „Verbrennt mal so locker zehn-zwanzigtausend Euronen. Wow!“

Willmore hatte sein Headset-Mikrofon abgelegt und das Podest verlassen. Er stand nun im ersten Stock des Glashauses und beobachtete zwei seiner Mitarbeiter, die mit Gasbrennern die Fugen der Eingangstür verschmolzen. Es dauerte etwa zehn Minuten bis der Eingang endgültig verschlossen und der Würfel damit versiegelt war.

„Meine Damen und Herren, der Künstler Paul Willmore befindet sich nun in der Ausstellung, dem Habitat. Derzeit gibt es keine Verbindung außer dem Blickkontakt zwischen ihm und dem Rest der Welt.“ Die weibliche Ansagerin dieser Lautsprecherdurchsage war nicht zu lokalisieren. „Der Sauerstoffvorrat im Würfel ist begrenzt und durch das Verschweißen des einzigen Zugangs erheblich reduziert. In zehn Minuten wird an der Bodenlinie unterhalb des ehemaligen Eingangs, ein weiterer Zugang geschaffen werden, durch den Herrn Willmores Bedürfnisse ver- und entsorgt werden können. Dieser Nabel

wird einen Durchmesser von 33 cm haben, und steht ihnen zur Verfügung.“

„Dieses Experiment hat eine ungeheuer starke Symbolkraft“, frohlockte einer der Kunstverständigen unkontrolliert verzückt aus sich heraus. „Das nackte Kind aus Vietnam, das vor dem Napalmfeuer wegläuft, und unser nackter Paul, der im Flammenschein am Auferstehungstag in diesen Würfel flüchtet. Sagenhaft! Und das auch noch an einem Dreizehnten. Das schlägt durch!“

„Bin mal gespannt, wie lange der Künstler es da drin aushält.“ Das Knurren und Grummeln im Gemüt des Baudezernenten war unüberhörbar. Er hatte völlig andere Erwartungen an dieser Ausstellung, fühlte sich betrogen und hintergangen, und er wünschte sich, dass das Spektakel ein rasches Ende nehmen würde. „Möchte nicht mit ansehen, wenn er in die Ecke scheißen muß.“

„Klopapier.“ Die fremde Frau in seiner Nähe, schüttelte den Kopf. „Er hat ja noch nicht einmal Klopapier.“

„Stefan, denkst du, er meint das erst?“ Verena war zwischen staunender Bewunderung und ernsthafter Sorge hin und her gerissen. Schließlich kannte sie Peewee und war eine Weggefährtin in einer unbeschwerten Zeit ihrer beider Vita gewesen. Daraus fühlte sie so etwas wie Verantwortung in sich aufsteigen.

„Woher soll ich das wissen? Auf jeden Fall bin ich froh, dass wir nicht mit Schweineblut überschüttet wurden oder selbst ein Teil der Show geworden sind.“

„Ich befürchte, dass genau dies passiert ist. Wie soll er da drin überleben. Er hat gar nichts mehr. Wo soll er schlafen, was kann er essen oder trinken. Er nützt ihm auch nichts, dass er pausenlos wie ein Flüchtlingsopfer fotografiert und angestarrt wird.“ Verena war verzweifelt. Gleich einem neugeborenen Baby war Paul Willmore darauf angewiesen, dass es mindestens einen Menschen geben würde, der ihn nicht nur ablichtete sondern auch versorgte. Und da Willmore kein Baby, vielmehr ein fünfzigjähriger Mensch war, würde realistischer Weise einer allein dazu nicht genügen.

Die angenehme Frauenstimme erklang wieder aus den Lautsprechern: „Meine Damen und Herren, der Nabel ist gelegt. Bevor ich mich im Namen des Künstlers Paul Willmore und seiner Crew bei ihnen bedanke und verabschiede, möchte ich noch zwei Erklärungen abgeben. Die letzte persönliche Botschaft von Paul Willmore lese ich vor: Der erste Gegenstand, der mich in meiner Heimat durch den Nabel erreichen soll, ist ein zwei Kilogramm schwerer TNT-Bombengürtel, den ich in dem Moment zünden werde, in dem von außen versucht werden sollte, mich lebend aus dem Habitat herauszuholen. Mir ist klar, dass die Behörden und Menschen, die es vermeintlich gut mit mir meinen, mein öffentliches Sterben verhindern möchten. Das werde ich durch meinen - dann unausweichlichen - Selbstmord und die notwendige Zündung der Bombe verhindern

