Im ZDF lief Karnevalissimo – Lachen am laufenden Band
. Frank Märtle legte ahnungsvoll die Programmzeitschrift weg und malte sich den weiteren Verlauf dieses Abends aus. Es würde wieder laut werden. Zwanghaft laut, krankhaft laut, abartig, wie es nun einmal bei dieser bekloppten Nachbarsfamilie Doll immer zuging. Karneval im Fernsehen bedeutete in diesen Mauern Lärm. Richtigen Lärm. Nichts war normal, nicht mal annähernd normal.
Märtle interessierte sich nicht für das stupide Dsingderassa. Er schaute mit seiner Frau auf VOX Goodbye Deutschland: Die Auswanderer
, ein Gedanke, der ihn in letzter Zeit immer häufiger beschäftigte, nachdem sich seine Doppelhaushälfte als unverkaufbar und wegen dieser Nachbarn sogar als nicht vermietbar herausstellte. Wer wird schon freiwillig Mitbewohner dieser Leute? Wie er es erwartet hatte, drangen lautes Gegröle, irres Grunzen sowie undefinierbare tierische Laute aus der anderen Hälfte des Doppelhauses in seine Wohnung. Kein Lachen am laufenden Band, wie es der Titel der Sendung versprach, sondern Terror, den er seit zehn Jahren ertrug. Das war kein Leben mehr. Er existierte Wand an Wand mit Dämonen.
Gegen Zehn drehte er sich die Stöpsel in die Ohren, ohne die an Schlafen gar nicht mehr zu denken war. Seine Frau schaute noch Stern- und Spiegel TV
, und ab 23 Uhr wußte Märtle trotz Ohrenstöpsel, daß in der Nachbarwohnung Neues aus der Anstalt
lief. Er wälzte sich noch ein paar Mal hin und her, konnte trotz Ohrenstöpsel nicht einschlafen und ging schließlich wieder ins Wohnzimmer, um auf VOX CSI: New York
, die Folge „Stumme Zeugen“ zu sehen.
Seine Frau Ilona war auf dem Sofa eingeschlafen, und bei ihm lösten die Titel der Sendungen Kopfkino aus. „Anstalt“, „Auswandern“, „Stumme Zeugen“, „Lachen am laufenden Band“. Seine Sendung war noch nicht ganz zu Ende, da riß ihn der laute Schrei „Rache für meine Tochter“ aus seinen schläfrigen Gedanken. Doll schrie diesen Satz in seiner Wohnung heraus und lachte haltlos. War sie tot, dieses teuflische autistische Wesen? Diese Frau, deren Krankheit das Leben in diesen Kerkermauern diktierte?
Märtle stellte den Fernsehton ab und lauschte. Der Fernseher drüben lief. Er lief immer. Märtle zappte, bis er den gleichen Film fand. Rache für meine Tochter
, ein Polizeifilm im ZDF. Sie war nicht tot. Nie würde sie tot sein. Genauso wenig wie diese Familie niemals stumm sein würde. Könnte er es, würde er ihnen allen die Zungen herausreißen. Der Dämon in ihr schien Märtle zu hören; denn die Frau lachte nun laut und gräßlich wie eh und je. Märtle hielt sich die Ohren zu und wimmerte. Würde dieser Wahnsinn nie zu Ende gehen.
Er wählte Dolls Nummer. „Wenn Du mir was zu sagen hast, dann komm’ doch herüber“, verhöhnte ihn der Nachbar.
Märtle zog sich Hose und Jacke an und stürzte mit dem Schlafanzug darunter wutentbrannt zur Nachbarstür. „Seien Sie endlich ruhig!“ forderte Märtle mit geballten Fäusten.
„Sonst?“ fragte Doll grinsend. Märtle hatte ihn vor Jahren schon erfolglos angezeigt und über einen Rechtsanwalt wegen des Lärms angeschrieben. Dreimal hatte er die Polizei angerufen, und wurde zuerst vertröstet und schließlich direkt abgewiesen. Und auch das Ordnungsamt wollte ihm nicht helfen, da seine Beschwerden sich auch gegen eine Behinderte, eine Autistin, richteten. Und den Vermieter von Doll’s Wohnung interessierten die Streitigkeiten nicht.
