Wallace Hume Carothers
Zu meinem achtzehnten Geburtstag bekam ich das großartigste Geschenk, das jemals einem Führerscheinneuling gemacht wurde, einen 1931er Du Pont Motors, Modell G, mit einem 5,3 Liter–Achtzylindermotor und damals sagenhaften 125 PS. Das Auto, dessen Tacho nur 2678 gefahrene Meilen anzeigte, gehörte ursprünglich meinem Urgroßvater Wallace Hume Carothers und stand seit eh und je in verschiedenen Garagen oder Hallen, und später in diversen Museen und Ausstellungen. Aber es wurde so gut wie nie gefahren. Trotzdem konnte ich mich anfangs über dieses Geschenk nicht freuen.
Ein Opel Insignia wäre mir lieber gewesen, und das sagte ich meinem Vater auch ins Gesicht, als er mir feierlich im Kreise unserer Familie die Besitzurkunde und das Echtheitszertifikat für meinen „Oldtimer
“ zum wichtigsten Geburtstag überreichte. Daß die Kutsche an diesem Tag ihr Museumsgefängnis verlassen durfte und perfekt aufpoliert im strahlenden Sonnenschein vor unserer Tübinger Villa stand, machte meine Enttäuschung nicht kleiner. Ein Opel, das wär’s gewesen.
„Dieses Auto ist nicht nur ein hoher Wertgegenstand“, klärte mein Vater mich und die Familienversammlung auf, „sondern hat seine besondere Geschichte, die auch Teil unserer Familiengeschichte ist. Es ist das Auto meines Großvaters und deines Urgroßvaters Wallace!“ Und zu mir gewandt fügte er hinzu: „Und mit Opel hat es im weiteren Sinne auch etwas zu schaffen!“
Urgroßvater Wallace wurde im vorletzten Jahrhundert, genau am 27. April 1896, in den USA geboren. Abgesehen von seinem Namen und der Tatsache, daß er der Vater meiner Oma Jane war, wußte ich bis vor vier Jahren nichts von ihm. Erst durch eine Hausaufgabe in der achten Realschulklasse wurde mir bewußt, daß ich der Nachfahre eines großen Namens war. Ich sollte für die Schule chronologisch aufschreiben, welche Entdeckungen und Erfindungen im Zeitabschnitt meines Lebens sowie in der Lebenszeit meiner Eltern und Großeltern gemacht wurden. Im Unterricht sprachen wir darüber, wie diese Ereignisse unser tägliches Leben verändert haben. Für meine Lebenszeit fielen mir der Airbag
, der PC und die Handys ein. Bei meinem Vater schrieb ich Mondlandung
, und neben Oma stand Zweiter Weltkrieg. Mehr wußte ich nicht, und ich bekam einen Eintrag wegen mangelhafter Leistung ins Heft, den meine Eltern unterschreiben mußten.
Mein Vater lachte als er diese Aufzählung sah, und er meinte, daß ein Weltkrieg keine Erfindung oder Entdeckung sei, aber sehr wohl etwas mit Erfindungen zu tun habe. Und bei Oma Jane sollte ich mal Nylon hinschreiben. Die folgende halbe Stunde war der spannendste Geschichtsunterricht meines Lebens – das erkannte ich aber erst Jahre später - , denn es war die Geschichte meiner Familie.
Nach der französischen Revolution flüchtete die Familie Du Pont de Nemours in die neue Welt, die alles andere als eine friedliche Welt war. Die Duponts, wie sie heute noch heißen, und mein Urgroßvater Wallace Hume Carothers waren Chemiker. Ihr Vermögen machten die Duponts mit Sprengstoff. Sie belieferten im amerikanischen Bürgerkrieg die Unionsarmee und hatten danach praktisch das Monopol für dieses „Gut“. An dieser Stelle des Vortrags meines Vaters rutschte mir spontan das Wort „Schlecht“ heraus, worauf mein Vater sich räusperte und die Zwischenbemerkung fallen ließ: „ So sah Großvater Wallace das auch! Er war Pazifist und litt darunter, daß die besten Erfindungen zur Kriegsführung mißbraucht wurden.“
„Und was haben die Duponts dann mit Walli zu schaffen?“ fragte ich aufmüpfig.
„Nun, die Amerikaner nahmen es damals sehr genau mit der marktbeherrschenden Stellung und den Monopolen einer Industriefirma. 1912 wurde der Sprengstoffgigant Dupont aufgrund des Sherman Antitrust Acts förmlich zerschlagen und mußte sich teilweise ein neues Betätigungsfeld suchen. Dupont investierte zum Beispiel in die Autoindustrie und kaufte GM, und es begann mit Forschungen im Bereich der Werkstoffwissenschaften.“ Jetzt war mein Vater in seinem Element. Er selbst war ja auch Chemiker und besaß eine kleine aber sehr erfolgreiche Chemiefirma im Schwarzwald.
