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Vor 14 Tagen erlitt der Bürgermeister von Hünfeld, Dr. Ferdinand Derer, im Alter von 64 Jahren an seinem Schreibtisch im Rathaus, einen Schlaganfall, den er nicht überlebte. Die 16.000 - Seelenstadt hatte nun keinen Verwaltungschef und ich keinen Vater mehr. Pfarrer Welke von den Oblatenmissionaren, die seit mehr als 100 Jahren genauso untrennbar zu Hünfeld gehören wie Konrad-Zuse, bot mir an, mich zu begleiten, wenn ich die persönlichen Dinge meines Vaters aus seinem Büro abholen würde. Mutter war dazu nicht in der Lage, und einen Fremden diese Aufgabe erledigen zu lassen, erschien uns unangemessen.


„Nicht nur Sie haben einen großen Verlust erlitten“, tröstete mich Pfarrer Welke als wir vor dem 1888 im Renaissancestil erbauten Rathaus standen und es mich merklich Überwindung kostete, in dieses schönste Gebäude der Stadt einzutreten. „Ihr Vater war überaus beliebt und sein Leben und Wirken ist für immer mit der Geschichte dieser Stadt verbunden.“

„Hohle Phrasen“, dachte ich, „ich habe meinen Vater verloren“. Wortlos ging ich die 20 Steinstufen zum Haupteingang empor, grüßte Frau Mehler am Empfang, die verlegen aufstand und sogar einen Knicks machte. Sie wußte, weshalb wir kamen, eilte voran und schloß den repräsentativen Bürgermeistersaal für uns auf.


Der Raum wurde beherrscht von einem breiten antiken Schreibtisch aus Nußbaumwurzelholz im Barockstil. Es war mir kaum vorstellbar, daß mein Vater an diesem Museumsstück im Louis-XV-Stil tatsächlich gearbeitet haben soll. Sein Büro zuhause war ein kleines Zimmer mit PC-Anschluß, und den Winkelschreibtisch hatte er bei IKEA gekauft. Es war das genaue Gegenteil von diesem Raum.

Ich betrachtete das Meisterwerk mit den geschwungenen kunstvollen Beinen, dem Lederschreibfeld und den reichhaltigen Intarsienarbeiten, als Frau Mehler auf den Fußboden zwischen Stuhl und Schreibtisch deutete und sagte: „Wir haben Herrn Dr. Derer hier gefunden. Es war leider zu spät.“ Und sie fügte hinzu: „Der Hausmeister hat ein paar leere Kartons bereitgestellt. Wenn Sie beim Tragen Hilfe brauchen, rufe ich Herrn Möller.“


Es gab nicht viel Persönliches einzupacken. Die Familienfotos, ein Schreibset, Tischuhr mit Barometer, verschiedene Bücher. In einer der fünf Schubladen befanden sich Ersatzhemden und Krawatten. Ein Rasierapparat. Ein Diktiergerät. Zwei Ersatzlesebrillen. In der großen mittleren Schublade lag in einem Samttuch eingeschlagen das Goldene Buch

der Stadt Hünfeld. Ich legte es auf das Lederschreibfeld. Den Bildband vom Hessentag im Jahr 2000 packte ich ein und erinnerte mich, wie sehr mein Vater immer noch von diesem großen Landesfest in seiner Stadt schwärmte.

Nach 20 Minuten war alles ausgeräumt und verstaut, bis auf den Inhalt der schmalsten Schublade, die abgeschlossen war. „Ich vermisse das Laptop meines Vaters“, wandte ich mich an Pfarrer Welke, weil ich vermutete, daß er in dieser Schublade sein könnte. Der Pfarrer telefonierte mit Frau Mehler, die zum Stadtverordnetenvorsteher weiterleitete und konnte mir dann sagen, daß die Polizei einen Laptop mitgenommen hatte. Mein Vater war zwar eines natürlichen Todes gestorben, wie aus dem Leichenschauschein des Notarztes hervorging, aber vorsorglich war auch die Polizei informiert worden, war vor Ort und hatte das Laptop sichergestellt.


