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Abzug


Außer Spesen nichts gewesen.

Am liebsten würde ich dem Polizeipräsidenten genau diesen Spruch als Resumee unserer Arbeit nach 129 Tagen Sonderkommission mitteilen. Das wäre jedoch zu salopp und auch nicht den Tatsachen entsprechend. Die Kollegen und das Labor leisteten sehr gute Arbeit, und der Fall scheint kriminalistisch geklärt zu sein. Aber es wird nicht reichen, um Frank Märtle wegen dreifachen Mordes an seiner Nachbarsfamilie ins Zuchthaus zu bringen. Ich werde den Polizeipräsidenten mit diesem mangelhaften Ergebnis um Abzug der Sonderkommission Friedrich-Liszt-Straße bitten.

Wie es der Zufall wollte hatte ich selbst am ersten Wochenende nach Ostern Tatortbereitschaft. Um 10:13 Uhr wurde ich über die Familientragödie informiert. Drei Leichen befanden sich in der Doppelhaushälfte auf drei Etagen verteilt. Keine Aufbruchspuren, keine Kampfspuren, keine Fragen außer: Wo ist die Tatwaffe? In ihrem Zimmer unter dem Dach lag die 37jährige Bettina Doll mit zwei Brusteinschüssen tot in ihrem Bett. Ihre Mutter Roswitha, 57 Jahre, lag durch drei Schüsse in die Brust getötet im Ehebett der Eltern. Und im Flur des Erdgeschosses am Hauseingang lag der vermeintliche Verursacher dieser vermeintlichen Familientragödie, der Vater Armin Doll, 62 Jahre, mit einer Kugel im Kopf - wäre da auch die Tatwaffe gewesen. Doch die war nicht auffindbar.

Doll war Immobilienmarkler. Er war an seinem Todestag mit dem Ehepaar Schorlemmer um 09:00 Uhr verabredet, um sich mehrere Hauskaufobjekte in der Umgebung anzusehen. Bereits an den beiden vorangegangenen Wochenenden war Doll mit den Leuten auf Besichtungstour gewesen. Er hatte keinen Führerschein, weshalb er sich regelmäßig von seinen Kunden zu Hause abholen ließ. Schorlemmers wunderten sich, daß im Haus Licht brannte, jedoch weder auf Klopfen noch Klingeln noch auf Telefon reagiert wurde. Sie verständigten über 110 die zuständige Polizeistation.

Ich veranlaßte eine große Spurensicherung. Der Tatort wurde akribisch untersucht, fotografiert, gefilmt, vermessen, beschrieben, weitestgehend konserviert und versiegelt. Der Fundort der Leichen war lagerecht. Die Totenflecken und Blutabrinnspuren befanden sich an den zu erwartenden Stellen. Alle drei Opfer waren seit ca. 8 bis 12 Stunden tot. Das verrieten uns die Wegdrückbarkeit von Leichenflecken, die Brechbarkeit der bereits eingetretenen Leichenstarre und die Temperatur der Toten.

Die Nachbarschaftsbefragungen ergaben keine konkreten Hinweise zur Tat. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Keiner wußte etwas über die ehemaligen Nachbarn zu berichten, mit Ausnahme dessen, daß die Tochter autistisch veranlagt war und von der Familie beständig Lärm ausging. „Komisch“, dachte ich, als ich diesen Hinweis das erste Mal hörte. Denn bei meinem Eintreffen lief zwar der Fernseher noch, war aber auf Stumm

geschaltet. Auffällig bei diesen Befragungen war lediglich der direkte Nachbar und jetzige Hauptverdächtige Frank Märtle, der ein starkes Desinteresse und Unbeteiligtsein an seinen getöteten Nachbarn demonstrierte.

