Schalldämpfer
„Diese Ruhe, herrlich! Wie lange schon nicht mehr war es an einem Samstagmorgen hier so ruhig?“ Meine Frau war mit den Kindern und dem Sportverein bereits gestern Mittag zu einem Turnier nach Nordhessen gefahren. Außer mir war niemand im Haus, und auch in der Nachbarschaft war es seit Wochen, nein, seit Monaten und Jahren zum ersten Mal mucksmäuschenstill. „Diese Ruhe!“
Einzig ein Sirenensignal von einem Feuerwehr- oder Krankenwagen durchbrach die himmlische Stille. Ganz in der Nähe wurde das Signal abgeschaltet, aber das interessierte mich nicht. Ich hatte die erste Nacht ohne Ohrenstöpsel durchgeschlafen und fühlte mich an diesen ersten Samstag nach Ostern wie neugeboren.
Das Klingeln an der Tür riß mich aus meinem Genießen. Kriminalpolizei. Ob sie stören dürften. Blöde Frage. Ob ich heute Nacht etwas gehört hätte. Geräusche. Schüsse. „Was ist denn passiert?“ wollte ich wissen. Das weiß man noch nicht so genau. Aber gehört hätte ich nichts, wurde ich abermals gefragt. „Wie denn?“ frage ich. Ich schlafe mit Ohrstöpseln.
Später erfuhr ich, daß in der anderen Hälfte des Doppelhauses ein Familiendrama passiert ist. Vater, Mutter und Tochter tot. Alle drei erschossen. Vermutlich der Vater. Schrecklich. So etwas passiert immer wieder. Aber es war ja auch ein Tollhaus da drüben. Ständig dieser Krach. Ständig das Türenschlagen. Jede Nacht dieser Terror. Mir tut es nicht Leid um diese Leute, aber das darf man ja nicht sagen. Wäre ja herzlos. Mir ist das egal. Ich hab’ sie ja nicht umgebracht.
Spät nachmittags kam meine Familie nach Hause. Die Meldung war bereits in den Nachrichten und im Autoradio gewesen, aber daß es die Familie nebenan gewesen ist, erschütterte meine Frau doch sehr. „Ist doch egal“, beruhigte ich. „Wollen wir etwas essen gehen?“ Wir gingen zu dem Chinesen zwei Straßen weiter. Keine gute Idee. Auch dort war das Familiendrama Thema Nr. 1. Und die Kinder haben Nr. 31 Hähnchen süß-sauer auch nicht aufgegessen. Schade um das viele Geld.
Am Sonntagmorgen gab es jede Menge Aufregung in der Straße. Zwei Mannschaftswagen mit jungen Polizisten durchsuchten alle Gärten und Grundstücke und drehten jeden Stein um. Die Tatwaffe suche man, erfahre ich von den Nachbarn auf der anderen Seite. Ich denke, es war ein Familiendrama. Mir fällt auf, daß meine Mülltonnen leer sind. Natürlich können sie meinen Garten durchsuchen. Von mir aus auch umgraben. Ich habe nichts zu verbergen.
In meinem Büro im gleichen Ort erfahre ich von den Arbeitskollegen, daß sie drei Leichen aus dem Haus getragen hätten. Ein Schreinergeselle, der dabei war, habe erzählt, daß die Frauen tot in ihren Betten lagen. Herzschüsse. Fünfmal. Die ganze Trommel muß der Mörder leergeschossen haben. Der Mann lag tot im Flur des Hauses. Kopfschuß. Aber keine Waffe da.
Am gleichen Abend kommen die Herren wieder. Sie müßten nochmal fragen wegen der Schüsse. Man müßte doch etwas hören, so Wand an Wand. Nein, ich habe nichts gehört. Nein, ich kannte die Leute nicht näher. Nein, ich weiß nicht, was für Menschen das waren. Er war Immobilienmakler und Quartalssäufer. Mehr weiß ich nicht. Und ich schlafe mit Stöpseln im Ohr, weil ich einen leichten Schlaf habe.
