Im Visier
Ich verfluche den 01. Juli 1999, den Tag, an dem wir in dieses Haus gezogen sind. Den Tag, an dem wir unsere Unschuld und unseren Glauben verloren haben. Ich verfluche diesen Augenblick, in dem wir mit unserer Unterschrift beim Notar unseren Frieden veräußerten für ein Haus, in dem man nicht leben kann. Doppelhaushälfte, was kann es Schlimmeres geben.
Sechs Wochen später zogen diese Nachbarn ein. Sie kamen ganz unscheinbar mit nur wenigen Möbeln, mit ihrer erwachsenen Tochter, die an diesem Tag die ganze Zeit im Garten stand, während die Möbelpacker das Bißchen ins Haus trugen, und unentwegt zu uns herüber starrte. Sie war an diesem Tag ganz still, stand da und stierte nur. Heute, genau zehn Jahre später, weiß ich, daß dieser Dämon uns an jenem Tag, den ich noch mehr verfluche als den Tag des Hauskaufs, ins Visier nahm.
Wir wohnen am Ortsrand, das letzte Haus in der Straße. Unsere Nachbarn sind diese Familie und eine US-Kaserne. Frank, mein Mann, stellte sich gerne im Atelier ans Fenster und schaute den Soldaten zu, wie sie antraten, Formation einnahmen und marschierten. Man sagt, daß in dieser Kaserne auch Atomwaffen gelagert waren. Es gibt fünf unterirdische Abschußanlagen für Mittelstreckenraketen. Man kann vom Atelierfenster aus die getarnten Bunkerdecken erkennen, und bei Übungen haben wir die geöffneten Luken schon gesehen.
Die Amerikaner zogen vor fünf Jahren ab. Zuerst nach Kuwait und den Irak, und dann ganz weg, nach Hause. Die Kaserne wird immer noch bewacht, obwohl keine Soldaten mehr dort wohnen und die riesige Fläche nun brach liegt. Kein Morgenappell mehr, kein Marschieren, Drill, Uniform. Eigentlich sehr schade. Die Soldaten und ihre Frauen und Kinder waren immer nett.
In der Nacht, als unsere Nachbarn eingezogen waren, hörten wir die Geräusche zum ersten Mal. Es war kein Weinen oder Schreien. Es war auch nicht das tiefe Gurren, wie man es von Taubstummen, die Laute von sich geben, kennt. Es war ein unbeschreibliches immerwährendes, forderndes Herauswürgen von Sprache, von Tönen und Lauten, von hysterischem Auflachen oder monotonen Gemurmel – ich kann es nicht beschreiben. Es war immerdar. Frank hat es auf Tonband aufgenommen. Unser Rechtsanwalt beschrieb es lapidar als ein „das friedliche Zusammenleben störende Geräuschphänomen“. Aber auch unsere Anzeigen bei der Polizei und dem Ordnungsamt wegen dieses Phänomens brachten keine Abhilfe. Wir erfuhren lediglich, daß diese Frau eine Autistin wäre, und mehr oder weniger sagte man uns, daß wir nicht so empfindlich sein dürften.
Wir versuchten uns mit der Situation abzufinden und veränderten unsere Raumaufteilung, unsere Lebensgewohnheiten, unseren Tagesablauf. Die Kinder Lukas und Fabian litten nicht unter den Geräuschen. Frank benutzte nachts Ohrenstöpsel und als beide Kinder vormittags in Kindergarten und Schule waren, nutzte ich diese Zeiten, um auszuruhen, während ich nachts lange fernschaute oder laß. Noch schlimmer als die Nächte mit den Geräuschen waren die wenigen Nachtstunden, in denen man gar nichts hörte. Sie erinnerten an den Frieden, den Menschen haben können, und machten Hoffnung, Hoffnung, die mit Anbruch des Tages wieder verloren ging.
In den ersten Jahren sprach Frank unseren Nachbarn, Herrn Doll, vereinzelt wegen des Lärms an. Freilich nicht wegen des Lärms, der von der Kranken ausging, sondern wegen des lauten Fernsehers, der ihren Krach übertönen sollte, wegen des Gegrölles auf der Straße, wenn Herr Doll betrunken nach Hause kam und von seinen Frauen ausgesperrt war, wegen des stundenlangen Rauschens der Wasserleitung, wer weiß weshalb. Reden nutzte nichts, genausowenig wie die Briefe und Anzeigen. Es war, als wären wir die Einzigen auf der Welt, die ein solches Problem hatten. Ein Problem, dessen Existenz verleugnet werden mußte, um der Unversehrheit der Autistin wegen. Wen kümmerte unsere Unversehrheit, unsere Würde?