Ich mußte meinen Vater irgendwie bremsen, sonst würde sein Vortrag so bald nicht enden. Deshalb wiederholte ich meine Frage einfach noch einmal: „Und was hat Walli damit zu schaffen?“
„Dein Urgroßvater wurde der Chefchemiker bei Dupont und verantwortlich für die Forschung und Entwicklung der nichtexplosiven Produkte der größten Firma seiner Zeit. Also nicht Sprengstoff und Kriegsmaterial, sondern neue Stoffe. Das war im gleichen Jahr, in dem auch der erste Fernsehapparat erfunden wurde, nämlich 1928. Wallace Hume Carothers, dein Großvater, war neben Leo Hendrik Baekeland …“ Mein Vater beobachtete mich, ob mir der Name etwas sagte. „… Baekeland, Bakelit
, sagt dir das nichts? Der erste Kunststoff, der erfunden wurde?“ Ich zog die Mundwinkel nach unten und konnte nichts sagen. Mein Vater war sichtlich enttäuscht. Das war die Welt, in der er lebte, und mir war sie so fremd, daß ich noch nicht eimal die Namen seiner Götter kannte.
„Na, auf jeden Fall hat dein Urgroßvater die Kunstfaser Nylon
erfunden, und das geschah um Weihnachten 1934 herum. Bis dahin konnten feine Stoffe nur aus Seide hergestellt werden, und darauf hatten die Asiaten, vornehmlich die Japaner, das Monopol. Marco Polo und die Seidenstraße sagen dir doch etwas, oder?“ Vater räusperte abermals als ich zwar nickte, aber profunde Kenntnisse nicht unter Beweis stellen konnte.
„.Mit der Produktiosreife der Kunstfaser Polyamid 6.6 war das Monopol der Japaner auf feine Garne und Stoffe praktisch gebrochen. Großvater war das sofort klar, und während der erste weiterverarbeitungsfähige feine Endlosfaden aus dem neuen Polyamid gezogen wurde, jubelte Vater in seinem Labor: Now, you lousy old nipponese ?
und schon war der Name NYLON aus den Anfangsbuchstaben dieses Satzes geboren. Das Patent auf diesen Stoff hat nicht nur Dupont sondern auch unsere Familie sehr reich gemacht.“
Ich kann heute nicht mehr das ganze Gespräch zwischen uns beiden Männern wiederergeben. Vater erzählte von Galileo, der das Fernglas erfand und enttäuscht war, daß es dazu benutzt wurde, Kriege zu führen. Er führte Nobel an, der aus Trauer über die Folgen seiner Entdeckung des Dynamits den Friedensnobelpreis stiftete. Er erzählte mir von Robert Oppenheimer und dem Manhatten-Projekt sowie seiner Wandlung zum Atomwaffengegner. Und er sprach voller Stolz von unserem Vorfahren Wallace Hume Carothers, der das Neopren und Nylon erfunden hatte, und dem sehr daran lag, daß er keine Werkzeuge zur Kriegsführung, sondern friedliche Materialien und Produkte erfand.
Aber leider war Dupont zu dieser Zeit nicht nur das wichtigste amerikanische Industrieunternehmen sondern nach wie vor der größte Lieferant für die US-Armee. Und Großvater konnte nicht verhindern, daß seine Erfindungen dorthin flossen. Das zerstörte seine Lebensfreude und seinen Humor. Wallace Hume Carothers machte zwar die bahnbrechende Erfindung der Kunstfaser Nylon, aber er erlebte selbst nicht mehr den Siegeszug dieser Faser. An diesem Tag sagte mir Vater nur, daß Opa Wallace sehr krank war und sich selbst das Leben nahm.
Erst vier Jahre später an meinem 18. Geburtstag, fand die Korrektur meiner Hausaufgaben eine Fortsetzung. In der Zwischenzeit hatte ich alles gelesen, was ich über Uropa Wallace in die Finger kriegen konnte und hatte es auch zur größten Freude meines Vaters auf eine Eins in Chemie gebracht, aber ich kannte nur Fakten über diesen Menschen, keine Feelings. Ich war stolz auf meinen Vorfahren, aber wer und wie dieser Mensch war, wußte ich nicht.
