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Das Volksgefängnis


Seine Schuld lastete jahrelang auf seinem Gewissen. Es war eine öffentliche Schuld, die lange Zeit vergessen schien. Hermann Schäfer war ein Kuriosum, ein anonymer Sündenbock. Als er 23 Jahre alt war, wurde er mitschuldig am Tod des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Er selbst zweifelt an seiner Schuld nicht mehr, obwohl er niemals eine kriminelle Handlung begangen hat, geschweige denn Terrorist oder Sympathisant dieser Menschen war. Hermann Schäfer, der sich die Initialen mit seinem Opfer Hanns Martin Schleyer teilt, war 1977 Polizeiobermeister in der Fernschreibstelle der Kreispolizeibehörde Bergheim in Köln-Hürth, zuständig für den Ortsteil Erftstadt-Liblar, wo in dem Hochhaus Zum Renngraben 8 der Arbeitgeberpräsident in den ersten elf Tagen seiner Entführung von den Mitgliedern des RAF-Kommandos „Siegfried Haussner“ festgehalten wurde.

Bis heute ist nicht geklärt, wie es zu der folgenreichsten Panne der deutschen Kriminalgeschichte im September 1977 kommen konnte. Die Polizei hätte die Schleyer-Entführung bereits am zweiten Tag beenden können. Doch ein verlorenes Fernschreiben war die offizielle Ursache dafür gewesen, daß die Entscheidungsträger von einer solchen Chance keine Kenntnis hatten. Eine Verkettung unglücklicher Umstände. Menschliches Versagen. Eine Computerpanne, würde man heute sagen, aber das konnte man 1977 noch nicht phrasieren.

Schäfer kannte die Wahrheit und mußte seit 32 Jahren mit diesem Wissen leben. Die Hinrichtung Hanns Martin Schleyers, die Ermordung Jürgen Schumanns, der Tod von drei Flugzeugentführern der Landshut in Mogadischu, und der unglaubliche Selbstmord der vier Stammheimgefangenen hätten nicht folgen müssen, wenn er im Sommer des Jahres 1977 – acht Wochen vor dem Deutschen Herbst - nicht ein für die weiteren Begebenheiten völlig belangloses Fahndungsfernschreiben anstatt in seinem, im Namen seines Vorgesetzten abgeschickt hätte.

***

„Schäfer“, bellte sein Kommissar vom Dienst ihn an und hielt den Ausdruck eines Fernschreibens in seinen Händen, aus dem er vorzulesen schien. „Glückwunsch zur Beförderung in den gehoben Dienst.“ Schäfer war nicht befördert worden, das war klar. Er war erst seit kurzem POM und damit das kleinste Licht in der Hürther Einsatzzentrale, wo er seit einem halben Jahr seinen Dienst- und Erfahrungsjahren entsprechend in der Fernschreibstube eingesetzt wurde. Eingehende Fernschreiben ausdrucken und in den Postkorb des Empfängers legen. Ausgehende Fernschreiben per Lochstreifen erstellen, und das Fernschreibbuch führen.

„Entschuldigung“, antworte der Youngster achselzuckend, der bei seiner Bewerbung die Wahl zwischen Brokdorf oder Hürth hatte. Entweder als Gruppenführer in einer Hundertschaft im Reisebus nach Schleswig-Holstein fahren und monatelang eine AKW-Baustelle bewachen, oder heimatnah den Schreibstubendienst in der Einsatzzentrale leisten. Lieber wollte er in den Wach- und Wechseldienst, aber da gab es keine freien Planstellen, weil die Landesregierung sämtliches verfügbares Personal für die „Atom-Nein Danke“- und Terrorismusbekämpfung in den Hundertschaften festhielt.

„Sehen Sie, hier“, zeigte Polizeihauptkommissar Hallstein mit dem Zeigefinger auf das Fernschreiben. „Da steht sss, und hier“, er deutete in die Absenderzeile, „steht Schäfer, POM.“ Und nach einer kunstvollen Pause: „Und auf i.A. haben sie ganz verzichtet!“

„Oh, tut mir leid“, entschuldigte sich Schäfer, dem eingebleut wurde, daß er nur die einfachen eee-Fernschreiben, die innerhalb der Kreispolizeibehörde des Oberkreisdirektors in Bergheim blieben, im Auftrag mit seinem Namen und Dienstgrad abschicken durfte. Sein Fahndungsfernschreiben ging aber an alle Dienststellen in Nordrhein-Westfalen und sogar nachrichtlich an das Bundeskriminalamt, wo die Fahndung nach dem PKW bundesweit verknüpft wurde. Es hatte die Klassifikation „sss“ und mußte von einem Beamten des gehobenen Dienstes in der letzten Zeile namentlich gezeichnet sein. Auf dem FS zur Fahndungsausschreibung des gestohlenen BMW 320i im Kölner Vorort Hürth stand nur +bergheim, okd schäfer, pom+.