Die zwei Karton aus dem Rathaus waren rasch in mein Auto getragen. Zur Polizeidienststelle waren es nur fünf Minuten. Die Angelegenheit dort erwies sich als delikat. Erster Polizeihauptkommissar Schönberger klärte mich darüber auf, daß das Laptop nicht Eigentum der Stadt sei, jedoch die Dateien darauf höchstwahrscheinlich mit den dienstlichen Obliegenheiten meines Vaters zu tun hätten. Selbstverständlich gäbe es keine Gründe das Laptop nicht herauszugeben, genauso wie die sichergestellten Schlüssel, Armbanduhr, Brieftasche und das Portemonnaie meines Vaters. Aber bei den Daten sei dies fraglich. Herr Schönberger deutete die Möglichkeit an, diese Inhalte einfach zu vernichten, und dann stünde einer Freigabe nichts mehr im Weg.

„Kein Problem“, willigte ich ein. „Wir können die Festplatte neu formatieren. Damit sind alle Dateien gelöscht!“ Ich schaltete den Computer ein, brach das Hochfahren des Betriebssystems ab und formatierte mit wenigen Befehlen die Festplatte neu. „Vernichtet“, wiederholte ich den unfachmännischen Ausdruck des Stationsleiters und unterschrieb auf der Rückseite des Sicherstellungsberichtes für die Herausgabe aller Gegenstände an mich.


Vor der Dienststelle verabschiedete ich mich von Pfarrer Welke und wollte direkt zu meiner Mutter fahren, um ihr die Kartons zu bringen.Unvermittelt fiel mir die abgeschlossene Schublade im Rathaus ein, und kurzentschlossen fuhr ich nochmals zurück. Tatsächlich befand sich der passende Schlüssel für die Schreibtischschublade am Schlüsselring meines Vaters. Ich öffnete die Schublade und fand darin nur eine Plastikhülle mit einer silbernen CD-ROM, die mein Vater mit einem schwarzen Edding beschriftet hatte. „Volker

“, stand auf dem Rohling. Volker Derer, das bin ich.


Alle Gegenstände, die ich bis dahin eingepackt und in mein Auto gebracht hatte, berührten mich zwar innerlich, aber diese mit meinem Namen beschriftete CD wühlte mich regelrecht auf. Mein Vater war überraschend gestorben. Meine Mutter konnte es bis heute noch nicht fassen, daß er gesundheitliche Probleme hatte, von denen sie nichts wußte. Aber so war mein Vater: Stets bemüht das Unangenehme von der Familie fernzuhalten. Es gab ein Testament, das in den nächsten Tagen eröffnet werden sollte. Und ich hielt nun eine CD in der Hand, die mein Vater offensichtlich für mich persönlich hinterlassen hatte. Das würde aber bedeuten, daß er von seinem bevorstehenden Tod gewußt hatte, also doch nicht so plötzlich und unerwartet verstarb.


Statt zu meiner Mutter fuhr ich in meine Studentenbude nach Kassel. Der Gedanke, daß mein Vater Selbstmord begangen hatte, ließ mich nicht mehr los Aber das paßte nicht zu ihm. Mein Vater stand mit beiden Beinen im Leben. Er war engagiert, liebte die Kunst und er war mit Leidenschaft Bürgermeister dieser Stadt. Die schlechten Zeiten lagen hinter ihm, damals in der DDR als sie noch sowjetische Besatzungszone war. Eine Zeit, die er bewältigt hatte und nicht mehr darüber sprach.

Ich schaltete meinen PC an und legte die CD-ROM ein. Ohne daß ich ein Programm aufrufen mußte, öffnete sich das Textfeld und ich las die Frage: „Wer ist Onkel Jürgen?“

Der Cursor blinkte im Eingabefeld für ein Paßwort. Ich habe nur einen richtigen Onkel, Onkel Richard, den Bruder meines Vaters. Onkel Jürgen war der beste Freund meines Vaters, der Künstler und Professor Gerhard Jürgen Blum-Kwiatkowski. Nur Vater und ich nannten ihn Onkel Jürgen. Und da zwischen dem dritten und vierten Wort des Eingabefeldes ein Bindestrich vorgegeben war, war ich mir sicher, daß dieser Name das Paßwort sein mußte. Ich tippte ihn ein.


