Cover

Portugal

Das Boot

Abheben und Fliegen

Sag mal, warum gerade ich?

Auf Crosstour

Dumm gelaufen

Das Schwein

Spiel mit dem Feuer

Die Berlinreise

Das Telefon

Doppelleben

Und Tschüß

Nachwort




Portugal

Portugal hat als einziges Mitglied der Europäischen Union die Sommerzeit nicht eingeführt. Dieses rebellenhafte Benehmen machte mir die Portugiesen noch sympathischer als sie mir ohnehin schon waren. Wenn es in Portugal 20 Uhr ist, dann ist es in Deutschland bereits 21 Uhr. Die Hauptpost in Setúbal, die correios, schließt bereits um 18 Uhr 30. Früher, als Portugal noch nicht zur EU gehörte, konnte man getrost ein paar Minuten später kommen, und bekam immer noch Briefmarken oder Postpäckchen. Früher hätte man auch Telefonkarten bekommen; die gibt es aber erst seit kurzem zu kaufen - allerdings nur, wenn man pünktlich bis 18 Uhr 30 die Hauptpost erreicht hat.
Ich kam ein oder zwei Minuten zu spät. In den Schalterräumen war noch lebhafter Kundenbetrieb, doch der freundliche Mitarbeiter der correios de Setúbal ließ mich nicht mehr eintreten. Ich bettelte: “Faz favor, senhor. Um minute, faz favor. Quero um crediphone?” Er ließ sich nicht erweichen. Es kamen zwar noch Leute aus der Post hinaus, aber ich wurde nicht mehr eingelassen.
Die Tatsache, daß außer mir niemand anderes versuchte, die Bank noch zu betreten, der Mitarbeiter und ich also völlig alleine am Eingang standen, brachte mich auf zwei Gedanken. Erstens: Der Mitarbeiter hatte es eindeutig auf ein Bestechungsgeld abgesehen, von dessen Höhe es nun abhing, ob ich noch eine Telefonkarte bekam oder nicht. Oder zweitens: Jeder Versuch, nach 18 Uhr 30 in die Post zu gelangen, war so zwecklos, daß es sogar für die der Landessprache mächtigen Portugiesen pure Zeitverschwendung war, jetzt noch in Richtung Post zu gehen.
Da ich nicht Portugiesisch spreche, außer faz favor. muito obrigado und nao falare portugues, konnte ich weder meine erste Idee testen, noch den Wahrheitsgehalt von Möglichkeit Nummer zwei überprüfen. Ich mußte mich damit abfinden, daß ich heute wohl nicht mehr telefonieren konnte und verfluchte den rasanten Fortschritt Portugals in der Europäischen Union, der aus Portugal ein Land von Telefonkartenzellen gemacht hatte. Nicht nur das: Der europäische Gedanke hat wahrscheinlich auch die Menschen in diesem westlichsten Zipfel Europas schon so sehr vergiftet, daß die Freundlichkeit der Portugiesen der allgemeinen Prinzipienreiterei der meisten restlichen EU-Bewohner weichen mußte. Einen lebendigen Beweis dieser Wandlung hatte ich in Gestalt des Mitarbeiters der portugiesischen Post aktuell vor mir stehen. Nicht nur aus diesem Grund war, bin und bleibe ich ein EU-Gegner!
Ich brauchte drei Tage, drei ganze Tage, um diese Gelegenheit zu einem Telefonat nach Deutschland zu bekommen. Denn ich war mit meiner Familie hier in Urlaub, und im Urlaub ist es fast unmöglich etwas zu unternehmen, von dem die Familie, insbesondere die Ehefrau, nichts mitbekommen soll. Jetzt war die Gelegenheit da, aber mir fehlte die Telefonkarte. Was gäbe ich für ein gutes altes Münztelefon?
Während ich enttäuscht zurück in Richtung unserer Ferienwohnung fuhr, passierte ich auf der Luisa Todi das Hotel Esperanca.
“Hotel”, schoß es mir durch den Kopf. In einem Hotel war es doch das natürlichste der Welt, daß man ein Auslandstelefonat führen kann, und anschließend in echtem Geld an der Rezeption bezahlt.
Ich suchte einen Parkplatz - ein Unternehmen, daß im neuen Portugal der EU zu einer widerlichen Angelegenheit geworden ist. Denn überall lauern jetzt junge Leute, die sich mitten auf die Straße stellen, um vorbeikommenden Autofahrern freie Parklücken zu zeigen, die der Suchende sowieso gefunden hätte. Da diese selbsternannten Parkplatzwächter aber jeden vorbeikommenden Autofahrer stoppen und in die freie Lücke einwinken wollen, bricht der gesamte Verkehr weitestgehend zusammen und eine endlose Schlange Nicht-Parkplatz-Suchender quält sich durch die Straßen. Benötigt tatsächlich jemand einen Parkplatz, so wie ich gerade, dann muß er in dieser Schlange ausharren, bis auch er an der Parklücke vorbeikommt und eingewiesen werden kann. Der eigentlich überflüssige Parkplatzeinweiser wartet nun mit offener Hand, bis sein Kunde aus dem Wagen steigt und macht mittels Gestik und Gesichtsausdruck deutlich, daß es besser wäre jetzt eine gewisse Summe in die angebotene Handfläche zu legen. Gelegentlich wird dabei auch das leere Versprechen gegeben, daß man in der Zwischenzeit auf den Wagen aufpaßt. In Wirklichkeit ist dies aber nur die versteckte Drohung, daß das Auto garantiert einen platten Reifen oder gar einen erheblichen Lackschaden aufweisen wird, falls man nicht oder zu wenig Bares springen läßt.
Ich wartete also, bis vor meinem Auto ein solcher Parkplatzgeier auftauchen würde und legte bereits 100 Escudos Schutzgeld bereit. Stockend zuckelte der Verkehr durch die Luisa Todi. Ich hoffte inständig, daß ich im Hotel Esperanca telefonieren konnte; denn ich hatte Sanne schon seit über zwei Wochen nicht mehr gesehen, gehört, gesprochen, gerochen, geküßt, geliebt ... Sanne! Seit über zwei Wochen schon war ich ohne Sanne. Entsprechend elend fühlte ich mich jetzt.
Der Straßendesperado konnte gerade noch vor meinem Auto wegspringen, und ich riß das Steuer nach links herum, um die Parklücke, die ich beinahe schon verpaßt hatte, doch noch einzunehmen. Hinter mir hupten die Portugiesen, und der kleine Ganove baute sich bedrohlich neben der Fahrertür auf. Gottseidank hatte ich einen Parkplatz in der Nähe des Hotels. Ich zog rasch einen 500-Escudos-Schein aus dem Portemonnaie und zeigte dem üblen Gesellen den Schein. Schlagartig verwandelte sich dessen Drohgebärde, und es hätte nicht viel gefehlt, daß er einen Knicks gemacht hätte, als ich ausstieg und ihm mit dreimaligen Obrigado den Geldschein übergab. “Paß nur gut auf mein Auto auf!” rief ich ihm freundlich zu, wohlwissend, daß er mich zwar nicht verstehen konnte, aber anhand der Stimmlage positiv beeindruckt sein sollte. Er lachte zurück: “Si, si senhor! Si, si.”
Die Rezeption erreichte man, indem man am Zeitungsladen und dem Friseur vorbei durch das Restaurant des Hotels ging. Es herrschte Hochbetrieb mit der entsprechenden Lärmfrequenz. Egal. Ich wollte ja nur telefonieren und fragte den Chef an der Rezeption: “Do you speak english?”
Der Hotelangestellte antwortete in bestem Ruhrpottdeutsch: “Sie könne’ mit mir deutsch spreche’. Ich hab’ zwölf Jahr’ in Beckum maloocht.”
“Warum haben Gastarbeiter nie in Deutschland gewohnt oder gelebt, sondern immer nur gearbeitet?” fragte ich mich selbst. Immer reden sie von in Deutschland gearbeitet. Das sollte mich nicht weiter kümmern. Ich war froh, daß der Mann mich verstand, und ich ihm ohne größere Anstrengungen sagen konnte: “Ich möchte nach Deutschland telefonieren. Kann ich das hier vom Hotel aus machen?”
“Na klar könne’ Sie telefoniere’. Da drübe’ in der rechte’ Zelle. Sie müsse’ 0049 vorwähle’.” Der Mann drückte einen Knopf an einem Tresen und zeigte mit der anderen Hand zur Telefonzelle hinter mir.
“Ja danke, das weiß ich”, sprach’s und verschwand in der Zelle. Ich wählte die Auslandsvorwahl und Sanne’s Nummer. Besetzt. Nochmal. Wieder besetzt. Und nochmal. Und wieder besetzt. So zog sich das fünf Minuten hin, bis ich entnervt an die Rezeption ging und dem Mann mein Leid klagte.
“Ja, das ist normal um diese Zeit,” sagte er und erklärte: “In Deutschland habe’ sie jetzt nämlich gerade 20 Uhr, und da wird das telefoniere’ billiger. Da breche’ alle Leitunge’ zusamme’.”
Ich schaute ihn ungläubig an. Ich wollte doch nach Deutschland hinein telefonieren, und nicht aus Deutschland hinaus. Der Mann machte mir aber einen Vorschlag: “Trinke’ Sie doch ein Kaffeeche. In zehn Minute’ ist wieder alles normal.”
Also ging ich ins Restaurant, bestellte einen Cafe con lait und setzte mich an einen kleinen Tisch auf den Bürgersteig vor das Hotel Esperanza.
Ich liebe Kaffee mit viel Milch und viel Zucker, wobei ich den Zucker in den letzten Monaten durch Süßstoff ersetzt habe. Und ich liebe Straßen-Cafes. Seit ich Sanne kenne habe ich unzählige Stunden mit ihr in Straßen-Cafes verbracht. Sanne - ich denke bei jeder Gelegenheit an sie. Selbst wenn ich schlafe, dann denke ich an Sanne, und sie wird zum Mittelpunkt meiner Träume. Sanne - sie ist der Mittelpunkt meines Lebens geworden. Sanne - ich denke an Sanne, also bin ich. Ich liebe Milchkaffee, Straßen-Cafes und Sanne.
Ich weiß ganz genau, wie sie jetzt da sitzen würde, wie sie gekleidet wäre, wie sie sprechen, lachen, riechen würde, und wie sie ihren Cappucino trinken würde. Und so sitze ich im Straßen-Cafe zum ersten Mal ohne Sanne, und ich denke daran, wie Sanne mich eroberte.


Das Boot

Das Boot war zehn Meter lang. Ich sage dies gleich am Anfang, weil es wichtig ist. Zehn Meter lang und die übliche Breite, zwei Kojen- und eine Kajüte und ein großes Deck mit Küche, Eßtisch und natürlich der Steuerbank. Weiß, bullig und langsam. Wir verbrachten drei ganze Tage und Nächte auf diesem Boot, und von zwei Tagen nur einen Teil. Das Boot war gerade ausreichend für acht Personen; wir waren neun. Es ist für mich immer noch erstaunlich, daß bei dieser Enge kein Streit zutage kam. Besonders weil wir noch nie solange und so eng beieinander waren; und wir waren keine Familie oder Freunde, sondern Konkurrenten, nämlich Arbeitskollegen und sechs Männer, zwei Frauen und Nick, dem sechsjährigen Sohn von Sanne. Wir waren alle im selben Boot.
Ohne Nick wäre das alles nicht passiert. Nick war das Symbol dafür, daß eigentlich nichts hätte passieren dürfen. Nick war so etwas wie ein Schutzschild, und gleichzeitig war er auch der Auslöser, daß es passierte; denn zuerst verlor ich jede Distanz zu diesem Kind, der auch mein Sohn hätte sein können, und dann zu seiner Mutter, die auch meine Frau hätte sein können. Ich spürte es ganz schnell; aber da war es schon zu spät. Auslöser waren dieses Boot, Nick und die Enge.
Der Enge untereinander konnte man nicht entweichen. Jeder war praktisch stets in der Gegenwart mindestens eines anderen. Selbst im Bett war man nicht alleine; aber streng getrennt zwischen Männern und Frauen. Diese Enge untereinander, der man nicht entweichen konnte, wurde zum Schluß eine Last für mich. Denn in Gedanken wollte ich Sanne haben - ohne Distanz, ohne die anderen, ohne Nick, sondern nur wir zwei.
Ich spielte mit Nick. Nicht eine Sekunde hatte ich daran gedacht, eine Vaterrolle zu ihm einzunehmen. Ich hatte Freude mit Nick, und hatte den Jungen gerne bei mir. Ich nahm ihn zum Einkaufen und auf den Spielplatz mit, und spielte mit ihm. Was um alles in der Welt hatte nur bewirkt und bewirkt noch immer, daß es bei Sanne kein Spiel ist. Dabei fing alles sehr spielerisch an, an diesem zweiten Tag bei herrlichem Sonnenschein auf dem Oberdeck.
Sanne, unser Chef Georg, Svenja, die jüngste Kollegin in unserem Team und ich tranken Rotwein, erzählten, lachten und sonnten uns. Ab und zu streiften unsere Arme aneinander. Ich genoß diese Berührungen und unser aller Lachen. Ich genoß es, in dieser Enge miteinander zu sitzen, Rotwein zu trinken und es sich gut gehen zu lassen. Ich genoß die Täler, durch die wir mit unserem Boot langsam tuckerten und freute mich über jede Berührung, die einfach geschehen mußte, solange wir auf diesem Boot waren. Wir alle genossen es, hier zu sein.
Vielleicht sechzig oder hundert Minuten, vielleicht auch länger sah ich Sanne ununterbrochen von der Seite. Wann immer ich es wollte, konnte ich sie anschauen und berühren. Spielerisch wickelte ich ihre Haare um meine Finger, und sie ließ sich das gefallen. Spielerisch strich ich über ihren Rücken und andeutungsweise massierte ich sogar ihren Nacken. Kein Wort und kein Blick begleiteten die Bewegungen meiner Hand, und ich wartete vergeblich darauf, daß sie ein Wohlbehagen darüber oder eine Ablehnung signalisierte. Sie erzählte die selben Dinge wie alle anderen auch; nämlich über unsere zu Hause gebliebenen Mitarbeiter, über Einsätze unseres Kriminalkommissariats, indem ich jetzt schon mehr als ein Jahr mitarbeitete, über das Boot und die Täler, durch die wir fuhren, und über das große Glück, hier auf diesem Kanal zu sein. Der einzige Satz, der mich elektrisierte, war, daß sie sich nicht nackt und auch nicht ohne Oberteil auf dem Boot sonnen würde.
Ich war froh darüber, daß sie das nicht tun würde. Denn in Gedanken hatte ich sie bereits allein für mich haben wollen. Es hätte mich gequält, wenn Georg oder ein anderer der Kollegen sie gesehen hätte oder auch berühren würde. Ich glaube, daß der erotischste Moment der ganzen Fahrt dieser Satz war. So als ob sie unausgesprochen sagen würde: Das tue ich nur für dich. Vielleicht und wahrscheinlich sogar hatte sie sich nichts dabei gedacht, als sie davon sprach, sich nicht nackt zu sonnen. Aber dieser Satz verursachte das Chaos in meinem Gefühlsleben, das bis heute noch andauert.
Wir legten an und Peppo, unser Alterskommissar, machte die Pfanne scharf. Peppo war so etwas wie die Mutter der Kompanie. Er kochte und sorgte gerne für uns. Einmal hatte Sanne über Peppo gesagt, daß sie so einen Vater gerne gehabt hätte. Schon vor einiger Zeit hatte sie mir einiges über ihre Familie und über ihren Ex-Mann erzählt, und ich wünschte ihr von ganzen Herzen, daß sie endlich an einen richtigen Mann geraten würde. Das war aber lange vor dem Boot und lange vor diesem Tag auf dem Oberdeck unter der Sonne und an ihrer Seite. Die Vorstellung, daß ich ein Mann in ihrem Leben sein könnte, beglückte mich und quälte mich gleichzeitig im höchsten Maße; denn ich liebe eine andere Frau und habe eigene Kinder. Das, was ich Sanne früher ganz ehrlich gewünscht habe, nämlich einen Mann, und keinen Versager und Betrüger und Egoisten und Dummkopf, das war ich im gleichen Moment in Person selbst. Ich war es umso mehr selbst, weil ich genau weiß, was passieren wird. Ich kann niemals ehrlich zu ihr sagen: Ich liebe dich! Ganz einfach weil ich meine eigene Frau viel zu sehr liebe und Erfüllung dort habe. Solche Erfüllung und Harmonie, wie ich sie auch Sanne früher gewünscht habe und es ihr immer noch wünsche.
Das Essen an Bord war kräftig und gut. Ich trank noch etwas Rotwein und versuchte von den anderen zu flüchten. Erst ein Spaziergang, und dann sagte ich, daß ich wegen des Rotweins etwas ausruhen müßte. Ich ging in die Kabine, die ich mir nachts mit Georg teilte, und nicht mit Sanne, und begann zu träumen. Ich träumte davon, Sanne verwöhnen zu können. Ich träumte davon, sie glücklich zu machen und ihr zu geben, was ihr so sehr fehlte. Ich träumte in alledem sehr sauber und bei vollem Bewußtsein, und meine Träume waren unerfüllbare, ferne Wünsche, die spätestens an dem Tag beendet sein würden, wenn ich wieder bei meiner Familie sein würde. Und die Enge, in der wir hier auf diesem Boot zusammen waren, bedeutete, daß diese Träume niemals in Erfüllung gehen würden. Das höchste der Gefühle würden im wahrsten Sinne des Wortes nicht ganz zufällige Berührungen und Striche auf dem Oberdeck sein - falls morgen die Sonne wieder scheint, und falls Sanne mir nicht klar zu verstehen gibt, daß sie das wegen der Kollegen nicht will.
Ich spürte auf eine unerklärliche und dennoch gewisse Weise, daß sie meine Gedanken kannte und bereit war, den Schmerz zu ertragen, den ihr meine Hände bereiteten. Denn dadurch, daß sie gar nicht auf das Berühren und das Streicheln reagierte, zeigte sie mir, daß sie noch nicht entschieden war. Und das konnte nur bedeuten, daß sie auch meine Wünsche respektierte, obwohl es da eine Frau und noch ein paar Hindernisse gab.
Bevor ich diese Gedankenspiele in meiner Kajüte zu Ende bringen konnte, stand Sanne plötzlich in diesem winzigen Raum und schaute mich an. Ich konnte sie an ihren Händen und an der Haaren ergreifen und zu mir hinunter ziehen. Sie lächelte. Ich durfte nichts sagen, denn draußen waren die Kollegen. Sie beugte sich ganz zu mir hinunter und küßte mich innig und leidenschaftlich, und flüsterte solche Sachen, wie daß das ganz unmöglich wäre und das es ihr Untergang sein würde. Sie sagte all das, was in einem Mann das Gefühl erzeugt, ein richtiger Mann zu sein. Und sie küßte mich und ließ sich leidenschaftlich küssen und streicheln. Plötzlich rief sie laut, daß alle es hören mußten: “Komm jetzt raus und setzt dich zu uns. Schlafen kannst du zu Hause. Es ist auch noch Rotwein da”. Ich schüttelte langsam neinsagend den Kopf und freute mich an ihrem Lächeln und an ihrer Verzweiflung, weil jeden Moment ein Kollege oder gar Georg, unser personifiziertes schlechtes Gewissen, kommen könnte und uns so sehen würde. Und dann flüsterte sie zu mir: “Komm jetzt! Die kriegen das doch alle mit. Ich bin geliefert, wenn die etwas mitbekommen.”
Ich blieb liegen, drehte mich auf den Bauch, und Sanne ging mit irgendeiner fröhlich geschauspielerten Bemerkung zu den anderen hinaus. Kurz darauf kam sie mit einem Wasserbecher zurück und drohte, mich damit naß zu machen. Also stieg ich auf, ging mir ihr zu den anderen, saß neben ihr, berührte sie zufällig und trank Rotwein.
Es gab auf diesem Ausflug mit dem Boot nicht mehr eine einzige Gelegenheit, wo wir länger als drei Minuten alleine waren. Ich investierte meine ganze Vorstellungskraft aber in diese winzigen Zeitfetzen und sehnte mich danach, mit Sanne alleine zu sein. Ich telefonierte nicht ein einziges mal nach zu Hause, ich verdrängte jeden Gedanken an alle Vernunft, und ich konzentrierte meine ganze Kraft auf die Momente mit Sanne.
Natürlich bemerkten die anderen unsere Blicke und zufälligen Streicheleinheiten. Natürlich wußten sie, warum ich nachts nicht mehr schlafen konnte und stattdessen oben am Steuer saß - in der unausgesprochenen Hoffnung, daß auch sie sich aus ihrer Kajüte stehlen und zu mir setzen würde. Wir brauchten nicht zu sprechen oder zu flüstern. Ich hatte nur das Bedürfnis, ihr nah zu sein und sie zu streicheln und zu liebkosen. Aber sie war stärker als dieses Gefühl und kam nicht.
Die Abfahrt ließ sich nicht aufschieben. Ich versuchte an diesem Morgen unbefangen und vernünftig zu sein. Ich ging sogar ans Telefon und log, daß ich mich auf zu Hause freuen würde. Eine erste Lüge, denn meine Freude war geteilt. Ich versuchte sogar Sanne aus dem Weg zu gehen - es ging nicht. Wir waren ein bißchen kühler, ein bißchen besonnener, ein bißchen in der Vorahnung dessen, was noch passieren sollte.
Sanne hätte ein Ende an dieser Stelle still akzeptiert und ertragen. Mit dem Ende der Bootsfahrt, hätte man sagen können: ein Flirt, Ende. Man hätte sich gegenseitig belogen, in aller Freundschaft, versteht sich, und hätte versucht da weiterzumachen, wo die Bootsfahrt begonnen hatte. Auf der Arbeit ist ja auch nicht diese Enge, dieses Nicht-Ausweichen-Können. Man hätte gesagt, daß der Rotwein daran schuld war. Ich hätte es auch gesagt, aber ich weiß ja, daß es eine Lüge ist. Besser diese eine Lüge, als jetzt eine ganze Kette eiserner Lügen, die zusammenhalten müssen, was niemals halten kann.
Ich suche nach Motiven, nach Gründen und Erklärungen. Das Boot ist ein Grund, der Junge, die Konstellation, daß es ein absolutes Tabu ist, eine Kollegin anzubaggern: Jeder hat sich daran gehalten, obwohl ich annehme, daß jeder in seinen Gedanken genauso gehandelt hat, wie ich es getan habe; nämlich die Enge, die Romantik, den Rotwein und die Gelegenheit ausgenutzt hat, und sich vorgestellt hat .... Nur ich habe es wirklich getan - viel schlimmer noch: Ich habe es so gewollt!
Und Sanne auch! Für sie bedeutete es mehr, als ich es ahnen könnte, hat sie mir später gesagt.
Rein äußerlich war es nur ein Flirt, völlig harmlos und unschuldig. Eigentlich ist überhaupt nichts passiert, für das man sich schämen müßte. Wir haben nicht miteinander geschlafen, wir haben eigentlich nichts weiter gemacht, als ich es mir von meiner Tochter wünsche, wenn sie, die gerade 16 Jahre alt wird, bald ihren ersten Freund hat. Heimlich geflirtet, heimlich geküßt, vor den anderen geschauspielert. Doch wir haben etwas gemacht, was viel gefährlicher als ein Seitensprung gewesen wäre; wir beide gaben unsere Gefühle preis.
Wir haben etwas ausgelöst, das wir so kaum kontrollieren können. Ich würde mich schämen, wenn ich berechnend gewesen wäre. Ich würde mich noch mehr schämen, wenn Sanne alles berechnet hätte. Aber das war ja nicht der Fall. Und deswegen, so steht die Sache nun einmal, will ich nicht anhalten, sondern weiter taumeln in diesem Zustand. Solange ich dieses Kribbeln spüre, möchte ich nicht anhalten. Das ist gemein, das ist unverantwortlich. Aber so ist es nun einmal.
Den Preis für alledem wird Sanne bezahlen müssen. Und jetzt, in diesem Moment, weiß ich plötzlich, was der eigentliche Auslöser für unser Brennen ist: Sanne akzeptiert diesen Preis! Während ich nur mit einem kleinen Betrug und einem bißchen schlechten Gewissen bezahlen könnte, weiß Sanne ganz genau und akzeptiert, daß sie mit Leiden bezahlen muß. Denn die Tatsache, daß ich niemals Frau und Kinder verlassen werde, selbst wenn meine Gedanken und Gefühle morgen in der BILD-Zeitung oder auf andere schmutzige Weise in aller Welt veröffentlicht sind, steht im krassen Gegensatz zu der völligen Hingabe und Leidenschaft, mit der Sanne in diese Beziehung gehen würde. Was für eine Kostbarkeit, die scheinbar niemand erkennt! Wie blind können sogenannte Männer nur sein, an einer solchen Frau achtlos vorbeizugehen? Instinktiv habe ich es schon vom ersten Tag unseres Kennens an verspürt und bin dagegen mit Härte angegangen..... Nur die Enge des Bootes, und die Tage in diesen Tälern und der Spaziergang am See, und sicherlich auch der Rotwein haben meine Gefühle zu sehr verstärkt. Ich habe nicht gespielt! Ich habe etwas geschehen lassen, das ich nicht bereuen will, obwohl es nicht sein darf. Ich sitze noch immer im gleichen Boot, in der gleichen Enge, bei der gleichen Frau, die meine ganzen Gedanken fesselt.