Hallstein, Kommissar vom Dienst in der Einsatzleitstelle Hürth, ließ sich von seinem Beamten den Lochstreifen für dieses Fernschreiben heraussuchen, der säuberlich zusammengerollt und mit einer Büroklammer befestigt in einer Schublade des Fernschreibtisches abgelegt war. Er verglich die handschriftliche Nummerierung mit der Nummer auf dem Papier, das er immer noch in Händen hielt, und zerknüllte dann den ca. 4 m langen gelben Papierstreifen.

„Damit sie es lernen: Das ganze Ding nochmals“, befahl er. Mit dem Lochstreifen wäre dies eine kurze einfache Angelegenheit gewesen, da in der Tat nur die letzte Zeile des Fernschreibens korrigiert werden mußte. Ohne den perforierten Streifen hatte er 40 Minuten konzentrierte Tipparbeit vor sich, weil er nun Zeichen für Zeichen das Lochmuster in einen neuen gelben Papierstreifen stanzen mußte. Und zusätzlich verlangte Hallstein ab sofort, daß er sämtliche sss-Fernschreiben vorgelegt bekam, bevor sie das Haus verlassen. „Geschwätz, Tippfehler und Unsachlichkeiten in meinem Namen gehen hier nicht mehr heraus, ist das klar, Schäfer?“

Schäfer nahm diese und weitere Schikanen seines direkten Vorgesetzten hin. Er konnte sich nicht direkt wehren, war er doch froh wenigstens in der Nähe seiner Dienststelle zu wohnen und nicht jedes Wochenende zu einem der Demonstrationeinsätze gehen zu müssen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er eine Planstelle im Einzeldienst bekommen würde.

***

Der 5. September 1977 war ein kalter Montag, mit 10 Grad Tagestemperatur viel zu kalt für die Jahreszeit. Die Heizung im Polizeipräsidium war noch nicht eingeschaltet. Die Topmeldung des Tages war der Start der Voyager 2 in Cape Canaveral, ein Ereignis, daß die Menschheit weiterbringen, aber für die Kölner Polizei ohne irgendwelche Auswirkungen sein sollte.

Um 17:31 Uhr änderte sich alles schlagartig. Über Notruf 110 wurde gemeldet, daß an einer Baustelle in der Kölner Vincenz-Statz-Straße eine wilde Schießerei stattgefunden habe. Anrufer sprachen von Krieg und weinten am Telefon. Ein Toter würde erschossen auf der Straße liegen und in den Fahrzeugen gäbe es weitere Erschossene. Das Ereignis im Ortsteil Lindenthal lag nur 15 km entfernt und drei Minuten zurück. Man zählte später vier Getötete und akribisch insgesamt 119 Schußabgaben aus Handfeuerwaffen und Maschinenpistolen. Allein der 41-jährige Personenschützer Reinhold Brändle hatte innerhalb von 90 Sekunden 60 Einschüsse in seinen Körper erhalten. Seine beiden Kollegen waren erst 20 und 24 Jahre alt. Der vierte Tote war der Fahrer von Hanns Martin Schleyer, für dessen Entführung den Terroristen kein Preis zu hoch schien. Für die Einsatzzentrale des PP Köln und der benachbarten Dienststellen begann der Ausnahmezustand, in dem sich kurz darauf das ganze Land befinden sollte.

Die Entführung des Präsidenten des Verbandes der deutschen Arbeitgeber versetzte sämtliche staatlichen und staatsnahen Einrichtungen und Personen in einen kollektiven Alarmierungszustand. Die Stadt Köln und ihr Umland glichen einer Festung. Öffentliches Leben war gelähmt. Es galt die Terroristen und das Entführungsopfer zu finden. Und der Staat, seine oberste Polizei, war – gewarnt und durch die Attentate auf Ponto und Buback - auf diese Situation nicht unvorbereitet.

Das Bundeskriminalamt ging davon aus, daß die Terroristen die üblichen Fahndungs- und Einsatzkonzepte der Polizei kannten. Im Besonderen die Polizeidienstanweisung für Ringalarmfahndungen. Ring deshalb, weil in einem Ring von 15 bis 20 km um den Tatort sämtliche Straßen gesperrt oder kontrolliert werden mußten. Dazu war die Polizei in allen Ballungsräumen Deutschlands innerhalb von 20 Minuten in der Lage. Die Terrorismusexperten des Bundeskriminalamtes schlußfolgerten, daß die Geiselnehmer nicht mehr als Luftlinie 15 km vom Tatort geflüchtet waren, bis sie in ihrem Versteck untertauchten.