Ein Brief meines Vaters erschien auf dem Bildschirm: „Lieber Volker, die meisten Menschen auf dieser Welt können bis an ihr Lebensende mit ihrer Schuld leben. Ich kann es nicht. Wenn Dich diese CD erreicht, sitze ich vielleicht im Gefängnis. Die Presse wird unsere Familie in den Schmutz stoßen, und ich hoffe und bete, daß der allgemeine Haß sich allein gegen mich und nicht gegen deine Mutter und dich richten wird. Ich habe es nicht mehr in der Hand. Ich muß konkret handeln, sonst ist mein Leben sinnlos.

Im Frühjahr 1982, fast acht Jahre nachdem ich der DDR den Rücken gekehrt hatte, unterschrieb ich eine Erklärung für das DDR-Ministerium für Staatssicherheit. Ich bekam Geld dafür, daß ich Informationen aus meiner Umgebung und dem politischen Umfeld weiter reichte. Das waren keine großen Geheimnisse, und niemand konnte damals ahnen, daß eines Tages die Mauer fallen würde. Ich tat dies, um meinem Bruder und seiner Familie, die in Thüringen bleiben mußten, ein normales Leben unter den gegebenen Umständen zu ermöglichen. Denn man hatte mir unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß seine Karriere drüben ein jähes Ende nehmen würde, wenn ich, der Füchtling, nicht kooperieren würde. Und was ich mitteilen konnte, waren keine großen Politikgeheimnisse, sondern eher Informationen aus der Kunstszene und über Onkel Jürgen, der damals schon viel für DDR-Künstler gemacht hatte.“




Ich wurde erst 1985 geboren. Meine Mutter stammt aus Hünfeld, und mein Vater flüchtete 1974 während der Fußballweltmeisterschaft in den Westen. Als die beiden deutschen Fußballmannschaften im Hamburger Volksparkstadion gegeneinander antraten, setzte er sich nach Bad Hersfeld ab, und die mit 1:0 siegreiche DDR-Mannschaft mußte mit einem Jung-Funktionär weniger abreisen. Im Kloster Cornberg bei Bad Hersfeld lernte Vater damals auch seinen besten Freund und meinen „Onkel“, den Künstler Jürgen Blum kennen. Ich las weiter:


„1989 fiel die Mauer, und ich dachte, daß der Spuk ein Ende haben würde. Nachdem auch die Gauckbehörde sich jahrelang nicht bei mir meldete, hielt ich die Sache für abgeschlossen und konzentrierte mich auf meine politische Karriere. 1996 wurde ich Bürgermeister. Hätte ich geahnt, daß die Seilschaften immer noch existierten, hätte ich dieses Amt nie übernommen.

Es war während der Vorbereitungen zum Hessentag 2000, als eine Delegation aus unserer Schwesterstadt Steinberg in Sachsen das Konrad-Zuse-Museum besuchte. Der Stasiagent, bei dem ich die Erklärung unterschrieben hatte, gehörte zu dieser Abordnung und wollte an die guten alten Zeiten anknüpfen.“




Der Hessentag war ein Höhepunkt im Leben meines Vaters. Fast eine Millionen Menschen besuchten damals Hünfeld, und die Stadt bekam die notwendigen finanziellen Mittel, um nicht nur den Hessentag, sondern auch andere kulturelle Projekte wie Das offene Buch

, das den ersten Preis der Stiftung Lesen erhielt, zu verwirklichen. An den Wänden von 130 Hünfelder Gebäuden sind die Texte verschiedener Autoren der Konkreten Kunst zu lesen. „Lesen“ und „Konkret“, das waren überhaupt die Schlüsselworte im Leben meines Vaters. Ich las weiter:


„Auch zehn Jahre nach der Wende ließ die Stasi mich nicht in Ruhe. Von nun an tauchten immer wieder Personen auf, die von meiner Vergangenheit wußten. Sie erwarteten von mir, daß ich im Rahmen meiner Möglichkeiten in einem konspirativen Netzwerk mitwirken sollte, um diese Gesellschaft wieder sozialistischer und gerechter zu gestalten. Sie drohten mir, meine Tätigkeit für die Stasi zu verraten, wenn ich mich verweigern sollte.