Die Kriminaldirektion entschied bereits am nächsten Tag die Sonderkommission Friedrich-Liszt-Straße zu bilden, da keinerlei Spuren oder gar Beweise zu einem konkreten Tatverdacht führten. Es mußte in alle Richtungen ermittelt werden, ich bekam die Leitung dieser zwölfköpfigen Soko.

Die getötete Familie kam 1989 aus der früheren DDR in den Westen nach Kerpen bei Köln. Danach verbrachte Armin Doll ohne seine Familie 13 Monate in den Jahren 1992 und 1993 irgendwo im Ausland. Welcher Tätigkeit er in dieser Zeit nachging, konnte bislang nicht ermittelt werden. 1999 wurde das Doppelhaus fertiggestellt und Doll mietete seine Hälfte direkt vom Architekten und Eigentümer des Hauses. Der Hauptverdächtige Märtle kaufte die andere Hälfte im gleichen Jahr. Im Jahr 2003 war Doll wieder für einige Monate ohne seine Familie im Ausland. Auch über diesen Aufenthalt gibt es bislang keine weiteren Erkenntnisse.

Armin Dolls einzige bekannte Erwerbstätigkeit war die eines freien selbständigen Immobilienmarklers. Das Gewerbe war angemeldet. Die Familie lebte jedoch offensichtlich vorwiegend von öffentlichen sozialen Unterstützungsleistungen, hauptsächlich für die autistische Tochter Bettina. Roswitha Doll und ihre Tochter übten keinen Beruf aus. Die Familie war nicht vermögend. Der Besitzstand war bescheiden bis ärmlich.

Selbstverständlich wurde die gesamte Umgebung gründlich nach der verschwundenen Waffe abgesucht. Erfolglos. Außer den Beschädigungen, die der Streifenbeamte am Schloß der Haustür verursacht hatte, als er aufgrund des Notrufes gewaltsam in das Haus eindrang, gab es keine Hinweise auf einen Einbruch oder eine Manipulation der Verschlußverhältnisse am Tatort. Die favorisierte Tathypothese war, daß das Opfer Doll selbst die Tür geöffnet hatte und sogleich im Flur durch den Kopfschuß getötet wurde. Die beiden Frauen schienen bereits geschlafen zu haben, als sie heimtückisch erschossen wurden.

Täterhinweise gab es keinen einzigen. Sogar den Bundesnachrichtendienst kontaktierte ich mit der Anfrage, ob Doll einen geheimdienstlichen Hintergrund in den neuen Bundesländern hatte. Diese These korrespondierte mit dem Jahr seines Umzugs als auch mit dem zweimaligen längeren Verschwinden im Ausland. Negativ. Über Doll und seine Familie gab es keine Kriminal- und auch keine Stasiakten. Die Auskunft aus dem Bundeszentralregister war klinisch sauber. Selbst der angebliche Führerscheinentzug war nicht aktenkundig. Allem Anschein nach hatte der Mann nie eine Fahrerlaubnis besessen. Bis zum vierzehnten Tag der Ermittlungen hatten wir nicht einmal die Spur einer Spur.

Den Durchbruch bei den Ermittlungen brachte die kriminaltechnische Untersuchung der Projektile und Hülsen, die am Tatort und in den Opfern gefunden wurden. Tatwaffe war eine Walther P 38 gewesen. Solche vollautomatischen Pistolen des Kalibers 9 X 19 mm hatten die Bundeswehr und auch mehrere Länderpolizeien bis Mitte der achtziger Jahre. Die konkrete Herkunft der Waffe, die nach BKA-Mitteilung weder beschossen noch registriert war, konnte nicht ermittelt werden. Aber an drei Projektilen wurden Spuren von Polyurethan gefunden. Das Labor konnte einen wasserfesten Zweikomponenten-PU-Schaum identifizieren, der nicht in Baumärkten vertrieben wird, sondern nur über den Fachhandel.

Die Frage war, warum PU-Schaum den Projektilen anhaftete?