Abheben und Fliegen

Sanne fragte mich, ob wir zusammen außerhalb der Dienststelle etwas erledigen könnten. Es war unser erster Arbeitstag nach der Bootstour, und ich wußte nicht, wie ich mich auf der Dienststelle ihr gegenüber verhalten sollte. Ich ließ sie den Dienstwagen fahren und wagte es nicht, über die gerade zurückliegenden Tage zu sprechen. Gerne hätte ich ihr von meinen Empfindungen und Gedanken etwas verraten, in der Hoffnung, daß sie das gleiche tun würde. Aber wir waren nicht mehr in diesem Boot und auch nicht mehr en vacances, also schwieg ich und versuchte in die Musik aus dem Radio und in dienstliche Angelegenheiten zu flüchten.
Mit jeder Minute im Auto, die wir nebeneinander verbrachten, steigerte sich mein Verlangen, Sanne anzufassen, sie zu küssen, zu reden mit Sanne, sie zu streicheln, ihr in die Augen zu schauen, Sanne immer und immer wieder zu küssen, ihren unglaublich sinnlichen Mund mit den Fingerspitzen zu berühren, die Haare zu ordnen. Doch ich konnte sie nur hin und wieder anschauen. Ich hätte noch stundenlang so umherfahren können. Sanne wußte das.
Sie lenkte auf einen kleinen Waldparkplatz, parkte und schaute mich nun genauso an, wie vor einer Ewigkeit auf dem Boot, als sie in meine Kabine kam.
“Eigentlich wollte ich dir diesen Brief geben”, sagte sie und holte einen ganz klein zusammengefalteten Zettel aus ihrer Hemdtasche, “aber jetzt kann ich es dir ja auch sagen.” Ich streckte meinen Arm zu ihr aus und sie legte ihren Kopf in meine Hand. “Ich wollte dir sagen, daß die Zeit auf dem Boot mir mehr bedeutet hat, als du vielleicht denkst. Du hast in mir etwas geweckt, das ich schon lange nicht mehr kannte.”
Sanne sagte das in der Gewissheit, daß unsere Affäre bereits zu Ende war bevor sie eigentlich angefangen hatte. Ich war verheiratet. Ich hatte Kinder. Ich war ihr Kollege. Und ich hatte bereits vor der Bootsfahrt ein Versetzungsgesuch abgegeben, das dieser Tage ganz bestimmt zu meiner Versetzung in eine andere Stadt führen würde. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
Sanne gab mir den Zettel und ich las:

“Ich möchte dir sagen, daß es auf dem Boot sehr, sehr schön war. Ich werde diese vier Tage nicht vergessen, und ich möchte dir danken für die Zärtlichkeiten und Gefühle, die du mir geschenkt hast. Mir hat das sehr, sehr viel bedeutet. Du sollst das wissen. Danke für diese Zeit.
Deine Kollegin Sanne”



“Ich kann deinen Brief leider nicht behalten”, begann ich. “Kannst du ihn für mich aufbewahren?” Da war wieder ihr einzigartiges Lächeln, mit dem sie den Zettel an sich nahm, wieder klein zusammenfaltete und zurück in die Hemdtasche steckte. Sie verstand richtig, daß ich bereit war, etwas zu verbergen, etwas Heimliches zu wagen, auch wenn es völlig irrsinnig war in unserer Situation. Ich erinnerte mich an eine Situationsbeschreibung, die sehr gut auch unser Befinden beschrieb, und schilderte ihr das Bild.
“Stell dir vor, wir zwei würden in einem Flugzeug sitzen - das Flugzeug ist unsere gemeinsame Situation - , und dieses Flugzeug hebt gerade von der Startbahn ab, obwohl niemand weiß, wo es eine Landebahn gibt, und ob es überhaupt eine Landebahn gibt. Wir starten und fliegen und wissen nicht wohin. Das einzige, was wir wissen, ist, daß irgendwann kein Treibstoff mehr da sein könnte. Sanne, wenn wir abheben gibt es kein Zurück.”
“Ich weiß”, flüsterte sie und küßte meine Hand, die immer noch ihren Kopf hielt. “Und wie soll das ganze enden”, fragte ich ernüchternd. “Ich weiß es nicht - vielleicht mit dem Fallschirm, oder vielleicht reicht der Treibstoff doch bis zum Ende.” Ohne weiter darüber zu sprechen war uns beiden klar, daß wir in diesem Moment von der Startbahn abgehoben waren.

Wir verabredeten, daß auf der Arbeit und im Bekanntenkreis niemand etwas merken dürfte. In der Folge kam es dann zu einer ganzen Reihe komischer Zwischenfälle, und mehr als einmal entkamen wir nur um Haaresbreite unserer Entlarvung. Wir sprachen mit den Augen zueinander, wir berührten uns im Vorbeigehen, wir küßten uns in der Asservatenkammer, und wir trafen uns außerhalb unserer Wohnungen und der Dienststelle, wenn wir längere Zeit zusammensein wollten. Aber wir waren beieinander, sahen uns und hatten viele Dinge gemeinsam, auch wenn wir meistens nicht ganz alleine sein konnten. Es waren herrliche und unbekümmerte Tage, und ich kann mich nicht entsinnen jemals freudiger zur Arbeit gefahren zu sein; denn ich fuhr zu Sanne.

Mitte Juli kam meine Versetzung. Wir wußten, daß dies geschehen würde. Es war der Zeitpunkt, wo in unserem Flugzeug die Türen zum Fallschirmsprung geöffnet wurden. Wenn wir jetzt ausstiegen, hätten wir beide die Chance gehabt, sicher zu landen und den Weg zurück zu finden. Das Flugzeug wäre zwar verloren, aber wir könnten weiterleben. Sanne und ich sprachen darüber, obwohl ein Ausstieg aus unserer Situation nur ein Gedanke der Vernunft war, und nicht im mindestens unser Verlangen widerspiegelte oder eine Idee unserer Hände und Lippen war.
“Jetzt sehe ich dich nie mehr”, übertrieb Sanne an unserem letzten gemeinsamen Arbeitstag, und sie brauchte nicht zu sagen, daß sie mich gerne weiterhin jeden Tag gesehen hätte. Diese kleinen Geständnisse waren wie Kerosin für unser Flugzeug, das ja weiterfliegen mußte. Und trotzdem wechselte ich die Dienststelle.
Irgendwie schafften wir es in diesem letzten Nachtdienst mehrere Stunden allein und außerhalb der Dienststelle sein zu können, ohne daß jemanden etwas auffallen würde. Wir spazierten entlang eines kleinen Bachlaufs, und ich schlug Sanne vor, mit mir einen Vertrag zu schließen.
“Was für einen Vertrag meinst du”, wollte sie wissen. “Ich meine einen Vertrag zwischen zwei Menschen, die eigentlich zusammen sein sollten”. Sanne fand die Idee amüsant, und so begannen wir die zehn Artikel unseres Vertrages zu formulieren:

Art. 1:
Wir werden es nicht zulassen, daß die Macht der Sprichwörter auch über uns Macht hat. Deshalb werden wir auf keinen Fall “aus den Augen und aus dem Sinn” gehen.
Art. 2:
Wir werden so oft es geht miteinander telefonieren und versuchen, uns häufig zu sehen. Mindestens einmal in der Woche muß ein Treffen stattfinden. Mindestens einmal im Monat wollen wir einen ganzen Tag zusammen sein.
Art. 3:
Wir werden es ideenreich ermöglichen, einen gemeinsamen Urlaub im Jahr zu verbringen.
Art. 4:
Wir werden niemandem einen Anlaß geben, unsere Freundschaft zu zerstören. Deswegen wollen wir weiterhin unser Geheimnis hüten und anderen keinen Einblick in unser Zusammensein gewähren. Unsere Beziehung wird kein Erzählgegenstand und auch keine vertrauliche Mitteilung sein, sondern spielt sich einzig zwischen zwei Menschen ab: zwischen dir und mir!
Art. 5:
Wir wollen beieinander und nicht nur neben- oder miteinander sein. Der Wert unserer Beziehung drückt sich im Zusammensein, und nicht in Geschenken oder Nettigkeiten allein aus.
Art. 6:
Wir sind uns bewußt, daß alles Zwanghafte wie Nötigung oder Eifersucht tödlich für unsere Beziehung sind. Deshalb lehnen wir solche Verhaltensweisen ab. Unser Ziel ist es vielmehr, einander Freude und Glück zu geben.
Art. 7:
Die Gespräche über Ehe- und Lebenspartner werden auf das notwendige Minimum reduziert und sollen in absehbarer Zeit gegen Null tendieren.
Art. 8:
Keiner verwehrt dem anderen den Zugriff zum Fallschirm und den Zugang zur Außentür. Sollte der Tag kommen, an dem einer von uns springen muß, dann wird ihn der andere nicht daran hindern.
Art. 9:
Sollte der Treibstoff ausgehen, dann haben wir die Katastrophe verdient. Wir wollen dann nicht jammern.
Art 10:
Wir werden niemals die Hoffnung darüber aufgeben, daß es einen Flughafen gibt, auf dem wir landen können. Denn schließlich sind wir zwei Menschen, die eigentlich für immer zusammen sein sollten.

Diesen Vertrag schlossen wir an unserem letzten gemeinsamen Arbeitstag. So leicht und lustig die einzelnen Artikel auch zusammengesponnen waren, spiegelten sie doch genau das wieder, was wir beide wollten: weiterfliegen, höher und weiter. Um es der Allegorie des Flugzeugs entsprechend zu sagen: Dieser Vertrag wurde zu unserem Luftverkehrsplan.

Sag mal, warum gerade ich?

“Sag mal, warum gerade ich?” Sanne saß mir direkt gegenüber, blickte fest in meine Augen. Sie stellte diese Frage ohne ihr Lächeln, an das ich mich schon so sehr gewöhnt hatte. Das Fehlen dieses unbeschwerten fröhlichen Lächelns machte deutlich, wie wichtig ihr meine Antwort war.
“Warum gerade du?” wiederholte ich die Frage und erschrak, weil ich keine Antwort parat hatte. “Weil ...”, sagte ich und hielt nachdenklich die Luft ein, wobei ich wenigstens versuchte zu lächeln. Sanne hielt mich immer noch mit ihrem Blick fest.
“Weil du mir gefällst!” Mein Gott, wie schwach. Wie kann man nur eine so blöde Antwort geben. Natürlich gefällt sie mir - innerlich und äußerlich. Aber das war ja gar nicht die Frage. “Weil wir doch eigentlich zusammengehören und zusammensein sollten!” fiel mir ein; denn wir hatten ja einen Vertrag, der genau das feststellte.
Sanne lächelte: “Nein, im Ernst. Sag mir, warum gerade ich!”
Sie flüsterte das mit einer Mischung aus Unglauben und Fassungslosigkeit, so als ob sie das Große Los getroffen hätte. Nein, das war es nicht; ihr Tonfall war anders. So, als ob sie vor einem bedeutenden Schritt stand und noch einmal bewußt stehenblieb, weil sie wußte, dieser nächste Schritt ist entscheidend.
“Sanne, es gibt tausend Gründe. Ich weiß aber nicht, wie ich es dir genau sagen könnte. Ich habe mich in dich verliebt. Kannst du Liebe erklären?”
Sanne schaute mich nur an. Auf meine Gegenfrage reagierte sie überhaupt nicht. Zu wichtig war ihr meine Antwort auf auf die Frage, und ich blieb sie ihr schuldig.
Den ganzen Abend und die halbe Nacht dachte ich darüber nach, warum ausgerechnet Sanne. Ich dachte schon längst nicht mehr darüber nach, warum ich als verheirateter Mensch mit titanharten Prinzipien, warum ein gemeinhin als Vorzeigefamilienvater geltender Vorzeigeehemann mit Fernsehserienfamilie sich Hals über Kopf in ein zehn Jahre jüngeres Mädchen verknallt. Ich dachte nur noch an Sanne, obgleich ich sowieso nur noch Sanne im Kopf hatte, egal was ich tat. “Warum Sanne?” war die Frage. “Warum ausgerechnet ich?” hatte sie mich gefragt.