Das Nachbarhaus und der Garten wurden mit Absperrbändern mit der Aufschrift POLIZEI abgeriegelt. An den Türen und Fenstern klebten Siegel. Mein Frau sagte mir, daß jeden Tag jede Menge Polizisten ein- und ausgehen würden. Und die Journalisten waren lästig wie Schmeißfliegen. Ich ignorierte das. Er hätte Geld für die Mafia gewaschen. Vielleicht wurde Geld von ihm veruntreut und er deshalb bestraft? Eine Zeitlang habe er im Ausland gelebt. Wer weiß, was er da getrieben hat? In den Nachrichten brachten sie, daß die Polizei nach zwei Wochen immer noch völlig im Dunkeln tappen würde. Es gäbe nicht mal die Spur einer Spur, und in alle Richtungen würde ermittelt werden. Und jeden Tag dieser Verkehr und diese Schmeißfliegen auf der Straße. Wenigstens nachts war es ruhig.
Nach 14 Tagen wurde ich zur Vernehmung ins Polizeipräsidium vorgeladen. Man könne mir eine gute Nachricht sagen. Der Täter habe einen Schalldämpfer, einen selbstgebauten Schalldämpfer, verwendet, was erklären könnte, weshalb ich die Schüsse nicht gehört habe. Aber das wolle man noch einmal vor Ort in einem Versuch erproben. Was daran soll für mich gut sein?
Ich bin erleichtert. War ja schon ein Verdacht auf mich gefallen. Gerade an diesem Wochenende war die Familie weg, und ich hatte schon jahrelang Streit mit diesen Nachbarn wegen des endlosen Lärms. Ich räumte ein, daß es Differenzen gab, Schriftverkehr und Anzeigen wegen Ruhestörung. Aber das war lange her. Seit 10 Jahren sind wir Nachbarn, und wir mochten uns auch nicht. Das war’s aber auch schon.
Der Versuch mit dem Schalldämpfer brachte Klarheit. In meinem Schlafzimmer war nicht mal ein Puff zu hören. Wie so ein Schalldämpfer selbst gebaut werden könnte, wurde ich gefragt. Ich habe keine Ahnung. Ob ich Waffen hätte? Natürlich nicht. Ob ich mich für Waffen interessieren würde? Genausowenig. Diese Fragen. Ich kam mir wie der Hauptverdächtige vor.
Und der war ich auch! Während in meinem Wohnzimmer die Pseudo-Schalldämpfer-Probe stattfand, bauten Polizisten aus allen Computern in meiner Firma die Festplatten aus und kopierten sie. Und nach der ersten lockeren Befragung zu meinen Kenntnissen und Neigungen über Waffen wurde mir offziell erklärt, daß ich nicht weiterhin Zeuge sondern nun Tatverdächtiger sei. Ich hätte das Recht zu schweigen und die ganze Litanei.
Mein Laptop wurde beschlagnahmt. Meine Frau vernommen. Meine Imtimsphäre mit Füßen getreten. Mein Leben auf den Kopf gestellt. Jetzt hatte ich nach zehn Jahren zum ersten Mal anhaltend Ruhe vor meinem penetranten Nachbarn und seinen bekloppten Weibern, und nun setzte mir die Polizei unerträglich zu. „Was soll das?“ Ich will meinen Frieden, meine Ruhe, mehr nicht!
Mein Chef erklärte mir, daß es Schwierigkeiten mit der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit einer Baustellenausschreibung und wegen manipulierter Preise geben würde. Deshalb wären die LKA-Experten in der Firma gewesen. Ich offenbarte ihm, daß ich wegen der Geschichte bei meinen Nachbarn selbst Tatverdächtiger sei, was sich aber bald aufklären würde, da ich nichts mit den Morden zu tun hatte.
Drei Tage später wurde ich von einem zivilen BMW 520i mit aufgesetztem Blaulicht auf der Fahrt von zu Hause in meine Firma, einer Strecke von gerademal 2,2 km, die ich jeden Tag um exakt die gleiche Uhrzeit zurücklegte, auf der dreispurigen Bundesstraße gestoppt und wie in einem Krimi festgenommen. Ich wurde aus meinem Auto gezerrt, auf die Straße geworfen, Beine auseinander, Hände auf den Rücken, Sie - sind - wegen - des - dringenden - Tatverdachts - des - Mordes - festgenommen, Handschellen, Anbrüllen, in den BMW gezerrt und mit Martinshorn und Blaulicht in rasender Fahrt zum Polizeipräsidium gebracht.
