Cover

Bisher erschienen sind:

Teil 1: Schalldämpfer


Der Hauptverdächtige Frank Märtle schildert wie
und warum er in Verdacht geraten ist.
Teil 2: Abzug


Der Leiter der SoKo Friedrich-Liszt-Straße, berichtet
über seine Ermittlungen.
Teil 3: Visier


Die Ehefrau des Hauptverdächtigen, Anita Märtle,
kommt zu Wort.


Teil 4: Magazin


Der freie Journalist Walter Tötges recherchiert in
der Dreifachmordsache Doll.


Es folgen

Teil 5: Verschluß


Die Arbeitskolleginnen Karin und Petra
veranschaulichen die Folgen der Ermittlungen
an der Arbeitsstelle des Hauptverdächtigen.

Teil 6: Schüsse


Die Rekonstruktion der Mordnacht.


MAGAZIN



Sie tappen wieder mal im Dunkeln. Wie ich ihn liebe, diesen Satz: „Wir ermitteln in alle Richtungen!“ Dann wissen sie mal wieder gar nichts. Trotz aller Technik. Dann schickt die Redaktion nicht einen dieser 2000-Euro-Brutto-Schreiberlinge, sondern einen Freien wie mich, Walter Tötges, DAS MAGAZIN. Einen Wühler, einen Finder. Einen Headhunter.

Ich arbeite alleine. Die Redaktion gibt mir einen Namen, eine Adresse, „Mach mal!“ Armin, Roswitha und Bettina Doll, Pohlhausen, Friedrich-Liszt-Str. 38, von Familientragödie bis Dreifachmord wäre alles drin. Google spuckt mit diesen Namen eine Internetseite für Heilpraktiker aus. Ansonsten nada, niente, nothing, nichts, nur Datenmüll. Die Familie gibt es nicht mehr, und im Internet gab es sie noch nie. Kein Verlust für die Menschheit.

Also die Klingeltour. Aber vorher klappere ich noch die üblichen Verdächtigen per Telefon ab. „Hallo Harald, wie geht’s? Kannst du mir einen Tip zu der Sache in Pohlhausen geben? – Gibt’s doch nicht. Wenn da drei Tote liegen, muß es doch Spuren geben! – Wäre da was zu machen mit Fotos von den Leichen? – Letzte Frage: Welches Bestattungsunternehmen habt ihr beauftragt?“ Mein Informant bei der Polizei hält sich bedeckt.

„Ja Christian, alter Schwede! Ich denke immer noch an unsere Malle-Off-Road-Tour. War ‚ne geile Sache damals“ Christian ist Rettungssanitäter. Ich hatte ihn drei Jahre zuvor im Urlaub auf Mallorca kennengelernt. „Könntest du mir sagen, welche Sanis und welcher NAW in Pohlhausen eingesetzt waren. Der Dreifachmord vorgestern, ja?“ Frau Dr. Babenland stellte die Leichenschauscheine aus, erfuhr ich. Scheiße, die hatte ich schon mal. Sagt nichts, die Krankenhauszicke. Sanis waren zwar dort, aber nicht im Haus, nochmals Scheiße. „Trotzdem danke. Man sieht sich.“

Drei Bestattungsunternehmen gab es in dem Kaff. „Guten Tag, Berger mein Name“, log ich, „Gerichtsmedizinisches Institut Frankfurt. Ihr Bestattungswagen hat vorgestern bei uns in der Einfahrt den geparkten PKW des Institutleiters touchiert … Was, Sie waren gar nicht bei uns? Ja wer hat dann die drei Leichen gebracht? … Pietät Blumenschein, alle drei … Ja, danke, und entschuldigen Sie bitte den Irrtum“.