Am nächsten Tag rief ich bei ihr an. Sanne anzurufen ist ein Abenteuer. Eigentlich ruft man nicht Sanne sondern ihren Anrufbeantworter an. Er sagt dann, daß sie gerade nicht da ist, aber daß er gerne das aufzeichnen würde, was man ihr sagen will. Und dann macht dieses Gerät die leere Versprechung, daß sofort ein Rückruf erfolgen würde; als ob Sanne so einfach bei mir zu Hause anrufen könnte. Meine Frau würde sich freuen. Man benötigt also mindestens zehn Anläufe, um Sanne überhaupt zu erreichen. Jeden dritten erfolgreichen Anruf muß man dann wieder abbrechen, weil gerade jemand bei ihr ist, der das Gespräch nicht hören soll - wir haben ja Geheimhaltung vereinbart. Wenn es dann ausgesprochen dumm läuft, und nicht zur vereinbarten Zeit (ein bißchen später sind fünf Minuten; später sind 15 Minuten; bald sind eine halbe Stunde) der Folgeanruf kommt, dann beginnt die Prozedur wieder von vorne. Ich habe ernsthaft erwogen, mir ein Handy zuzulegen, das wenigstens ich für sie erreichbar bin. Bei alledem bin ich nur deshalb glücklich, weil ich erstens Sanne gerne am Telefon höre - sie hat eine außergewöhnlich ausdrucksstarke Stimme - und zweitens dieser man nur ich bin. Andere können jederzeit anrufen und mir ihr sprechen; denn sie haben ja nicht das zu sagen, was ich ihr sagen möchte.
Also am nächsten Tag rief ich bei Sanne an. Das heißt, ich begann etwa zur Mittagszeit sie zu erreichen zu versuchen. Abends um 18 Uhr 20 hatte ich sie dann endlich am Telefon, um gleich wieder aufzulegen, weil der Nachmieter für ihre Wohnung - dummerweise ein Bekannter von ihr - gerade da war. Also rief ich ein bißchen später und dann später noch mal an. Sanne ließ mich noch einen Moment in der Leitung warten, so daß ich mithören konnte wie sie ihren Besuch höflich aber bestimmt nach Hause schickte. Dann konnte ich ihr endlich sagen, warum ausgerechnet sie es ist.
“Du wolltest doch wissen, warum ausgerechnet du, und nicht irgendeine andere Frau ...?”
“Ja”, erweiterte Sanne die Frage, “genau meine ich: Warum ich und nicht deine Frau. Du hast mir doch immer zu verstehen gegeben, wie toll deine Frau ist, wie gut ihr euch versteht, und wie glücklich ihr seid.”
Sie hatte Recht. Solange ich Sanne schon kannte, und das waren genau 17 Monate, 25 Tage und etwas mehr als 11 Stunden, habe ich ihr von meiner Familie und meiner Ehefrau vorgeschwärmt. Sanne gefiel mir zwar von Anfang an superklasse, doch eine Affäre oder einen Seitensprung waren damals für mich völlig undenkbare Dinge gewesen. Ich sah sie mir immer schon gerne an, ich war gerne mit ihr zusammen, aber es durfte keine Geschichte daraus werden. Auch deshalb erzählte ich ihr viel von meiner Familie und habe sogar dafür gesorgt, daß sie meine Kinder und meine Frau kennenlernt. Bei alledem habe ich Sanne noch nicht einmal belogen; meine Ehe und Familie waren wirklich oK. Und Sanne hatte mir ihrerseits auch so manches von sich erzählt, das die anderen Kollegen nicht wußten.
Seitdem sie mir diese Frage gestellt hatte, habe ich darüber nachgedacht, warum es überhaupt möglich sein konnte, daß ich meine Frau und die Kinder mit Sanne betrügen wollte, betrügen würde und betrogen habe. Und die Antwort war mir ganz klar geworden.
Ich sagte zu Sanne: “Weil du mich brauchst! Meine Frau hat sich ihr Leben eingerichtet. Ich gehöre dazu und bin auch wichtig. Aber sie könnte dieses Leben genauso gut auch ohne mich führen. Mit anderen Worten: Meine Frau braucht mich eigentlich nicht. Bei dir ist es ganz anders.”
Ich mußte jetzt erst einen Kloß im Hals herunterschlucken bevor ich weitersprechen konnte. “Du brauchst mich! Für dich bin ich wichtig. Du suchst nicht irgendeinen Mann, der dir gefällt und den du haben willst, sondern es geht konkret nur um mich. Das glaube ich, das weiß ich, und das hoffe ich. Wenn ich mich irre, dann bin ich ein ganz schöner Trottel, oder?”
“Ich bin doch vorher auch ohne dich zurechtgekommen. Ich habe dich sogar eine Zeitlang gehaßt, und mir ging es gut”, stellte Sanne meine Erklärung lachend in Frage. “Wie kannst du da denken, daß ich dich brauche oder ohne dich nicht leben könnte?”
“Brauchst du mich, Sanne?” Sie blieb still. “Dein Leben könntest du wie bisher auch ohne mich bewältigen. Aber deine Liebe, mal abgesehen von Nick, bliebe auf der Strecke. Leben und Lieben ist nicht dasselbe. Ich glaube ganz fest daran, daß wir zusammen gehören. Deshalb bist ausgerechnet du es, und keine andere.”
“Wenn das wirklich so ist”, fragte Sanne, “wie kannst du dann noch bei deiner Frau bleiben?”
“Ich weiß es nicht. Ich kann nicht bleiben, und ich kann nicht gehen. Offensichtlich will ich alles haben. Und ich weiß sogar, daß das nicht geht.”
Sanne stellte fest: “Frauen sind da wohl konsequenter als Männer. Ich könnte so nicht zwischen zwei Beziehungen stehen. Frauen entscheiden sich da eher, auch wenn es weh tut. Ihr Männer seid feige”, lachte sie. “Paß nur auf, daß du am Ende nicht ganz mit leeren Händen da stehst.”
“Wahrscheinlich hast du Recht, Sanne. Ich fühle mich auch nicht wohl in meiner Rolle. Zum Glück gibt es noch eine ganze Menge anderer Gründe, warum ich ausgerechnet dir verfallen bin: Du bist sexy, fröhlich, offen, lebhaft, energisch, du gefällst mir, deine Figur ist zum Hinschauen. Aber das Brauchen steht ganz oben, das meine ich wirklich so. Wenn wir uns vor zehn Jahren schon getroffen hätten, wäre alles ganz einfach.”
“Klar doch, da war ich ja schon 15 Jahre und hätte das alles verstanden”, ergänzte Sanne ironisch meine Rechnung. “Und so sexy war ich damals mit meiner Brille, daß du ganz bestimmt auf mich geflogen wärst.”
Wir lachten beide. Ich war dankbar, daß Sanne das Thema nicht ausgeweitet hatte und - wie immer - mich nicht bedrängte. Sie hatte – auch das war ein Immer – wieder einmal Recht. Denn wäre sie an meiner Stelle gewesen, dann hätte sie schon längst eine Entscheidung getroffen und ihren Entschluß durchgezogen. Auch das war ein Grund, warum ich mich ausgerechnet in sie, in Sanne, verliebt habe. Und außerdem hatte sie Recht, Recht und nochmals Recht damit, daß wir Männer feige sind - und ich im Besonderen - wenn es darum geht, klare Verhältnisse zu schaffen. Verräter sind meistens Männer, das paßt.


Auf Crosstour

Weil sie mich braucht! Das ich nicht lache! Ich Hornochse, ich blöder! Quasi als Dankeschön für meine liebgemeinte Erklärung darüber, warum ich mich ausgerechnet in sie verliebt habe, hat Sanne mir nur zwei Tage nach dieser Erklärung eindrucksvoll demonstriert, wie sehr sie mich braucht. Es war eine der seltenen Gelegenheiten, wo sie mich zu Hause unter einem Vorwand anrufen konnte, auch wenn meine Frau ans Telefon gegangen wäre. Der Vorwand wäre gar nicht erforderlich gewesen, weil ich sowieso am Telefon saß und schon beim ersten Läuten abhob.
“Schön, daß du anrufst. lch habe gerade an dich denken müssen. Wie geht’s dir denn?” freute ich mich riesig.
“Ein bißchen beschißen”, war ihre kurze knurrige Antwort.
“Was ist denn los. Gibst Stress auf der Arbeit?”
“Nein, nicht auf der Arbeit. Mein Ex-Mann nervt mich. Er war gestern bei mir, und wir hatten einen Riesenkrach wegen dem Geld und weil das mit den Besuchen mit Nick nicht klappt. Das war ganz schön hart”, erklärte sie.
“Ach so!” entspannte ich mich. Es war ja zum Glück nichts Ernstes. “Will er den Unterhalt nicht mehr zahlen?”
“Nein, nicht deswegen. Es geht da noch um die Wohnung, die wir zusammen hatten. Ich kann jetzt nicht darüber reden.”
“Bist du alleine?” wollte ich wissen, weil es ja sein konnte, daß ein Kollege im Büro bei ihr war.
“Ja. Ich rufe auch nicht wegen meinem Ex an. Es ist wegen unserer Crosstour.“ Ich ahnte Schlimmes. Sanne, Nick und ich wollten nämlich in zwölf Stunden für vier Tage zusammen eine Offroad-Radtour mit Camping machen. Wir hatten das schon länger geplant, und ich hatte bei meiner Familie erreicht, daß ich für diesen Zeitraum alleine mit dem Mountainbike unterwegs sein konnte, ohne daß sich jemand etwas dabei dachte. Diese Allein-Tour zu begründen war ein hartes Stück Arbeit; aber ich tat es ja für Sanne und mich, und ich freute mich wie ein Zwergpudel bei der Körung auf diese Zeit allein mit Sanne und Nick.
“Was ist denn mit der Tour?” fragte ich unheilsahnend.
“Du, es wäre besser, wenn wir das verschieben. Ich kann jetzt nicht mit Nick und dir fahren. Nick hat gestern unseren Streit teilweise mitbekommen, und mit seinen sechs Jahren versteht er ja schon fast alles. Es wäre nicht gut, wenn ich jetzt mit einem anderen Mann als seinem Papa wegfahren würde. Verstehst du das?”
Mir blieb das Herz stehen. “Aber Sanne, Nick kennt mich doch. Ich will doch nicht sein Ersatzpapa werden. Er weiß doch, daß wir Kollegen sind und obendrein befreundet. Glaubst du wirklich, daß Nick sich etwas dabei denken würde, wenn wir ein paar Tage zusammen etwas unternehmen?”
“Du mußt das verstehen”, hörte ich Sanne ein wenig verzweifelt sprechen, “ich habe mich ja auch auf die Tour gefreut. Aber der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig. Ich will nicht, daß Nick noch mehr durcheinander wird. Er braucht jetzt etwas Abstand.” Und nach einer Pause, in der keiner etwas sagte, fügte sie noch hinzu: “Ich habe ihm gesagt, daß er jetzt mit seiner Mama ein paar Tage ganz allein sein wird. Sein Papa ist nämlich die ganze Woche beruflich in Belgien.”
“Okay, Sanne. Wir können das verschieben. Ich habe zwar schon alles gepackt, und mein Bike ist schon auf dem Auto. Aber wenn du die Tour verschieben willst, mein Gott, dann fahren wir eben später. Wie soll ich das nur meiner Familie erklären?”
“Du, sei mir nicht böse. Es ist wirklich nur wegen Nick. Ich wäre gerne mit dir zusammen. Du fehlst mir ja auch. Nur, der Junge ist ganz konfus, und ich muß Rücksicht auf ihn nehmen. Du bist nicht sauer, oder?” beendete Sanne das Thema.
“Nein, ich bin nicht sauer. Nur ein bißchen traurig. Ich habe mich so auf die Crosstour gefreut.” Und mit gespieltem Leichtmut sagte ich hinterher: “Okay, verschieben wir das Ganze. Dann fahren wir aber eine ganze Woche! Einverstanden?”
“Vor mir aus noch länger. Ich mag dich!” machte Sanne mich glücklich. “Du, jetzt muß ich aber Schluß machen, Georg kommt gerade. Ich rufe dich heute Abend nochmal an?”
“Schön Sanne, bis heute Abend, aber auf der Arbeit - ich habe Nachtdienst. So gegen neun Uhr wäre gut.”
“Ja, um Neun. Kuß!” Und Sanne legte auf.

Da saß ich! Das Auto war komplett beladen, und ich konnte mir jetzt etwas ausdenken, um meiner Frau zu erklären, daß und warum ich nicht gleich nach dem Nachtdienst von der Dienstelle aus losbiken würde. Dabei hatte ich alles so perfekt vorbereitet. Sogar Kerzen hatte ich heimlich eingepackt, und eine Flasche Sekt war im Zelt eingewickelt, und gutes Öl hatte ich mitgenommen, weil ich Sanne so richtig verwöhnen wollte, wie sie es noch nie erlebt hat. Auch zwei Gesellschaftsspiele waren zufällig im Auto, damit Nick auf seine Kosten kommen würde. Nicht daran zu denken, daß ich mir auf der Arbeit zwei dienstfreie Tage nehmen mußte. Und nun sollte ich alles wieder zurück in die Wohnung schmuggeln. Vorbei an den prüfenden, verständnislosen Blicken meiner Frau, die ganz bestimmt denken würde, daß ich sie nicht mehr alle beisammen habe.
Ich beschloß, die Rückführaktion auf den nächsten Tag zu verschieben. Irgendeine plausible Erklärung würde mir schon einfallen. Ich hatte ja in den letzten Wochen gelernt, meine künstlerisch-geistigen Fähigkeiten auf meine zwei Leben zu verteilen. Während Sanne Nutznießerin meiner poetischen und literarischen Ader und der dazugehörigen Fähigkeiten wurde, lebte ich zu Hause meine schauspielerischen Künste gänzlich aus. Auf der Strecke blieb lediglich die Musik. Für neue Lieder fehlte mir nicht nur die Zeit, sondern auch die Inspiration. Ich hatte zwar ein paar gute Melodien im Kopf, aber keine Kraft für entsprechend gute Texte.
Sanne, was machst du mit mir? Aber heute Abend auf der Arbeit könnten wir ja lange telefonieren, oder uns sogar in meinem Dienstbezirk treffen, wenn sie jemanden hatte, der auf Nick aufpassen würde.

Sanne rief nicht an. Auch bei ihr zu Hause meldete sich nur der mir schon lang vertraute Anrufbeantworter: “Hallo, wir sind leider nicht zu Hause. Aber sie können uns eine Nachricht auf Band sprechen, und wir werden sie sofort zurückrufen.”
Ich unterhielt mich mit dem Anrufbeantworter: “Hi Sanne, ich bin’s. Bist du zu Hause? ... Sanne, komm’ heb ab. Du liegst doch bestimmt auf dem Sofa ... Du wolltest mich doch schon vor einer Stunde anrufen ... Sanne, bist du da? ... Gut, dann rufe mich doch auf der Arbeit an. Ich bin die ganze Nacht im Kommissariat zu erreichen. Bis dann Sanne. Du fehlst mir!”
Um 23 Uhr rief ich nochmal an: “Hallo, wir sind leider nicht zu Hause ...” Ich sprach nochmal auf Band: “Sanne, ich bin’s schon wieder. Du kannst ruhig anrufen. Es ist kaum was los. Ich warte auf deinen Anruf. Rufst du mich noch an, ja?”
Und eine halbe Stunde Stunde später: “Hallo, wir sind ...”
Und später: “Ha ...” Und wieder eine viertel Stunde später: “Ha ...”
Und nochmal: “Ha...”, “Ha...”, “Ha...”
Sanne meldete sich auch am nächsten Tag nicht. Und ich konnte sie auch nicht erreichen. Nur ihr Automat versprach mir, daß Sanne sofort zurückrufen würde. Irgendwie fühlte ich mich ganz schön auf den Arm genommen. Wenigstens konnte ich die Sache mit der ausgefallenen Radtour meiner Familie einigermaßen überzeugend darstellen: “Mein Chef hat mich gebeten erreichbar zu bleiben, weil morgen oder übermorgen eine größere Sache in unserem Dienstbezirk steigen soll. Das ist ganz schön blöd. Wenn ich jetzt mit dem Rad unterwegs bin, müßte ich ja laufend anrufen und fragen, ob sich was Genaues ergeben hat. Das ist mir ehrlich gesagt zu dumm. Ich verschiebe das mit der Crosstour.”
Auf diese Art und Weise hatte ich wenigstens schon eine Option für die nächste Tour, die ich mit Sanne planen würde. Sanne, warum meldest du dich nicht. Das gibt’s doch gar nicht. Solange habe ich noch nie auf deinen Anruf warten müssen.

Als am Abend mein Telefon immer noch nicht klingelte gingen mir tausend Sachen durch den Kopf. Warum ruft sie nicht an? Das kann man doch von unterwegs machen. Das dauert doch nur ein paar Minuten. Sie hat doch Urlaub jetzt. Das gibt es doch nicht.
Ich beschloß zu Sanne zu fahren. Das waren nur vierzig Kilometer. Und wenn sie nicht zu Hause ist?, überlegte ich. Wenn sie zu Hause wäre, dann hätte sie ihr Band abgehört und längst angerufen. Wir hatten ausgemacht, daß sie es zweimal klingeln lassen soll, und ich rufe dann bei ihr zurück, wenn ich dieses Zeichen gehört habe. Und ich hätte es gehört, weil ich schon stundenlang wie ein läufiger Kater um das Telefon schlich. Sanne, ruf jetzt an!
Vielleicht ist sie bei ihrem Ex-Mann, und es gibt wieder Stress, wie sie es nannte. Okay, ich fahre mal dort vorbei!, war mein nächster Gedanke. Ich sprang auf, setzte mich ins Auto und fuhr los.
Sag mal, bist du nach ganz normal?, fragte ich mich nach zwei Kilometern selbst. Jetzt fängst du noch an, hinter Sanne herzuspionieren! Ich trat auf die Bremse und lenkte rechts heran. Im Cassettenrecorder lief Heart Of Stone von Dave Stewart, mit dem Refrain: “Maybe your heart is made of stone, maybe i’m just to blind to see ... we should have an affaire!” War sie wirklich so hartherzig, oder war ich so blind, daß ich die Dinge nicht mehr richtig einordnete. Klar, wir hatten eine Affäre, aber sie war nicht meine Frau! Wie durfte ich sie dann kontrollieren oder ihr gar nachspionieren? Wenn sie mich nicht sehen will und auch nicht anrufen will, dann ist das ganz alleine ihre Sache. Das haben wir in unserem Vertrag ja auch so ausgehandelt: Keiner darf den anderen nötigen! Ich war ganz schön neben der Spur, mußte ich feststellen. Wie konnte das passieren? Und nun stand ich mitten auf der Landstraße, und vielleicht klingelte gerade jetzt zu Hause das Telefon zweimal.

Eifersucht! Am Abend, als immer noch kein Telefon bei mir klingelte, schoß es mir in den Sinn. Ich war eifersüchtig. Ich konnte es nicht ertragen, nicht zu wissen, was und wo Sanne gerade war und was sie machte. Es könnte ja sein, daß sie einen anderen Mann kennengelernt hat; so einen, wie ich es ihr früher immer gewünscht habe, früher, als wir noch keine Affäre hatten. Vielleicht war sie ja tagsüber an ihrem ersten Urlaubstag im Schwimmbad gewesen, und irgend so ein Trottel hat endlich wahrgenommen, was für eine tolle Frau da mit ihrem 6jährigen planschen ist? Vielleicht hat er sie dann angesprochen und gesagt: “Hallo, ich heiße Fridolin und komme aus Darmstadt. Bist du auch von hier? Das muß ich wissen; denn wenn du nicht aus Darmstadt bist, dann werden wir uns wohl zufällig nie wieder treffen, und wir müßten uns jetzt gleich verabreden, um uns nicht ganz aus den Augen zu verlieren! Und genau das wünsche ich mir.”
Das wäre meine Anmache vor mehr als zehn Jahren gewesen, als ich so jung war wie Sanne es heute ist. Warum sollte also nicht so ein Fridolin mit dem gleichen Spruch genauso erfolgreich bei Sanne sein, wie ich es damals mit Sicherheit gewesen wäre? Das würde alles erklären. Sanne würde dann jetzt in einer Bodega oder einem Cafe sitzen und sich köstlich amüsieren über diesen Fridolin, der ihr geschickt den Hof macht. Und ich sitze zu Hause am Telefon und warte, daß es bimmelt. Zweimal Klingeln haben wir ausgemacht. Und es klingelte immer noch nicht.
“Fällt dir eigentlich auf, daß du völlig verstört bist?” fragte mich meine Frau.
“Wieso, wie kommst du darauf?” konterte ich erschrocken.
“Du nimmst ja überhaupt nicht mehr wahr, was um dich herum passiert. Hast du eigentlich mitbekommen, daß dein Sohn jetzt schon zwei Tage in den Ferienspielen war?
“Natürlich weiß ich das. Wieso?”
“Na, früher hast du wenigstens manchmal gefragt, ob es ihm gefällt, und was er gemacht hat. Aber du lebst ja nur noch für dich und scheinbar in einer anderen Welt.” Und nach einer Gedenkminute: “Wie gefällt dir übrigens die neue Frisur deiner Frau?”
“Äh, gut. Warst du beim Frisör?”
“Nein, deine Tochter hat mir die Strähnchen in die Haare gemacht. Das war übrigens schon vor drei Tagen!”
“Das hat sie klasse gemacht. Das ist mir gar nicht aufgefallen”
“Du merkst ja auch sonst nicht mehr, was hier im Haus vorgeht. Noch eine Kleinigkeit. Hast du bereits bemerkt, daß bei mir die Wechseljahre beginnen; offensichtlich stecke ich mitten im Klimakterium.”
“Wie meinst du das?”
“Na ja, wenn ein Mann nicht mehr mit seiner Frau schlafen will, dann ist er entweder impotent oder sie in den Wechseljahren. Ich vermute, daß du trotz deines distanzierten und abwesenden Verhaltens nicht impotent bist. Also muß es an mir liegen, daß du nicht mehr mit mir schlafen willst.”
Zum Glück hatte sie die dritte Möglichkeit nicht angesprochen. Denn sie hatte mich vollständig auf dem falschen Fuß erwischt.
Sie hatte mich nicht nur auf dem falschen Fuß, sondern ganz und gar erwischt. Seit mir Sanne im Kopf war, hatte ich nur wenig Interesse an ihr angemeldet. Und das, obwohl Sex eine beachtliche Größe in unserer Ehe darstellte. Zuerst wir, und dann die Kinder, war schon immer unser Leitspruch; denn eines Tages gehen die Kinder eines nach dem anderen aus dem Haus, und zurück bleiben zwei verlassene Menschen, die nicht den Fehler begangen haben sollten, wegen der Kinder ihre Beziehung vernachlässigt zu haben. Außerdem wollen Kinder Eltern, die sich lieben. Und schon Luther stellte fest, daß zwei- bis dreimal in der Woche weder ihm noch ihr schadet.
Zwei- bis dreimal die Woche. Mit Sanne habe ich nie darüber gesprochen. Sie wollte nichts davon wissen, was in meiner Ehe passiert, und ich wollte es ihr auch nicht erzählen. Es war ja auch aberwitzig. Sanne sagte mir, daß sie eifersüchtig auf meine Frau sei, wenn sie nur daran denkt, daß ich nach Hause fahre und neben ihr schlafe. Und ich war eifersüchtig auf jedermann, der seine Zeit mit Sanne teilen konnte; denn ich wollte mit Sanne zusammensein. Und meine Frau hatte Recht, wenn sie feststellte, daß ich es vermied, sexuelle Dinge anzugehen, anzusprechen oder gar zu praktizieren. Aber jetzt, nach dieser vorwurfsvollen Ansprache würde mir ja wohl nichts anderes übrigbleiben, als den Don Juan in unserer Ehe zu mimen. Was für ein großes Glück, daß ich ein so begnadeter Schauspieler war.
“Na ja, ich könnte ja mal im Terminkalender nachschauen, ob ich heute Abend nicht schon etwas Besseres vorhabe”, versuchte ich zu witzeln. “Wenn nicht, dann ...”
“... dann könntest du dich mal auf den Teppich zurückbegeben und mit deinem jüngsten Sohn das machen, was du auch schon seit Tagen, was sage ich: seit Wochen versäumt hast. Er würde nämlich auch gerne mal wieder mit dir spielen. Und danach - eventuell, wenn du dann nicht zu erschöpft bist - könntest du bei mir einen zarten Versuch machen, ob sich da noch was rührt.” Und als Schocker setzte sie hinzu: “Aber mir fällt gerade ein, daß heute Abend Magnum im Fernsehen kommt. Also bleibt dir für heute nur der Teppich, und ich sehe mir einen richtigen Mann im Fernsehen an.”
Das saß! Ich war noch nicht einmal sauer. Sie war ja nicht im Unrecht. Wie Sanne wohl in so einer Situation sich verhalten hätte? Sanne. Es war verrückt. Bei allem was geschah, dachte ich unwillkürlich an Sanne. Dabei war es doch vollkommen idiotisch, meine Frau und Sanne miteinander zu vergleichen. Erstens hatte ich keinerlei Interesse an der gleichen Frau zweimal, und zweitens war Sanne Sanne und meine Frau war eben meine Frau. So hätte Sanne das formuliert. Und schon wieder der Gedanke an sie. Und sie hatte immer noch nicht angerufen.