„Ich möchte die Gelegenheit nutzen, die Geschichte dieses Fahrzeugs kurz vorzustellen“, kündigte mein Vater den Anwesenden an, „bevor es meinem Sohn, der heute volljährig geworden ist, gehören wird.“ Vater schaute sich im Kreis der Anwesenden um, so als ob er jemanden suchen würde, der einen Einwand hätte. Das war nicht der Fall. Also fuhr er fort:
„Opa Wallace bekam diesen Du Pont Motors, Modell G, am 28. Februar 1935 von Pierre Dupont anläßlich der Patentierung der Kunstfaser Polyamid 6.6, genannt Nylon, geschenkt. Es war das allerletzte Fahrzeug der Marke Du Pont, das produziert wurde und ist heute nur noch dreimal vorhanden. Eine absolute Rarität, wie es auch sein damaliger Besitzer war. Dupont übernahm die Geschäftsführung von GM und wurde zum größten Autobauer der Welt.“
„In diesem Auto“ setzte mein Vater den Vortrag fort, „unternahmen Wallace und seine Sekretärin Helen Everett Sweetman im Februar 1936 ihre Hochzeitsreise. Großmutter Helen erzählte später über diese Reise, daß Wallace fortwährend überlegte, welche Produkte aus der neuen Kunstfaser profitabel hergestellt werden könnten. Ihm war klar, daß der wirtschaftliche Erfolg erst mit der Massenproduktion kommen würde. Alles was er in die Hand nahm oder sah, prüfte er gedanklich während dieser Reise auf seine Tauglichkeit ab. Am Ende der Hochzeitsreise hatte er sich auf zwei Produkte festgelegt und steuerte mit seiner Braut direkt nach Wilmington/Pennsylvannia zu seinem Boss, Pierre Dupont, von dem er auch das Auto bekommen hatte.“
Vater griff in die Innentasche seines Jackets und holte eine Zahnbürste heraus. „Das hat heute jeder!“ zeigte er die kleine Bürste. „Zahnbürsten waren das erste Produkt, das Wallace für die Amerikaner aus Nylon herstellen wollte. Aber der richtige Erfolg kam erst mit den Nylonstrümpfen. Opa Wallace hatte sich das Bein einer Schaufensterpuppe besorgt und zu Herrn Dupont mitgenommen. Begeistert und fast schon euphorisch demonstrierte er an diesem Puppenbein, wie die neue Faser zukünftig für gutes Aussehen und Wohlbehagen an den Beinen aller amerikanischen Frauen wirken sollte. Zahnbürsten und Strümpfe, sagte Wallace zu seiner Frau, damit kann man doch keinen Krieg führen.
Aber Amerika stand vor dem größten Krieg der Weltgeschichte. Pierre Dupont deutete die Nachrichten aus der alten Welt sehr viel früher und präziser als seine Zeitgenossen und ahnte bereits zu diesem Zeitpunkt, welche Möglichkeiten sich für den Rüstungsgiganten Dupont daraus egeben sollten. Und als Opa Wallace mit der Zahnbürste und dem Schaufensterpuppenbein bei einem edlen schottischen Whiskey in seinem Salon saß, sagte Dupont zu ihm: Jetzt ist nicht die Zeit für Strümpfe. Was Amerika heute braucht, sind Fallschirme. Produzieren sie mit ihrer Kunstfaser sichere Fallschirme, die nicht reißen und Männer und Kanonen tragen. Lieber Freund, nehmen sie ihre hübsche Frau und ihr Bein und gehen Sie damit fort. Machen Sie Fallschirme!
In diesem Moment verwandelte sich die Euphorie und Freude, die Großvater in seinem Beruf, seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit und über seine Erfindungen empfand, in eine tiefe Depression. Sein Leben stand bis dahin auf zwei Säulen; das eine Bein war die Chemie, das andere Bein sein Pazifismus. Bis zu diesem Tag glaubte er auf beiden Beinen sicher zu stehen. Doch als Wallace Hume Carothers mit seiner hübschen Frau und dem Bein der Schaufensterpuppe den Dupontschen Herrensitz in Wilmington/Pennsylvannia verließ, war das genau der Tag, an dem sein Lebenswille ihn verließ. Seitdem wurde auch dieses Auto nicht mehr gefahren“, beendete Vater seinen Vortrag und überreichte mir die Urkunden.
Der 1931er Du Pont Motors, Modell G, ist heute mein wertvollster Besitz. Ich selbst habe nie einen Krieg erlebt, und ich bin tief überzeugt, daß ich dieses Glück nur Männern wie meinem Urgroßvater Wallace zu verdanken habe. Männer, die so tief in ihrer Friedensliebe verwurzelt sind, daß sie ohne dies nicht mehr im Leben stehen können.
Nur wenige Zuhörer aus der Familie wußten, wie und warum Wallace Hume Carothers starb. Seine Unfähigkeit an der Kriegsmaschinerie mitzuwirken hatte zur Folge, daß er sich nicht mehr an seiner Arbeit freuen konnte und kaum zur Bewältigung des Alltags fähig war. Eine Zeitlang ging er noch ins Labor und produzierte tatsächlich Zahnbürsten. Und er hätte sogar großen Grund zur Freude darüber gehabt, daß seine Frau Helen ihr erstes Kind Jane erwartete, die gesund am 27. November 1937 als Halbwaise auf die Welt kam. Vom riesigen Erfolg der Nylonstrümpfe, die heute jede moderne Frau auf der Welt kennt, hat er ebenfalls nichts mehr erlebt. Wallace Hume Carothers starb physisch am 29. April 1937 durch eine Überdosis Caliumzyanid. Sein Geist starb an dem Tag, an dem sein Bein fortging.
Texte: Titelfoto von TONY WYLEN: Wallace H. Carothers: Inventor of Nylon, Ink & Acrylic
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2009
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Widmung:
Beitrag zur siebten Runde des Bookrix-Wortspiels über das Thema: Am Tag, an dem mein Bein fortging.