Das Netzwerk besteht aus 16.000 Mitarbeitern der heutigen öffentlichen Verwaltung der Bundesrepublik, die vormals der Stasi oder der SED angehörten. Auch wenn es unvorstellbar erscheint, so ist es doch Tatsache, daß soviele Menschen, wie Hünfeld Einwohner hat, Entscheidungsträger des Staates sind, den sie nach wie vor unerkannt bekämpfen.

Als dieser Mann aus Steinberg bei mir auftauchte, habe ich mich Onkel Jürgen anvertraut. Zum Schein bin ich dem Netzwerk beigetreten, und gemeinsam haben wir es in der Zwischenzeit geschafft, 2.400 Personen zu identifizieren. Die Namen dieser Personen werden am 09. November, dem Jahrestag des Mauerfalls, in einer öffentlichkeitswirksamen Aktion Das offene Zeugnis

an die Fassade von sechs öffentlichen Gebäuden angebracht.

Paralell dazu werde ich meine Vergangenheit den Behörden und der Presse offenbaren und von meinen Ämtern zurück treten.

Du wirst von mir enttäuscht sein, wenn diese Dinge ans Tageslicht kommen. Ich habe mich dennoch für diesen Weg entschieden, und ich hoffe, daß du mir verzeihen kannst. Es gibt nichts zu beschönigen, es darf nichts mehr vertuscht werden, und ich bin mir bewußt, daß meine Schuld nicht verjährt ist. Sprich mit Onkel Jürgen und bitte vergib mir, daß ich Dir kein besserer Vater war. Ich wollte Dir immer ein guter Vater und ein Vorbild sein.“




Ich mußte den Brief dreimal lesen. Vater hatte keinen Selbstmord verübt. Er wollte nicht sterben, sondern sich von seiner Schuld befreien. Sein Tod und diese CD hatten nichts miteinander zu tun. Ich hielt kein Testament, sondern sein Erbe in der Hand. Konnte ich dieses Erbe annehmen?


Die Aktion, die Vater in diesem Brief schilderte, hatte eine soziale Sprengkraft, die ohne Beispiel war. Allein der Gedanke, daß 16.000 Stasi-Schergen nach wie vor unerkannt an den Hebeln der Macht saßen, war eine Horrorvorstellung. Wenn dieser zweite Marsch durch die Institutionen publik und mit 2.400 öffentlich gemachten Namen bewiesen wäre, würde dies ein politisches Erdbeben auslösen. Das offene Zeugnis

würde weltweit vernommen werden, und die Bundesrepublik über Nacht ein anderes Land sein.

Doch mein Vater war tot. Ohne ihn würde es Das offene Zeugnis

nicht geben. Und niemanden war damit gedient sein Ansehen zu beschädigen. Ich mußte auch an Mutter denken. Und dieser Gedanke hatte Vorrang vor allen anderen.


Ich schloß die Datei und wollte die CD schon aus dem Computer herausnehmen, als ich sah, daß außer dem Brief eine zweite Datei mit einer Vielzahl Weblinks und Notizen auf dem Datenträger war. Der erste Link führte mich zur Kontaktseite der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck. Mein Vater hatte dazu notiert: „Die Zeit, Saarbrücker Zeitung, Main-Post Würzburg, Südkurier Konstanz, Lausitzer Rundschau.“ Der nächste Link führte zum Axel Springer Verlag mit den Notizen: „Die Welt, BILD, BZ, Hamburger Abendblatt.“ Fünf weitere Links führten zu den Kontaktseiten von Burda (Focus), Bertelsmann AG (Stern) und dem Spiegel-Verlag, sowie zur FAZ und zur taz.