Am nächsten Morgen, bei der ersten Gelegenheit - meine Frau hatte sich übrigens tatsächlich für Magnum und ich für den Teppich entschieden - rief ich bei ihr an.
“Hallo, was ist?” hörte ich eine verschlafene Sanne-Stimme live aus dem Telefon. Hurra, ich hatte sie erwischt, gleich beim ersten Mal.
“Hi, Sanne. Ich bin’s. Wie hast du geschlafen?” Äh, wie bieder!
“Schlecht! Meine Mutti ist schwer krank. Ich war bis um drei Uhr bei ihr im Hunsrück, und jetzt bin ich total müde. Du, ruf' später nochmal an. Ich will noch ein bißchen schlafen. Ja, Schatz? Kannst du später noch einmal anrufen?”
“Okay, Sanne. Ich bin froh, daß ich dich wenigstens eine Minute sprechen konnte. Schlaf gut. Bis heute Mittag.”
Sanne war wieder da! Alles war in Ordnung. Und so ganz nebenbei stellte ich fest, daß die Crosstour so oder so ins Wasser gefallen wäre, wenn ihre Mutter krank war. Sanne hatte mir vorher schon erzählt, daß es ihrer Mutter nicht sehr gut geht. Sie erkundigte sich täglich nach ihrem Befinden, und es war klar, daß sie bei ihr sein würde, wenn sie dort gebraucht wird.
Ich nahm mir ganz fest vor, daß ich bei nächster Gelegenheit mit Sanne über Eifersucht reden würde. Eifersucht ist tödlich. Eifersucht macht blind. Eifersucht zerstört nur. Eifersucht gehört nicht wirklich dazu. Eifersucht ist ganz das Gegenteil von Vertrauen und Offenheit. Und draußen, das merkte ich erst jetzt, regnete es in Strömen.


Dumm gelaufen

“Theoretiker!” bemerkte Sanne abfällig.
“Willst du sehen, wo ich meine erste Zigarette geraucht habe?” wechselte ich das Thema.
“Nein, du Streber hast doch nicht etwa in der Schule geraucht. Hast du denn keine Angst gehabt, daß der strenge Lehrer den bösen Jungen erwischt?”
“Lehrerin, mein Schatz”, verbesserte ich sie. “Und erwischen lassen sich nur die Doofen aus der letzten Reihe. Wir in der ersten haben nämlich fürs Leben gelernt, und nicht für die Schule.”
“Okay, du Angeber. Also wo hast du dir zum ersten Mal in die Hosen gemacht?” unterstellte sie frech.
Ich führte Sanne auf einen Spielplatz bei der Schule und kroch mit ihr in eine kleine Hütte, in der ich tatsächlich vor mehr als fünfundzwanzig Jahren meine erste Zigarette geraucht hatte.
Sanne holte demonstrativ eine Marlboro aus ihrer Jacke und zündete feierlich den Glimmstengel an. “Das ist meine letzte Zigarette!” behauptete sie fest und blies kräftig Rauch in das Holzhüttchen. “Wenn du hier mit dem Rauchen angefangen hast, dann will ich an diesem historischen Ort damit aufhören! Huck!”
Ich rauchte schon seit mehr als zehn Jahren nicht mehr. Wenn mich etwas an Sanne störte, dann war es einzig das Rauchen. Mir zuliebe rauchte sie nicht in meinem Auto; zumal ich den kalten Rauch meiner Frau beim besten Willen nicht hätte erklären können. Aber ansonsten rauchte Sanne gerne und leider auch viel. Ich überlegte einen Moment, ob sie das mit der letzten Zigarette Ernst gemeint hatte, oder ob sie mich nur foppte. Das Pendel fiel auf Ernst gemeint.
“Hast du hier in der Schule auch zum ersten Mal geküßt?” wollte sie wissen.
“Nein, das war auf einem der Bauernhöfe, an denen wir vorhin vorbeifuhren”, sagte ich nach kurzem Erinnern und küßte sie jetzt nicht, obwohl sie mir die übertrieben gespitzten Lippen hinhielt.
“Dann eben nicht!” kommentierte sie mein ignorantes Verhalten. “Sitzt in der ersten Reihe, raucht heimlich auf Kinderspielplätzen und knutscht mit einem Bauerntrampel”, faßte meine Ex-Kollegin sarkastisch zusammen. “Mann, an was für einen Typ bin ich da eigentlich geraten. Bin ich besoffen gewesen?” Und bevor ich irgendetwas sagen konnte setzte sie die Frage hinterher: “Und wo hast du zum ersten Mal mit einer, na wie sagt man, gebumst?”
Ich überlegte, ob ich ihr das sagen sollte. Warum eigentlich nicht? Doch ich schaute sie nur an.
“Na komm’, raus mit der Sprache. Ich will dein Leben kennenlernen.”
“Okay, ich zeig’s dir.” Wir gingen wie Jungverliebte Händchen haltend zurück zum Zivilwagen, und ich fuhr mit Sanne in die Frankenstraße, wo eine frühere Klassenkameradin damals gewohnt hatte. Während der Fahrt, die nur ein paar Minuten dauerte, sprachen wir nichts. Am Haus angekommen erklärte ich Sanne, während ich meinen Arm um sie legte und ihr immer wieder kleine Küßchen gab: “Hier wohnte früher die Bärbel, ein Mädchen aus meiner Klasse. Mit ihr hatte ich nichts, aber auf ihrer Geburtstagsparty lernte ich ein Mädchen aus ihrer Handballmannschaft kennen ...”
“Name!” unterbrach mich Sanne fordernd, aber immer noch sehr spielerisch.
“Sie hieß Bettina. Also jetzt unterbrech’ mich nicht dauernd. Wo war ich stehengeblieben?” tat ich zerstreut.
“Party”, half mir Sanne auf die Sprünge.
“Ja, die Party. Wir tanzten miteinander, knutschten ein bißchen - so ungefähr -”, zeigte ich Sanne, “und dann haben wir uns in die Büsche verdrückt.”
“In die Büsche verdrückt. Igitt”, stellte Sanne mit einem Ausdruck im Gesicht fest, als ob genau da die Hunde immer hinmachen würden.
“Wenn ich mich richtig erinnere, war es sogar recht schön”, reizte ich die Frau, mit der ich so viel Spaß am Sex hatte, wie niemals vorher und wahrscheinlich auch niemals hinterher.
“Beim ersten Mal ist es gewöhnlich nicht schön”, belehrte diese Frau mich. “Man, und insbesondere Mann, hat keine Erfahrung, kein Gefühl für den anderen, keine Zeit. Nein, mein Sohn, es kann nicht sehr schön gewesen sein. Befriedigend, setzen!” äffte Sanne eine Emanze oder Oberlehrerin nach. Und ganz vulgär fragte sie weiter: “Wo war es genau. Zeig’ mir die Büsche.”
“Mein liebes Mädchen. Das war da auf dem Grundstück. Da können wir nicht hin”, bremste ich ihre Wißbegierde.
“Wir können alles. Wir sind die Polizei”, konterte Sanne und flüsterte: “Ich habe da gerade Geräusche gehört. Sind da nicht Einbrecher auf dem Grundstück?”
“Du bist verrückt, Sanne, total verrückt. Was hast du denn davon, wenn ich dir ein paar alte Büsche in einem Garten zeige?”
“Wenn du in der letzten Bank gesessen hättest, dann würdest du das verstehen”, erklärte sie mir, ohne daß ich etwas verstand. “Aber ihr in der ersten Reihe könnt ja nur mit Verstand, Logik und Pythagoras argumentieren. Also zeigst du mir das botanische Wunder oder nicht?”
Wir stiegen aus und gingen auf einem Fußweg zur Rückseite des Wohnhauses. Es war verrückt, aber wir überstiegen den Zaun und gingen auf dem Grundstück zu den Büschen, wo ich vor mehr als einundzwanzig Jahren mit Bettina zum ersten Mal geschlafen hatte. Die Büsche waren mit Sicherheit nicht mehr dieselben, und ich erinnerte mich überhaupt nicht mehr, wie damals der Garten ausgesehen hatte. Die Stelle mußte es ungefär gewesen sein.
“Hier habt ihr euch also gewälgert”, betrachtete Sanne den Ort. “An diesem historischen Ort ... “ begann sie und mußte jetzt selbst so lachen, daß sie nicht mehr weiterreden konnte. Wir mußten leise sein, damit uns ja niemand hörte. Und Sanne hatte alle Mühe ihr Kichern zu unterdrücken, so sehr, daß sie ihren Satz nicht herausbrachte. Ein paar Mal setzte sie an: “An diesem historischen Ort ...”, und ich begriff gar nicht, was sie weiter sagen wollte, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt war, auf die Hausbewohner und die Nachbarschaft zu achten, ob vielleicht irgendwo ein Licht angeht. Zum Glück war das nicht der Fall.
Sanne beruhigte sich wieder, hängte sich an meinem Hals und sagte jetzt endlich in einem Satz: “An diesem historischen Ort, wo du zum ersten Mal Sex gehabt hast, genau da will ich zum letzten Mal Sex haben.” Sie machte einen Knopf von meinem Hemd auf, und jetzt mußte auch ich lachen. Es war viel zu kalt und feucht, um hier im Freien miteinander zu schlafen, und Sanne machte nur einen Scherz, das war schon klar. Doch Sanne wiederholte noch einmal:
“Hier will ich zum letzten Mal Sex haben - oder ich steck’ mir jetzt doch wieder eine an!”
“Das ist elende hinterhältige gemeine Erpressung!” empörte ich mich. “Zieh’ dich aus, auf der Stelle. Du sollst deinen Sex haben. Aber bitte nicht mehr rauchen.”
“Zu spät. Ich habe es mir überlegt. Ich rauche weiter, und ich will auch weiterhin Sex machen. Keine Zigaretten, kein Sex. Das halt ich doch nicht aus. Wie hieß sie: Bett-Ina?” Sie betonte die erste Silbe. “Was für ein Typ”, lachte Sanne, “treibt es mit einer Bett-Ina im Freien.”
Wir mußten jetzt dringend dieses Grundstück verlassen, sonst hätten wir wirklich noch irgendwelche Anwohner wachgekichert. Also schlichen wir in den Dienstwagen zurück und ich fuhr in Richtung meines Hauses.
“Diese Straße fahre ich jeden Tag ein paar Mal”, bereitete ich Sanne vor. “Nächste Straße links und dann gleich wieder rechts wohne ich. Das letzte Haus.“ Und um jeden Gedanken daran im Keim zu ersticken, stellte ich fest: „Übrigens, wir steigen hier nicht aus! Klar!” Sanne lachte und sagte nichts.
Es war nicht mein Haus, sondern das Haus meines Schwiegervaters, das wir komplett gemietet hatten. Da wir aber fest damit rechneten, das Haus sowieso einmal zu erben, handelten wir mit dem Einverständnis der Schwiegereltern schon so, als ob uns das Haus gehören würde.
“Schön wohnt ihr hier”, sprach Sanne, um überhaupt etwas zu sagen. “Und wie sieht es drinnen aus?” Sanne fing wieder an zu kichern, weil sie mein Gesicht sah, daß deutlicher als alle Worte sprach: Wir gehen da jetzt nicht hinein - damit das klar ist.
Stattdessen sagte ich: “Wenn du wirklich sehen möchtest, wie ich wohne, und wie es bei mir aussieht, dann mußt du mich einfach mal besuchen. Irgendwie läßt sich das bestimmt arrangieren. Willst du wirklich?”
“Glaubst du, ich mache Späßchen. Natürlich besuche ich dich. Wann darf ich deine Einladung annehmen?”
“Moment mal, du betörendes Persönchen”, hielt ich das Karusel an. “So etwas will gut vorbereitet sein. Meine family, die Nachbarn, ich bin hier bekannt wie ein bunter Hund. Also laß mal überlegen!”
Ich hatte keine Lösung parat.
Sanne bat mich, ihr die Wohnung und die Einrichtung zu beschreiben. Zimmer für Zimmer beschrieb ich, was mir gerade in den Sinn kam; die Art der Fußböden, Tapeten, eben alles, was in einem Zimmer drin ist. Beim Erzählen wurde mir selbst am deutlichsten, daß es der Geschmack meiner Frau war, der mein Zuhause prägte. Es war ihr Zuhause, in dem ich lebte. Einzig mein Büro war so, wie ich es haben wollte und bestimmt hatte.
Mein Büro, ca. 16 qm groß, war bis auf einen Kleiderschrank, der hier Asyl bekommen hatte, vollständig von mir entworfen, erstellt, gesägt, zusammengeleimt, gestrichen und eingeräumt worden. Der Beitrag meiner Frau waren die Blumen auf der Fensterbank. Mein Büro war mein Reich. Hier stand auch das Telefon, von dem aus ich schon so viele Stunden mit Sanne telefoniert hatte. Hier war der Kalender, in dem ich mir verklausulierte Notizen machte, um meine Verabredungen mit Sanne auf die Reihe zu bringen. Hier stand auch der Computer, in dem ich mehrere Bilder von Sanne eingescannt hatte, und sie nun auf Knopfdruck herbeizaubern konnte. Mein Büro war der Raum, zu dem auch Sanne gehörte; aber das sagte ich ihr so nicht.
Ich brachte Sanne zurück zu dem Parkplatz, auf dem noch ihr Auto stand, und sie fuhr nach Hause. Drei Stunden war ich mit ihr unterwegs gewesen. Irgendwann würden meine Kollegen sich fragen, was ich während meiner Solostreifen eigentlich machte; denn einen Einbrecher oder Drogendealer hatte ich logischerweise dabei noch nicht gefangen.

Zwei Wochen später war es soweit. Meine Frau war mit Bea auf einem Seminar unserer Kirchengemeinde. Vor 23 Uhr würden beide auf keinen Fall wieder zu Hause sein, und auch beide Nachbarinnen waren zu diesem Treffen mitgefahren. Das war die Gelegenheit.
Ich räumte schon zwei Tage vorher den Hof, den Carport und mein Büro auf. Es machte mir richtig Spaß alles tip-top für Sanne herzurichten. Sie sollte einen guten Eindruck bekommen. Sanne und ich planten, daß sie gegen halb neun Uhr kommen würde. Die beiden Jungs lägen dann schon im Bett und schliefen. Pünktlich um halb Neun kam sie auch. Sie hatte als Gastgeschenk eine Blumenschale für die Fensterbank in meinem Büro dabei. Ohne viel zu kommentieren ging sie von einem Raum zu anderen und bemerkte nur, daß wir ja ziemlich viel Platz hätten. Das Kinderzimmer meines jüngsten Sohnes öffnete ich vorsichtig und wir linsten hinein. Mein Sohn lag friedlich auf seinem Bett, ein Bein auf der Decke und das andere unter der Decke verschlungen.
“Der schläft ja genauso verbogen wie du”, lachte Sanne ganz leise, und sagte weiter: “Das Zimmer hier ist sehr freundlich, schön hell und warm.”
“Ich habe vieles selbst gemacht; das Bett zum Beispiel” flüsterte ich zurück.
Auch unser Schlafzimmer zeigte ich Sanne. Dabei beschlich mich ein unangenehmes Gefühl - so etwas wie Verrat. Ein Gefühl das ich kannte und wußte, womit es zusammenhing. Ich war nicht der geborene Ehebrecher. Ich könnte niemals in diesem Bett mit einer anderen Frau schlafen. Es war schon nicht richtig, daß ich überhaupt einen Fremden hier hineinließ. Es hatte nichts mit Sanne zu tun. Es war einfach nicht fair.
Wir setzten uns auf die Couch und ich fragte Sanne, was sie trinken möchte.
“Was hast du anzubieten?” fragte sie.
Ich wollte aufzählen und begann: “Sekt ...”
“Ja, Sekt wäre gut.”
“Also Sekt”, sagte ich, stand auf und holte zwei Sektkelche und anschließend eine Flasche aus dem Kühlschrank.
“Dein Büro gefällt mir richtig gut”, sagte sie.
“Danke”, lächelte ich zurück und stieß mit ihr an. “Wenn ich nochmal eine Wohnung einrichten müßte, dann würde ich noch mehr Sachen selbst machen. Selbst entwerfen und selbst bauen. Den Schuhschrank draußen im Flur habe ich auch selbst gemacht.”
Sanne drehte ihren Kopf in die Richtung, die ich zeigte. Man sah natürlich überhaupt nichts, aber sie sagte trotzdem: “Aha”.
“Das dauert zwar alles ewig, wenn man selbst was zusammenbastelt, aber irgendwie ist es besser, persönlicher, wertvoller und auch billiger. Wenigstens manches.”
Ein richtiges Gespräch kam überhaupt nicht auf. Sanne wußte nicht, was sie sagen sollte, und ich wußte nicht, was ich ihr erzählen sollte. Der Besuch war insgesamt ein einziger Flop. Jeder Vertreter hätte mehr Esprit an den Tag gelegt und eine freudigere Stimmung verursacht als Sanne oder ich es konnten. Meine Frau war zwar nicht anwesend, aber sie war gegenwärtig. Immer noch beherrschte sie diese Räume, und sie blockierte die Atmospäre so sehr, daß ich Sanne noch nicht einmal anrührte. Kein Kuß, kein Streicheln, nicht mal zufällige Berührungen wie damals auf dem Boot im Elsaß.
Sanne blieb keine ganze Stunde. Sie war genauso unzufrieden wie ich über diesen Verlauf, aber wir konnten nichts dagegen tun. Sie fuhr nach Hause, und ich tobte wütend durch die Wohnung - durch die Wohnung meiner Frau. Ich warf die blöden Blumen, die auf dem Eßzimmertisch standen, in den Mülleimer, ich stopfte die albernen Frauenzeitschriften in das Altpapier, und ich riß alle Türen auf, um bloß frische Luft in dieses Gefängnis hineinzulassen. Es war die Wohnung meiner Frau, und es war meine Luxuszelle.
Das Telefon klingelte. “Deine Frau ist noch nicht zurück?” fragte Sanne.
Ich war froh, daß sie noch einmal angerufen hatte. Sie war gerade bei sich zu Hause angekommen. “Nein, frühestens um Elf sind sie wieder da. Wahrscheinlich noch später.”
“Weißt du, wie man das nennt, wenn eine Blondine so wie ich durch deine Wohnung läuft?” fragte Sanne mich.
“Nein, wieso?” mußte ich passen.
“Das ist doch: Dumm gelaufen”, gab sie zur Antwort.
Mir war nicht nach Lachen zumute, obwohl ich den Witz gut fand. Es war eigentlich meine Art Humor, bei dieser Gelegenheit so einen Spruch zu machen. Aber weil Sanne blond war, und weil sie meine Art Humor genügend kannte, war es nur passend, daß sie jetzt den Spruch machte. Also lachte ich doch und gab ihr recht: “Das war wirklich dumm gelaufen. Na ja, jetzt hast du ja gesehen, wie ich lebe. Können wir also wieder auf das zurückkommen, was wir beherrschen. Was hältst du eigentlich von Telefonsex?” scherzte ich. “Wenn ich mich richtig an den Alptraum erinnere, haben wir uns ja vorhin nicht einmal einen Kuß gegeben.”
“Pack die restliche Flasche Sekt ein und komm’ doch zu mir. Ich habe zwar nicht alles selbst gemacht, sondern nur bei IKEA gekauft, aber bei mir darfst du dich trotzdem wie zu Hause fühlen”, schlug Sanne vor.
“Ich komme!” kündigte ich an. “Wenn meine family zur Tür hineinschlüpft, dann springe ich ins Auto und steh’ bei dir auf der Matte.”
Meine family kam exakt um 23 Uhr 47 nach Hause. Eine halbe Stunde später war ich bei Sanne; ohne Sekt, ohne Erklärung, aber trotzdem freudig empfangen. Ich nahm Sanne schon an ihrer Tür in den Arm und wir küßten uns heftig. Hier waren wir frei.
“Hallo, du Besucher”, begrüßte mich meine Traumfrau.


