„Sakradeibel, verfluchter, damischer Misthund, du blöder“, entwich es Polizeioberwachtmeister Wimpelmoser unwirsch zwischen Schnäuzer und Kinnbart, nicht wissend, wer da um 18 Uhr 30 auf den Klingelknopf seines Polizeipostens im oberbayrischen Tutnichtszursache sturmläutete. „Frecker, du depperter, saudummes Wiesel, das bu bist“ setzte er hintendran, während er die noch halbvolle Flasche Feierabendbier klirrend zu den anderen Flaschen unter seinem Schreibtisch stellte und die grüne Krawatte, deren Knoten zum Glück noch nicht gelöst war, wieder über den Kopf und zurück in den Kragen seines Diensthemdes zog. „Ja, ja, ja, du Plagegeist, du übellauniges“, stellte er sich sprachlich auf dienstlich und hochdeutsch um, bevor er zur Eingangstür seiner Wache ging, nochmals im Spiegel die Drehung der Enden seines preisgekrönten Schnäuzers überprüfte und dann würdevoll die schwere Eichentür aufzog. „Es wird doch kein Mord geschehen sein?“ fuhr er streng den atemlosen Landstreicher an, der kreidebleich vor ihm auf der untersten Stufe des Polizeipostens stand. Etwas anderes als Mord hätte Wimpelmoser um diese Uhrzeit auch nicht durchgehen lassen.
„Beim Kinde der Maria, ein Toter, im Lumpenschlucker der Malteser liegt einer drin“, erklärte Alois aufgeregt der Obrigkeit.
„Jesses Maria, ein Toter“, wiederholte Wimpelmoser. „Name?“
„Weiß ich doch nicht, wie der heißt. Kann doch nicht jeden auf der Walze kennen“, leugnete Alois seinen ersten Eindruck, daß dort im Altkleidersammler der Malteser sein Bruder gelegen haben muß. Ihm zum Verwechseln ähnlich sah der Leblose auf den ersten Blick aus, soweit sich Alois an sein Ebenbild erinnern konnte. Nur, er hatte keinen Bruder. Also konnte es bestenfalls ein Doppelgänger von ihm sein, ein genauso abgerissenes Fossil der Menschheit wie er, das beschlossen hat aus allem auszusteigen und notgedrungen in die Altkleiderspendencontainer einzusteigen, um mal warm und weich ausschlafen zu können.
„Nein, du depperter Depp, du nichtsnutziger“, schimpfte der Polizeioberwachtmeister. „Den deinigen Namen muß ich haben, verdammt noch mal! Ein Toter um diese Uhrzeit, sakradeibel!“
„Alois Vondreike heiße ich, und ich bins niemals nicht gewesen!“ nannte der Landstreicher seinen Namen und seine Bestimmung. Denn er hatte sich angewöhnt Amtspersonen immer im Vorhinein, sozusagen prophylaktisch, zu erklären, daß er nicht schuld war. Und meistens war er es ja auch nicht.
„Herein“, befahl der Polizist und beeilte sich hinter seinen Schreibtisch zu gelangen, wo die halbe Flasche Bier noch im Depot stand. Aber in der Amtsstube war es unschicklich in Gegenwart von Kundschaft das obergärische Lebensmittel zu zeigen, und so mußte er schlechterdings die Flasche unberührt lassen.
„Hätten Herr Wachtmeister vielleicht einen Schluck – auf den Schrecken?“ wagte sich Alois sozusagen aus medizinischen Gründen zu fragen. Ihm ging es ja wirklich übel, und die Gepflogenheiten in solcherlei Dienststuben waren dem Reisenden nicht unbekannt.
„Oberwachtmeister“ betonte Wimpelmoser und stellte erleichtert die halbleere Flasche vor den Landstreicher, öffnete sich aus dem Depot eine neue für sich, und unterbreitete die weitere Vorgehensweise: „Ich gehe jetzt meine Schuhe anziehen, und dann gehen wir zum Altkleidersammler. Ist der Tote noch da, rufe ich einen Arzt. Ist er nicht mehr da, brauchen wir keinen Arzt. Ist er da, brauchen wir die Kriminalen. Sind die Kriminalen da, werde ich nicht mehr gebraucht. Ja, so machen wir es!“
Erfreut darüber, daß das Dienstende zwar unweigerlich verschoben aber doch absehbar sein würde, freute sich Wimpelmoser darauf, bald nicht mehr gebraucht zu werden, also bald Feierabend zu haben. Wie geplant zog er seine dienstlich gelieferten schwarzen Halbschuhe an und stellte seine neue halbvolle Bierflasche nebst den Latschen zurück ins Depot unter seinem Schreibtisch.
Am Kleidercontainer des Malteserbundes forderte der Polizeioberwachtmeister den Landstreicher auf: „So, Bürscherl, jetzt zeig’st erst mal, wie du da hereingekraxelt sein willst.“
„Ich geh’ da nicht mehr rein!“ weigerte sich Alois.
„Einer muß aber“, stellte Wimpelmoser fest.
„Ich muß nicht!“ konkretisierte Alois diese Feststellung.
„Und wie kommt man da hinein?“ fragte der Polizist und bedauerte, daß er nicht an die Feuerwehr gedacht hatte. Die Blauröcke waren gemeinhin sportlicher und williger, wenn auch nicht so gewieft wie die Polizei. So ein Blaurock wäre jetzt eine feine Sache.
„Man muß nicht durch die Trommel“, verriet Alois schweren Herzens ein gut gehütetes Geheimnis der Männer auf der Walze. „Hinten hat’s eine Klappe, und dieser Spezialsschlüssel paßt in allen Fällen.“ Alois hielt der Amtsperson einen selbstgefeilten Bartschlüssel hin, der nur zwei Stifte hatte, mit dem man die hintere Verriegelung des Sammelbehälters öffnen konnte. „Bekomme ich aber wieder!“, stellte Alois klar, bevor er das Wertobjekt aus der Hand gab.
Wimpelmoser führte den Dietrich ein und entriegelte die Klappe. Bevor er den Blechflügel nach oben hob, holte er noch einmal tief Luft und bereitete sich mental auf den Anblick des toten Landstreichers im Altkleidersammler vor. Er würde nur einen kurzen Blick nehmen und dann den Arzt und die Kriminalen rufen. Ein Blick sollte genügen. Anfassen brauchte er den Toten ja nicht. Es war seine zweite Leiche, nach der 85jährigen Frau Jakubeit, die vor drei Jahren in ihrem Waschkeller einen Schlaganfall erlegen war und tot der Länge nach auf einem Haufen Handtücher und Wäsche lag. Alle seine Toten starben textil, ging es Wimpelmoser durch den Kopf.
Vorsichtig drückte er das Blech nach oben, schloß Nase, Mund und Augen und steckte seinen Kopf mit der grünen Dienstmütze in die Öffnung. Er blinzelte einmal kurz, erschrak so sehr, daß es ihm Mund und Nase aufmachte, öffnete ein Auge für mehrere Sekunden und erkannte, daß Alois ihn angelogen hatte. In diesem Container befand sich kein toter Landstreicher, sondern ein Kollege von ihm, ein Polizist, noch dazu einer mit prächtigem Schnauz- und Kinnbart.
Dieses "Beweisstück" wurde von Beamten der Kriminalinspektion im Malteser-Altkleidercontainer sichergestellt. Von der oder den Leichen gab es keine Spur mehr.
Tag der Veröffentlichung: 08.09.2009
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