Wie überprüften nun alle Waffenbesitzer im Umkreis von 50 km um den Tatort. Es konnte ja sein, daß an einer ehemaligen Bundeswehr- oder Polizeipistole lediglich der Lauf ausgetauscht wurde. Negativ. Aber die Befragungen der registrierten Waffenbesitzer lieferten uns einen Hinweis, was es mit dem PU-Schaum an den Projektilen auf sich haben könnte: selbstgebauter Schalldämpfer! Ein Büchsenmacher aus Darmstadt erklärte uns, daß man mittels einer Metallhülle, die mit Baustoffschaum ausgefüllt war, und in die man anschließend den Lauf der Pistole drückte, einen billigen aber wirkungsvollen Silencer zur Verfügung hatte. Die Bauanleitung dazu gab es sogar im Internet.

Wäre diese These zutreffend, dann war es kein Profi- oder Auftragsmord gewesen – eine Tathypothese, die immer noch verfolgt wird –, sondern dann war eine geplante Beziehungstat naheliegend, Mord. Jedoch die getötete Familie hatte keine Beziehungen. Es gab keine Verwandten oder Freunde, und die Nachbarschaftsbefragungen ergaben übereinstimmend, daß Familie Doll niemals Besuch oder ähnliches hatte. Die meisten der Nachbarn hatten die Frau und die Tochter noch nicht einmal gesehen.

Wir wagten ein Experiment. Die Universität Gießen stellte uns vier Experten zur Verfügung, die aufgrund ihres Geruchsvermögens dazu in der Lage sein sollten, ausgehend von der Doppelhaushälfte der Getöteten, den möglichen Lagerort dieses speziellen PU-Schaums ausfindig zu machen. Wir vermuteten diesen Ort in der Nachbarschaft, aber ohne einen konkreten Hinweis war es uns nicht möglich sämtliche Häuser zu durchsuchen. Wir gingen davon aus, daß uns das Stöbern mit den außergewöhnlichen Hunden auf den privaten Grundstücken niemand verwehren würde. Andernfalls war für den Einzelfall ein richterlicher Beschluß zur Durchsuchung schnell erwirkt.

Was wie ein gemütlicher Spaziergang an einem Freitagnachmittag aussah, brachte uns schließlich dem Täter auf die Spur. Drei unserer Experten führten uns unabhängig voneinander auf unterschiedlichen Wegen zum zwei Kilometer entfernten Firmengelände einer Baufirma. Wir wiederholten das Experiment viermal, bevor wir mit dem Firmeninhaber Wegemann Kontakt aufnahmen. Tatsächlich wurde in der Werkstatt dieses Unternehmens mit insgesamt siebzig Beschäftigten der gesuchte Zweikomponenten-PU-Schaum als Brunnenwasserdichtungsmittel in größeren Mengen verarbeitet. Und auf der Namensliste seiner Beschäftigten stand Frank Märtle, direkter Nachbar der Familie Doll, und Buchhalter von Herrn Wegemann.

Die direkte Befragung Märtles machte ihn dringend tatverdächtig. Er leugnete, Kenntnisse über Waffen, Waffentechnik oder Waffenselbstbauten zu haben. Die Festplatten sämtlicher Computer, die Märtle für eine mögliche Internetrecherche hätte benutzen können, wurden sichergestellt, bzw. kopiert. Schon am nächsten Tag wußten wir, daß der Suchbegriff „Silencer“ bereits am 18. Februar, also zwei Monate vor der Tat, auf Märtles Terminal in seinem Büro gegoogelt wurde. Damit schien der Fall aus kriminalistischer Sicht geklärt.

Die wahrscheinliche Täterschaft Märtles wurde im Kollegenkreis kontrovers diskutiert. Es fehlte ganz einfach ein glaubhaftes Motiv. Warum mußten drei Menschen sterben? Bis jetzt lagen nur Indizien vor, und die würden für eine Verurteilung wegen Dreifachmordes keinesfalls ausreichen. Wir beschlossen psychologischen und Ermittlungsdruck auf unseren Hauptverdächtigen auszuüben.