Das Schwein

“Wenn ich das Schwein in die Finger kriege, hat er nichts zu lachen!” zischte Sanne.
“Immerhin verdanken wir dem Schwein, daß wir schon vier Nächte lang viele Stunden zusammen sind”, gab ich zu bedenken. “Ist das kein Grund, Gnade vor Recht walten zu lassen?”
“Da kenn’ ich keinen Spaß”, sagte Sanne. “Wer an Kinder geht, dem gehört der Schwanz abgeschnitten! Basta!”
Es war das allabendliche Ritual, mit dem wir uns auf das polizeiliche Gegenüber einstimmten. Diesmal war es ein Sexualstraftäter, der einen zwölfjährigen Jungen umgebracht hatte. Das Kind war von seinen Eltern vermißt gemeldet worden und am nächsten Tag tot in einer Schonung zwischen Autobahn und Eisenbahntrasse aufgefunden worden.
Der Polizeipräsident ordnete eine Sonderkommission zur Aufklärung dieses Verbrechens an, und ich wurde zum Abschnittsleiter Fahndung bestimmt. Das bedeutete, daß ich mit sofortiger Wirkung von meiner eigentlichen Aufgabe im Kommissariat entbunden war, und nun mit acht Kollegen eine Reihe von Verdächtigen observieren sollte, um sogenannte Bewegungsbilder zu erstellen. Es lagen zwar noch keinerlei Hinweise auf einen konkreter Täter vor, also auch nicht gegen den, den Sanne das Schwein nannte, aber die Erfahrung hat gezeigt, daß Sittlichkeitsverbrecher häufig Wiederholungstäter sind. Wir erhofften uns also aus dem Verhalten unserer Klientel nach der Tat einen Verdacht auf deren Täterschaft zu gewinnen - vorausgesetzt, daß der Täter tatsächlich einer unserer früheren Kunden war.
Der Soko-Leiter fragte mich, welche Mitarbeiter ich in meinem Abschnitt haben wollte, und ich nannte ihm jeweils vier Kollegen und Kolleginnen, die ich für diesen Job favorisierte. Bis auf einen Beamten wurden meine Vorstellungen erfüllt. Und Sanne war selbstverständlich auch dabei.
Ich richtete es sogar so ein, daß gerade wir ein Zwei-Mann-Team waren und eine Zielperson hatten, die nur mit technischen Mitteln aufgeklärt werden konnte. Das bedeutete, daß wir nicht unmittelbar in der Nähe unseres Kunden warten mußten, sondern diese Arbeit einer Videokamera überließen, die in einem schräg gegenüber des Wohnhauses geparktem PKW versteckt war. Wir befanden uns zwei Straßen weiter in einem VW-Bus und bekamen die Bilder auf einen kleinen Monitor übermittelt. Gab es Bewegung auf dem Bild, erklang ein leiser Piepton, so daß man auch nicht unterunterbrochen auf den Monitor starren mußte. Der Toyota-Bus war zwar nicht gerade luxoriös ausgestattet, aber er hatte zwei Schlafgelegenheiten, Toilette und ein Waschbecken.
“Toll”, sagte Sanne, als sie zum ersten Mal mit mir in der Dose abtauchte. “Ein richtiges Liebesnest! Na, dann wollen wir mal.”
Unsere Zielperson meinte es gut mit uns und ging nachts nicht ein einziges Mal aus dem Haus. Das Schwein - Sanne nannte ihn so, weil er wegen sexuellen Mißbrauch von Kindern vorbestraft war, - ließ bis in die frühen Morgenstunden den Fernseher laufen, schlief dann ein paar Stunden und ging pünktlich um zehn Minuten vor Sieben zur Straßenbahnhaltestelle, um auf die Arbeit zu fahren. Tagsüber wurde er nicht observiert, sondern erst abends ab 21 Uhr. Da war die Mansardenwohnung bereits in wechselndes Blau und Grau von der Mattscheibe getaucht, und man hörte und sah nichts mehr von dem Mann.
“Ein armes Schwein ist er”, korrigierte ich Sanne einmal, als sie wieder auf der Vorstrafe unserer Zielperson herumhackte. “Schau doch nur mal, wie der lebt. Aufstehen, Arbeiten, Fernsehen, Schlafen, Aufstehen, Arbeiten, Fernsehen ...”
“Und zwischen drin mal ein Kind betatscheln, Schokolade am Spielplatz verteilen, und so ein Würmchen einfach umbringen. Nein, kein armes Schwein: ein dreckiges Schwein!” schimpfte Sanne. “Schau dir doch die Sau in Belgien an. Wenn jeder wüßte, daß beim ersten Mal der Schwanz und beim zweiten Mal der Kopf ab ist, dann gäbe es diese Verbrechen nicht. Das garantiere ich dir.” Und noch bevor ich es sagen konnte, fügte sie hinzu: “Und jetzt komm’ mir bloß nicht damit, daß das Kranke sind. Das sind in erster Linie Schweine.”
“Und wenn du mal den falschen erwischst,” fragte ich, “was dann?”
“Es ist unwahrscheinlich, daß das passiert. Und selbst wenn: Pech gehabt”, sagte sie sehr hart und verächtlich. “Du mußt doch einfach mal sehen, wieviele Kinder dadurch vielleicht ihr Leben und ihre Gesundheit behalten. Die ganze Gefühlsduselei mit den möglicherweise zu Unrecht Bestraften führt doch nur dazu, daß die wirklichen Opfer, nämlich die Kinder, noch mehr und noch länger leiden müssen. Und das einzige, was wirklich daran etwas ändern könnte, sind drakonische Strafen.” Zum besseren Verständnis wiederholte sie: “Schwanz ab - Kopf ab!”
“Ich denke da anders”, wendete ich ein. “Kein Mensch darf sich zum endgültigen Richter und Henker über einen anderen aufschwingen. Sonst ist er selbst ein Mörder. Wir können kein Leben geben, also dürfen wir auch kein Leben nehmen. Deshalb lehne ich die Todesstrafe prinzipiell ab.”
“Ach ja, mein Lieber. Dann schau doch mal unter deiner linken Schulter nach, ob da eine Sig Sauer P6 oder ein Gebetbuch hängt”, höhnte Sanne. “Wenn du auf einen schießt, dann machst du dich auch zum Richter und Henker über sein Leben - endgültig! Oder?”
“Das ist was anderes. Wenn ich mich verteidige, dann vollstrecke ich kein Urteil. Dann gilt doch: Er oder ich. Das ist ganz was anderes. Und einem Flüchtenden würde ich ganz sicher nicht hinterher ballern.”
“Ich weiß”, lachte sie, “edel sei der Mensch, hilfreich und so. Du sollst auch deine Feinde lieben. Wenn dir einer auf die rechte Wange schlägt, dann sollst du auch die linke ihm hinhalten.” Sanne hielt mir ihre rechte und linke Wange hin, und ich küßte sie darauf.
“Wenn mir aber einer mit 9 Millimeter Parabellum auf die eine Wange schlagen will”, fiel mir spontan dazu ein, “dann habe ich keine Möglichkeit mehr, ihm die andere Wange hinzuhalten. Dann bin ich tot. Das ist der Unterschied.”
“Du, weißt du, was ich gerade glaube?” sprach Sanne mit erstaunter Stimme zu mir und streichelte mir die linke Wange.
“Nein, sag’s!”
“Ich glaube, daß du an Gott glaubst!” flüsterte sie etwas unbeholfen und kniff dabei ein Auge zu, so als ob sie eine große Entdeckung gemacht hätte.
“Ich tu’s”, gab ich zurück. “Und du?”
“Nein, nicht so richtig. Ich glaube wohl, daß ein Gott sein könnte. Aber das hat noch keine Rolle bei mir gespielt”, antwortete sie ehrlich.
“Doch, ich glaube an Gott. Nicht so wie ein Kind, sondern echt. Ich glaube, daß da jemand ist, der uns beeinflussen und führen kann, der uns sieht und der auch helfen kann. Und der auch mal unser Richter sein wird.”
“Nein, das tust du nicht!” empörte sich Sanne.
“Wieso nicht?” wollte ich wissen.
“Wie kannst du auf der einen Seite sagen, daß du an Gott glaubst, und auf der anderen Seite deine Frau mit mir betrügen.” Sie sagte dies ohne Vorwurf, sondern nur mit Erstaunen. Es war ihr auch nicht einfach so herausgerutscht, sondern sie beschrieb den Umstand so, wie er war.
“Das ist eines meiner größten Probleme, Sanne!” Ich holte tief Luft.
Sanne ließ mir Zeit. Die Aggressivität, die sie gerade noch gezeigt hatte, als es um das Schwein ging, war wie weggeblasen. Fast schon mitleidig wartete sie, daß ich ihr etwas über meine intimsten Gedanken sagte.
Ich hatte keinerlei Probleme damit, nackt in Sannes Umgebung zu sein oder mit ihr über alles Mögliche zu reden, nur über Glauben sprach ich bisher keine Silbe mit ihr. Nicht, daß ich mich wegen meines Glaubens geschämt hätte - ich hatte schlicht und einfach Angst. Ich befürchtete, daß Sanne eine Entscheidung treffen könnte, wenn sie von den inneren Kämpfen in meiner Seele wüßte. Ich wußte, daß sie diese Kämpfe ernst nehmen würde, und ich befürchtete, daß auch ich eine Entscheidung treffen müßte, wenn diese Widersprüchlichkeit in meinem Leben ans Tageslicht kommen würde - und Sanne war so etwas wie mein Tageslicht. Also verdrängte ich alles Denken und alles Reden, das diese Widersprüchlichkeit offenbaren könnte.
Auch an diesem Abend sprach ich nicht länger über Gott und Glauben mit Sanne. Ich lenkte vom Thema ab, und Sanne ließ zu, daß ich ihr meine Gedanken und Empfindungen verweigerte. Eigentlich wollte ich mit ihr schlafen in der Dose. Aber auch das konnte ich nicht mehr. Die Stimmung war kaputt. Sanne lehnte sich an meine Seite und ich nahm sie in den Arm und spielte mit ihren langen blonden Haaren. Wir redeten über die Polizei und Kollegen, Belanglosigkeiten, und irgendwann hörten wir auf zu reden, sondern spielten nur noch mit den Fingerspitzen und den Haaren. Es war so, wie ich es mir damals auf dem Boot gewünscht hatte, in den Nächten, in denen Sanne in ihrer Koje lag und ich auf der Steuerbank saß und auf sie wartete. Nichts reden, sondern nur aneinander gekuschelt füreinander da sein. Spüren, wie der andere wärmt, und wissen, daß man nicht alleine ist.
Um zehn Minuten vor Sieben ging der Mensch, den wir observierten, zu seiner Straßenbahn. Damit war die Nacht für uns vorbei. Sanne sagte auf der Fahrt zum Präsidium, ohne daß es eine Veranlassung dazu gegeben hätte: “Ich werde für Nick eine Bibel kaufen, weißt du, so eine Kinderbibel. Er kennt die biblischen Geschichten ja überhaupt nicht, und ich kann sie ihm auch nicht richtig erzählen.”
“Tu das!” sagte ich. Und ich wußte, daß von nun an nicht nur meine Frau und die Kinder unsere Beziehung anklagen würden, sondern auch der liebe Gott.


Spiel mit dem Feuer

Es war ein Spiel mit dem Feuer. Sanne meinte aber, daß es gut wäre, wenn wir auch offiziellen Kontakt miteinander hätten. Also bemühte ich mich stark den Kontakt zu meinem alten Kommissariat, in dem Sanne immer noch arbeitete, lebendig zu halten. Ich telefonierte regelmäßig mit meinem früheren Chef Georg; ich besuchte die Kollegen sogar auf der Dienststelle, schickte Jux-Faxe, wenn es einen Anlaß gab, und nahm an den Feierlichkeiten teil, die etwa alle sechs bis acht Wochen stattfanden. Ich sprach dann mit Sanne, konnte sie ansehen und sogar berühren, aber wir mußten so tun, als ob wir nur Kollegen wären, die früher mal zusammen Dienst gemacht haben.
Sanne provozierte mich gern in dieser Runde. “Und, bereust du schon, daß du uns so schmählich verlassen hast?”
Ich mußte dann lügen, daß es mir im neuen Kommissariat super gut gefällt, daß meine Kollegen dort klasse sind, und daß ich es nicht bereut hätte, dorthin zu wechseln. Außerdem war ich jetzt ja selbst Chef und nicht mehr nur der Stellvertreter von Georg. Gleichzeitig beteuerte ich, daß es mir in der alten Dienstgruppe natürlich auch sehr gut gefallen hätte, daß es aber keine Alternative gab, als zu wechseln.
In Wirklichkeit hätte ich das Rad gerne zurückgedreht und wäre bei Sanne geblieben, oder hätte sie mitgenommen, was aber nicht ging, weil sie als alleinerziehende Mutter auf ihre Freundinnen und Nachbarn total angewiesen war. Sanne hatte keine Verwandten in der Stadt, und ich bewunderte, wie sie es überhaupt immer wieder schaffte regelmäßig in den Dienst zu kommen, ohne Nick zu vernachlässigen.
Wir hatten oft darüber gesprochen, wie es denn wäre, wenn Sanne bei mir im Kommissariat arbeiten würde. Natürlich würde ich ihr alle Vorzüge und Freiheiten einräumen, die sie brauchte, um in ihrer besonderen Situation zu recht zu kommen. Sie sah die Sache aber realistischer als ich und sagte: “Dann komm’ du doch zurück. Das ist viel einfacher, als wenn ich umziehen und mir einen vollständig neuen Bekanntenkreis aufziehen müßte. Nein, ich kann hier nicht weg, solange Nick in den Kindergarten und später in die Grundschule geht.” Und sie fügte dann hinzu: “Und soll ich dir was sagen: Mir gefällt es sogar hier sehr gut!”
Sanne würde bleiben, und ich würde nicht zurück können - dafür gab es überhaupt keinen plausiblen Grund, es sei denn, daß Georgs Posten neu zu besetzen wäre. Das war aber in den nächsten hundert Jahren wohl nicht zu erwarten.
Also pendelten wir hin und her, und ich hielt mehr sozialen Anschluß zu meiner alten als zur neuen Dienstgruppe. Wir planten sogar gemeinsame Ausflüge über mehrere Tage, und irgendwie war jedem Kollegen klar, daß ich immer noch dazu gehörte. Nur warum das so war, wußte keiner.