Eine Stunde später bin ich bei Blumenschein. Ihr Mann selbst war dort, sagt mir Frau Blumenschein, mit dem Gesellen aus der Schreinerei und einem Rentner, der ab und zu mit anpackt. Sie denkt, ich wäre von der Kripo. Was so ein grauer Übergangsmantel und ein kleiner Notizblock in der Hand doch für Assoziationen freisetzen. Den Altgesellen finde ich in der Werkstatt. „Am besten sie erzählen erstmal am Stück, wie das vorgestern war, wo im Haus sie überall herumgelaufen sind, was sie angefaßt haben, wegen der Spuren, ja“. So erfahre ich, daß die beiden Frauen in ihren Betten lagen, und zwar die Tochter unterm Dach und die Ehefrau im Elternschlafzimmer, und der Mann lag mit einem Kopfschuß im Flur gleich beim Eingang. Der Fernseher lief, die Rolladen waren alle herunter gelassen und Licht brannte nur im Erdgeschoß. Aber das Geilste, das ich erfuhr war, daß man der Frau die Stützstrumpfhosen nicht ganz ausziehen konnte. Denn die waren in der Hornhaut der Füße eingewachsen. Wie eklig? Herrlich! Das war doch mal eine Meldung, wie man sie nicht alle Tage hat. Da war es fast schon zweitrangig, daß man keine Tatwaffe gefunden hat; das erfuhr ich obendrein vom schwatzhaften Altgesellen.

„Hör mal zu, Detlef. Du fährst heute noch zur Pietät Blumenschein und hältst dem Inhaber vor, daß eine Frauenleiche in Strumpfhosen zur Rechtsmedizin gebracht wurde. Ich will hören, daß die Strümpfe an ihr festgewachsen sind. Du kannst ihm meinetwegen sagen, daß du diese Info von der Polizei hast“, instruierte ich einen der Schreiberlinge. „Und bei der Gelegenheit läßt du dir gleich bestätigen, daß die beiden Frauenleichen Einschüsse in der Brust hatten und der Mann durch einen Kopfschuß starb. Ich will das offiziell haben.“

In der Friedrich-Liszt-Straße war noch richtig Karneval. RTL, SAT1, die ZDF-Leute und der Hessische Rundfunk blockierten die freien Parkplätze und Hauseingänge der direkten Nachbarn. Ich stellte meinen Mercedes etwas abseits ab und schlenderte durch die Anliegerstraße. Der Tatort war das letzte Haus. Dahinter begann das Gelände einer Kaserne, die zuletzt von den amerikanischen Besatzern genutzt wurde, aber jetzt leer stand. Ein privater Sicherheitsdienst machte dort Objektschutz.

„Mehr Betrieb hier als auf der Frankfurter Zeil“, begrüße ich einen jungen Securitymann. Seit Samstag würde Fernseh und Presse das Haus belagern.Wär’ ja auch ein Ding, drei Tote auf einmal. „Hab’ ich sie nicht im Fernsehen gesehen, im ersten Tagesschaubericht?“ frage ich den jungen Kerl. Nee, das muß ein Kollege gewesen sein. Sie arbeiten Zwölfstundenschicht und er ist erst seit heute tagsüber dran. Als es passierte muß er wohl Schicht gehabt haben. Aber da war absolut nichts zu hören. Totenstill, die ganze Nacht. Kein Schuß. Da war er sich sicher. Er wäre der Schichtleiter und die ganze Nacht in seinem Wachhäuschen gewesen. Hätte ich dem jungen Kerl gar nicht zugetraut, daß er der Chef der Truppe ist.

Ich bedauerte nicht als erster bei den Nachbarn gewesen zu sein. Je mehr die Leute befragt wurden, umso mehr machten sie dicht. Nach der dritten Quetsche gibt sowieso keiner mehr eine Information freiwillig heraus. Dann will das geldgeile Pack Scheine sehen. Aber soweit sind wir noch nicht, liebe Nachbarn. Ein kleiner Tritt an Dolls Mülltonne sagt mir, daß schon einer vor mir diese Idee hatte. Hoffentlich war es die Polizei und nicht einer vom Sender. Man glaubt ja gar nicht, was so eine Mülltonne an Informationen verbirgt. Diese hier hatte schon ein anderer eingesackt.