„Sonst bringe ich sie um!“ knirschte Märtle zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus.
„Umbringen?“ lächelte Doll. „Da warte ich schon lange drauf!“ sagte er, als ob die Tötung ein Gefallen für ihn wäre. „Warte mal!“ ließ er den Jüngeren in seinem Flur stehen und kam nach nur zwanzig Sekunden mit einer Pistole zurück. „Wenn du mich erschießen willst …“, hielt er ihm die Handfeuerwaffe entgegen, „… die ist geladen und entsichert. Du mußt nur noch abdrücken“, meinte er völlig ernsthaft. „Aber der Knall wird dich verraten. Der Schuß wird dich als meinen Mörder entlarven. Puff! Das war’s dann. Auch für dich. Lebenslänglich.“
Märtle griff nach der Pistole. Sie zitterte in seiner Hand. Sein Nachbar machte keinerlei Anstalten sich gegen die mögliche Schußabgabe zu wehren. Das Zittern wurde immer stärker. Frank Märtle war Kriegsdienstverweigerer, weil er glaubte nicht töten zu können. Er hatte niemals zuvor eine echte Schußwaffe in Händen gehalten. Und nun stand er in diesem Tollhaus mit der ausgesprochenen Drohung: „Sonst bringe ich sie um!“ Er könnte es. Das wußte er jetzt. Er zitterte nicht, weil ein Mensch durch seine Hand umkommen würde, sondern er vibrierte, weil dieser Bastard die Oberhand hatte, und nicht er. Märtle brauchte einen Plan, eine Regel, die er einhalten konnte. Das Wissen, daß am Ende nichts Unvorhersehbares eintreten würde. Märtle brauchte die Kontrolle.
„Schlappschwanz!“ verhöhnte ihn Doll abermals. Er ging zwei Schritte auf den Buchhalter zu, umfaßte die Hand, die die Pistole hielt und drückte den Lauf gegen seine Brust, dort wo das Herz ist. „Drück’ ab!“ spukte er ihm ins Gesicht. „Drück’ ab!“
***
In seinem Büro war es absolut still. Der Buchhalter hatte kein Radio und auch keine Lautsprecher für seinen Computer. Er konnte das Ticken seiner Wanduhr hören. Das war das einzige permanente Geräusch, das er hier zuließ. Während der Frühstückspause am nächsten Tag las Doll am Computer die Nachrichten. Eine Form von Erbarmungslosigkeit
war die Überschrift zu einem Artikel über den „Fall Eluana Englaro“ in Italien, einer jungen Frau, deren Körper ohne Bewußtsein fortexistieren sollte, obwohl er von Jahr zu Jahr mehr verfiel. Nach einem entwürdigenden, nicht enden wollenden Rechtsstreit, war einige Tage zuvor die zwangsweise Ernährung der Komapatientin eingestellt worden. Für die einen waren die Eltern, die solches verlangten, Mörder. Für die anderen waren sie die eigentlichen Opfer. Von mangelnder Mitleidsfähigkeit gegenüber der Familie war die Rede, und Märtle fühlte sich angesprochen und verstanden.
Er hätte abdrücken können, ohne jeden Zweifel. Der Preis dafür: Seine Freiheit, die keine Freiheit mehr war, seit nunmehr zehn Jahren, weil niemand ihn hier verstand. Er hatte kein Mitleid mit seiner Nachbarsfamilie, die sein Leben zerstört hatte. Und er wußte, dass niemand mit ihm Mitleid haben würde, weil niemand die Situation verstehen konnte – außer vielleicht diese Familie im fernen Italien, die auch zu Mördern werden mußten, um barmherzig zu sein.