Ferner hatte das BKA sich ein sogenanntes Raster ausgedacht, wie ein solches Terroristenversteck aussehen könnte, nämlich eine anonyme Wohnung in einer größeren Wohnanlage oder einem Hochhaus, das über eine Tiefgarage mit direkten Zugang zu den Appartments verfügte. Terroristen würden autobahnnahe Objekte bevorzugen und diese Wohnungen bereits einige Wochen zuvor angemietet haben. Man wußte sogar, daß die Miete und die Nebenkosten im Voraus und bar gezahlt werden mußten, da sämtliche aktive Terroristen der ersten und zweiten Generation bekannt waren und im Untergrund lebten. Sie hatten kein Bankkonto. Sie brauchten Mittelsmänner oder gefälschte Ausweispapiere. Und seit kurzem verfügte das BKA über seinen ersten Großcomputer, mit dem die Fahnder bundesweit sofort Personen- und Dokumentendaten überprüfen konnten.

Dieses Fahndungsraster der Polizei war top secret. Die international agierenden Terroristen hatten hiervon noch keine Kenntnis. Das Fahndungsraster war das As im Ärmel der Fahnder, und Horst Herold, der Präsident des Bundeskriminalamtes, versicherte dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, daß eine gute Chance bestehe, Schleyer mittels seiner computergestützten Fahndung finden und befreien zu können.


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Hallsteins Dienstgruppe wurde um 02:00 Uhr nach 19 Stunden ununterbrochener Schicht entlassen. „Um 7 Uhr geht’s weiter“, informierte Hallstein seine Männer. „Der Oberkreisdirektor hat angeordnet, daß bis auf weiteres sämtliche Freischichten entfallen und jeder Beamte im Einsatz ist, sofern er nicht schlafen muß oder abkackt!“ Nach einer kunstvollen Pause setzte der ehemalige Gefreite aus dem letzten Aufgebot Hitlers, dem Heer Großdeutschland, fort: „Wir sind im Krieg! Und die Front ist vor unserer Tür! Die Schweine sind ganz in der Nähe, und wir drehen jeden Stein um, bis wir sie finden. Solange hat jeder hier zu dienen bis er umfällt. Ist das klar?“

Schäfer haßte diesen Mann, der jetzt so richtig aufdrehte. Hallstein war ein autoritäres Arschloch, das seine sadistischen Triebe allzu oft nicht unter Kontrolle hatte. Was er im Krieg gemacht hatte, wußte keiner so genau. In den Nachtschichten wurde über alles Mögliche gesprochen, und die Älteren erzählten selbstverständlich von ihren Kriegserlebnissen. Bei Hallstein meinte man jedoch heraushören zu können, daß er es bedauerte, noch zu jung für den Krieg gewesen zu sein, so daß es nur zum Einsatz als 17-jähriger in der Kinderarmee des Führers langte. „Hauptsache dabeigewesen“, hatte er einmal stolz festgestellt.

Am ersten Tag nach der Entführung galt es, die flächendeckende Absuche im 15-Kilometer-Radius zu organisieren und zu steuern. Ein Großteil dieser Fläche lag im Erftkreis und die Einsatzleitstelle mußte gewährleisten, daß die zur Verfügung stehenden Beamten der Schutz- und Kriminalpolizei planvoll einen Ort nach dem anderen und Straße für Straße absuchen würden, um Wohnungen ausfindig zu machen, die in das Raster des BKA’s paßten. Der offizielle Befehl für diese Großrazzia lag zwar schriftlich noch nicht vor, aber die Aktion wurde vom Leitenden Polizeidirektor sofort gestartet, um keine wertvolle Einsatzzeit zu verlieren. Sämtliche Erkenntnisse liefen in der Hürther Einsatzleitstelle zusammen und wurden von hier per Fernschreiben an die angeschlossenen Abteilungen der Kriminalpolizei und an den Koordinierungsstab des NRW-Regierungspräsidenten und von dort an das Sonderkommando des Bundeskriminalamtes weitergeleitet.