Montagmorgens inszenierten SEK-Kräfte die öffentliche spektakuläre Verhaftung Märtles, die ihm vermitteln sollte, daß die Polizei von seiner Täterschaft überzeugt ist. Wir präsentierten ihm Beweise, und wir übten bis an die Grenze des Erlaubten Druck auf ihn aus, machten ihm klar, daß es zu Lebenslänglich nur eine Alternative gab: sein Geständnis. Märtle blieb eisig kalt.

Von diesem Moment an hatte ich keine persönlichen Zweifel mehr, den Täter vor mir zu haben. Doch es hätte Folter bedurft, um ihn zum Reden zu bringen. Eisig kalt, Märtle war ein eiskalter Mörder, und ich mußte ihn dennoch nach drei Stunden wieder laufen lassen.

Die folgenden Wochen waren kriminalistische Kleinarbeit. Hunderte von Vernehmungen, Dutzende Spurenaufnahmen und Analysen an Schuhen, Kleidung, Abfällen, Papieren. Parallel dazu die Ermittlungen in alle anderen Richtungen, die wir nicht unterlassen durften. Wir gingen bis zum Jahr 1979 zurück, um uns ein umfassendes Bild sowohl von den Opfern als auch vom Täter zu machen. Märtle hatte schon 2001 die Polizei wegen beständigen ruhestörenden Lärms aus seiner Nachbarschaft um Einschreiten gebeten. Er wurde ans Ordnungsamt verwiesen; Bußgeldverfahren wurden nicht eingeleitet. Märtle hatte etliche Briefe an seine Nachbarn geschrieben und den Lärm darin angemahnt. Er hatte einen Rechtsanwalt involviert, dessen Bemühungen im Sande verliefen. Schließlich wollte Märtle sein Haus verkaufen, anschließend versuchte er zu vermieten. Beides schlug wegen der Nachbarschaft fehl.

Die Familie Doll war finanziell von Sozialhilfe abhängig. Es gab nur die beruflichen Berührungen des Ehemannes mit der Außenwelt; ansonsten hatte diese Familie keinen Kontakt zum Rest der Menschheit, außer durch Lärm, der hauptsächlich von der erwachsenen autistischen Tochter ausging. Man hörte die Familie in der Nachbarschaft, aber man sah sie nicht. Sozialstation, Kirche und Ärzte kannten diese Familie nicht. Auf unserer Magnettafel war das Wort kontaktarm mit einem Edding zu kontakttot verändert. Es mußte auch ein gewisser Grad der Verwahrlosung eingetreten sein; denn bei der Leiche von Roswitha Doll wurde festgestellt, daß die Stützstrumpfhose in die Hornhaut ihrer Füße eingewachsen war.

Doch war das ein Mordmotiv? Wer bringt drei Menschen um, nur weil von ihnen Lärm ausgeht? Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich über die Jahre mich verhalten hätte, wenn meine Nachbarn dieses Kaliber aufweisen würden. Eigentlich unvorstellbar, und doch bekam ich eine Ahnung davon, wie Märtle immer mehr vom rechtschaffenen Buchhalter, der jahrelang seinen Groll beherrschen und verbergen mußte, zum kalt berechnenden Killer mutierte. Sicherlich hatte der Buchhalter anfangs Unrechtsbewußtsein. Doch wenn alle Anfragen und Hilferufe an den Staat und die Gesellschaft im Nichts enden, verschwindet diese Hemmschwelle. Märtle tötete nicht seine Nachbarn, sondern er stellte nur die Ruhe, auf die er ein Recht beanspruchte, wieder her. Und in diesem Moment verstand ich auch, weshalb er den Fernsehapparat in der Tatnacht nur auf Stumm

schaltete.


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Tag der Veröffentlichung: 20.09.2009

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