Märtle akzeptierte, dass auch er morden mußte, um Frieden für sich und seine Familie zu erlangen. Doch der Tod des Nachbarns alleine hätte nichts bewirkt. Die Tochter und am besten auch die Mutter mußten ebenfalls verschwinden. Stumme Zeugen
. Alle drei mußte er zum endgültigen Schweigen bringen. Drei Menschenleben standen zur Disposition. Das Schicksal dieses Mädchens in Italien zeigte ihm, dass Mord durchaus die barmherzigere Lösung sein konnte. Und nichts anderes als Mord war der Entzug der Nahrung für die Komapatientin. Es gab Menschen auf dieser Welt, die seine Tat, wenn sie offenbar wäre, verstehen könnten. Märtle war kein Monster. Er war wie diese Eltern.
Und weil er kein Unrecht begehen würde – genauso wenig wie Eluanas Eltern – war Märtle nicht bereit für seine Befreiung ins Gefängnis zu gehen. Dafür liebte er seine Familie zu sehr. Die Abschaltung der Nachbarn mußte in aller Stille und unbemerkt geschehen. Er hatte Dolls Pistole mitgenommen. Dummerweise mußte er sie mit einem Lappen sorgfältig abwischen, um seine Fingerabdrücke zu beseitigen. Und unweigerlich hatte er auch die Fingerabdrücke seines Nachbarn damit entfernt, so dass seine erste Idee an diesem Morgen, ein inszenierter Selbstmord nach einer Familientragödie, nicht mehr ausführbar war. Eine säuberlich abgewischte Schußwaffe hätte die Polizei mißtrauisch gemacht.
Außerdem hatte Doll mit seiner zynischen Analyse Recht, dass die Schüsse ihn verraten würden. Sie wären in der stillen Nacht weithin gehört worden und ein Verdacht auf ihn, den direkten Nachbarn, gefallen. Also brauchte er einen Schalldämpfer, und kein Selbstmörder benutzt ein solches Zubehör. Ein Schalldämpfer war notwendig, um den Mündungsknall zu dämpfen, und Märtle gab in die Suchmaschine seines Computers ein: „ Mündungsknall Schalldämpfer Silencer“. So fand er die Seite von Gunshots.net, die ihn auf die Idee brachte, selbst ein solches Gerät herzustellen. Ein genialer Gedanke, wie er fand. Ein Gedanke, der die Schmach wettmachte, die er empfand, als er in dieser Nacht zitternd und demoralisiert nach Hause kam, ohne abgedrückt zu haben.
In den nächsten Wochen beschaffte er sich Zeitschriften und Bücher über die Technik und den Selbstbau von Schalldämpfern und Subsonic-Munition, die es in einer verblüffend großen Zahl sogar in deutscher Sprache gab. Parallel dazu wurde es im Nachbarhaus auffällig ruhiger. Die Fastenzeit zog auch dort ein, und es wurde merklich Lärm unterlassen. Die Dämonen schienten zu spüren, dass etwas im Gange war.
***
Das Osterwochenende verlief gespenstig ruhig. Mehrmals lauschte Frank Märtle an der Wand, ob seine Nachbarn zu Hause waren. Während der gesamten Zeit ihres Nebeneinanderwohnens war diese Familie niemals verreist oder hatte ihrerseits Besuch bekommen. Armin Doll war eine Zeitlang beruflich im Ausland gewesen, hieß es. Aber seine Frauen waren da, und damit war auch der Lärm im Haus. Nichts änderte sich in diesen Monaten, außer dass Märtle keinen Ansprechpartner hatte. Doch ab Gründonnerstag war es totenstill hinter seiner Wand.
Die Ruhe endete schlagartig am Ostermontag. Ilona und Frank Märtle waren gerade zu Bett gegangen, um zu tun, was Mann und Frau hin und wieder tun, als aus der Nachbarwohnung überlaut Händel’s Messias-Oratorium
durchbrochen vom Kreischen und Röhren der beiden Frauen die Wände durchdrang, und Märtle senkrecht im Bett saß. Die Teufelinnen tobten wieder. Die Lust war dahin. Märtle wollte nicht mehr, und er hätte es auch nicht mehr gekonnt.