POM Schäfer war trotz des vielfachen Arbeitsanfalls alleine in der Fernschreibstube. Seine Kollegen hatten mit Funk und Notruf, der vier mal so oft von den Bürgern angerufen wurde, als an normalen Tagen, reichlich zu tun, und es war keine Drückebergerei der anderen, daß der junge Beamte sich die Finger an seinem Fernschreibapparat wund schrieb und die Maschine pausenlos ratterte. Dabei wurde er ständig unterbrochen, weil ohne Unterlaß neue handschriftliche Benachrichtigungen und interne Fernschreiben bei ihm eingereicht wurden. Einen Computer oder Kopierer gab es in der Einsatzzentrale genauso wenig wie eine vernünftige Schreibmaschine. Es war 1977, Herbst, Chaostage, Ausnahmezustand. Und der Bundesinnenminister, Herr Maihöfer, war auch an diesem Tag im Hause.

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Bereits am Tag zwei der Entführung lagen die Nerven in der Einsatzzentrale blank. Weil ein Beamter ungefragt den Kugelschreiber seines Kollegen benutzte, um sich Notizen zu einem Telefongespräch zu machen, hätte es beinahe eine Schlägerei gegeben, die nur dadurch verhindert wurde, daß eine Kaffeetasse am Funkeinsatztisch umfiel und schleunigst die Flüssigkeit mit Papiertüchern aufgesaugt werden mußte, damit die Brühe nicht in die Apparatur hinein lief.

Hallstein erkannte, daß seine Männer auf dem Zahnfleisch gingen. „Hört mal zu, Leute“, ermunterte er die Mannschaft. „Der Schleyer hat verdient, daß wir uns für ihn am Riemen reißen. Ihm geht es jetzt in diesem Moment wahrscheinlich schlechter als uns allen zusammen. Aber er wird das durchstehen, und deshalb müssen wir es auch durchstehen.“

Gewöhnlich gingen solche Reden Hallsteins bei den Beamten in das eine Ohr hinein und genauso durch das andere hinaus. Diesmal gab es aber eine, wenn auch unerwartete Wortmeldung eines Kollegen. „Woher willst du das wissen?“ lautete die lapidare Frage.

„Schleyer war Gebirgsjäger im besetzten Frankreich und wurde danach Offizier, SS-Offizier“, verriet Hallstein stolz. „Er war schon einmal in Geiselhaft. Drei Jahre lang bei den Franzosen, Internierungslager, bis man ihn wieder rübergelassen hat. Der hält das durch! Heute Nacht hat man das Fluchtauto in Köln, im Wiener Weg 1, gefunden. Es gab keine Blutspuren. Schleyer ist gottseidank unverletzt. Aber das ist top secret!“

Schäfer, der in seiner Stube die Ansprache mitanhören mußte, wurde es schlecht. Ausgerechnet Schleyer mußte ein alter Nazi sein. Der Fernschreibbulle, wie er sich selbst bei seinen eher links orientierten Freunden und Bekannten titulierte, glaubte seinem Chef dessen Ausführungen unbezweifelt. In seinen Augen war Hallstein, auch wenn er bei Kriegsende noch nicht volljährig war, ein Nazischwein. „Wenn nicht schon damals, dann ist er es in der Nachkriegszeit geworden“, vermutete er einmal einem Freund gegenüber. Und gerade in seinem Verein, der Polizei, wimmelte es ja noch reichlich an braunen Brüdern, so daß eine solche Gesinnung eher der Karriere förderlich war.

Das Fernschreiben Nr. 827, das bei Schäfer gerade herein kam, war die Erkenntnismeldung des Polizeihauptmeisters Ferdinand Schmitt, der die Wohnanlage Zum Renngraben 8 in Liblar überprüft hatte. Kollege Schmitt teilte seinerseits per eee-Fernschreiben der Kriminalabteilung in Hürth mit, daß er sich bei der Hausverwaltung weisungsgemäß nach Auffälligkeiten in letzter Zeit informiert und einen Volltreffer gelandet habe. Das Appartement 104 im dritten Stock war im Juli von einer jungen Frau namens Annerose Lottmann-Bücklers angemietet worden. Wörtlich hieß es darin: „Die 800 Mark Kaution sind in bar mit einem Bündel Geldscheinen bezahlt, und beim Einzug keine Möbel in die Wohnung getragen worden.“

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Diese heiße Spur kam wenige Stunden nach einem FS des PP Köln, nachdem der Fluchtwagen, in dem Schleyer abtransportiert wurde, ein weißer VW-Kombi mit dem amtlichen Kennzeichen K-C 3849, von einer Autoverleihfirma im Erftkreis stammte. Die Schlüssel dazu wurden den Mietern, offensichtlich den Terroristen, im Uni-Center Köln übergeben. Es lag nahe, daß die Entführer auch dort eine Wohnung haben mußten.