Die Garage stand offen. Ein Polizist davor. Da konnte unmöglich ein Auto drin geparkt werden, so wie die vollgestopft war. Wo war Doll’s Wagen? Des Nachbarn Nachbar kann mitunter auch eine ganz nützliche Quelle sein. Ich fange bei der ARAL-Tankstelle an. Ja, man kannte Doll. Er holte seine Zeitungen hier und Doppelkorn, Flachmänner, regelmäßig. Welches Auto er fuhr? Fehlanzeige. Er hätte nur im Shop eingekauft, ein- zweimal die Woche, öfters mal auch im Stehen einen gekippt, aber nicht getankt, sagte der Tankstellenpächter mit einem Grinsen. Aha, getankt. Will heißen: Gesoffen. Die Tankstelle macht um Mitternacht zu. Alkoholverkauf offiziell bis 20 Uhr. In der Tatnacht? Nee, da war Doll nicht an der Tankstelle.

Beim Schlendern treffe ich Frau Höreth in ihrem Vorgarten. Nein, sie kennt die Leute im letzten Haus nicht. Weiß nicht, wer dort wohnt. Geht sie auch nichts an. Die viele Polizei und das Fernsehen sind schon aufregend. Aber lieber wäre es ihr, wenn das nicht passiert wäre. „Was ist denn passiert?“ frage ich. Na, daß er seine Familie und dann sich selbst umgebracht hat. „Nee“, sag ich, „dann hätte ja die Pistole bei der Leiche liegen müssen.“ Aber die Pistole war weg. Ja, dann wüßte sie auch nicht. Kennt die Leute ja nicht.
Ich überlege, bis wie viel Meter Entfernung meine Nachbarn mich kennen. Also ich denke, alle fünf Häuser je nach rechts und links und gegenüber wissen, daß ich freischaffender Reporter bin, geschieden, eine erwachsene Tochter habe und einen 300er SEL fahre. Dürften alle auch meinen Namen kennen und stolz darauf sein, daß ich hauptsächlich für DAS MAGAZIN schreibe.

Ich klingele bei Willand. „Tötges mein Name, DAS MAGAZIN“, stelle ich mich vor. Ob ich mal stören dürfte. Ich erfahre, daß ihr Mann noch auf Arbeit sei. „Familie Doll, was für ein Auto haben die Leute gefahren?“ Die ältere Dame überlegt und stellt überrascht fest, daß sie das nicht weiß. „Aber die wohnen doch schon seit zehn Jahren in ihrer Nachbarschaft“, hake ich nach. Es tut ihr leid. Aber sie weiß es nicht. „Was waren das für Leute“, ist meine nächste Frage. Keine besonderen Leute, einfache Leute. Wäre schlimm, was da passiert ist. Sie habe es in den Nachrichten gehört. Kaum zu glauben, daß in ihrer Straße jemand die Eltern und das Kind einfach so umbringt. „Die Tochter Bettina war kein Kind mehr“, stelle ich richtig, „die Frau war 37 Jahre alt.“ Das wußte Frau Willand auch nicht. Ahnungsvoll frage ich: „Wie haben die Leute denn ausgesehen?“ Ihr Mann würde gleich von der Arbeit kommen. Der könne das eher beantworten. Sie könne sich Gesichter so schlecht merken, entschuldigt sich Frau Willand, und ich wage nicht zu fragen, ob sie die Familie, die nur 75 Meter entfernt in direkter Sichtweite wohnt, überhaupt je gesehen hat. Das passiert mir auch nicht alle Tage, daß ich einer Antwort ausweiche.

Kollege Bäumler von RTL erkennt mich. Wir duzen uns. Ich erfahren von ihm, daß die Polizei gerade zwei Hundertschaften angekarrt hat, um nach der Tatwaffe zu suchen. Drei Erschossene, und sie suchen die Tatwaffe in der Nähe vom Tatort, überlege ich. Entweder sind sie diesmal besonders gründlich, oder sie glauben nicht an einen Profikiller. Von Bäumler erfahre ich, daß kein Sender die Leichen zu sehen bekommen hat. Ich pokere mal: „Die schämen sich für ihre verschmokten Opfer. Muß ja ziemlich assig aussehen da im Haus?“ Bäumler beißt nicht an.