Der Link museum.modern.art@huenfeld.de war mir bekannt. Es war die Email-Adresse von Onkel Jürgen. Dazu hatte mein Vater notiert: „Presseerklärung – Namensliste.“ Die Presseerklärung fand ich einige Zeilen tiefer. Sie enthielt nüchtern und detailliert die Angaben, die mein Vater mir bereits in seinem Brief mitgeteilt hatte. Die Presseerklärung endete damit, daß mein Vater seine Selbstanzeige bei der Staatsanwaltschaft in Fulda ankündigte und die Verantwortung für die Künstleraktion Das offene Zeugnis

übernahm. Die Namensliste, die ich mit Spannung erwartete, fand ich nicht.


Noch am gleichen Tag fuhr ich zurück nach Hünfeld und lieferte die Kartons aus dem Rathaus bei meiner Mutter ab. Ich sagte ihr nichts von der CD, weil ich zuvor mit Onkel Jürgen sprechen wollte. Ich traf ihn im Museum und kam gleich zur Sache. Während wir durch das Freigelände liefen, hörte er mir 10 Minuten zu, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen.

„Ferdinand ist mein Freund! Nach dem Tod meiner Frau war er der einzig verbliebene richtige Freund“, war sein erster Satz. „Es stimmt alles. Auch sein Geheimnis ist wahr. Es erinnert mich an diesen Satz: Vor mir bin ich einem begegnet der ich schon war bevor ich ihm begegnet bin

“. Natürlich kannte ich diesen Satz. Es war einer der Verse, die in der Kunstaktion Das offene Buch auf eine gelbe Hünfelder Hausfassade geschrieben wurde. „Wir wandeln uns“, erklärte Onkel Jürgen seinen Gedanken. „Dein Vater ist kein Verräter, auch wenn er eine Zeitlang diesen Fehler machte. Er wurde gezwungen. Er konnte nicht anders. Aber er ließ sich nicht davon abbringen, diesen Fehler zu korrigieren. Ich half ihm dabei.“


Wir setzten uns auf eine Bank, und Onkel Jürgen erzählte mir von der Aktion und den Planungen und Absichten. Mehr als 100 Künstler waren daran beteiligt. An den Fassaden von sechs wichtigen öffentlichen Gebäuden in Frankfurt sollten in der Nacht vom 8. zum 9. November die Namen von 2.400 Stasimitarbeitern öffentlich gemacht werden. „Mit Overheadprojektoren werden die Namen an die Wand geworfen, und unsere Künstlerfreunde übersprühen das Lichtbild mit Buchstabenschablonen und Sprayfarben. So bleiben die Namen erhalten, bis die Presse der ganzen Welt ihre Fotos gemacht hat. Ist der Schneeball erst einmal ins Rollen gekommen, ist die Lawine nicht mehr zu stoppen.“


Es gab sogar gefälschte Erlaubniserklärungen für diese Kunstaktion, falls die Polizei in der Nacht die Arbeiten hinterfragen sollte. An alles war gedacht. Onkel Jürgen hatte die Künstler organisiert, und mein Vater die Liste beschafft. Seine Selbstanzeige bei der Staatsanwaltschaft sowie die Pressemittungen an alle wichtigen Zeitungen würden schlagartig die Gewalten dieser Republik aufschrecken.

„Wirst du die Liste veröffentlichen?“ wollte ich von Onkel Jürgen wissen. Denn die Gallionsfigur der Aktion und des öffentlichen Zeugnisses war mein Vater, und er war tot.

