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Die Gäste hatten den Tapas-Vorspeisenteller bis auf einen Anstandsrest bereits aufgegessen, als Karin Melzers Lebensgefährte die Doraden vom Grill holte und den Hauptgang seinen Gästen servierte. „Mmh, auf den Punkt!“ lobte Petra Hövelmann den Grillmeister beim Zerlegen und Endgräten der Fischdelikatesse. „Schön mal wieder bei euch zu sein.“ Karin und Petra waren schon viele Jahre Arbeitskolleginnen im Büro der Firma Wegemann, beste Freundinnen und somit gegenseitige Geheimnisträgerinnen aller Intimitäten und Einzelheiten, die ein gut bürgerliches Leben im Speckgürtel einer Großstadt erlauben.

„Noch einen Pinot Grigio?“ fragte Jürgen seine Gäste, die nun kurz festlegten, wer bei Wasser bleiben und später nach Hause fahren würde.

„Also schmeckt ja ausgezeichnet, der Fisch, und überhaupt. Soviel Arbeit habt ihr euch gemacht“, lobte Petra abermals den Koch und legte ihre Hand über das Weinglas. Harald ließ sich gerne noch einen Wein einschenken, er mußte ja nicht mehr fahren, und stellte die Frage zu dem

Thema, über das an diesem lauen Abend im Spätsommer noch kein Wort geredet wurde: „Gibt es eigentlich etwas Neues von eurem Buchhalter?“

„Ich muß übermorgen zum dritten Mal zur Kripo“, verriet Karin, die Tür an Tür mit Frank Märtle arbeitete und schon zweimal über mehrere Stunden von der SoKo Friedrich-Liszt-Straße vernommen wurde. „Ich weiß gar nicht, was die noch wissen wollen.“

„Ich war gestern im Polizeipräsidium“, erklärte Petra, „und mich fragten sie, ob ich wüßte warum der Frank den Müllcontainer in der Firma am Montag nach dem Wochenende leeren ließ, obwohl die Recyclingfirma bereits am Freitag davor den Müll abgeholt hatte.“

Das Wochenende war das erste nach Ostern, das Wochenende an dem Familie Doll, die Nachbarn von Frank Märtle, in ihrer Doppelhaushälfte umgebracht wurden. Drei erschossene Tote, keine weiteren Spuren, keine Zeugen, keine Hinweise außer einer Reihe Indizien, die eben diesen Nachbarn und Arbeitskollegen Frank Märtle zum einzigen Verdächtigen machten.

„Wie? Zweimal Müll abgeholt?“ verstand Karin die Problematik nicht.

„Ja, die Kripo zeigte mir die Buchungsbelege, daß etwa alle 10 bis 14 Tage der große Rollcontainer mit durchschnittlich 1,6 Tonnen Restmüll von der Firma SortCont abgeholt wird. Nur an diesem Wochenende wurde der Container zusätzlich ein zweites Mal getauscht, obwohl nur 0,6 Tonnen Schutt darin lagen. Der kann gar nicht voll gewesen sein.“ Petra stellte nochmals fest: „Und das war gleich am Montag nach dem Mord.“

„Und was wollte die Kripo dazu von dir wissen?“ hakte Karin nach.

„Na, wer bei SortCont angerufen hat und wer das normalerweise macht, und so. Wie die halt immer fragen. Du weißt doch.“ Ja, Karin kannte diese Fragen zur Genüge, und es graute ihr, schon wieder gegen Frank aussagen zu müssen.

Nach einer Gabel mit Dorade, Paprika und einem Stückchen Kartoffel mit Ajoli, dem perfekten Biss sozusagen, kam die unvermeidliche, hundertfach und fast schon täglich gestellte Frage: „Meinst du wirklich, daß Frank es gewesen sein könnte?“ Petra hielt die Gabel mit dem perfekten Biss vor ihrem Mund und schien durch sie hindurch zu sehen.

Schweigend aßen die Vier weiter. Jürgen schenkte noch einmal Pinot Grigio nach und beendete den Sprachverschluß mit der Feststellung: „Wenn man eins und eins zusammenzählt, kann es nur euer Frank gewesen sein. Wer sonst hätte ein Motiv, und immerhin gibt es jede Menge Indizien gegen ihn. Und wenn ich jetzt höre, daß er möglicherweise die Pistole oder anderes Beweismaterial mit dem Müllcontainer von euch entsorgt hat, dann habe ich recht wenige Zweifel daran, daß er der Täter ist.“

„Das sagen die Männer in der Werkstatt ja auch“, räumte Petra ein. „Die Sache mit dem Schalldämpfer und dem Montageschaum ist ja schon ein bißchen komisch. Ausgerechnet sein Computer wurde zum googeln benutzt, auch wenn da jeder dran kann. Und der jahrelange Streit mit den Nachbarn.“

„Aber deswegen bringt man doch keine Familie um“, entgegenete Karin. „Der Frank ist doch kein Monster. Wir kennen ihn jetzt 15 Jahre. Und hat er sich in all den Jahren auch nur ein einziges Mal vergessen, geschrien, getobt oder sonst was gemacht?“

„Das ist es ja gerade“, argumentierte Jürgen. „Er ist so verflucht berechnend, so kalt, so undurchschaubar.“

„Da muß ich Jürgen Recht geben“, pflichtete Harald bei. „Der Märtle ist doch sozial verkümmert, na ja, verkürzt, oder wie man sagen will.“ Harald fand nicht die richtigen Worte für seine Gedanken. Er brachte ein Beispiel: „War euer Buchhalter jemals bei irgendeinem von der Firma privat eingeladen gewesen?“ Und er setzte nach: „Oder hat er jemanden eingeladen?“