Hier in der Straße ist im Moment nichts mehr zu eruieren, stelle ich fest. Aber dieser Hinweis auf Verwahrlosung bringt mich auf eine Idee. Ich fahre zur Stadtverwaltung. Nein, die Familie wäre nicht Hartz-IV, erfahre ich offiziell. Und unter der Hand, daß für die erwachsene Tochter von der Wohlfahrt regelmäßig eine Unterstützung gezahlt wird. Sie wäre eine Autistin. Das ist ja der Hammer!

Wenn die Arbeiterwohlfahrt die Familie gesponsort hat, dann hat vermutlich auch die Caritas oder Diakonie was springen lassen, ergo die Familie gekannt. Ich klingele beim Pfarrer, einem jungen Vertreter des Schäfchenzuchtvereins. Der will die Familie aber nicht kennen. Vielleicht der Kollege von der anderen Fakultät. Fehlanzeige. Es gäbe noch eine freikirchliche Einrichtung hier im Ort. Da erreiche ich niemanden, erst übermorgen zur Bibelstunde um 19 Uhr, sagt mir ein Kind unter der Telefonnummer, die an der Eingangstür aufgeklebt war. Eine Familie Doll gehört nicht zur Gemeinde, sagt das Kind. Ganz bestimmt nicht.

Pohlhausen hat 16.011 Einwohner, minus drei. 687 Arbeitslose sind registriert. Der Tatort, das Haus, liegt in einem geschlossenen Wohngebiet, wo normalerweise jeder alles weiß. Seit zehn Jahren schon besteht die Nachbarschaft. Und trotzdem kann mir niemand in diesem Kaff sagen, wer und was die Toten sind. Ich mache Schluß für heute.

Am nächsten Tag läßt die Polizei heraus, daß nach der Tatwaffe, einer Schußwaffe, gesucht wird. Mehr wolle man aus ermittlungstaktischen Gründen nicht sagen. Ich überlege. Wenn mitten in der Nacht fünf-, sechsmal geballert wurde, dann muß das doch jemand gehört haben. Und wieder dieser beglückende Satz: „Wir ermitteln in alle Richtungen!“

Ich auch. Gehe nochmals die Straße ab. Familie Langhammer: nichts gehört; kennt die Dolls nicht näher. Frau Schromelka: nichts gehört; wußte gar nicht, daß Herr Doll eine Tochter hatte. Die Nachbarn genau nebendran, Frau Märtle: waren übers Wochenende nicht zu Hause; nein, mit den Nachbarn hätte man sonst keine Kontakte gehabt; ein Auto habe man nicht gesehen; er ist Immobilienmakler gewesen.

Ich glaub’ es nicht! Ein Immobilienfritze ohne Auto. Frage nochmal gegenüber bei Krapp: ja, das stimme, daß Herr Doll mit Immobilien zu tun hatte, habe man schon gehört.

Ich fahre zum Vermieter, einem Architekten. „Hallo Herr Keil, Tötges vom MAGAZIN. Schlimme Sache da in ihrem Haus. Wird eine Weile dauern, bis die Doppelhaushälfte wieder vermietet werden kann“, stelle ich mich vor. Das war’s dann auch schon. Der Mann macht die Tür zu und läßt mich einfach draußen stehen. Scheiß Typ. Muß aufpassen, daß ich ihm keine überziehe. Nicht mit dem Knüppel, sondern mit dem MAGAZIN. Ich klingele nochmals, aber er bleibt stur. Warte nur, Bursche.

Bei der Stadtverwaltung kennt man mich bereits. Auf dem Steueramt erfahre ich, daß Keil nicht nur das eine, sondern drei Doppelhäuser in der Friedrich-Liszt-Straße gebaut hatte. Jetzt gehört ihm aber nur noch die eine Doppelhaushälfte der Dolls. Es kostet mich einen Fuffi zu erfahren, daß Doll vor zehn Jahren die fünf anderen Doppelhaushälften für Keil vermakelt hat. Und er selbst blieb Mieter in der letzten Wohneinheit. Ist ja ein Ding.