.“

Nach einer kurzen Pause setzte die Sprecherin fort: „Die zweite Erklärung ist von der Crew: Paul, wir wünschen dir alles Gute. Der Sprenggürtel, den du dir gewünscht hast, ist in der Decke eingewickelt, die dir gerade durch die Nabelöffnung gereicht wird. Hoffentlich kannst du gut damit schlafen.“

***



Die Nachrichtensender schickten ihre Kameraleute, als wäre der Krieg ausgebrochen oder Terroristen am Werk. Die Printmedien überschlugen sich mit Überschriften, in denen von Unmoral, Wahnsinn und Erpressung die Rede war. „Verirrter Kunsttaliban droht mit Selbstsprengung“, titelte eine Boulevardzeitung. Einhellig wurde verurteilt, dass und wie der Künstler die Gesellschaft zwingen würde, sein Spiel mitzuspielen. Die Medien ließen an ihrem einstigen Musterstar kein gutes Haar. Auch Strafverfolgungsbehörden investigierten gegen Willmores Crew - und ihn selbst natürlich auch - wegen Nötigung und zumindest fahrlässiger Gefährdung der Öffentlichkeit durch Sprengmittel. Ein juristischer Streit zwischen Verfassungsrechtlern entfachte sich an der Frage, welches Rechtsgut im konkreten Fall das höherwertige sei; die Freiheit der Künste oder das Recht auf öffentliche Ordnung. Der Versuch der Stadt Frankfurt, das nun im Privatbesitz stehende Grundstück im Stadtteil Dornbusch dauerhaft für Besucher abzuriegeln, musste auf einstweiligen Beschluss des Verwaltungsgerichts aufgegeben werden. Die Richter erkannten dafür keine verwaltungsrechtliche Handhabe, auch wenn der skurrile Vorgang aus juristischer Sicht bitter anmutete.

Währenddessen strömten täglich Hunderte zum Sinai-Park, um mit eigenen Augen zu sehen, was am Glaswürfel geschah. Viele standen Schlange, um Lebensmittel, Kleidung, Arzneimittel, Bücher und was sie sonst noch zum Leben für notwendig erachteten, auf ihren Knien liegend durch den Nabel zu reichen. Und nach kurzer Zeit schon konnte die Öffentlichkeit durch die Glasscheiben feststellen, dass es dem längst nicht mehr nackten Künstler recht gut ging.

„Wenn Willmore diesen verdammten Sprenggürtel nicht hätte, würde kein Mensch mehr Notiz von dem Unsinn nehmen“, postulierte der Frankfurter Polizeipräsident, dem es gar nicht gefiel, dass quasi in Nachbarschaft zu seinem martialischen Dienstgebäude ein durchgeknallter Aktionskünstler nun schon über Monate die Schlagzeilen bestimmte. „Sprenggürtel, da denkt jedermann gleich an ein Selbstmordattentat. Dabei hat ein Gasanschluss im Haus eine weitaus höhere Sprengkraft als dieses Bömbchen.“

„Was können wir unternehmen,“ wollte die Oberbürgermeisterin von ihm wissen, „um elegant und still diese Posse zu beenden?“

„Ich wünschte, wir hätten ein Erdbeben, oder einen Flugzeugabsturz, oder eine Fliegerbombe auf der Wiese. Dann könnten wir räumen.“

„Meine Herren, aber bitte! Gibt es keine besseren Vorschläge?“

„Man könnte ihn auch vergiften. Trüffelpastete soll er früher nicht widerstanden haben. Und einen Vorkoster hat er ja keinen in seinem Kunstaquarium.“

***



„Seitdem Peewee in seinem Glaskasten sitzt, kann ich keine Nachrichten mehr sehen.“ Verena packte die Weihnachtsgeschenke für ihre beiden Nichten in buntes Geschenkpapier.

„So schlecht geht es ihm doch gar nicht in seinem Habilaborium“, antwortete Stefan.

„Nein, ich meine nicht die Nachrichten über Peewee, sondern überhaupt. All das Elend auf der Welt. Die viele Not. Und das es keinen so richtig interessiert, wenn Menschen verhungern, erfrieren oder verdursten. Wir sehen das, und ab dafür. Weiter geht’s im Alltagstrott.“ Verena schaute unglücklich über ihre Geschenke, deren Verpacken doch Freude machen sollte.

„Ja, das war schon stark, wie dein Schulkamerad sich verabschiedet hat.“ Stefan grinste.