Märtle hatte keine sozialen Kontakte zu seinen Kollegen. Er war nicht nur Einzelgänger, sondern irgendwie sozial isoliert. Nicht, daß die Arbeitskollegen ihn ausgrenzten, er selbst verschloß sich gegenüber den anderen. Während im Büro der Baufirma Wegemann immer mal jeder mit jedem ein Schwätzchen hielt, an Diskussionen teilnahm und sich gegenseitig zu Geburtstagen und zu anderen Anlässen einlud, kam von Frank Märtle nichts dergleichen. Nicht einmal seine Hochzeit hatte er den Kollegen damals mitgeteilt, hatte heimlich geheiratet und sogar auf den Tag Sonderurlaub verzichtet. Später erklärte er es damit, daß man Privates von Beruflichem trennen muß. Und es war ihm schwergefallen das nachträgliche Hochzeitsgeschenk seiner Kollegen anzunehmen.

„Du kennst ihn doch besser?“ stellte Petra die rhetorische Frage an ihre beste Freundin. „Du warst doch schon mal mit ihm in der Disco gewesen“.

Das war vor annähernd 14 Jahren gewesen, als Frank Märtle noch frisch in der Firma und unverheiratet war. Eigentlich war es schon gar nicht mehr wahr, solange war es schon her. Und Karin mochte über diese zwei gemeinsamen Abende überhaupt nichts sagen. Denn sie hatten nicht getanzt, sondern nur Kola getrunken, ein bißchen geredet und den anderen Gästen zugeschaut. In Karin’s Erinnerung waren diese Abende ein Reinfall gewesen. Aber das machte Frank doch nicht automatisch zu einem sozialen Monster, zu einem Dreifachmörder.

Sie sagte: „Wenn er diese Familie umgebracht hat, dann will ich, daß er dafür auch bestraft wird! Dann soll er von mir aus für immer in den Knast. Aber ich kann einfach nicht glauben, daß er es gewesen ist. Warum sollte er? Nur weil die Leute laut waren? Weil die eine Frau behindert war? Ich bitte euch, das ist doch kein Motiv!“

„Es sind Leute schon wegen weniger umgebracht worden, mein Schatz“, warf Jürgen ein.

„Aber doch keine ganze Familie“, stellte sich Petra auf die Seite von Karin.

„Jetzt ist sie kaputt, die ganze Familie!“ scherzte Harald über den umgangssprachlichen Fauxpas seiner Frau, und setzte sein Wortspielchen mit der Bemerkung fort: „Und euer Frank ist auch ganz schön kaputt, will ich nur mal angemerkt haben“.

„Nee, drei Menschen, so mir nichts dir nichts einfach abknallen. Das kann nur einer gemacht haben, der sich an dieser Familie rächen wollte. Das gibt es doch gar nicht, daß man eine solche Tat begeht, außer aus Rache“, überging Petra die Plattheit ihres Mannes.

„Stimmt nicht!“ korrigierte Harald. „Genau eine Woche vor den drei Toten in Pohlhausen haben zwei junge Kerle auch eine vierköpfige Familie in Eislingen umgebracht. Ostern. Der eine Mörder war sogar der Sohn und Bruder der Getöteten und der andere sein Freund. Und das Motiv war Habgier! Die wollten an das Erbe heran.“

„Ist schon interessant, daß zwei solche Taten innerhalb von acht Tagen passieren, nicht?“ überlegte Jürgen laut. „Kann ja sein, daß dieses erste Familiendrama in Eislingen der Auslöser für das Verbrechen in Pohlhausen war. Ging ja breit durch die Medien damals“.

„Jetzt wird es ja immer toller“, griff sich Petra an den Kopf. „Copykill! Das glaubst du doch selbst nicht!“

„Ich weiß nicht. Also wenn er es war, dann hat er die Tat schon lange und sorgfältig geplant. Im Februar die Schalldämpfer gegoogelt. Seine eigene Familie weggeschickt oder abgewartet, bis sie weg war. Alle Spuren und Beweise gegen ihn rechtzeitig beseitigt oder vermieden. Eiskalt die Sache durchgezogen. Vielleicht hat ihm der Vierfachmord an Ostern gezeigt, daß sein Plan durchführbar und nicht einmalig ist. Einer der Mörder von Eislingen hat sogar den gleichen Vornamen: Frank. Das ging durch die Presse. Ich weiß ja auch nicht, was in seinem Kopf vorgegangen ist, aber …“

„Was aber?“ fragte Karin den Mann ihrer besten Freundin, der auf diese Frage gewartet hatte.

„Aber das werden wir wohl nie erfahren. Denn allein aufgrund von Indizien und der Steilvorlage von Eislingen wird euer Buchhalter nicht verurteilt werden können".

„Oh Gott!“ entfuhr es Karin. „Was für eine schreckliche Vorstellung“.

„Was daran ist so schrecklich? Es laufen doch Tausende von Mördern frei herum, deren Taten nie entdeckt oder nie bewiesen werden konnten. Ist doch irgendwie normal.“ Jürgen zuckte hilflos die Schultern. Er hatte nicht verstanden, was für seine Frau das Schreckliche an dieser Vorstellung war.

„Ich arbeite Tür an Tür mit diesem Mann. Jeden Tag. Und jedesmal stelle ich mir die Frage: War er’s, oder war er’s nicht? Und das soll für alle Zeiten so bleiben?“

„So, wer möchte denn zum Nachtisch noch ein Eis oder einen Kaffee haben?“ fragte Jürgen seine Frau und die Gäste. „Oder auch einen Ramazotti oder Whiskey, wir haben Bushmills da?“

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Texte: Alle Rechte beim Autoren. Alle Personen und Handlungen in dieser Kriminalgeschichte sind erfunden.
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2009

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