Im September heiratete unsere Kollegin Svenja. Sie hatte die Dienstgruppe, und damit auch mich, der eigentlich ja nicht mehr dazu gehörte, zu ihrer Hochzeit und anschließenden Feier eingeladen. Sanne und ich bereiteten uns für dieses Ereignis richtig vor, was bedeutete, daß wir einen Einkaufsbummel machten, uns von Kopf bis Fuß neue Klamotten kauften, gemeinsam Geschenke für das Brautpaar aussuchten und Pläne für das Ereignis schmiedeten.
Meine Frau fragte mich, ob das denn normal wäre, daß ich zu dieser Hochzeit eingeladen sei, wo ich doch schon über ein Jahr in einer anderen Stadt und in einem anderen Kommissariat arbeiten würde. Natürlich wollte sie keine Antwort haben, sondern mir nur zeigen, daß auch das nicht mehr ganz normal sei, wie so vieles in meinem Leben. Ich versuchte erst gar nicht, ihr etwas zu erklären, sondern sagte nur: “Es ist doch schön, daß es so ist”, was immer dieser Satz auch bedeuten sollte.
Schon auf dem Boot hatte Svenja, damals das Nesthäkchen in unserem Team, angekündigt, daß sie bald heiraten würde. Ihr Freund war ebenfalls Polizist, und sie kannten sich schon seit Beginn ihrer Ausbildung in der Bereitschaftspolizei.
“Eine Polizistenehe kann doch nicht gut gehen”, sagten wir alle, und die Statistik gab uns Recht. Sowieso sind mehr als die Hälfte aller Polizisten geschieden. Der ständig wechselnde Dienst; die heftigen Erlebnisse auf der Arbeit, die der Ehepartner meistens gar nicht verstehen und verarbeiten helfen kann; das unwahrscheinliche große Vertrauen, daß man gegenseitig zwischen Kollegen aufbringen muß, daß man in Extremsituationen sogar sein Leben vom richtigen Verhalten des Streifenpartners abhängig macht. Das alles war doch viel bedeutsamer als die Ehehälfte, die im gleichen Augenblick zu Hause im warmen Bettchen liegt und bedauert, daß es schon wieder eine Nacht alleine sein muß.
Oft kam ich nach Hause und hatte Gefühlszustände wie ein Landstrich nach einem Tornado, und meine Frau hatte nichts besseres zu tun, als von den Kindern, den Nachbarn oder dem neuen Quelle-Katalog loszuplappern?
Polizisten verhärten innerlich, wenn sie ständig ihre Erlebnisse unverarbeitet verdrängen müssen. Wir arbeiten am Arsch der Gesellschaft und erleben die noch dampfende Scheiße hautnah. Oft genug packen wir mitten hinein, und es bleibt nicht aus, daß wir uns dabei auch besuddeln - zuerst die Augen und Hände und schließlich auch das Herz und die Seele.
Zynik und Alkoholkonsum sind die naheliegendsten Folgen, aber auch soziale Unverträglichkeit und die Unfähigkeit mit anderen Menschen normal zusammenzuleben. Viele Kollegen sind selbst zu Schweinen mutiert, weil sie sich irgendwann an den Schweinestall gewöhnt haben. Das hält keine Ehe aus. Nur die wenigsten von uns schaffen es, schadlos ihren Dienst zu machen. Aber das ist unsere Berufskrankheit, so wie ein Steiger eine Staublunge bekommt oder der Briefträger Schwielen an den Füßen.
Auf meiner alten Dienststelle bei Georg, Svenja, Sanne und den anderen hatten wir uns angewöhnt nach dem Dienst noch ein, zwei Fläschen Bier im Kommissariat zu trinken. Wir saßen dabei völlig ungezwungen noch eine Stunde in unserem muffigen Fernsehräumchen zusammen und redeten ohne jeden dienstlichen Hintergrund über das zuvor Erlebte. In diesen quasi Therapiestunden offenbarten wir versteckt hinter Zynik oder scheinbarer Gelassenheit oft unsere Gedanken und Empfindungen. Wir sprachen über die Selbstmörder, deren Leichenteile wir kurz zuvor an der Bahntrasse auflesen mußten oder die wir vom Strick abgehängt hatten. Wir artikulierten unsere Empörung darüber, daß ein bestimmtes Kind schon zum x-ten Mal vom Freund der Mutter mißbraucht wurde, ohne daß das Schwein dafür angezeigt werden konnte, weil die Mutter Angst vor diesem Mann hatte. Sanne hatte einmal große Probleme das Bild eines neugeborenen Kindes zu vergessen, daß von seiner Mutter in einer Plastiktüte am Rande eines zugefrorenen Sees versteckt war. Spielende Kinder hatten diesen grausigen Fund gemacht und zuerst gedacht, daß eine Puppe in der Plastiktüte sei. Wie die Mitglieder einer Selbsthilfegruppe redeten wir über diese Erlebnisse, erinnerten an ähnliche Erlebnisse, drückten aus, daß wir die Gefühle verstehen konnten, oder hörten schlicht und einfach nur zu. In diesem Kreis konnte jeder sprechen, ohne daß es peinlich war oder großer Erklärungen bedurft hätte. Welcher Ehepartner wäre dazu in der Lage gewesen?
Ich hatte wochenlang Alpträume, weil ich den Anblick einer toten Frau nicht vergessen konnte, die sich in einem Waldstück selbst erhängt hatte und erst nach ein paar Tagen dort gefunden wurde. Hätte ich meiner Frau davon erzählen können? Ganz bestimmt nicht! Aber mit Sanne und den anderen konnte ich darüber reden. Und es half mir, diese Alpträume zu überwinden.
Es ist verrückt, aber oftmals kann man die intimsten Dinge gerade nicht mit dem Lebenspartner teilen. Da bleibt es nicht aus, daß man sich voneinander distanziert, oder daß man sogar die Achtung voreinander Stückchen für Stückchen verliert.
Ich glaube, daß deshalb so viele Polizistenehen kaputt gehen. Und wenn dann der Kollege, mit dem man über solche Dinge gut reden kann, auch noch vom anderen Geschlecht ist, vielleicht Sanne heißt und auch ansonsten ein feiner Kerl ist, dann wird es doppelt schwierig. Sanne: unsere Situation war kein Zufall sondern Programm; es mußte so kommen.
Auf dem Boot unterhielten wir uns auch über Treue und Seitensprünge. Svenja sagte damals: “Wenn ich nichts davon weiß, dann ist mir das ziemlich egal! Aber wehe, ich weiß davon, dann zahle ich ihm das mit gleicher Münze heim!”
Ich war echt empört über ihre Einstellung. Damals hatte ich ja auch noch kein Verhältnis mit Sanne - außer daß wir Kollegen waren.
Jetzt war es soweit, daß Svenja heiraten würde. Sie sagte zu mir: “Du kommst doch auch zu unserer Hochzeit, Ex-Chef?” Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
“Wenn ich da noch was verhindern kann”, scherzte ich. “Na klar, ich komme.”
Sicherheitshalber schickten Oliver und Svenja auch eine schriftliche Einladung, so daß ich zu Hause leichtes Spiel hatte, mir für diesen Tag viel Zeit zu nehmen. Ich mochte Svenja, und ich wäre auch nur wegen ihr zur Hochzeit gekommen. Viel bedeutender war für mich jedoch, daß dieser Tag eine der wenigen Gelegenheiten war, offiziell mit Sanne, meiner Ex-Kollegin, stundenlang zusammen zu sein. Wir könnten zusammen essen, trinken, tanzen, reden, lachen, mit dem Feuer spielen, und jeder würde es völlig normal finden; denn wir waren ja Kollegen, wenn auch nur Ex-Kollegen.
Um 14 Uhr begann die kirchliche Trauung. Es war ein richtiges Polizeifest; denn neben den Eltern und Verwandten von Svenja und Oliver waren mindestens 60 Polizisten gekommen. Die Hälfte davon trug Uniform und stand am Kirchenportal Spalier. Svenja’s Mutter sorgte dafür, daß alle Gäste frühzeitig in die Kirche gingen und auf ihren Plätzen den Einzug des Brautpaares erwarteten. Der Organist spielte als Eingangslied die Melodie von Morning has brocken, und als das Brautpaar die Kirche betrat, leitete er gekonnt in den Hochzeitsmarsch von Händel über.
Svenja sah spektakulär aus. Ich kannte sie nur in praktischer Freizeitbekleidung, immer dezent geschminkt, und viel mehr burschenhaft als fraulich anzusehen. Sie war für mich eher ein guter Kumpel, als eine begehrenswerte Frau gewesen. Doch wie sie jetzt in die Kirche einzog, überrumpelte sie nicht nur mich, sondern wohl alle ihre Kollegen und Freunde. Svenja war ganz Frau, ganz in weiß, und zu recht der absolute Mittelpunkt des ganzen Geschehens. Ihr Bräutigam tat mir fast schon leid, so sehr bestimmte sie das Bild auf dem Weg vom Kirchenportal zur Bank des Brautpaares.
Ich beobachtete Sanne, die auf der anderen Seite des Mittelganges saß. Ihr Blick verriet Anerkennung und Erstaunen. “Wär hätte gedacht, daß unsere Svenja einmal so dominierend der Chef im Ring sein würde?” interpretierte ich Sannes Blicke. Denn Svenja beherrschte diese Kirche total. Es waren aber andere Gedanken, die Sanne in diesem Moment bewegten.
Im Anschluß an die Trauung durchschritt das Brautpaar ein zweites Mal das lange Spalier durch die uniformierten Kollegen - diesmal Seite an Seite, wie es sich für ein Paar gehört. Am Ende des Spaliers mußten sie gemeinsam einen Baumstamm durchsägen und bekamen als weiteres Symbol von ihren Eltern Salz und Brot gereicht. Jetzt waren die Gäste an der Reihe, den beiden alles Gute zu wünschen, und es gab eine ganze Menge Küßchen und Tränen. Sanne und ich waren ganz am Ende der Schlange, und es erschien mir irgendwie sarkastisch, daß gerade wir beide den Abschluß machen mußten. Als letzter küßte ich Svenja rechts und links auf die Wangen und sagte zu ihr: “Ich wünsche dir und deinem Oliver alles Gute in eurer Ehe. Daß ihr die schlechte Statistik nicht noch schlechter macht, und auch noch eure Pensionen glücklich und zusammen durchbringt.”
Im selben Moment sagte Sanne ähnliches zu Oliver, und ich mußte ihm nur noch die Hand hinhalten und gratulieren. Eine junge geschiedene Frau und ein Ehebrecher, die ein Verhältnis miteinander haben, wünschen einem jungen Paar alles Gute - und doch: Sanne und ich meinten es ehrlich.
Es gab noch einen Schluck Sekt, und dann fuhr der Autokorso mit den weißen Schleifchen an den Antennen zum Waldhotel “Habichtshof”, in dem die Hochzeitsfeier steigen sollte. Es war ein sehr schönes Hotel, das geograpfisch genau zwischen Sannes und meinem Wohnort lag.
In der Kirche konnte man uns noch glauben, daß Sanne und ich rein zufällig als letzte hinausgingen. Wenn wir aber jetzt auch wieder zusammen ins Hotel kommen und sofort nebeneinander sitzen würden, mahnte Sanne mich auf dem Parkplatz, dann könnte sich jeder Depp einen Reim darauf machen. Also setzte ich mich an einen anderen Tisch zu Beppo und Kollegen, die ich noch nicht kannte, und trank dort meinen Kaffee und Kuchen.
Es war idiotisch. Wir hatten uns die ganze Zeit auf diese Hochzeitsfeier gefreut und ausgemalt, wie es sein könnte, und jetzt saßen wir getrennt voneinander und taten so, als ob wir uns völlig egal wären. Kaffee und Kuchen dauerten über eine Stunde, und sofort wurde ein kalt-warmes Büffet in drei Gängen aufgebaut. Als ich in der Reihe anstand, um mir geräucherte Forelle und Lachsröllchen zu holen, stand auch Sanne auf und drängelte sich einfach in die Schlange hinein, in dem sie sich vor mich stellte.
“Ich muß gleich mal rausgehen”, ließ sie mich wissen, und ich verstand, daß ich auch draußen sein sollte. Also stellte ich meine Forelle an meinen Platz und ging erstmal auf den Parkplatz.
“Es ist ätzend”, bedauerte Sanne mit dem ersten Satz die Situation, die ich als idiotisch empfand. Ich nahm sie in den Arm und küßte sie innig. “Da drin ist alles so steif und trocken”, analysierte sie den Aggregatszustand der Hochzeitsgesellschaft richtig. “Ich will jetzt tanzen und lachen und nicht essen und essen und essen.”
“Wollen wir uns verdrücken?” fragte ich spaßig.
“Nein, aber du könntest langsam versuchen, dich an unseren Tisch heranzupirschen.”
“Da denke ich schon seit zwei Stunden dran. Aber dann muß erst mal jemand von deinem Tisch weggehen. So schön, wie du heute wieder ausschaust, befürchte ich, daß den ganzen Abend niemand freiwillig Platz machen wird. Tja, mein Schatz”, frotzelte ich, “Schönheit hat einen Preis.”
“Ich werde einfach dem Erwin ein Glas Wein überschütten; dann muß er ja wohl Platz machen”, plante Sanne schelmisch, um im nächsten Augenblick ganz traurig festzustellen: “Ach, man, ich habe mir das ganz anders vorgestellt.” Und ich stimmte in das Klagelied mit ein.
“In der Kirche war es sehr schön”, wechselte Sanne das Thema. Wir waren jetzt an der Rückseite des Waldhotels angelangt. Ich nahm sie wieder in den Arm und drückte Sanne liebevoll an mich, genoß ihre Nähe und Wärme.
“Ja, mir hat die Trauung auch gut gefallen,” übertrieb ich, weil ich in Wahrheit ein schlechtes Gewissen in der Kirche hatte. “Svenja sieht toll aus, nicht wahr?”
“Und wie gefalle ich dir?” kokettierte meine Traumfrau und kuschelte sich an mich.
Ich sagte ihr, was ich gerade dachte: “Du bist meine Traumfrau! Du gefällst mir so gut, wie noch nie zuvor. Wenn ich drei Wünsche hätte, dann würde ich mir dich wünschen. Dich, und dich und nochmal dich.”
“Würdest du nochmals heiraten?” wollte meine Traumfrau wissen.
“Ich kann nicht. Nein, ich glaube nicht”, sagte ich zögerlich und korrigierte mich sofort wieder ins Vage: “Ich weiß es nicht. Mit dir immer zusammen zu sein, könnte ich mir schon vorstellen. Aber warum heiraten?”
“Der Georg hat vorhin zu mir gesagt, daß du wohl in mich verliebt wärst, wie du immer zu mir hinüber schaust. Ich habe nur gesagt: Wieso? Und er sagte, daß er wüßte, wie verliebte Jings so schauen würden.”
“Ich bin ja auch in dich verliebt. Aber das sollte der Georg besser nicht wissen”, antwortete ich.
“Die reden jetzt über uns”, stellte Sanne fest und bekräftigte: “Ganz bestimmt!”
“Wahrscheinlich hast du recht”, gab ich etwas melancholisch zu. “Komm, wir gehen wieder hinein.” Ich ließ Sanne los, und wir gingen wieder zurück ins Hotel.
Ab acht Uhr spielte eine Fünf-Mann-Kapelle zum Tanz auf. Erst jetzt, nach mehr als vier Stunden, wurden an Sannes Tisch Plätze frei, weil ab und zu jemand tanzen war. Ich nutzte die Gelegenheit und bat Sanne auch um einen Tanz. “Kannst du überhaupt tanzen?” fragte sie mich. Und ich log: “Ein bißchen.”
Der Tanz war eine Katastrophe. “Nein, so geht das nicht”, lehrte mich meine Tanzpartnerin. “Du mußt rechts, links, zack-zack, rechts, links, zack-zack. Kapiert?”
Ich versuchte mein Bestes, brachte es aber nicht in die Füße. Nach dem halben Lied bedauerte Sanne: “Wir lassen das. Gehen nur die Schuhe davon kaputt. Bleibst du bei uns sitzen?”
Währenddessen hatten uns tausend Augen beobachtet, und ich kam mir vor wie der größte Trottel auf Erden. Nicht, daß ich nicht tanzen konnte - das machte mir nichts aus - aber dieses Warten in den Augen unserer Kollegen, ob sie ein Indiz oder einen weiteren Beweis für eine Beziehung zwischen Sanne und mir finden konnten, belastete mich sehr. Ich blieb an Sannes Tisch in dem festen Willen, ein solches Indiz oder einen solchen Beweis nicht zu liefern. Also redete ich mit allen, nur nicht mit Sanne. Ich lachte mit allen, nur nicht mit Sanne. Ich erzählte Witze, über die alle lachen konnten, nur nicht Sanne. Ich fand mich und die Situation zum Kotzen und lachte und lachte und lachte.
Sanne sah sich dieses Spiel nicht sehr lange an. Schließlich bedauerte sie, daß sie nicht mehr bleiben könne, aber sie hätte versprochen, ihren Sohn Nick nicht zu spät bei ihrer Freundin abzuholen. Ich wußte, daß das nicht stimmt, weil wir im Anschluß an die Feier noch zusammen zu ihr fahren wollten. Doch ohne daß ich eine Gelegenheit gehabt hätte, noch etwas zu ihr zu sagen, verließ Sanne die Feier und fuhr allein nach Hause.
Ich betrank mich heftig. Svenja sorgte dafür, daß die Kollegen meines neuen Kommissariats mich holten und mitsamt meinem Auto nach Hause brachten. Es war vier Uhr morgens, als ich neben meiner Frau im Bett lag und begann, meinen Rausch auszuschlafen.


Die Berlinreise

Als uniformierter Streifenpolizist hatte ich in einem Jahr einmal 55 Gerichtstermine. Damals haßte ich diese schauspielerischen Auftritte vor Gericht; es war ja sowieso alles klar, und es wurde nur aufgrund der Aktenlage entschieden. Nicht ein einziges Mal ergab sich aus der Vernehmung des Zeugen Herr Polizeibeamter etwas anderes, als auf unzähligen Papieren schon vermerkt oder angezeigt war. Wozu das Theater; pure Zeit- und Geldverschwendung; pures formelles Recht, also reine Paragraphenreiterei.
Seit dem Jahr Null nach Sanne bekamen Gerichtstermine eine ganz andere Qualität. Jeder dieser Termine war eine Möglichkeit, mich mit Sanne zu treffen. Ich konnte zu Hause weggehen und erklären, daß es lange dauern würde, weil viele Zeugen geladen waren, oder weil es ein komplizierter Fall war. Ganz zufällig ließ ich die Ladungen auf meinem Schreibtisch liegen, damit meine Frau auch sehen konnte, weshalb ich unterwegs war. Es war die perfekte Tarnung für viele Treffen mit Sanne.
Durch die Arbeit im Kommissariat verteilten sich diese Termine und Treffen auf alle Gerichtsbezirke in der Umgebung, so daß Sanne und ich unsere Heimat richtig kennenlernten.
Im Oktober sollte ich sogar einen Gerichtstermin in Berlin wahrnehmen. Ich mußte beim Landgericht in Tiergarten in einer Raubsache als Zeuge aussagen. Ein Gerichtstermin in Berlin - das bedeutete satte 495 DM Zeugengeld; also ein kleiner Gratisurlaub, wenn man zwei, drei Tage dranhängen kann. Ich hatte das früher schon mal mit meiner Frau so gemacht und deshalb Sanne ganz glücklich von der Möglichkeit erzählt, drei Tage zu zweit in Berlin zu verbringen. Sanne nahm sich dienstfrei und brachte Nick bei ihrer Freundin unter, und wir fuhren Mittwochmorgen, um neun Uhr, los.
Sanne sah klasse aus! Sie hatte eine enge helle Jeans und eine dunkelbraune hautenge Lederjacke an. Darunter trug sie ihren Lieblingsbody und sonst nichts. Vom ersten Moment der Fahrt dachte ich daran, wann und wo und wie ich ihr oder sie sich diese drei Sachen auch noch auszuziehen würde, um miteinander und ineinander zu versinken, sich zu berühren und wahnsinnig zu lieben. Ich fuhr viel zu schnell, um rasch in Berlin, in unserem Hotel, in unserem Zimmer, in unserem Bett, anzukommen. Sanne liebte es, wenn ich schnell fuhr.
In Höhe des Flughafens Leipzig wurde unsere rasante Fahrt jäh durch einen Stau gestoppt, der bis Dreilinden, also unmittelbar vor Berlin, nur als zäher Verkehr dahinzuckelte. Erst nach sieben Stunden kamen wir auf der Avus an und hatten wieder freie Fahrt. Ich trat das Gaspedal durch, gerade so als ob ich Teilnehmer an einem der legendären Avusrennen wäre. Vorbei an den leeren Tribünen schossen wir in die Hauptstadt hinein und genossen die Freiheit, die uns hier drei Tage lang gehören würde.
Als ich das erste Mal diese Strecke entlangfuhr, gab ich auch Vollgas. Ich erinnerte mich daran, daß ich damals - noch vor dem Fall der Mauer - sehr diszipliniert durch die DDR gefahren war, um dann in Berlin frei durchatmen und durchstarten zu können. Damals empfand ich ein ähnliches Freiheitsgefühl wie jetzt mit Sanne auf dem Beifahrersitz. Damals jauchzten mein Kollege Markus und ich, und wir fuhren weit über die erlaubte Geschwindigkeit, wie alle Berliner es auf der Stadtautobahn taten. Autobahnfahren bedeutete, Freiheit auszuleben. Autobahnfahren bedeutete, die Grenzen um einen herum zu vergessen.
Und so versuchte ich mit Sanne an meiner Seite, die hingebungsvoll der Musik aus dem Kassettenrekorder zuhörte und die Stadt, die an uns vorbeiflog, aufsaugte, auch meine Grenzen zu vergessen. Ich wollte nur noch Sanne, Sanne, Sanne. Und idiotischer Weise kam mir immer stärker ins Bewußtsein, daß ich die letzte Berlinreise mit meiner Frau unternommen hatte. Und es war auch anläßlich eines Gerichtstermins.
Mitten in diesem Gedanken legte Sanne ihre Hand auf meinen Oberschenkel und streichelte mich ein wenig, als ob sie zeigen wollte, daß auch sie glücklich ist, mit mir zusammen zu sein. An der ersten Ampel schnallte sie sich rasch ab und küßte mich heftig, bis es wieder grün wurde. Mir gefielen diese Ausbrüche von Sanne sehr, die so ganz anders war, als ich es jemals sein könnte. Sanne ist so herrlich unmittelbar. Sie tut das, was sie gerade in diesem Moment auch tun will. Sanne handelt schon längst, während ich noch versuche, mein Vorhaben zu erklären oder es irgendwie einzuleiten. Und ich liebe sie für diese Direktheit. Ich liebe sie für ihr Dasein, und ich liebe sie für all das, was sie in mir auslöst.
Im Hotel hatten wir ein Doppelzimmer gebucht. Vor unserer Abfahrt redeten wir darüber, ob wir als Ehepaar oder jeder unter seinem Namen einchecken sollten. Ich muß zugeben, daß die Variante Herr und Frau mir eher zugesagt hätte. Aber Sanne konnte darüber nur lachen und sagte: “Solange ich einen eigenen Familiennamen habe, werde ich ihn auch benutzen. Du kannst ja zwei Einzelzimmer bestellen - mit Verbindungstür - wenn dir das unangenehm ist.” Und ich nahm sie in meine Arme, drückte sie ganz fest an mich und antwortete: “Oder dich heiraten, damit du endlich einen vernünftigen Namen bekommst!”
Das Mädchen am Empfang machte sich überhaupt nichts daraus, daß wir ein Doppelzimmer und kaum Gepäck hatten. Wir hatten uns nicht das schlechteste Hotel ausgesucht, und jeder von uns trug seine eigene kleine Reisetasche, in der sich das ganze Gepäck befand, die Treppe hinauf in den ersten Stock, bis in Zimmer 108. Zimmer 108, ich ließ Sanne den Vortritt in das nette Hotelzimmer und freute mich, daß es ihr gefiel.
“Jetzt erstmal duschen”, frohlockte sie und ging zielstrebig ins Bad. “Wau, das ist ja ein richtiges Nobelbad”, lud sie mich ein, zu ihr zu kommen. Und kaum stand ich bei ihr, nahm ich sie genauso in die Arme wie vor ein paar Tagen, als ich ihr meinen Familiennamen anbot.
Unsere Lippen fanden sich und wir küßten uns lange und wild. Ohne daß ich sie losließ, zog Sanne ihre Lederjacke aus und warf sie in das Zimmer. Ich drehte sie halb um, so daß ich hinter ihr stand und ihren Bauch und die Brüste und ihr Gesicht und die Haare intensiv berühren und streicheln konnte. Dabei presste ich Sanne mit einem Arm fest an mich und spürte genauso intensiv jede ihrer Bewegungen und Reaktionen. Als ich Sannes Gürtel losmachte stöhnte sie leise und legte ihren Kopf ganz nach hinten auf meine Schulter. Ich roch den angenehmen Geruch ihrer Haare, und ich hatte ihr Ohr ganz nah an meinem Mund, um ihr zu flüstern, wie ungemein ich mich auf diesen Moment gefreut habe.
Ihr Becken hielt ich nun mit beiden Händen fest und versuchte die Jeans ein Stück hinunter zu streifen. Sanne legte beide Arme nach hinten und hakelte ihre Daumen in meine Gesäßtaschen. Ihr linkes Bein winkelte sie leicht an und stellte es auf den Duschwannenrand. Während eine Hand die Unterseite ihres Oberschenkels nun streichelte und presste, wanderte meine rechte Hand über ihre Busen, ihren Bauch und in ihren Schritt. Noch immer hatte sie Body und Jeans an, und doch war es ihr ein Hochgenuß so liebkost und gestreichelt zu werden. Ihr Körper reagierte auf jede Veränderung meiner Hände und Sanne ließ mich hören, wie es ihr gefiel.
Ich fuhr mit der Hand unter den Body, verschob die Körbchen ein wenig und fand ihre kleinen Brüste, die lange schon auf diese Streicheleinheiten gewartet hatten. Als ich wieder zu ihrer Hosennaht kam, bemerkte ich, daß Knopf und Reißverschluß bereits geöffnet waren. Ich weiß nicht, wann und wie Sanne das gemacht hatte, aber nun war es ein leichtes, ihr die Jeans abzustreifen. Sanne drehte sich zu mir, stieg aus den Hosenbeinen und küßte mich wieder lange und kräftig, während ihre Hände energisch auf meiner Brust und an beiden Körperseiten streichelten. Dabei öffnete sie alle meine Hemdknöpfe und auch meinen Gürtel und Reißverschluß.
Ich kniete mich, küßte ihren Oberschenkel und die Taille, und öffnete nun auch beide Knöpfe ihres Bodys, so daß Sanne fast ganz nackt vor mir stand.
“Äh, äh”, sagte sie und winkte lächeld mit einem Zeigefinger. “Zuerst duschen wir. Dann darfst du!”
Ich zog rasch auch meine Kleider ganz aus und zusammen gingen wir in die enge Duschkabine, in der Sanne schon das Wasser angestellt und auf eine angenehme Temperatur gebracht hatte. Wir hielten uns die ganze Zeit in den Armen, seiften uns gegenseitig ein, wuschen die Haare und lachten miteinander, wie Kinder, die man zusammen in die Badewanne steckt. Ich berührte Sanne am ganzen Körper und war glücklich um jeden Quadratzentimeter, den meine Traumfrau hatte. Es war wunderbar mir ihr in Berlin zu sein. Und auch die nächsten zwei Tage konnten nur wunderbar, also wie ein Wunder cash auf die Hand, werden. Sanne, Sanne. Kann es jemals anders gewesen sein?
Nach dem Duschen gingen wir ins Bett und liebten uns fast bis zur Besinnungslosigkeit. Ich kann mich nicht erinnern, jemals vorher etwas Ähnliches erlebt zu haben. Die Fahrt, das Glücksgefühl der Freiheit, die Spontanität in der Dusche; das alles hatte uns so aufgebaut und vorbereitet, daß unser Zusammensein in diesem bis dahin völlig fremden Doppelbett einzigartig wurde. Sanne übertraf den Gipfel meiner Vorstellungen, und es war die Krönung meines Daseins, sie zu berauschen, zu erfüllen und zu sättigen. Hätte sie mich jetzt gefragt, ob ich für immer bei ihr bleiben will - es hätte nur eine Antwort gegeben. Doch diese Frage stellte Sanne nicht. Sie stellte sie nie. Sanne setzte mich niemals unter Druck. Sie liebte mich, das wußte ich, sie liebte mich so sehr, daß sie diesen Zwang nicht auf mich ausüben wollte. Und trotzdem gab sie sich mir ganz hin, mehr als ich es fähig gewesen war und wohl für immer sein werde.
Die drei Tage in Berlin waren der Höhepunkt unseres Fluges. Wir unternahmen pausenlos irgendetwas. Wir durchwanderten die Stadt, durchzogen sie mit einem Dreitageticket der S- und U-Bahn in alle Himmelsrichtungen und durchstöberten sowohl die vielen alten wie auch die neuen Winkel. Fünf Museen gehörten uns, der Tierpark Friedrichsfelde, das Nikolai-Viertel, das Theater des Westens, der Franz-Club und selbstverständlich auch der Kurfürstendamm, allerdings ohne das Cafe Kranzler, für dessen Besuch wir nach einstimmigem Beschluß noch nicht alt genug waren. Sanne lief und lief und lief wie der gute alte VW Käfer, und ich lief mitunter nur noch hinter ihr her. Mein ganzer Lebensinhalt war beschränkt auf Bei-Sanne-zu-bleiben. Was kann es schöneres geben?
Der Räuber, wegen dem überhaupt diese Berlinreise stattfand, hätte eigentlich Bewährung verdient. Stattdessen wurde er hart zu sieben Jahren Strafhaft verurteilt.
Im Gerichtssal, nach meiner Vernehmung, kam mir in den Sinn, daß auch ich ein Krimineller, nämlich ein Betrüger war, der Strafe verdient. Wie würde meine Strafe aussehen? Sanne meinte: “Einzelhaft bei mir!”, was ich gerne akzeptiert hätte. Stattdessen fuhren wir nach Hause. Sanne setzte ich bei ihrer Freundin ab, wo sie Nick abholte, und ich fuhr weiter mit Geschenken für meine Frau und für die Kinder.