„Du verstehst mich nicht.“ Verena suchte nach Worten, um klarzumachen, was sie seit Monaten schon bedrückte. „Stünde dieses Glashaus nicht in Frankfurt, sondern irgendwo in Afrika, dann hätten wir Peewee schon längst vergessen. Er wäre wahrscheinlich schon tot, weil sich niemand um ihn gekümmert hätte. Nur weil er mitten in Deutschland wohnt – ich weiß nicht, wie ich es sonst sagen soll – schauen die Leute nach ihm und versorgen ihn. Anderswo krepieren die Armen.“

„In Frankfurt verrecken auch Stadtstreicher unter Brücken und erfrieren im Winter in Mülltonnen“, entgegnete Stefan, und fügte sarkastisch hinzu: „Als Bauherr hätte er sein Konsumloch besser ein bisschen größer gemacht, damit der ein oder andere Hungerhaken noch in seinen Wintergarten hineinkrabbeln kann.“

„Du denkst, das ist alles nur Show, nicht wahr?“

„Na klar, du glaubst doch nicht im Ernst, dass dein Peewee bis zum Letzten geht. Genau wie die Terroristen lässt der sich die Kanüle legen, wenn sein Hungerstreik kritisch wird. Wahrscheinlich hat er schon dafür gesorgt, wann und wie er da herausgeholt wird.“

„Nein, das glaube ich nicht. Als damals - 1972 - dieses Bild von dem flüchtenden vietnamesischen Mädchen zum ersten Mal im Stern erschien, waren Paul und ich zusammen. Dieses Foto hat ihn verändert. Es hat sein Leben geprägt. Wir waren gerade Teenager geworden, als das geschah, und nur wegen dieses Fotos wurde er Fotograf. Er würde diese Erinnerung niemals einsetzen, um eine Show daraus zu machen. Paul meint es ernst. Er hat es geschafft mit seinen Bildern und Projekten Menschen wachzurütteln. Doch das ist nicht genug. Passives Hinsehen genügt nicht, um etwas zu verändern. Das will er mit seiner Aktion, seiner Reduktion auf das Wesentliche, zeigen.“

***



Kurz vor den Weihnachtsfeiertagen nahm Paul Willmore keine Lebensmittel und Geschenke mehr durch den Nabel an. Ihm missfiel das wohlige Empfinden, in das sich viele seiner Gönner in diesen Tagen kleideten, und buntverpackte Berge bei ihm abladen wollten. Er empfand, dass diese Menschen aus Christenpflicht zu ihm kamen. Und gerade dieser religiöse Aspekt stand im krassen Widerstreit zu seinen Motiven. Der unterschiedliche Glaube der Menschen war in der Menschheitsgeschichte neben den Naturkatastrophen die Hauptursache für Kriege und Leiden. Daher war er Atheist und immer dann alarmiert, wenn es nach Weihrauch und Myrrhe roch.

„Die vielen Geschenke nehmen euch und mir die Sicht aufeinander“, teilte er einem Reporter mit, der ihn fragte, aus welchen Gründen der Nabel blockiert wäre. „Wenn ihr mich nicht mehr seht, ist es genauso, als wäre ich tot oder verschwunden.“

Der Artikel mit dieser Aussage erschien in der Weihnachtsausgabe der FAZ. Er hätte eher einem Gespräch mit Mutter Theresa oder dem Heiligen Franz von Assisi entnommen sein können; denn der Autor transportierte darin die Gedanken der Pflichterfüllung und der Enthaltsamkeit. Willmore, der Künstler mit dem Sprenggürtel, meinte dagegen Hinsehen und Handeln.

Seine Kritiker im Frankfurter Magistrat, allen voran den Kulturdezernenten Dr. Deuser, brachte diese Publizierung jedoch auf eine abstrakte Idee. „Was würde geschehen, wenn der Blick auf den Eremiten vergilben würde? Scheiben beschlagen, verschmutzen und werden trübe. Würde man Willmore nicht mehr sehen, wäre der Spuk seinem Ende ein gewaltiges Stück näher. Solange eine Kamera ihn erblicken kann, ist mit dem Mann ja nicht zu reden.“

Im Januar und Februar herrschte wochenlang klirrende Kälte in Frankfurt. Die Stadt sah sich gezwungen durch den Nabel Wärme und elektrische Energie in den Glaswürfel zu führen, um Willmore nicht erfrieren zu lassen. Die Kälte überzog das von innen erwärmte Glashaus mit unzähligen Eisblumen, die an manchen Tagen einen regelrechten Eispanzer bildeten. Die Natur besorgte, was sich die verschworene Gemeinschaft im Magistrat nur als abstraktes Gedankenspiel erlaubt hatte. Der Glaswürfel erblindete.