Frank fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, woanders zu leben. Ich weiß noch genau, daß diese IKEA-Werbung im Fernseher lief: Wohnst du noch, oder lebst du schon? „Unserer Kinder wegen“, sagte ich, und „ja, das wäre ein Traum“. Wir versuchten das verfluchte Haus zu verkaufen. Wir versuchten es zu vermieten, unser schönes Haus. Doch niemand wollte diese Nachbarn haben. Ich bekam von meinen Eltern vorzeitig einen Teil meines Erbes ausgezahlt, 20.000 Euro. Die Hälfte davon bot ich Herrn Keil, den Vermieter der anderen Haushälfte, dafür an, daß er Doll’s kündigt und neue Mieter sucht. Wenn Frank das wüßte, daß ich soetwas getan habe.
Frank fühlte sich schuldig, weil er uns hierhin gebracht hatte. Er wollte in der Nähe seines Arbeitsplatzes wohnen; damit wir nur ein Auto brauchten und daß er in der Mittagspause nach Hause kommen könnte. Er hatte sich alles so genau ausgerechnet und geplant. Wir sind fast schuldenfrei, und wir haben nichts entbehren müssen, außer …
Es ist lächerlich und verletzend zu behaupten, Frank hätte diese Familie ausgelöscht. Er war es nicht! Er kann es nicht gewesen sein! Ich habe ihn ins Gesicht gefragt, und er versicherte mir, daß er kein Mörder ist. Frank hat mich noch nie belogen. Er könnte mit so einer Schuld auch nicht leben. Frank geht immer den korrekten Weg. Selbst die Anzeigen gegen die Nachbarn waren keine spontanen Reaktionen, sondern das Ergebnis intensiver Gespräche mit der Polizei, dem Rechtsanwalt und seinen Eltern. Frank hat über alles Buch geführt; jeder Schritt ist dokumentiert. Und jetzt wird überall behauptet, ihm wären die Sicherungen durchgebrannt und er hätte im Affekt gehandelt. Mit anderen Worten heißt dies, daß Frank nicht mehr an die Kinder und mich gedacht haben soll – ausgeschlossen.
Es ist richtig, daß ich an diesem Wochenende mit den Kindern und dem Sportverein in Reichenbach und nicht zu Hause war. Seit einiger Zeit nutze ich diese Wochenenden, um Ruhe zu tanken, auszuspannen und mal an etwas anderes zu denken. Und den Kindern tut es auch gut mal herauszukommen. Deshalb übernachten wir bei den weiten Auswärtsspielen vor oder an den Spieltagen in einer preiswerten Pension. Das ist der einzige Luxus, den wir uns leisten. Die Polizei unterstellt, Frank hätte dies arrangiert, um an besagtem Wochenende alleine zu sein. Blödsinn. Frank hat dies unterstützt, weil es für mich und die Kinder die einzige Möglichkeit ist, ein ungestörtes Wochenende zu haben, an zwei von 14 Tagen zu leben.
Mein Mann ist kein Mörder. Ein Motiv? Oh ja, Motive gab es soviele wie Tage in zehn Jahren. An jedem dieser Tage wurde unser Leben gestört, und in der Summe zerstört. Aber niemand, der solches selbst nicht erlebt hat, soll es wagen, die Tiefe dieses Motivs auszuloten. Es kann sowieso nicht gelingen. Das Motiv hat zu Lebzeiten niemanden interessiert, und genausowenig wie das vermeintliche Motiv meinen Mann zum Möder gemacht haben soll, hat es auch mich nicht zur Mörderin gemacht. Ich hatte dasselbe Motiv, aber wer würde behaupten, ich sei die Mörderin?
Ich habe dieser Familie nicht den Tod gewünscht. Ich bin ehrlich schockiert über das, was da passiert ist. Nach mehr als 100 Tagen erkenne ich aber, daß Doll’s ihre Ruhe haben, während für uns die Hölle weitergeht. Ich kann nicht mehr an Gerechtigkeit glauben. Ich verhärte in meinem Empfinden. Ich habe Angst. Immer noch sehe ich diese Frau im Garten stehen, zu uns hinüberstarren und sich ihren dämonischen Plan ausdenken. Mir kommt es so vor, als wäre damals schon festgelegt worden, was unausweichlich zehn Jahre später eingetreten ist. Und damals schon festgelegt wurde, was nun noch geschehen würde. Ich habe Angst.
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Tag der Veröffentlichung: 26.09.2009
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