Der Fernschreibbulle Schäfer hatte keinerlei Sympathien für die Terroristen. Aber er hegte auch keinerlei Sympathien für das Entführungsopfer, das ihm allenfalls Leid tat. Schuld daran war die Heroisierung, die Hallstein, sein Kommissar vom Dienst, mit der Person des entführten Arbeitgeberpräsidenten betrieb. Und das in doppelter Hinsicht. Schäfer hasste Hallstein, und er hatte nichts für ehemalige SS-Soldaten übrig.

Dennoch freute sich Schäfer, als das Erkenntnisfernschreiben Nr. 827 des Kollegen Ferdinand Schmitt mit dem Hinweis auf einen „Volltreffer“ bei der Rasterfahndung eintraf. Sein Chef Hallstein brachte dieses Fernschreiben und den Hinweis auf die Autovermietung persönlich zur Kriminalabteilung, wo sogleich eine Besprechung darüber stattfand, wie man diese Informationen umsetzen sollte.

Zurück in der Einsatzleitstelle rief der euphorisierte Kommissar vom Dienst seinen Fernschreibbeamten zu sich und diktierte ihm das erste Blitzfernschreiben seines Lebens. FS mit der Kennung bbb haben absoluten Vorrag und werden bei der Ankunft sogar mit einem fünffachen Klingeln aus dem Fernschreiber angekündigt. Sie müssen nicht an den Fernschreibknotenstellen des Polizeisondernetzes anhalten und für den weiteren Versand in die übergeordneten Netze freigegeben werden, sondern kommen direkt bei den Empfängern an.

„Schäfer, sie schreiben: Betr.: Hinweis auf eine möglicherweise von Terroristen angemietete Wohnung in Erftstadt-Liblar, Zum Renngraben 8. Nächste Zeile, Bezug: hiesiges FS Nr. 827. Und im Textfeld steht: Nach hiesiger Lagebeurteilung könnte es sich bei der Wohnung Nr. 104 im dritten Stock des obigen Hochhauses um einen konspirativen Unterschlupf von Terroristen handeln. Bitten um weitere Weisungen. Absender KPB Bergheim, i.A. Hallstein, PHK. Erledigen sie das sofort, und Gnade ihnen, wenn sich ein Rechtschreibfehler einschleichen sollte.“

Schäfer erledigte den Auftrag sofort und ohne Rechtschreibfehler. Er schickte das schnörkellose Blitzfernschreiben direkt an das Sonderkommando des BKA in Köln. Nun wartete man gespannt auf eine Reaktion, die jedoch nicht kam. Hallstein wurde nervös, rechnete er doch damit, daß jeden Augenblick sein Telefon klingeln müßte. Es tat sich aber nichts dergleichen.

Kurz vor 19 Uhr rief er den Polizeidirektor an und machte die Fehlmeldung: „Bis jetzt keine Reaktion vom BKA. Wir müssen warten.“

„Die werden die Meldung doch nicht als irrelevant ansehen“, analysierte der Polizeidirektor rasch.

„Ich denke eher, die wollen sich die Lorbeeren alleine einkassieren. Herold hat sich ja, wie man hört, ganz schön weit aus dem Fenster gelegt, was die Erfolgsaussichten seiner Fahndung angeht. Vielleicht sind die ja schon vor Ort und sagen bloß nicht Bescheid.“ Hallstein hatte mit fremden Dienststellen schon einige Erfahrungen in dieser Richtung gemacht.

„Was nützt alles Spekulieren, lieber Hallstein. Wir warten.“ Damit verschob der Polizeidirektor alle weiteren Maßnahmen auf den nächsten Tag.

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Der Streifenpolizist PHM Schmitt wohnte nicht weit entfernt vom Rennstall 8 in Liblar. Spät abends ging er mit seinem Schäferhund Gassi und völlig privat an dem 120-Wohnungen-Hochhaussilo vorbei. Er musterte die geparkten Fahrzeuge und die Fenster im dritten Stock. In „seiner“ Wohnung brannte Licht, aber die Vorhänge waren zugezogen. Er sah keine Zivilbeamten und hätte auch nicht sagen können, daß irgendetwas an diesem Abend die bevorstehende Stürmung der Wohnung ankündigte. Waren schon gut, die Jungs vom BKA, dachte er sich.