Tatsächlich ließ gleichzeitig der Besuch der Gönner und Zeugen am Ausstellungsgebäude als auch das Interesse der Medienvertreter erheblich nach, was sowohl Willmores These von der Dualität des Sehens und Handelns, als auch die Erwartungen seiner erbitterten Kritiker im Magistrat bestärkte. Vielleicht lag es auch nur an der Kälte und dem vielen Schnee, der die Anreise zum Sinai-Park selbst für die Anrainer beschwerlich machte. Tatsache war jedoch, dass über den Kubus im Dornbusch kaum noch in den Medien berichtet wurde.

Am Morgen des 28. Februar 2010, einem der ersten sonnigen Vorfrühlingstage, wandelte sich dies schlagartig. Der 11,03 m breite und genauso hohe sowie tiefe Kubus war über Nacht vollständig schwarz eingestrichen und damit gegen jeden Blick nach innen versiegelt worden. Ein Polizeihubschrauber kreiste über den Sinai-Park, und Polizeieinheiten sperrten die Fläche weiträumig ab.

Der Polizeipräsident und die Oberbürgermeisterin erklärten in einer gemeinsamen provisorischen Pressekonferenz, dass keine städtischen oder staatlichen Stellen für die Versiegelung oder Verblendung des gläsernen Ausstellungsgebäudes verantwortlich wären. Aus Gründen der Ordnung und Sicherheit wäre das Gelände hermetisch abgesperrt worden, und man bemühe sich bisher vergeblich mit Herrn Willmore, der nach wie vor mit einer Bombe in diesem Kubus vermutet wurde, Kontakt aufzunehmen.

„Wir gehen davon aus, dass es sich um eine Fortsetzung der Aktion dieses Künstlers handelt“, gab der Kulturdezernent der Stadt in Absprache mit dem Büro der Oberbürgermeisterin der Öffentlichkeit bekannt. „Eine Art Finisage

, sozusagen das Ende der Ausstellung. Wer außer dem Künstler und seiner Crew hätte die Möglichkeit, über Nacht den gesamten Glaskörper einzuschwärzen?“

„Heißt dies, dass Paul Willmore entgegen seiner ursprünglichen Erklärung sein Habitat verlassen wird?“ wollte ein Fernsehreporter wissen.

„Diese Frage kann Ihnen im Moment wohl niemand außer Herr Willmore selbst beantworten. Der hat es jedoch vorgezogen, sich schweigend in seinem Kubus zurückzuziehen. Oder er ist bereits verschwunden, was genauso gut der Fall sein kann. Wir haben, wie gesagt, keinen Kontakt zu ihm.“ Dr. Deuser hüstelte und wollte damit die Konferenz beenden. Doch der Fernsehreporter hakte nach.

„Bleibt das Gelände für die Besucher abgeriegelt und gesperrt? Wie wird Herr Willmore versorgt werden?“

„Diese Fragen müssen sie den Sicherheitskräften stellen. Ich bin nur der Kulturdezernent.“

„Bitte Herr Deuser, noch eine letzte Frage an Sie als Kunstsachverständigen: Welche Symbolik drückt sich darin aus, dass der gesamte Würfel erst durchsichtig und nun vollständig in schwarze Farbe eingehüllt ist?“ Der Kameramann nahm den Dezernenten frontal in Großaufnahme.

Dr. Deuser faltete die Hände und berührte mit den Spitzen seine Unterlippe. „ Lassen sie mich gleichnishaft antworten: Solange wir ihn in seinem Haus sehen konnten, war der Prophet real und einer von uns. Durch den schwarzen Schleier hat er sich abgeschieden und mystifiziert. Wir wissen nicht, was er tut und ob er überhaupt noch da ist. In kürze können wir nur noch glauben, er sei der wahre Prophet gewesen. Entweder wir vergessen ihn, oder er wird unser Gott. “

Impressum

Texte: Nachdruck (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autor. Fotos: Wikimedia commons Das Mädchen von Trang Bang Apple Store, 5th Av., NYC
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet meinen Freunden im Kerker. Ich schäme mich, nicht bei euch zu sein. Beitrag zum 16. Wortspiel auf www.bookrix.de

Nächste Seite
Seite 1 /