„Entschuldigung, Frau Märtle“, überrasche ich die direkte Nachbarin ein weiteres Mal. „Sie sagten mir heute Mittag, daß Herr Doll Immobilienmakler war. Für welche Firma hat er denn gearbeitet?“ Das wisse sie nicht. Ihrer Meinung nach habe er kaum gearbeitet. Er war fast immer zu Hause. Bis auf die Monate, wo er im Ausland war. „Aber Herr Doll hat ihre Hälfte doch auch vermittelt – an Sie, oder?“ Das stimmt, aber erst danach sei er in die andere Hälfte eingezogen, sonst hätte man das Haus ganz bestimmt nicht gekauft.

Hoppla. Da höre ich doch was! Ich hake nach. Die Familie sei immer sehr laut gewesen. besonders die erwachsene Tochter. Nicht nur tagsüber, sondern gerade nachts. Das sei auch der Grund, weshalb man mit den Nachbarn nichts zu tun haben wollte. Nicht wegen der Behinderung, sondern wegen der Lärmbelästigungen.

Die Frau vom Rathausempfang lacht, als sie mich schon wieder sieht. Das Ordnungsamt sei gerade unterwegs, Knöllchen schreiben, erfahre ich. Aber sie ruft mal an. Ich treffe mich mit Frau Plock, in der Fußgängerzone, lade sie zu einem Kaffee ein und staune nicht schlecht, wie es aus der Pseudouniformierten nur so heraussprudelt. Die Frau weiß ja alles. Eine richtige Goldgrube. Von Zurückhaltung keine Spur. „Darf ich mir ihre private Rufnummer in mein Diensthandy einspeichern?“ frage ich für den Fall, daß DAS MAGAZIN sie mal wieder braucht. „Bleibt natürlich diskret!“

Die Kripo wäre ja auch schon zweimal bei ihr gewesen. Und sie ahnte schon seit langem, daß mit dem Doll was nicht stimmt. Er sei Quartalssäufer, wie man so schön sagt. Und das mit dem Immobilienmakeln, na ja, vielleicht hin und wieder, aber davon leben könne die Familie sicherlich nicht. „Sie hatten bestimmt viel mit der Familie zu tun, wegen dem Lärm der Tochter?“ frage ich. Eher weniger, korrigiert Frau Plock. Das wäre vor ihrer Zeit gewesen. Sie wäre erst seit sieben Jahren im Ordnungsamt, und in dieser Zeit gab es keine Beschwerden wegen Lärm; danach hätte die Kripo auch schon gefragt.

Ich erfahre von meiner neuen Quelle, daß die Kripo Geldwäsche oder nachrichtendienstliche Tätigkeit als möglichen Hintergrund in betracht zieht. Das würden zumindest die Kollegen von der Polizeistation erzählen. Dies würde auf einen Rachemord, eine Bestrafung oder Liquidierung, als Tatmotive hindeuten. Sie selbst denkt, daß die Mafia damit zu tun haben könnte; denn in dem italienischen Lokal am anderen Ende der Straße am Sportplatz wurde ja auch schon wegen der Mafia ermittelt. Und der Mord an Frau Bachmann vor fünf Jahren in der gleichen Straße wäre ja auch noch nicht geklärt.

Ein Zeitungsmann, insbesondere einer vom MAGAZIN, denkt in Schlagzeilen. „Mafia liquidiert autistisches Kind.“ “ 20 Jahre nach dem Mauerfall Kalter Krieg.“ „Wer stirbt als nächster in der Friedrich-Liszt-Straße?“ Bullshit, alles Bullshit. Diese Welt ist krank, aber doch nicht so krank.