Das Ehepaar setzte sich im Wohnzimmer vor den Fernsehapparat. Märtle schaltete VOX ein. „Ich halte das nicht mehr aus“, gestand Märtle seiner Frau. „Ich drehe noch durch.“
„Wir müssen hier weg“, pflichtete Ilona ihm bei. „Wir ziehen woanders hin.“
„Und das Haus?“ Bis auf eine kleine Schuld war die Immobilie abbezahlt. Doch solange das Haus nicht verkauft war, fehlte das Kapital für einen Neuanfang.
„Irgendwann finden wir einen Käufer“, machte Ilona ihrem Mann Hoffnung. „Kommst du am Wochenende mit den Kindern und mir zum Softballturnier mit?“ fragte sie, um Märtles Gedanken zurück in die Gegenwart zu lenken. Die Familie nutzte die Auswärtsspiele ihres Sportvereins häufig, um mit den Kindern ein Wochenende in einer Jugendherberge oder einer preisgünstigen Pension zu verbringen. Ihr Mann stierte nur in den Fernseher auf den Titel der Sendung: Criminal Intent: Die Kunst des Mordens
.
„Ja, vielleicht!“ gab Märtle zur Antwort. Eine Aussage, die er bei Bewußtsein niemals so getroffen hätte. Frank Märtle antwortete automatisch. In seinen Gedanken faszinierte ihn allein dieser eine Satz: „Die Kunst des Mordens“.
***
Märtle war kein Mörder. Er hatte keine Lehre und keinen Abschluß auf diesem Tätigkeitsfeld. Er war Buchhalter. Doch genauso wie er in seinem gelernten Beruf die Termine und Zahlen unter absoluter Kontrolle haben mußte, drängte es ihn auch in der neuen Disziplin nach Perfektionismus. Gäbe es einen Mörderkurs oder gar eine Mordschule .. ein törichter Gedanke. Das Wesen des Mordens war die Heimlichkeit. Nicht einmal ein Verdacht durfte auf ihn fallen.
Die einzigen Quellen, die ihm logisch erschienen, waren Romane und das Internet. Die Crux an den Büchern war die Tatsache, dass dort die Polizei in den meisten Fällen am Ende den Täter überführte. Damit schied dieser Quell der Inspiration für Märtle aus. Sein Ziel stand fest: Eliminierung der gesamten Familie. Und er ließ von jetzt an keine destruktiven Gedanken an seinem Plan mehr zu. Blieb das Internet. Er, die Spinne, der Mörder, ging ins Netz!
Aus Vorsichtsgründen würde er sämtliche Online-Aktivitäten nicht mehr zu Hause tätigen. Ihm war klar, dass die Polizei ihn als Nachbarn automatisch verdächtigen würde. Also auch seine Aktivitäten überprüfen würde. Im Nachhinein erwies es sich als ein Geschenk des Himmels, dass er die Recherche nach der Schalldämpfer-Bauanleitung nicht auf seinem Laptop sondern in seinem Büro getätigt hatte. So würde er auch in Zukunft vorgehen.
Es gab ein weiteres Geschenk des Himmels, ein Zeichen, an diesem ersten Arbeitstag nach Ostern, das Märtles letzte Tötungshemmungen beseitigte. Eine der Top-Nachrichten lautete: „Vierfachmord von Eislingen gibt immer mehr Rätsel auf.
“ Die Meldung war für Märtle Warnung und Ansporn zugleich. Er würde nicht so dilettantisch vorgehen wie diese Kinder, die die eigenen Familienmitglieder erschossen hatten. Nach der Tat von Eislingen war ein Dreifachmord nicht mehr unvorstellbar, nicht einmal mehr etwas Besonderes, sondern eine Tat unter vielen.
Seit zwei Monaten war Doll’s Walther P 38 in seinem Besitz. Selbst wenn die Waffe registriert war, könnte man keine Verbindung zu ihm herstellen. Im Magazin befanden sich acht Patronen, leider keine spezielle geräuscharme Munition, doch aus dem Internet und den Zeitschriften wußte er, dass hauptsächlich der Mündungsknall gedämpft werden mußte, um die Schüsse unbemerkt abgeben zu können. Acht Patronen bedeutete drei Dubletten schießen, zwei Schuß Reserve. Das sollte genügen.