Das Telefon

“Es hat zweimal geklingelt!” stellte meine Frau vielsagend fest. Tatsächlich hatte das Telefon zweimal geklingelt. Sanne.
“Dann geh doch dran”, forderte ich sie auf, um Ahnungslosigkeit vorzutäuschen..
“Nein, es hat doch nur zweimal geklingelt”, beharrte sie. “Wenn es für mich wäre, dann würde es durchläuten.”
Ich sagte nichts. Ich tat so, als ob ihre Feststellung völlig bedeutungslos wäre. Ich schaute auch nicht zum Telefon und machte auch keine Anstalten irgendwohin zu gehen. Ich hoffte nur inständig, daß Sanne genügend Zeit hatte, um auf meinen Rückruf zu warten.
Erbarmungslos ließ meine Frau das Thema nicht locker. “Wer läßt es in letzter Zeit bei uns immer nur zweimal klingeln?” wollte sie wissen.
“Schatz, es kann sich nach menschlichem Ermessen nur um eine Geliebte handeln, oder wer sollte sonst zu solcher Tücke greifen, um mir Nachrichten zu morsen. Zweimal lang? Welcher Buchstabe ist das eigentlich?” ging ich zum Gegenangriff über.
Meine Frau schaute mich lange an bevor sie sagte: “Geliebte! Du schließt also aus, daß zweimal läuten ein Signal für mich sein könnte. Wenn diese Anrufe nur Zufall wären, dann hättest du ja auch mich fragen können, ob mein Geliebter hier so anruft. Früher wäre dir diese Idee gekommen, mein Lieber.”
“Genialer Gedanke!” schob ich schnell hinterher. “Es ist dein Geliebter, der zweimal anklingelt und dir auf diese Weise sagen will: ... Ja, was sagt er dir damit.”
“Komm hör auf! Nach Schmierentheater ist mir nicht”, sprach sie sehr ernst. “Ich möchte wissen, was mit dir los ist. Es stimmt doch hinten und vorne nicht mehr. Also, was ist passiert?”
“Haben wir jetzt Offenbarungsstunde, nur weil das Telefon bimmelt?” fragte ich sarkastisch.
“Du kommst, wann du willst. Du gehst, wann du willst. Du erklärst dich nur noch notdürftig. Und alles hier interessiert dich nur noch halbherzig. Das ist los!” hielt sie mir vor. “Du kaufst dir neue Klamotten, die du nur anziehst, wenn du weggehst. Und ich bemerke auch, daß deine Körperpflege intensiver geworden ist; kein Tag, an dem du nicht zweimal duschst, ohne daß du hier auch nur einen Handschlag gearbeitet hättest. Und was mir am meisten auffällt: Deine Bücher und Zeitungen stappeln sich, ohne daß du auch nur eine einzige Zeile darin liest. Du bist in Gedanken nämlich ganz wo anders. Und unsere letzten drei Telefonrechnungen, entschuldige, daß ich das bemerkt habe, sind mehr als doppelt so hoch wie früher. Aus alledem schließe ich ...” Sie stockte. “Ich schließe gar nichts. Ich bitte dich nur, mir das zu erklären.”
Ich erklärte ihr nichts. Stattdessen zog ich meine Jacke an und ging. Ich schwöre, daß ich nicht bewußt zur Telefonzelle gefahren bin. Mir ging während der fünf Minuten Fahrt das ganze Gespräch immer wieder durch den Kopf. Und ich erwachte erst von diesen trüben Gedanken, als ich in der Telefonzelle stand und Sannes Nummer tippte. Sie hob nicht ab, nur mein guter alter Bekannter sprach zu mir: “Hallo, wir sind leider nicht zu Hause. Aber sie können uns eine Nachricht auf Band sprechen, und wir werden sie sofort zurückrufen.” Ich wartete den Piepston ab und sagte dann doch nichts. Ich wußte nicht, was ich Sanne sagen sollte. Sie war nicht da! Und alles nur, weil meine Frau mißtrauisch geworden war.
Im Auto überlegte ich, ob ich einfach mal zu ihr fahren sollte. Den Gedanken verwarf ich aber wieder, da sie höchstwahrscheinlich doch nicht zu Hause war. Sonst hätte sie ja abgehoben. Also fuhr ich los und wußte gar nicht, wohin ich fahren sollte. Auf zu Hause hatte ich null Bock; zu Sanne fahren ging nicht. Wohin also?
Eine viertel Stunde später hielt ich am Parkplatz vor dem Odenwaldkaufhaus an. Ich hatte plötzlich Lust mir eine CD zu holen. Zur Zerstreuung könnte ich mir in dem Plattenladen auch noch ein paar Sachen anhören und später nochmal probieren, bei Sanne anzurufen.
“Hast du die I ROBOT von Alan Parson da?” fragte ich den Verkäufer, den ich hier schon öfter gesehen hatte. Er holte die CD und legte sie mir kommentarlos auf, weil ich den Kopfhörer schon in Händen hatte. Ich ließ mich in die alten Lieder, die man immer noch auswendig kennt, auch wenn man sie schon 15 Jahre nicht gehört hat, richtig hineinfallen. Die CD würde ich auf jeden Fall mitnehmen, beschloß ich, und summte zur Melodie, als der Sänger den Ratschlag gab: “If it’s getting harder to face every day. Don’t let it show, don’t let it show. Though it’s getting harder to take what they say. Just let it go, just let it go.” Diesen Ratschlag wollte ich beherzigen. Nichts anmerken lassen und nichts so tief in mich hineinfallen lassen, daß es mich quälen könnte. Ich war froh, daß ich hierher gekommen war und bezahlte erleichtert meine neue CD.
Sanne war jetzt zu Hause. Wir verabredeten uns für eine Stunde später bei ihr, und ich fuhr gut gelaunt in Richtung Süden. Don’t let it show, don’t let it show, summte ich immer wieder vor mich hin. Sanne, Sanne, Sanne, freute ich mich.
“Du hast heute morgen bei mir angerufen?” fragte ich sie. Sie war atemberaubend schön.
“Ja, ich habe die Berlinbilder gestern geholt. Das wollte ich dir nur sagen. Willst du sie gleich mal sehen?” Sie wartete meine Antwort gar nicht ab, sondern ging an ihren Rucksack, in dem zwei Pakete mit Bildern waren.
Während ich mir die Fotos betrachtete, sagte ich ihr: “Es ist besser, wenn wir in Zukunft auf das zweimal Klingeln verzichten. Laß es durchläuten, und wenn nicht ich an den Apparat gehe, dann leg einfach nur auf. Okay?”
“Das ist mir aber unangenehm, wenn deine Frau dann abhebt” wendete sie ein.
“Ja, aber es ist besser so. Sie hat bemerkt, daß es in letzter Zeit häufig nur zweimal bimmelt, und ich will keinen Stress zu Hause haben”, erkärte ich ihr in ihrer Sprache.
“Hat sie was gesagt?” fragte Sanne. Und ich antwortete: “Nein, nicht direkt. Es ist ihr halt aufgefallen, und wir müssen ja nichts provozieren.”
Ich hatte Sanne angelogen. Ich hätte ihr wortgetreu erzählen können, was heute Vormittag passiert ist - nichts hätte sich an unserer Situation und an unserer Beziehung verändert. Aber ich log sie an. Der Tank in unserem Flugzeug, das noch immer keine Landebahn gefunden hatte, bekam ein winzig kleines Loch.
Etwa zwei Stunden blieb ich bei Sanne und fuhr am Nachmittag wieder nach Hause. Sanne setzte ich am Kindergarten ab, wo sie Nick abholte und mir versprach, daß sie mich im Nachtdienst anrufen würde.
Auf halber Strecke nahm ich eine Anhalterin mit - es war meine Tochter. Ich hielt ihr einen Vortrag, wie gefährlich Trampen ist und bat sie inständig, in Zukunft den Bus zu nehmen oder anzurufen. Sie erklärte mir darauf, daß die anderen aus ihrer Klasse ja auch trampen würden, und daß sie nicht bei jedem mitfährt. “Ich habe mir ernsthaft überlegt, ob ich in deinen Mercedes einsteigen soll. Aber dann habe ich ja gesehen, daß nur du es bist”, versuchte sie zu scherzen.
“Es ist wirklich gefährlich, Bea”, hakte ich noch einmal nach. “Ich könnte dir jetzt so einiges von meiner Arbeit erzählen, was ich da schon mit Anhalterinnen und Vergewaltigungen erlebt habe. Das steht meistens nicht in der Zeitung, und es passiert öfter als du denkst! Also: Ruf das nächste Mal an, und du wirst geholt,”
“Du bist doch immer mit dem Auto unterwegs”, entlarvte sie mich, ohne mich dabei anzusehen. “Selbst wenn ich anrufen würde, du oder Mutti könnten mich ja gar nicht holen.”
Sie hatte völlig Recht. Wir haben nur ein Auto, und ich war ja tatsächlich meistens unterwegs oder auf der Arbeit.
“Trotzdem”, beharrte ich. “Ich möchte nicht, daß du trampst. Das ist einfach zu gefährlich. Was sage ich: es ist dumm, wenn man weiß, was alles passieren kann. Also fahr mit dem Bus oder ruf’ zu Hause an. So viel bin ich auch nicht unterwegs.”
“Schau mal, Papa. Wenn ich vorhin angerufen hätte, dann hätte die Mutti mich ja auch nicht holen können. Es war doch nur ein Zufall, daß du mich getroffen hast. Wenn du zwei Minuten eher vorbeigekommen wärst, dann hätten wir uns überhaupt nicht getroffen.” Und kokett setzte sie hinzu: “Und zwei Minuten später höchstwahrscheinlich auch nicht mehr.”
Während wir weiterfuhren überlegte ich, was wohl passiert wäre, wenn Sanne noch im Auto gesessen hätte. Ich hätte ja unmöglich an meiner Tochter vorbeifahren können. Ich lächelte über diesem Gedankenspiel - völlig unpassend zu dem vorherigen Gesprächsverlauf. Und meine Tochter registrierte dieses Lächeln. Ich spürte, wie sie ins Grübeln darüber kam, warum ich jetzt lächeln konnte, wo ich im Augenblick vorher ihr noch die Leviten lesen wollte. Zum Glück sagte sie nichts mehr darüber. Aber mir war klar geworden, daß mein Verhalten etwas sonderbar war.
Sanne und Bea hatten viele Gemeinsamkeiten. Beide waren gleich groß und hatten lange blonde glatte Haare. Beide hatten ein kleines Pickelproblem und trugen eine Brille. Beide waren sehr einfühlsam, intelligent und voll trockenen Humors. Und mir war aufgefallen, daß beide auch den gleichen modischen Geschmack hatten. Einmal zeigte mir Sanne eine Bluse, die sie kaufen wollte, und ich hätte schwören können, daß Bea sich genau diese Bluse kurz vorher auch gekauft hatte.
Nur Sanne war zehn Jahre älter, spontan und meine Geliebte - was für ein scheußliches Wort - und Bea war meine Tochter, ein Einzelgänger so wie ich, verschlossen und mein Fleisch und Blut.

Zu Hause war alles wie immer. Meine Frau sagte nichts mehr wegen dem Gespräch vom Vormittag. Ich ging ihr ein bißchen aus dem Weg, aber das war ja auch schon seit zig Wochen normal. Mein schlechtes Gewissen drückte sich nur dadurch aus, daß ich mit meinen beiden Jungs Lego spielte, während Bea ein Dauergespräch am Telefon führte. Es reizte mich, zu meiner Frau zu gehen, und ihr zu zeigen, wer für die hohen Telefonrechnungen verantwortlich ist. Aber das ließ ich vollständig bleiben. Schlafende Hunde soll man nicht wecken, und es wäre ja im höchsten Maße ungerecht gegenüber Bea gewesen, ihr die Telefonrechnung in die Schuhe zu schieben.
Im Nachtdienst erwartete ich Sannes Anruf auf der Dienststelle. Sie rief nicht an. Genauso extrem wie mich die Gespräche mit Sanne aufputschten und in die Höhe hoben, bedrückten mich ihre Nichtanrufe, wenn sie trotz Ankündigung doch nicht anrief. Sanne, was machst du mit mir. Der ganze Nachtdienst war ein einziges Warten. Mir fiel ein Sinnspruch ein, den ich mal in der Zeitung gelesen hatte, und den ich bisher super-gut fand: Ein Vergnügen erwarten ist auch ein Vergnügen. Mit Sanne zu telefonieren ist ganz bestimmt vergnüglich; aber dieses Warten macht mich krank. Nein, Sanne rief in diesem Nachtdienst nicht an. Und bei ihr meldete sich nur der Automat.


Doppelleben

Mein Leben wurde zu einem perfekten Doppelleben. Die Möglichkeiten, die der Schichtdienst im Kommissariat und die vielen unregelmäßigen Anläße boten, nutzte ich rigoros aus, um neben meiner Ehe ein eheähnliches Verhältnis mit Sanne zu führen. Viele Nächte in den letzten Monaten war ich bei ihr, und an vielen Morgen erwachte ich an ihrer Seite. Sanne bezog mich in fast alle ihre Entscheidungen mit ein und stimmt ihre Pläne mit meinen ab.
“Sag mal, spreche ich im Schlaf?” fragte ich Sanne.
“Nein, du schnarchst nur, wieso?” gab sie zur Antwort.
“Ich träume immer von dir. Könnte ja sein, daß ich mal laut träume.” Das hätte ich besser nicht gesagt, denn schlagartig verlor Sanne ihre gute Laune.
Sie fragte: “Ihr fahrt bald in Urlaub?”
“In nicht ganz zwei Wochen. Ich würde viel lieber zu Hause bleiben. Es geht aber nicht.” Mein Urlaub war schon die letzten Male zum Reizthema geworden - verständlicherweise -, weil ich ja nicht mit ihr, sondern mit meiner Frau und den Kindern nach Portugal fahren wollte. Wenn Sanne einfach in ein Flugzeug gestiegen wäre und parallel zu mir Urlaub am gleichen Ort gemacht hätte, dann hätten wir auch dort zusammen sein können. Das war so eine Spinnerei, die ich ihr im Spaß vorschlug, die aber genau unsere verrückte Lebenssituation darstellte. Wir hatten parallele Lebenslinien, die sich manchmal überlagerten, aber jeder lebte sein eigenes Leben. Und die Idee mit dem Flug war ihr einfach zu blöd.
“Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir dich eine Zeitlang nicht sehen”, überlegte Sanne.
“Wozu soll das gut sein?” wollte ich wissen.
“Hauptsächlich wegen Nick. Du bist mal da und mal nicht da. Der Junge merkt doch, daß du mehr als ein Kollege bist. Die anderen Kollegen kommen ja auch nicht so oft zu Besuch. Aber du bist eben nur manchmal da. Und er versteht das nicht.”
“Ich hoffe doch, daß die Kollegen überhaupt nicht kommen”, wollte ich das Gespräch ein bißchen aufheitern.
“Ja, das ist es auch. Die anderen Kollgen kommen überhaupt nicht. Nick erzählt natürlich, was wir zu dritt gemacht haben. Im Kindergarten bin ich schon gefragt worden, ob ich wieder mit jemandem zusammenlebe. Er erzählt mehr von dir als von sonst jemanden.”
Und schon wieder hatte Sanne Recht. Ob ich es wollte oder nicht - ich war für Nick zu einem Vorbild, um nicht zu sagen zu einem Vater, geworden. “Ja, ich weiß. Vielleicht solltest du ihm erklären, daß wir mehr als nur Kollegen sind”, schlug ich vor.
“Wie soll ich ihm das erklären?” schüttelte Sanne verständnislos den Kopf. “Nein, du fährst jetzt erstmal mit deiner Familie schön in Urlaub, und ich werde diese Zeit mit meinem Sohn ganz alleine genießen.”
Sanne erzählte mir, daß Nick sie gefragt habe, ob ich nicht sein neuer Papa werden könnte, und wie sie dem Jungen versucht hatte, die Situation zu erklären. Nick wußte ja, daß ich selbst auch Kinder hatte und verstand schon, daß zu Kindern nicht nur ein Papa, sondern auch eine Frau gehörte. Er verstand allerdings nicht, weshalb ich meine Kinder nie mitbrachte.
“Neulich sagte er, daß du deine Kinder ja gar nicht liebhaben kannst. Sonst würdest du deine Kinder ja mitbringen, wenn wir auf die Burg oder in den Park fahren.”
“Ganz schön clever, der Kleine”, stellte ich fest. “Also noch einer, der was dagegen haben könnte, daß wir zusammen gehen.”
“Zusammen gehen! Wie sich das anhört?” kritisierte Sanne.
“Zusammen gehören”, verbesserte ich mich.
“Zusammen gehören?” hinterfragte Sanne auch diese Formulierung.
“Wenn ich könnte, dann würde ich ganz bei dir bleiben”, wollte ich Sanne versichern und verkniff mir den nächsten Satz, der mit einem Aber beginnen würde.
“Wenn ich könnte ...” äffte Sanne mich mit spitzem Mund nach. “Ich kann diese Konjuktive nicht mehr hören.”
“Sanne, das war doch von Anfang an klar!” beharrte ich. “Eine Scheidung kommt für mich nicht in Frage. Das hat nichts mit Egoismus oder sonst was zu tun. Das ist schlicht und einfach Fakt.”
“Fahr’ du nur mal mit deiner Familie in Urlaub. Das ist vielleicht ganz gut”, wiederholte Sanne kühl.
Mir mißfiel ihre Art mir zu unterstellen, daß ich nur die Sahnehäppchen aus ihrem Leben mitnehmen würde. Ärgerlich stellte ich fest: “Wenn es nach mir ginge, dann würde ich nicht fahren. Ich habe aber keine Wahl! Es ist nicht fair, wenn du mir unterstellst, daß ich meinen Spaß in Portugal habe, während du mit Nick die Probleme aufarbeiten mußt, die angeblich ich verursacht habe.”
“Das ist ja die Höhe, zu sagen, daß ich hier etwas unterstelle”, gab sie zurück. “Du kommst unverbindlich, du bleibst unverbindlich und du gehst unverbindlich. Und wenn der Herr morgen nicht mehr kommen will, dann ist das auch in Ordnung. Und wenn ich mal, ein einziges mal, einen Punkt anspreche, wo etwas mehr Verbindlichkeit notwendig wäre, dann sagst du, ich unterstelle dir was.”
“Sage mir, was ich ändern soll”, forderte ich sie auf. “Los, sag’ doch, was ich falsch mache. Noch heute wird das geändert.”
“Die ganze Situation ist verkehrt. Ich muß doch auch an Nick denken.” Und etwas versöhnlicher bekannte sie: “Ich mag dich. Und ich bringe es sogar fertig, dich zu teilen. Aber von Nick kannst du so etwas nicht verlangen. Das ist es, was verkehrt läuft.”
“Und was schlägst du vor?” wollte ich wissen.
“Das wir uns in der nächsten Zeit nicht mehr so oft treffen - wenigstens nicht mehr so oft, wenn Nick dabei ist.”
“Das ist doch verrückt. Was ändert sich denn, wenn ich Nick nicht mehr so oft sehe? Dann hat er immer noch keinen richtigen Vater. Soll ich etwa nur noch nachts kommen, quasi wie ein Lover, der sich schleicht, bevor es hell wird?”
“Du willst immer alles haben!” deckte Sanne die Karten auf. “Mit einem bißchen gibst du dich nicht zufrieden. Du denkst nur an dich!”
Sie unterdrückte ihre Tränen, und ich war unfähig meinen Ärger zu unterdrücken. Jeder weitere Satz würde bedeuten, daß wir unseren ersten handfesten Krach bekommen würden. Meinungsverschiedenheiten hatten wir ja schon öfters gehabt. Aber die konnten wir geschickt in etwas Humor verkleidet auseinandersetzen. Diesmal sah es nicht so aus, daß sie oder ich einen lockeren Spruch parat hätten. Also tat ich das, was am nahesten lag. Ich nahm meine Jacke und ging.