„Ich habe diese Liste nicht. Die Liste ist kein Stück Papier. Es ist eine Computerdatei“, antwortete Onkel Jürgen. „Exakt sind es zwei Dateien, die Ferdinand auf seinem Laptop hatte. Ich erinnere mich nur noch an ein paar Persönlichkeiten, und deren Namen allein sind wertlos. Selbst wenn ich ein Stück Papier mit allen Namen dieser Leute hätte, wäre es sinnlos ohne das Gegenstück, nämlich der Datei die beweist, daß diese Leute zum MfS gehörten.“


Onkel Jürgen erklärte mir nun, wie mein Vater in das Netzwerk der ehemaligen Stasileute aufgenommen wurde. Als Bürgermeister hatte er dort Gewicht und Einfluß. Außerdem war er kraft seines Amtes auch im Aufsichtsrat der Sparkasse und somit an einer willkommenen Geldquelle. Vater dokumentierte jeden Kontakt und sammelte die 2.400 Personalien. Das Netzwerk war es, das in den Jahren 2005 und 2006 die Bundesregierung dazu brachte, die Stasiakten zentral in das Bundesarchiv überführen zu wollen. Die Birthlerbehörde, die für die dezentrale Auswertung und Verwaltung der geretteten Stasiakten zuständig war, wäre damit überflüssig geworden, und die von der Politik so genannte gleitende Neuausrichtung

wäre das Ende der Aufarbeitung der Stasiverbrechen gewesen.

„Für deinen Vater war die öffentliche Diskussion um die Stasiakten ein regelrechter Glücksfall. Ein Historiker der Birthlerbehörde in der Außenstelle Suhl, den dein Vater noch aus seiner Schulzeit in Thüringen kannte, versüßte sich mit dem Verkauf von 900 Mikrofiches den erwarteten Ruhestand. Diese Miniaturaufnahmen enthielten den Personalbestand des Ministeriums für Staatssicherheit im Oktober 1989 – einen Monat vor der Wende.“ Onkel Jürgen ließ seinen Satz wirken, bevor er hinzufügte: „Das größere Problem war die Beschaffung eines Lesegeräts für die Mikrofiches.“


Beide Listen befanden sich als Computerdateien auf dem Laptop, dessen Festplatte ich leichtfertig an diesem Morgen mit drei Befehlen neu formatiert und somit alle Daten vernichtet hatte. Zähneknirschend gestand ich Onkel Jürgen, was ich angerichtet hatte. Die Dateien waren verloren.

„Vielleicht sind sie nicht verloren“, korrigierte mich Onkel Jürgen. „Einer meiner Künstler ist in so einem Computerclub. Und ich weiß, daß die erstaunliche Sachen zustande bringen. Sie nennen das Restaurieren, so wie ein altes Bild, das übermalt ist, wieder zum Vorschein gebracht wird. Ich habe seine Telefonnummer in meinem Büro.“


Jürgen Blum war ein Ordnungsfanatiker. Sofort hatte er Namen und Telefonnummer gefunden und rief seinen Freund an. Der bestätigte, daß es grundsätzlich möglich ist eine gelöschte oder neu formatierte Festplatte wieder herzustellen. Wir sollten das Laptop zu ihm nach Göttingen bringen, und er würde dafür sorgen, daß sich ein richtiger Crack die Sache mal ansieht.

„Ich denke, ich mache das persönlich“, sagte der Museumsleiter und meinte damit, daß er sofort losfahren würde. Mein Bedarf an Aufregung war für diesen Tag reichlich gedeckt. Ich willigte ein, holte das Laptop aus meinem Auto und verabredete mit Onkel Jürgen, daß wir uns treffen, sobald er aus Göttingen zurück ist. Ich rechnete nicht damit, daß die Wiederherstellung der Festplatte sofort möglich sein würde, aber das sollte Onkel Jürgen mit seinem Künstlerfreund, beziehungsweise dessen Freund klären.


„Wie soll ich es Mutter sagen?“ war meine besorgte Frage, bevor Onkel Jürgen in seinen Wagen stieg.

„Ja, Sabine, sie muß es wissen. Rede mit ihr. Zeige ihr den Brief deines Vaters. Alles Weitere wird sich ergeben.“ Nach kurzem Überlegen fuhr er fort: „Sie wird die Veröffentlichung der Namen wollen! Deine Mutter hat Mumm. Sie wird Ferdinands Willen respektieren. Ja, rede mit deiner Mutter.“


Wir fuhren noch ein Stück hintereinander her. Onkel Jürgen bog auf die Ausfallstraße nach Norden, und ich fuhr in die Stadtmitte zu meinem Elternhaus. Nach einem kurzen Abendessen berichtete ich meiner Mutter von den Ereignissen. Ich erzählte ihr von der verschlossenen Schublade, dem verschwundenen Laptop und unseren Besuch bei der Polizei.