Aus der Werkstatt der Baufirma, für die Märtle arbeitete, holte er sich unbemerkt eine Flasche Dichtungsschaum für Brunnenwasser. Er wollte nicht das Risiko eingehen in einem Bau- oder Supermarkt von einer Videokamera bei Kauf des PU-Schaums aufgezeichnet zu werden. Den klebrigen Schaum spritze er in eine leere längliche Tennisballdose. Nachdem der Schaum getrocknet war, stieß er die Walther P 38 bis zum Abzugsschutzbügel in die Öffnung dieses Behälters. Eine der Reservepatronen benutzte er für einen Probeschuß. Der erste Schuß seines Lebens verursachte nicht mehr als ein Plopp, das unmöglich die Mauern eines Hauses verlassen konnte.
Erschießen will geübt sein. Märtle stand jedoch nur noch eine Reservepatrone zur Verfügung, und die wollte er aus prinzipiellen Gründen als Reserve erhalten. Das Krümmen des Zeigefingers bedurfte keines besonderen Trainings. Schießen stellt jedoch ein mentales Problem dar. Deshalb war es dem Buchhalter wichtig, dass er seine Psyche mit diesem Vorgang vertraut machen konnte. Die Umsetzung des Willens, einen Menschen zu beschießen, zu treffen und danach weiter zu handeln, war nicht einbildbar oder gar selbstverständlich, sondern das Ergebnis intensiven Trainings. Märtle kaufte sich in Frankfurt eine Druckluftpistole für Diabolokugeln, Spielzeug im Vergleich mit seiner Armeepistole, deren nächste Schußabgabe schon tödlich sein mußte. Das war ohne weiteres und anonym möglich. Es genügte die Lüge, dass er in einem Sportschützenverein Mitglied war und leider seinen Vereinsausweis vergessen hatte.
Da er einen Schalldämpfer verwendete brauchte der Autodidakt keine Ringscheiben. Zielen war mit dem provisorischen Pistolenaufsatz nicht möglich. Aus dem Internet wußte er, dass die Gefechtsausbildung der Infanterie und das Notwehrschießen der Polizei kein gezieltes Schießen, sondern eine so genannte Combatschießausbildung sind. Die Schützen lernen mit ihren Waffen instinktiv umzugehen und zu treffen. Es werden Dubletten, also zwei Schüsse kurz hintereinander, auf das Ziel abgegeben, und je besser man diese Technik beherrscht, umso sicherer tötet man sein Ziel. Combatschießen ist willentliches Töten, und deshalb ist diese Technik für Otto-Normalverbraucher auch verboten.
Märtle verbrachte die folgenden Mittagspausen offiziell mit Spaziergängen im Wald. Er fertigte sich aus Pappe Zielscheiben, die 80 % der wirklichen Größe und Figur eines Menschen entsprachen. Diese Plakate hängte er an Bäumen auf und übte mit der Luftdruckpistole das rasche Herantreten und die richtige Distanz zu den Opfern. Er schoß beidhändig aus angewinkelten Armen, wobei er mit der rechten Hand die Pistole hielt und die linke Hand den Schalldämpfer umfaßte. Bereits am zweiten Tag stellte sich ein sauberes, akzeptables Trefferbild ein.
Der Schnitt der Opferwohnung entsprach exakt dem Zuschnitt seiner Wohnung. So konnte Märtle mental die Zahl der Treppenstufen abschreiten, den Anschlag der Türen nachvollziehen und sich Ort und Lage seiner Opfer vorstellen. Einzig die Begegnung mit Doll nach der Türöffnung ließ noch Spielraum zu. Aber es würde im Flur passieren und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn Doll sich nicht genauso provokant wie vor zwei Monaten präsentieren würde. Der Job würde nicht mehr als drei Minuten dauern.