Am nächsten Vormittag geschah immer noch nichts. Die Zeitungen waren voll mit Berichten über den Stand der Schleyerfahndung, aber alles nur Spekulationen und Meinungen von sogenannten Fachleuten. Die Wirklichkeit war, daß die Politik auf Zeit spielte. Schmitt konnte nicht verstehen, daß sich in seinem Bezirk gar nichts regte. Er griff schließlich zum Telefon und fragte informell bei der Einsatzleitstelle in Hürth nach, was aufgrund seiner Meldung geschehen war.

„Der Alte selbst hat dein Fernschreiben zur Kripo gebracht. Es gab eine Besprechung, und Hallstein kam zurück mit dem Auftrag, per Blitzfernschreiben das BKA zu informieren“, verriet ihm einer der Funker unter der Hand. „Wir wundern uns selbst, daß noch keine Rückmeldung gekommen ist. Hallstein vermutet, daß das BKA die Sache alleine erledigen will oder erstmal nur beobachtet. Andernfalls hätten die deine Meldung als irrelevant eingestuft, aber das kann ja nicht sein.“

Schmitt ging ein drittes Mal zum Hausmeister der Wohnanlage, von dem er seine Informationen bezogen hatte. „Und Herr Korn, hat sich das BKA schon bei Ihnen gemeldet?“ Schmitt konnte nicht glauben, daß der Hausmeister den Kopf schüttelte. „Mensch, das gibt es doch nicht!“ mißtraute Schmitt seinem gesunden Menschenverstand. Vom Hausmeisterbüro aus rief er direkt bei der Kriminalabteilung in Hürth an und schlug den Kollegen vor: „Der Hausmeister kann denen Strom und Wasser abstellen. Dann müssen die Ratten raus aus ihrem Loch, und man sieht, wer in der Wohnung ist. Das ist doch vollkommen einfach. Wollen wir das nicht mal probieren, falls die Herren vom BKA noch mehr Details brauchen, um sich endlich entscheiden zu können.“

„Sie machen überhaupt nichts, Schmitt! Ist das klar?“ verhinderte der Kriminalbeamte jegliche Aktion. „Federführend ist das BKA, und die wissen Bescheid. Basta. Wir bleiben in Bereitschaft und warten.“ Und nochmals: „Ist das klar?“

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Das Warten wurde auch in der Einsatzleitstelle Hürth geübt. Man hörte, daß die Wohnung im Kölner Uni-Center positiv überprüft wurde. Die Terroristen waren dort nicht mehr angetroffen worden, und es war unklar, ob Hanns Martin Schleyer in dieser Wohnung versteckt gewesen war. Sicher war sich die Polizei nur, daß dort der Fahrzeugtausch stattgefunden hatte und die Terroristen über mehrere Wochen auf der gleichen Etage mit der bekannten Hochspringerin Ulrike Meyfarth gewohnt hatten.

Schmitt erfuhr nach einer Woche von Hausmeister Korn, daß „die Vögel“ wahrscheinlich ausgeflogen waren. Elf Tage lag die Entführung nun schon zurück, und außer seinem Hinweis auf die Lage des von den Terroristen als „Volksgefängnis“ bezeichneten Verstecks gab es keine heiße Spur mehr. Die Polizei war zwar immer noch sehr aktiv, aber mehr als das war es in der Tat nicht: reiner Aktivismus für die Medien.

Schmitt meldete auch diese Erkenntnis an die Leitstelle in Hürth, wo man nur noch gereizt reagierte, wenn man auf die Wohnanlage in Liblar zu sprechen kam. Die Autorität, die das BKA bis in die kleinste Amtsstube in diesen Tagen ausübte, ist im Nachhinein nicht mehr zu verstehen. Doch genau wie Hanns Martin Schleyer sich in einem terroristischen Gefängnis befand, standen auch die Polizeien der Kommunen und Länder in einer Art „Volksgefängnis“, hervorgerufen durch die unantastbare Autorität der obersten Bundesbehörde. Wer es auch nur wagte an der Kompetenz Herolds und seiner Leute zu kratzen, machte sich bereits des internen Verrats verdächtig.

Darum, und weil er auch keine andere Möglichkeit wußte, machte PHM Schmitt seinen Dienst, wie man es von ihm erwartete. Und er blieb auch stumm, als man ihn am 8. November 1977 – drei Wochen nach den Morden und der Entführung in Köln-Lindenthal - kurzfristig in Urlaub schickte. Das BKA hatte an diesem Tag das „Volksgefängnis“ offiziell entdeckt. Und Schmitt mußte abermals Urlaub machen, als ein Untersuchungsausschuß sich mit der unglaublichen Polizeipanne beschäftigte, die sich im Semptember 1977 im Erftkreis zugetragen hatte.