„Nur ein Geständnis könnte sie jetzt noch retten“, sagte der Vernehmungsbeamte. Dann wäre es Totschlag, vielleicht sogar Totschlag im Affekt. So aber würde ich des dreifachen Mordes überführt werden. Zu Lebenslänglich überführt. Die Beweise sind eindeutig. „Märtel, gestehen Sie doch endlich“, brüllte mir das Arschloch aus 10 cm Abstand ins Gesicht. Sein Speichel lief auf meinen Wangen herab, und ich konnte mir noch nicht einmal den Ekel aus dem Gesicht wischen, weil ich immer noch auf dem Rücken gefesselt war. „Märtle“, sagte ich. „Ich heiße Märtle, nicht Märtel.“
Ich war die Ruhe selbst. Eine überirdische Kraft hielt mich aufrecht. Meine Handgelenke schmerzten höllisch, und ich glaubte, daß mindestens drei Finger bereits abgestorben waren. „Sie haben in ihrer Firma am 18. Februar nach Schalldämpfern gegoogelt. Das können wir beweisen!“ toste es in meinem Kopf. „So haben sie erfahren, daß man mit einer Dose und PU-Schaum auf einfachste Weise einen effektiven Schalldämpfer selbst bauen kann“, drosch das Schwein auf mich ein. „Unser Labor konnte an drei der sechs Projektile genau den PU-Schaum nachweisen, der in ihrer Firma verarbeitet wird.“ Und wie mit einem Megaphon direkt in mein Ohr gebrüllt: „Mann, sehen sie doch ein, daß es vorbei ist! Sie haben keine Chance mehr.“
Geständnis? Ich spürte meine Finger nicht mehr. Jeder in der Firma könnte nach Schalldämpfern gegoogelt haben. Der Stuhl unter mir brach zusammen. Seitlich fiel ich auf meine Arme und meine Hand riß ab. Aber ich konnte die Arme immer noch nicht nach vorne nehmen. „Oh, Pardon!“ hörte ich einen der Kriminalbeamten ironisch sagen.
Nach drei Stunden wurde ich wieder entlassen. Gleichzeitig mit mir hatten sie auch meine Frau ein weiteres Mal vernommen. Und sie hatten gar nichts gegen mich in der Hand, außer ihren Phantasien. Diese drei Stunden und drei Wochen zusammen waren nicht so schlimm wie die eine Frage meiner Frau, die sie mir auf der Nachhausefahrt stellte: „Warst du es?“ Ich war es nicht! Ich haßte die Familie, ja. Ich wünschte ihnen den Tod, ja. Ich freute mich sogar, daß sie tot waren, ja, ja, ja. Aber ich war es nicht.
In unserer Wohnung war Polizei. LKA schon wieder. Mit einem Staubsauger saugten sie alle Zimmer aus und nahmen den Staub zur Untersuchung mit. Alle Sitzmöbel wurden mit Klebefolie abgeklebt, alle meine Jacken und Schuhe waren eingetütet und wurden weggetragen. Eine Toilettenspülung war aus der Wand gerissen. Die Fliesen vor dem Syphon der Badewanne waren zerschlagen. Sämtliche Ordner waren beschlagnahmt. Das war nicht mehr mein Zuhause.
Mein Chef beteuerte, wie sehr er sich meiner Unschuld gewiß war, dieser Heuchler. Ich war unschuldig, aber er glaubte es nicht. Sonst hätte er mir schon vorher etwas gesagt oder sogar von seinen vielen Millionen den besten Rechtsanwalt bezahlt, den ich kriegen könnte. Doch ich brauchte keinen Rechtsanwalt. Wegen eines Nachbarschaftsstreits löscht man doch keine ganze Familie aus. Das Mädchen soll sogar autistisch gewesen sein. Das mußte doch jeder vernünftige Mensch erkennen.
Obwohl die Polizei alle Arbeitskollegen vernommen hatte, blieb das Verhältnis zu ihnen so freundlich und normal, wie es immer war. Ich informierte sie über die Geschehnisse. Sie würden es sowieso erfahren. Meine Festnahme war Stadtgespräch, dafür hatten die Bullen gesorgt. Sie hätten mich genausogut anrufen können, und ich wäre von alleine ins Präsidium gekommen. Aber sie wollten ja den großen Bahnhof. Sie wollten mich ja demütigen und fertigmachen. Und wie sollte ich mich wehren, wenn sie jetzt einen Knopf von einer Jacke heimlich entfernten und ihn einfach irgendwo am Tatort platzieren würden? Nein, die Polizei wollte einen Schuldigen und nicht die Wahrheit, und ich war derzeit der Hauptverdächtige. Wie krank war das? Wie verdreht war diese Welt?