In den nächsten zehn Tagen führe ich hunderte von Gesprächen, zahle 570 Euro für Tipps und hänge mich an die kranken Thesen und Hypothesen, weil es keinen besseren Ermittlungsansatz gab. Doll war zweimal über viele Monate im Ausland, man vermutet im europäischen Ausland. Die Nachbarn wissen eigentlich nichts über die getötete Familie. Es gab keine Einladungen, keine Einzugsgeschenke, keine Willkommenparties, keine gemeinsame Geburtstagsfeiern, kein Nachbarschaftsgrillen, kein Sylvester auf der Straße. Sogar am Millineumwechsel hatten die Dolls sich hinter den heruntergelassenen Rolläden versteckt. Und außer der Werbung kam auch so gut wie keine Post. Wo ist bei dieser Scheiße die Story? Ich werde für die Story bezahlt. Der Fall ekelte mich an.

Bis die Polizei verlauten ließ, daß zur Tat eine Walther P 38 und ein selbstgebauter Schalldämpfer verwendet wurden. Adieu ihr Abstrusithesen. Das war’s dann. Welcher Profi würde eine uralte Pistole und einen Dosenschalldämpfer benutzen? Der Killer war ein Amateur!

Je weniger die Polizei an Ermittlungsansätzen hatte, umso weniger kooperierten die Herren mit der Presse. Von Harald, meinem Informanten, erfuhr ich, daß annähernd 500 Vernehmungen erfolgt seien. Die einzige aufnehmbare Spur sei derzeit die verschwundene Waffe, besagte Walther P 38, vermutlich eine alte Wehrmachts- oder Polizeipistole, Kaliber 9X19 mm. Aus informierten Kreisen bekam ich den Tipp am kommenden Montag, um 07:20 Uhr, an der ARAL-Tankstelle zu sein – an Dolls Tankstelle. Ich sollte mich überraschen lassen. Solche Spielchen hasse ich.

Die Festnahme des Nachbarn war ein Hammer. Hätten die Idioten mir gesagt, daß sie so ein SEK-Ding abziehen würden, hätte ich einen Kameramann mitgenommen. So hat es gerade zu einem Dutzend Schnappschüssen mit meinem Fotohandy gelangt. Drei Limousinen umstellen den blauen Golf, gleichzeitig stellen sie Blaulichter auf die Dächer und schwer gepanzerte SEKler springen aus den Wagen, reißen alle Türen des Golfs inklusive Kofferraum auf und zerren den Insassen auf den Asphalt. Der Typ, den die da auf offener Straße zusammenfalteten, war der direkte Nachbar der Dolls, Frank Märtle. Ich hätte es wissen müssen. Märtle war der einzige dieser tollen Nachbarschaft, mit dem ich nicht persönlich gesprochen hatte.

Mein Redaktionsleiter ist trotz des schwachen Bildmaterials begeistert, schaufelt die Titelseite frei und klopft mir anerkennend auf die Schulter. Wir haben die Bilder von der Festnahme exklusiv. Er gibt mir auf den Weg, daß ich nur noch aus dem Mörder ein Monster machen muß, und dann sei die Story MAGAZINgerecht und perfekt.

Da war sie wieder, die Frage nach dem Warum. Welches Motiv hatte Märtle, nicht nur den Nachbarn, sondern auch dessen Frau und die Tochter auszuschalten. Nachbarschaftsstreit? Deswegen begeht man doch keinen dreifachen Mord. Triebtäter? Bei einer Autistin und deren Mutter, der die Strumpfhosen in die Hornhaut eingewachsen sind? Rache? An einem Nachbarn, mit dem man zehn Jahre kaum gesprochen hat? Mordlust? Im Nachbarhaus? Das alles konnte es nicht sein.

Während ich versuche eine Brücke vom Mörder zum Monster Märtle zu konstruieren klingelt mein Telefon. Abgeblasen! Kein Titel! Märtle wurde wieder freigelassen! Keine Haftgründe. Ein Schuß in den Ofen, mehr war es nicht.


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Tag der Veröffentlichung: 03.10.2009

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„Die Gewalt von Worten kann manchmal schlimmer sein als die von Ohrfeigen und Pistolen“ (Heinrich Böll)

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