„Herr Schönfelder und seine praktischen Ideen. Beides konnte dein Vater nie leiden. Ich glaube, er mochte diesen Polizisten nicht. Er war ihm zu glatt“, bestätigte Mutter mich.

Nun holte ich die CD aus meiner Jacke und sagte, daß darauf ein Brief sei, den ich ihr gerne am Computer im Arbeitszimmer zeigen würde. Genau wie in meiner Studentenbude erschien das Paßwortfenster und ich tippte Onkel Jürgens Namen ein. Während Mutter den Brief las, hielt sie mit beiden Händen meinen Arm fest, und ihr Druck wurde immer stärker.

„Das kann ich nicht glauben, Volker. Das soll Ferdinand gemacht haben?“ Mutter schaute mich entgeistert an.

„Ich habe es auch nicht glauben können. Aber Onkel Jürgen bestätigte mir den Brief. Und sieh hier, diese Computerlinks. Das sind die Emailadressen der wichtigsten Zeitungen in Deutschland.“ Ich erzählte ihr nun von meinem Besuch im Museum, der geplanten Aktion der Künstler und von Onkel Jürgens Fahrt nach Göttingen. Wir wollten gerade wieder ins Wohnzimmer zurückgehen, als es an der Tür klingelte. Es war schon nach 22 Uhr, und Mutter schaute mich fragend an, wer um diese Zeit noch bei uns persönlich vorsprechen wollte. Ich begleitete sie zum Eingang, vor dem drei Polizisten standen.


„Entschuldigen Sie die späte Störung, Frau Derer“, begann Herr Hauptkommissar Schönfelder sehr förmlich zu sprechen. „Wir kommen wegen eines Unfalls. Herr Professor Blum-Kwiatkowski ist vor einer Stunde kurz vor Göttingen auf der Autobahn verunglückt. Er wurde in die Universitätskliniken gebracht. Leider kam jede Hilfe zu spät. Ich bedaure Ihnen mitteilen zu müssen, daß Herr Blum-Kwiatkowski seinen schweren Verletzungen erlegen ist.“

„Das Laptop“, rutschte es mir heraus. Als ob der Computer jetzt, in dieser Situation, wichtig gewesen wäre.

„Nein, Herr Derer. Einen Laptop hatte der Herr Professor nicht bei sich“, wußte der Chef der Hünfelder Polizei sogleich. „Die Kollegen aus Göttingen baten uns, ihnen sofort und persönlich Bescheid zu geben. Das ist zwar etwas ungewöhnlich, da keine verwandtschaftlichen Beziehungen bestehen. Aber es ist ja bekannt, wie nahe sie sich standen. Und Herr Blum hat ja hier keine Angehörigen mehr.“


Zwei Tage später konnte ich den Unfallbericht einsehen. Onkel Jürgen war auf gerader Strecke nach rechts von der Fahrbahn abgekommen und frontal gegen einen Baum gestoßen. Eine Streifenwagenbesatzung der Autobahnpolizei war Minuten später vor Ort und alarmierte die Rettungssanitäter. Hinweise auf ein Fremdverschulden gab es nicht. Es sei ein tragischer Unfall gewesen.


Impressum

Texte: Diese Geschichte ist frei erfunden. Der Museumsleiter des Museum Modern Art Hünfeld, Hersfelder Str. 25, 36088 Hünfeld, Herr Gerhard Jürgen BLUM-KWIATKOWSKI ist heute 78 Jahre alt und erfreut sich bester Gesundheit. Seine Rolle in dieser Geschichte ist ebenfalls frei erfunden. Ich würde mich freuen den ein oder anderen Leser auf diese besondere Persönlichkeit der konkreten Kunst und sein Museum in Hünfeld aufmerksam zu machen. Sie finden die Webseite unter: www.museum-modern-art.de
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2009

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