***

Hermann Schäfer, Polizeiobermeister in der Fernschreibstelle Hürth, über dessen Fernschreibautomaten diese wichtigen Meldungen ratterten, und der genau Buch über die Ein- und Ausgänge geführt hatte, und der einmal in seinem Leben ein Blitzfernschreiben mit der Kennung bbb abgesetzt hatte, und der wie jeder andere Beamte der Einsatzleitststelle auch mehrfach befragt und vernommen wurde, wie es zu der Panne hatte kommen können, machte genauso unbeholfene oder unwissende Angaben wie die anderen Kollegen. Nur Hermann Schäfer wußte, warum Hanns Martin Schleyer nicht in den ersten Tagen seiner Gefangennahme befreit werden konnte.

Der Polizeibeamte Schäfer blieb bis zum 24. März 2000 im Dienst. Bereits im Frühjahr 1978 wurde er zur Polizeiwache Süd in Köln-Mitte versetzt. Er heiratete nie und kam auch nicht in den Genuß einer wilden Ehe. Schäfer blieb kinderlos und alleine.

Am elften Tag der Schleyerentführung, als Kollege Schmitt ergänzend mitteilte, daß „die Vögel“ mittlerweile ausgeflogen waren, hatte er noch einmal das alte Blitzfernschreiben aus dem Ordner geholt und festgestellt, daß ihm ein folgenschwerer Fehler unterlaufen war. Er hatte ein Pluszeichen in der letzten Zeile des Blattes, der Absenderadresse, vergessen. Das Dokument war dadurch unvollständig und nicht versandfähig. Normalerweise hätte er diesen Fehler spätestens bemerken müssen, als er den Lochstreifen durch den Fernschreibautomaten rattern ließ und keine QSL-Quittung erhielt. Wegen des hohen Fernschreibaufkommens kam es zu Beginn der Schleyerfahndung jedoch zu einem regelrechten Datenstau, und diese Quittungen ließen mitunter Stunden auf sich warten. Schäfer machte, was sehr viele Fernschreibbullen in solchen Fällen taten; er trug die QSL-Quittung manuell über die Tatstatur ein. In Wirklichkeit hatte das Fernschreiben die Amtsstube nie verlassen.

Dieses Wissen verbunden mit der Schuld am Tod Hanns Martin Schleyers, mit dem sich der vermeitliche Helfershelfer der Terroristen sogar die Initialen teilte, quälte Schäfer durch alle Jahre und machte ihn unfähig normal zu leben. Seinen Fehler hatte er vertuschen können. Aber er funktionierte nicht mehr für seine Mitmenschen und für sich.

Nach einem Verkehrsunfall im Jahre 2001, durch den er polizeidienstunfähig wurde, verbrachte der Frühpensionär Tag und Nacht vor dem Computer und wurde täglich daran erinnert, wie einfach die Fahndung nach den Terroristen 1977 gewesen wäre, wenn man damals diese Technik gehabt hätte. Stattdessen mußte er damals mit Lochstreifen und Pluszeichen arbeiten. Im Computer-Portal HEFATA hatte Schäfer die Möglichkeit sich anonym die Lasten von der Seele zu schreiben. Zaghaft erzählte er von seiner früheren Tätigkeit, vom Kadavergehorsam auf der Dienststelle, den verlogenen Pressemitteilungen der Polizei, deren Dilettantismus er allenthalben miterlebte, und über sogenannte Ermittlungspannen.

Nach 14 Tagen des Öffnens bekam Schäfer Besuch in seiner Kölner Zweizimmerwohnung. Zwei Beamte des Bundeskriminalamtes stellten sich vor und wiesen Schäfer darauf hin, daß er sich schwerer Dienstvergehen schuldig machen würde, wenn er weiterhin in der Öffentlichkeit über polizeiliche Angelegenheiten philosophieren würde. Man riet ihm dringend von solchen Äußerungen gleich mit oder ohne Namensnennung Abstand zu nehmen. Die ganze Sache könnte auch rechtliche Konsequenzen haben – nicht nur in Hinblick auf seine Pension -, wenn sich herausstellen sollte, daß an dem ganzen Kram etwas dran wäre. Kurzum: Schäfer wurde zum Schweigen verpflichtet. Seine Mitgliedschaft bei HEFATA war bereits beendet.