Aus der Werkstatt seiner Firma besorgte sich Märtle einen Overall, Plastikhandschuhe und Überzieher für die Schuhe. Das Fehlen dieser Accessoires würde nicht auffallen. Problematischer war die Entsorgung der Tatmittel. Die Planung der Nachtatphase bereitete dem Buchhalter die größeren Schwierigkeiten. Auch hier half ihm abermals das Internet. Er entdeckte auf der Webseite von Westmann-Wastemanagement, daß die Recyclingfirma, die die Müllcontainer seiner Firma abholte, über einer vollautomatischen Sortieranlage entsorgte. Der Müll wurde aus dem LKW-Silo ohne Zwischenlagerung auf die Sortierbänder gekippt, zerkleinert und mittels Computeraugen stofflich identifiziert und per Luftdüsen sortiert. Zum Schluss wurden die sortenreinen Stoffe zu Granulat verarbeitet, um als Recyclingmüll so wenig Platz wie möglich zu beanspruchen.
***
Am Freitag, den 17. April, verabschiedete sich Märtle in der Mittagspause von seiner Frau und den Kindern, die mit ihrem Sportverein zu einem Turnier nach Nordhessen fuhren. Am Nachmittag ging er jedes Detail seines Plans noch einmal gedanklich durch und begann seine Spuren zu verwischen. Er löschte den Verlauf und die Cookies seines Computers und bat darum, daß der Abfall von zwei Baustellen der Firma in den Restmüllcontainer verladen wurde, der am nächsten Werktag nicht leer sein sollte.
Zu Hause legte er sich auf die Couch und wartete unbewegt darauf, daß die Zeit verging. Pünktlich um 19 Uhr schaltete er die heute-Nachrichten
an. Es ging um die Sperrung von Kinderpornographie-Seiten und die Internettauschbörse Pirate Bay
; zwei Themen, die ihm nicht wichtig waren. Unmittelbar nach den Nachrichten rief seine Frau an. Die Pension wäre schön, und noch schöner wäre es, wenn er mitgekommen wäre, sagte sie.
Die Zeit bis 1 Uhr wollte nicht vergehen. Die Dämonen im Nachbarhaus waren hörbar aber nicht extrem. Er zog sich den Overall, die Latexhandschuhe und die Plastiküberzieher für seine Schuhe an. In seiner linken Hand, die später den Schalldämpfer umfassen würde, klebte er mit Tesafilm eine Mini-MagLight fest, die dorthin leuchten würde, wohin die Mündung der Waffe zeigte. Er würde nicht bei Doll anrufen, da ein solcher Anruf registriert wäre und erklärt werden mußte. Er achtete sogar darauf, daß sein Handy auf dem Wohnzimmertisch liegen blieb, da es im Nachhinein geortet werden konnte. Märtle wollte klingeln, und sein Plan sah vor, daß er binnen drei Minuten die Familie im Nachbarhaus ausgelöscht hatte.
Die Straßenbeleuchtung war zur Hälfte ausgeschaltet. In den Nachbarhäusern flimmerte nur noch vereinzelt graues Mattscheibenlicht, und der Wachposten in der nahen Kaserne schaute ebenfalls Fernsehen. Niemand sah Märtle, der mit der Walther P 38 und dem aufgesetzten Schalldämpfer vor der Haustür seines Nachbarn stand. Der kritische Moment war der, in dem die Flurbeleuchtung im Haus anging und Doll die Tür öffnete. Nur in diesem kurzen Augenblick hätte jemand zufällig den Mann im Overall erblicken können.
Doll öffnete und schien nicht überrascht seinem präparierten Mörder gegenüber zu stehen. Märtle drehte die Pistole um 90 Grad vorwärts aufwärts zum Kopf seiner Zielscheibe und drückte einmal ab. Entgegen seiner Planung hatte er nicht gewartet, bis die Tür hinter ihm geschlossen war, und er hatte auch keine Dublette geschossen, wie er es in den vergangenen Tagen trainiert hatte. Das verwirrte und verärgerte ihn gleichermaßen. Er nahm gar nicht wahr, wie der leblose Körper seines ersten Opfers widerstandslos zusammensackte und sich mit verdrehten Beinen und dem Rücken nach hinten auf die Fliesen streckte. Auch das entsprach nicht der Vorstellung Märtles, der erwartet hatte, daß der Getroffene nach hinten umfallen würde.