Das Warten dauerte weitere 14 Tage, in denen ich außer einem paar Sandalen und einer Trainingsjacke keine vernünftigen Schuhe oder Oberbekleidung hatte. Zum Glück war es warm gewesen. Das Angebot des Soko-Leiters, der meinen Fall verantwortlich leitete, war ein freiwilliges psychologisches Gutachten. Meine Fingerabdrücke, Speichelprobe und Lichtbilder hatten sie ja schon. Jetzt sollte auch noch in mich hinein geschaut werden. Ich willigte ein. Wenigstens hatte ich meine Schuhe wieder.
Ein unauffälliger Einzelgänger bin ich. Still. Zurückhaltend. Fixiert auf meine Kinder, mich und meine Frau (in dieser Reihenfolge). Introvertiert. Überdurchschnittlich intelligent. Selbstbeherrscht. Akribisch. Kühl und vernunftgesteuert. Rechthaberisch soll ich auch sein. Unterprivilegiert und nicht entsprechend meinen Fähigkeiten beruflich eingesetzt; das sollte mein Chef mal hören. Nichtraucher, Antialkoholiker. Ich frage mich, welcher vernünftige Mensch raucht und trinkt und zerstört damit seinen Körper? Aha, nach Ansicht der Psychologen ist es also ein Makel, kein Selbstzerstörer zu sein.
Rechtzeitig zum Ferienende lagen die Ergebnisse der letzten kriminaltechnischen Untersuchungen vor. Ich bekam keine Miteilung darüber, aber mein Chef hatte von der Polizei erfahren, daß im Staub und auf den Möbeln keine Spuren von PU-Schaum gefunden wurden. Wie auch? Damit war Schicht im Schacht. Wäre meine Ehe nicht so gut und außerordentlich belastbar gewesen, dann hätten wir dieses Martyrium nicht durchgehalten. Die Arbeit war mir egal. Mein Chef. Ein Despot. Nur die Familie zählte.
Am ersten Schultag kam mein Sohn völlig verstört aus der Schule nach Hause. Mördersohn hatten sie ihn genannt. Die andere Hälfte des Doppelhauses war immer noch Wallfahrtsort für unzählige Neugierige und Zeitungsleute. Und gelegentlich wurde auch bei uns geklingelt, sagte mir meine Frau. Die anderen Nachbarn sprachen nicht mehr mit uns. Naja, das hatten sie vorher im Grunde genommen auch nicht getan. Es war zwar erst Mittagspause, aber ich wollte sofort in die Schule und die Sache mit meinem Sohn dort klären. Also rief ich in meiner Firma an und meldete mich krank. Das erste Mal in 14 Jahren.
In der Schule waren die Lehrer meines Sohnes nicht mehr da und auch nicht mehr erreichbar. Die Schulleiterin bedauerte den Vorfall, von dem sie bis dahin noch nichts wußte. Sie würde mit ihren Kollegen sprechen. Erledigt.
Mein Chef wollte anderntags wissen, was für eine Krankheit es denn sei, daß ich plötzlich nachmittags nicht mehr kommen konnte. Ich sagte ihm die Wahrheit. Wenn dieser Fall zu einer Belastung für die Firma werden würde, dann müßte sich die Firma von mir trennen, gab er mir mit auf den Weg. Scheißkerl! Mit seinem Einfluß kann er sich vielleicht alle Informationen über mich kaufen, aber nicht meinen Respekt. Er glaubt nicht an meine Unschuld. In seinen Augen bin ich vielleicht ein Monster. Aber um wievieles mehr ist er denn ein Monster?
Dieses Wochenende ist das erste Mal wieder Ruhe. Frau und Kinder sind in Baden-Württemberg zum ersten Softballturnier nach den Ferien. Herrlich! Wie lange schon nicht mehr war es an einem Samstagmorgen hier so ruhig? Mucksmäuschenstill! Irgendwo in der Ferne höre ich Sirenen, ein Polizeiauto oder Krankenwagen. Das muß in der Gegend sein, wo mein Chef wohnt. Er hat sich eine prächtige Villa aus einer ehemaligen Ziegelei gebaut. Mit Museum für seine Oldtimersammlung, und Gästehaus.
Texte: Die geschilderte Handlung ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist weder beabsichtigt noch gewollt.
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Tag der Veröffentlichung: 12.08.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet allen Opfern