Schweigen gelang ihm nur eine Weile. Im Jahre 2007, zum dreißigsten Jahrestag der Schleyerentführung, waren die Medien überfüllt von Rückblicken auf den Deutschen Herbst. Schäfer konnte im Fernsehen beobachten, wie ehemalige Terroristen als freie Menschen ihre Gefängnisse verließen und in Talkshows gern gesehene Gäste waren. Ihre Schuld interessierte nicht mehr. Man hatte ja einen anderen, einen anonymen Sündenbock, der damals die großartige Polizeipanne verursacht hatte. 30 Jahre nach Schleyer sprach man wieder von dem verschwundenen Fernschreiben.

Schäfer begab sich in psychiatrische Behandlung. Nach acht Sitzungen, die er privat bezahlen mußte, sagte ihm sein Psychotherapeut: „Herr Schäfer. Sie versuchen Erlebtes zu verdrängen. Ihre Depressionen, ihre jahrelange Dissonanz, ihr Versagen im Alltag, sind nicht die Folgen dieser Erlebnisse, sondern das ist das Resultat der immerwährenden Verdrängung. Konnten sie jemals einen flüchtigen Verbrecher in Abwesenheit fangen? Hat jemals ein Verurteilter in Abwesenheit seine Strafe verbüßt?“ Beide Fragen waren rhetorisch. Der Psychotherapeut beendete die Sitzung mit der Feststellung: „Ich werde ihnen nicht mehr helfen, in ihrem Gefängnis zu bleiben. Wenn sie wiederkommen, werden wir beginnen den Verbrecher in ihnen mit einem Richter zusammen zu führen.“

Verbrecherjagd war sein Metier. Schäfer brachte alles hervor, an das er sich erinnern konnte. Er faßte es in einen Roman zusammen, den er auf STORYBOARD.de, einem Forum für Hobbyschriftsteller, unter Pseudonym veröffentlichte. Hier, wo der schriftstellerische Anspruch eher gering war, hoffte er auf seinen Richter, die Volksmeinung, zu treffen.

Es dauerte diesmal nur drei Tage bis das BKA auf den Roman reagierte. Die beiden Beamten waren genauso jung wie ihre Kollegen sechs Jahre zuvor. Nur diesmal brachten sie eine schriftliche Unterlassungserklärung mit, die Schäfer gegenzeichnete, ohne die Möglichkeit der vorherigen Beratung oder wenigstens eine Nacht gehabt zu haben, in der er hätte darüber schlafen können. „Entweder sie unterschreiben, oder sie gehen vor Gericht. Glauben sie uns, wir haben das schon x-mal durchgezogen. Es ist besser sie unterschreiben und halten die Fresse.“

Für die Politik war es offensichtlich wichtiger, daß die Bevölkerung weiterhin an die Überlegenheit seiner Sicherheitseinrichtungen glauben konnte, als die Wahrheit zu erfahren. Politiker sprachen ja auch nicht mehr von der Sicherheit als solcher, sondern immer häufiger von der Sicherheitslage und dem Sicherheitsgefühl der Bürger. Diesen Einwand, den Schäfer als letzte Verteidigung hervorbrachte, ließen die beiden jungen Beamten nicht gelten. „Schließlich“, beendeten sie die Pseudodiskussion, „haben sie kaum auf Senden gedrückt, da wußten wir schon, wer und wo sie sind.“

***

Der Frühpensionär Hermann Schäfer sprach nie mehr mit einer Menschenseele über seine Vergangenheit, seine Seele und seine ewige Schuld. Er vergrub beharrlich sein Wissen in seinem Herzen, einer Mördergrube, wie er feststellte. Er sprach auch nicht mehr durch die Blume oder zwischen den Zeilen. Schäfer schwieg, wähnte Spione nicht nur in seinem Computer sondern auch am Telefon und letztlich in allen Wänden seiner Wohnung, die ihn zu einem Gefangenen machten. Er verließ sein Gefängnis am 30. November 2009, hingerichtet durch die eigene Hand, in einem Zinnsarg auf dessen Deckel als letztes Geheimnis ein großes Pluszeichen erinnerte. Nach 32 Jahren ging Schäfer nur zehn Kilometer vom Tatort der Entführung entfernt letzlich doch ins Netz der Fahnder.

Impressum

Texte: Alle Rechte beim Autoren. Nachdruck und Veröffentlichung (auch auszugsweise) nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung.
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Krimifiktion befaßt sich mit dem düstersten Kapitel der deutschen Kriminalgeschichte. Weil ein Fernschreiben nicht beim Sonderkommando des BKA ankam, wurde das "Volksgefängnis", in dem Hanns Martin Schleyer von RAF-Terroristen versteckt wurde, drei Wochen zu spät entdeckt. Der Arbeitgeberpräsident wurde hingerichtet. Wie konnte es dazu kommen?

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