Der Mörder ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher auf stumm. Im Haus war es still. Plangemäß ging er nun in den ersten Stock, lauschte nochmals vor der Schlafzimmertür, bevor er sie rasch in einem Zug öffnete und sogleich die Dublette auf das zweite Opfer abfeuerte, das im Ehebett lag. Die Taschenlampe hätte er gar nicht gebraucht, da die Nachttischbeleuchtung eingeschaltet war. Die Frau im Bett hatte aber geschlafen. Märtle schaltete die Lampe aus und feuerte eine weitere Patrone auf die Frau ab. Nicht weil er im Zweifel gewesen wäre, ob die Person tödlich getroffen war, sondern weil er diesen Schuß noch übrig hatte.
Die Tür zum Zimmer der Tochter war nur angelehnt. Auch hier brannte das Licht, und Märtle kalkulierte ein, daß die Frau wach sein könnte. Wieder horchte er bevor er die Tür aufstieß und auf dem Körper im Bett feuerte. Sein Plan sah nun vor, daß er überprüfen würde, ob seine Opfer tatsächlich tot waren. Ein Reserveschuß stand ihm noch zur Verfügung. Doch Märtle begnügte sich damit auch hier das Licht auszumachen und durch das Dunkel zu horchen. Nachdem keinerlei Geräusche mehr im Haus zu hören waren ging er zurück in den Flur, schaltete das Eingangslicht aus und beobachtete die Straße.
Genauso unbemerkt wie er gekommen war verschwand der Mörder wieder hinter seiner Haustür. Märtle hielt die Walther P 38 ausgestreckt vor sich hin und zitterte nicht. Er hatte die Kontrolle. Den Overall und die Latexhandschuhe packte er in eine Papiertüte und zusammen mit den beiden Pistolen und dem Schalldämpfer in einen Rucksack. Durch seinen Garten verließ er das Grundstück und joggte 20 Minuten durch die Dunkelheit an einen Baggersee, in dem er die Waffen unauffindbar versenkte. Die Papiertüte und den Schalldämpfer sowie die Zeitschriften und Bücher über Waffentechnik und Combat brachte er auf dem Rückweg bei seiner Firma vorbei und entsorgte sie im Müllcontainer, den er bereits montags erneut leeren ließ.
Bevor es zwei Uhr war, kehrte er bereits in seinen Garten zurück. Vermutlich würde es Tage dauern, bis jemand die Toten finden würde, und er hoffte, daß nicht er oder seine Frau wegen des Gestanks der Leichen die Polizei rufen müßten. Er würde nicht in diesem Haus bleiben, es verkaufen und in einem anderen Ortsteil etwas Neues suchen. Spätestens in einem halben Jahr, mit Sicherheit noch vor Weihnachten, wären sie hier weg. Wer sollte ihnen verdenken, daß sie nicht mehr länger unter dem gleichen Dach leben wollten, unter dem drei Menschen umgebracht wurden?
Frank Märtle zog sich aus, legte sich in sein Bett, löschte auch hier das Licht und dachte gar nicht mehr daran Ohrenstöpsel einzuführen.
Texte: Alle Personen und Handlungen dieser Krimi-Erzählung sind fiktiv. Die Reihe "Schalldämpfer" ist nicht True-Crime, jedoch ist der Handlungsrahmen eng an aktuellen realen Fällen angelehnt, die jedoch weder ermittlungstechnisch noch juristisch abgeschlossen sind.
Auf keinen Fall soll die vorliegende Krimi-Erzählung eine Vorverurteilung möglicher Tatverdächtiger darstellen oder eine Manipulation der laufenden Ermittlungen sein. Die "Schalldämpfer"-Reihe ist eine fiktive Erzählung, die die bewußte und unbewußte Vielschichtigkeit eines Kriminalfalles aufzeigen möchte.
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Ich danke dem Verlag "Das Magazin" aus Berlin für die Titelgenehmigung im Teil 4 - Magazin.
Tag der Veröffentlichung: 19.11.2009
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