Am nächsten Tag telefonierte ich mit Sanne. Das heißt, ich bat sie auf ihrem Band um Rückruf auf meiner Dienststelle. Sie rief kurz darauf zurück. Keine Entschuldigung, kein Bedauern, nur die Frage, wehalb sie anrufen sollte.
“Weil ich mit dir sprechen wollte, ganz einfach”, erklärte ich. “Früher brauchte ich keine Gründe, um bei dir anzurufen. Ein Telefon in der Nähe war Grund genug dich anzurufen”, hielt ich ihr vor.
“Ich habe eine Freundin eingeladen und möchte noch einen Kuchen holen. Ich rufe dich heute Abend nochmal an. Ja, Spatzl!” sagte sie, ohne auf meinen Groll einzugehen. Sie blieb freundlich, obwohl ich es verstanden hätte, wenn sie einfach nur aufgelegt hätte.
“Heute Abend geht nicht”, sagte ich und begründete, “meine Frau ist zu Hause.”
“Dann eben morgen früh. Du kannst ja bei mir anrufen.” In meinen Ohren klang das, als ob ich jetzt unerwünscht wäre.
“Na, du wirst mich schon irgendwann erreichen” sagte ich recht sauer und machte damit klar, daß nicht ich bei ihr, sondern sie bei mir anzurufen hätte.
Sanne rief nicht am nächsten Tag, und auch nicht am übernächsten Tag bei mir an. Es lag auch keine Nachricht in meinem Fach auf der Dienststelle. Sendepause war eingetreten. Ein paar Mal überlegte ich, ob ich als erster zum Telefon greifen sollte, hielt es aber für angebracht, wenn sie den Anfang machen würde. Also rief ich nicht an, sondern erwartete ihren Anruf. Ich wollte ihr nicht hinterher laufen.
Zu Hause hatte ich mit den Urlaubsvorbereitungen zu tun. Schon am kommenden Wochenende wollten wir nach Portugal abfahren, und ich mußte am Auto ein paar Kleinigkeiten reparieren, unser Gepäck so klein wie möglich verpacken und für die vier Wochen, die wir weg sein würden, noch etlichen Papierkram, Überweisungen und Terminabsagen fertig machen.
Sanne rief nicht an. Weiß der Geier warum, aber sie rief nicht an.
Am Tag vor meiner Abfahrt brach ich dann das Schweigen. Ich fuhr an eine Telefonzelle, wählte ihre Nummer und erreichte ihren Anrufbeantworter. Es war ein nervenaufreibendes Spiel mit diesem Automaten - nein, es war kein Spiel, es war bitterer Ernst. Immer wenn es ganz wichtig war, war dieser Blechkasten zwischen Sanne und mich geschaltet. Ich verfluchte diesen Automaten.
Also fuhr ich zu ihr hin und hoffte sie zu Hause anzutreffen. Sie war nicht da. Eine halbe Stunde saß ich im Auto und wartete, ob sie noch kommen würde. Dann notierte ich ihr auf einen Zettel, daß ich da gewesen wäre und sie doch bitte nochmal bei mir anrufen sollte, weil ich am nächsten Morgen schon in aller Frühe in Urlaub fahren würde. Bis dann, ich mag dich. Unterschrift, und ab in ihren Briefkasten.
Sanne rief tatsächlich an. Wir bedauerten, daß wir beide so verstockt gewesen waren, und sie wünschte mir eine schöne Zeit in Portugal. Ich versprach ihr, daß wir nach dem Urlaub alles besprechen würden, und daß es eine Lösung geben würde. Schließlich verstand ich ja ihre Probleme und wollte ihr keine Last, sondern ein Vergnügen sein. Ich machte während dem Gespräch den Computer an und rief die Bilder von Sanne auf, die ich hier eingescannt hatte.
“Ich sehe dich vor mir”, sagte ich ihr und erklärte, was ich gerade machte. “Und es genügt mir nicht, daß ich nur Bilder von dir habe. Ich will dich haben, Sanne.” Es war wie am Anfang, damals auf dem Boot. Ich wollte sie haben - ganz, und ganz für mich.
“Du wirst mich teilen müssen”, bedauerte sie, “genauso wie ich dich teilen muß mit deiner Frau und deinen Kindern.” Darin lag nicht der Hauch einer Erpressung. Sie stellte lediglich fest, wie es um uns stand.
“Ich werde dir jeden Tag schreiben”, versprach ich. “Jeden Tag wirst du eine Postkarte oder einen Brief bekommen. Wenn nicht, dann kannst du davon ausgehen, daß ich dich verworfen habe und nie mehr sehen möchte.” Und ich bekräftigte nochmals: “Jeden Tag schicke ich dir einen Gruß!”
“Vier Wochen ...”, seufzte Sanne, als ob sie damit sagen wollte, daß das viel zu lange wäre.
“Ich komme wieder. Und dann wird alles noch viel schöner. Ich liebe dich!” sagte ich zum ersten Mal zu ihr.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit meiner Familie nach Portugal. Ich hielt mich an mein Versprechen und schickte vom ersten Tag an jeden Tag eine Postkarte und dreimal einen langen Brief. Auf jede einzelne Postkarten schrieb ich zusätzlich zum Text ein Wort, daß ich mit einem Rahmen markierte. So hatte Sanne eine extra Botschaft, wenn sie diese Wörter von allen Postkarten nacheinander las.
Am ersten Tag - noch in Frankreich - schrieb ich “Ich” in das Kästchen. Dann “möchte” aus Spanien und der nächste Gruß schon aus Setúbal, unserem Ferienort in Portugal: “noch”. Am vierten Tag stand “einmal” auf der Karte und tags darauf “mit”. Aus Evora schrieb ich: “dir”, aus dem Alentejo: “von”, aus Sintra: “vorne”, aus Palmela: “anfangen”. Aus Lissabon schrieb ich “denn”, und aus allen anderen Orten, wo wir waren, lautete die Botschaft: “du - bist - die - Frau - meines - Lebens - zu - der - ich - gehöre.”
Mit jedem einzelnen Wort entschied ich mich in diesem Urlaub zunehmend für Sanne und immer mehr gegen meine Frau. Ich wollte Schluß machen mit den Geheimnissen und dem Doppelleben und mich endlich zu ihr, zu Sanne, bekennen. Schluß mit dem Versteck spielen, Schluß mit den konspirativen Treffen, Schluß mit dem So-tun-als-ob-nichts-wäre. Ich wollte zu Sanne ein offenes und verbindliches Verhältnis begründen.
Mir war klar, daß dies zwangsläufig auch zum Zerbruch meiner Ehe führen könnte; denn meine Frau würde niemals mitansehen, daß ich mal auf dieser und mal auf jener Hochzeit tanzen würde. Aber ich wollte es darauf ankommen lassen. Sanne war meine Bestimmung. Sie war meine ganze Freude in den letzten Monaten, und bei ihr wollte ich sein. Ich wollte meine Familie nicht sitzenlassen - Scheidung war nicht meine Absicht. Aber ich wollte nicht länger familiäres Glück vortäuschen, wo keines mehr war.
Ich hatte viel Zeit in Portugal über diese Dinge nachzudenken. Und gerade weil Sanne nicht bei mir war und Stellung zu meinen Gedanken nehmen konnte, spielte ich im Kopf durch, wie sie wohl über all diese Dinge denken würde. Ich war mir über das Ergebnis nicht sicher. In den Briefen, die sehr lang und heißblütig geschrieben waren, erzählte ich ihr nichts darüber. Sie hatte einzig die Botschaft, verteilt auf etliche Postkarten, daß ich nochmal mit ihr von vorne anfangen wollte, weil ich glaubte, zu ihr zu gehören. Was dieser Satz, verteilt auf alle Urlaubstage zu bedeuten hatte, wollte ich ihr mündlich erklären. Also mußte ich mit Sanne telefonieren. Bis dahin beschloß ich zu meiner Frau nichts zu sagen.
Sanne, wie schade, daß wir im Streit auseinander gegangen waren. Wie schade, daß du nicht mit mir in diesem herrlichen Land bist. Wir sind zwei Menschen, die zusammen gehören - so war es am ersten Tag, und so wird es immer bleiben.


“Und Tschüß ...”

Zwei cafe con lait und etwa dreißig Minuten lang saß ich vor dem Hotel Esperanza auf der Luisa Todi in Setúbal und erinnerte mich an all diese Erlebnisse mit Sanne. Sanne hatte mein Leben verändert. Sanne hatte mich glücklich gemacht - wenigstens für die Momente, wo wir zusammen waren. Der Schmerz des Getrenntseins verstärkte diese Glücksgefühle sogar. Sanne wurde zu meinem immerwährenden Begleiter.
Seit fast drei Wochen war ich jetzt schon in Portugal, und ich machte diesen Urlaub heimlich in Vorbereitung für die Zeit, wenn ich mit Sanne hier sein würde. Das hatte ich mir ganz fest vorgenommen. Ich wollte Sanne das herrliche Lissabon und die bezaubernden kleinen Städtchen zeigen, in denen teilweise die Zeit stehengeblieben war. Ich würde mit ihr nach Evora und Estremoz fahren. Ich hatte versteckte Strände ausgekundschaftet, und ich bin abseits der Hauptstraßen gefahren, um auch die kleinen Orte zu erkunden. Wo ich fündig geworden bin, machte ich mir in Gedanken eine Notiz und beschloß: Hierhin werde ich mit Sanne kommen. Sanne war mein Motiv und mein heimlicher Begleiter, obwohl sie 2600 Kilometer nordöstlich im verregneten Deutschland sein mußte. Ohne diese Aufgabe wäre ich nach wenigen Tagen schon aus meiner familiären Situation ausgebrochen und nach Deutschland zurückgekehrt. Ich war verrückt nach Sanne und hielt es so lange ohne sie einfach nicht mehr aus.
Als ich mit meiner Frau durch die Sierra Arrábyda gefahren war, fragte sie mich, wie es nach dem Urlaub mit uns weitergehen würde. Sie wußte nichts von meiner Beziehung zu Sanne; sie wußte noch nicht einmal, daß es Sanne gibt. Ihr war nur klar, daß mein Leben sich geändert hatte, und daß es nicht mehr so wie früher war. Sie war es, die das Wort Trennung als erste aussprach. Ich hatte bis dahin diesen Gedanken immer weit von mir gehalten, da ich keine Trennung wollte - schon wegen der Kinder.
Aber da sie in diesem Moment, wo vor uns der Atlantik ruhig, regelmäßig und mächtig seine salzigen Wellen gegen das ausgetrocknete Land spülte, von Trennung sprach, gab ich ihr zur Antwort: “Dann läuft wohl alles auf Trennung hinaus!” Ich schlug ihr vor, daß ich ein leeres Zimmer im Keller und das daneben liegende Zimmer unseres ältesten Sohnes für mich einrichten würde, so daß wir getrennt auf zwei Ebenen im gleichen Haus wohnen könnten. Ich sagte ihr nicht, daß ich dann aber kaum noch zu Hause sein würde, weil ich bei Sanne sein wollte. Ich sagte ihr nichts von Sanne. Das war ganz alleine meine Sache, die ich keinesfalls mit ihr erörtern, teilen oder gar rechtfertigen wollte. Sie hätte sowieso nichts verstanden.
Meine Frau lehnte meinen Vorschlag strikt ab. Entweder aus dem Haus, oder so wie früher, war ihre Alternative. Und als sie dann aufzählte, wie schön und harmonisch wir beide es doch gerade jetzt haben könnten, wo es beruflich so gut lief, wo die Kinder aus dem Gröbsten heraus waren, und wo auch finanziell alles in Ordnung war, tauchte vor uns das riesige schmutzig-graue Betonwerk auf, daß die Bucht des Rio Sado gegenüber der Ferienhalbinsel Troia gänzlich verschandelte. Der Naturpark Arrábyda ist immer noch ein Paradies, das von dieser Industrieanlage nach und nach verdorben wird.
Nein, so wie früher wollte ich ganz bestimmt nicht weiterleben, weil früher Sanne in meinem Leben keine Rolle spielte. Ein Leben ohne Sanne war unvorstellbar. Also blieb nur Trennung - das sagte ich meiner Frau aber nicht, sondern ich schwieg und hörte mir auch ihr letztes Argument an, bevor auch sie nichts mehr zu mir sagte: “Denk’ doch an die Kinder!”

Ich saß also vor dem Hotel Esperanza und dachte an Sanne, und nicht an meine Kinder, die ich - ich schwöre es - von ganzem Herzen liebe. Erschrocken stellte ich fest, daß es schon kurz nach 20 Uhr war. Ich hätte längst wieder zurück in der Ferienwohnung sein sollen. Egal, jetzt würde ich seit einer Ewigkeit Sanne wieder hören.
Der Chef der Rezeption - ich unterstelle einfach, daß der Mann eine wichtige Rolle in diesem alten Hotel spielte - lächelte mich an, und ohne Umschweife konnte ich in die Kabine gehen. Landesvorwahl 0049 und dann Sanne’s Nummer. Es dauerte einen kleinen Moment, und ich hörte das Läuten. Einmal, zweimal, dreimal. Jetzt sprang der Anrufbeantworter an: “Hallo, ...” Sanne, sogar auf Band ist deine Stimme ein Erlebnis. Dann der Piepton: “Hi, ich bin's. Es ist toll, wenigstens deine Stimme seit langer Zeit mal wieder zu hören, aber noch schöner wäre es, wenn du da bist und jetzt an den Apparat kommst." Ich lauschte - sie hob noch nicht ab. "Und weißt du, was phantastisch wäre?” Ich wartete noch einen Moment, ob sie jetzt abheben würde. Ansonsten hätte ich ihr sagen wollen: Wenn du jetzt bei mir wärst. Du fehlst mir. Aber dazu kam ich nicht mehr. Von irgendwoher hörte ich zwei Worte, nur zwei Worte: “Und tschüß!” Piep, piep, piep.

Es hat einige heftige Momente gedauert, bis ich begriff, daß diese Stimme aus dem Telefon kam. Ich meinte einen Moment, daß irgendeine Telefonistin oder der deutsch sprechende Mann an der Rezeption das gesagt hatten. Aber es war Sanne gewesen, die eindeutig “Und tschüß” gesagt hatte. “Und tschüß!” Was hatte das zu bedeuten. Kein Gruß, kein Hallo, kein liebes Wort. Nur diese blöde Redewendung, die wohl jeder aus dem Radio kennt, und die zweifellos bedeutete: Du bist raus aus dem Spiel.
Aber Sanne, ich spiele doch nicht mit dir. Ich wollte dir doch gerade sagen, daß wir unsere Beziehung unmittelbar nach dem Urlaub normalisieren können; daß wir uns nicht mehr so total verstecken müssen, weil ich mich von meiner Frau trennen werde. Sanne, was bedeutet dieses Und Tschüß?
Wahrscheinlich waren es nur ein paar Sekunden, höchstens eine halbe Minute, die ich noch in der Zelle stand, aber ich war schweißnaß. Jedenfalls stellte der Gastarbeiter fest, daß das ja ganz schön schnell ging, und verlangte nur zweihundert Escudo, also rund zwei Mark, von mir. Er lächelte nicht mehr, als ich ihm das Geld gab, und ich stürzte hinaus durch das Restaurant und durch das Straßen-Cafe auf die Straße. Wo war mein Auto? Ach ja, der kleine Gauner stand noch dort und paßte auf. Als ich an ihm vorbei ging hielt er nochmals die Hand auf, worauf ich aber nicht mehr reagierte. Ich schloß auf, stieg ein und machte automatisch den Cassettenrecorder an. Schon wieder Dave Stewart: Maybe your heart is made of stone, maybe I’m just to blind to see. We should have an affair!” Warum sagt sie: Und tschüß? Was soll das?
Irgendwie schaffte ich es wegzufahren. Völlig kopf- und planlos fuhr ich durch die Straßen und es grenzte an ein Wunder, daß ich keinen Unfall baute. Instinktiv lenkte ich in das Hafenviertel, wo jetzt weniger Verkehr war. Und irgendwann fiel mir auch wieder ein, daß ich ja nach Hause in die Ferienwohnung mußte. Warum hatte Sanne Und tschüß gesagt?
Es war längst schon dunkel draußen, als ich zu Hause ankam. Sanne hatte gerade Schluß gemacht, hatte den Notausgang aufgerissen und war aus dem Flugzeug und aus unserem gemeinsamen Flug abgesprungen. Ich weiß nicht warum, aber die zwei Worte bedeuteten: Schluß, Aus, Ende!
Obwohl es schon sehr spät war, hupte ich wie immer, als ich auf das Grundstück unserer Ferienwohnung fuhr. Ich stieg aus und klingelte, weil noch niemand aufgemacht hatte. Ahnungslos holte ich meinen Schlüssel aus der Hosentasche, öffnete, ging durch den Flur, und war auch in dem großen Haus ganz alleine. In der Küche lag mitten auf dem Boden ein Briefumschlag. Ich wußte schon vor dem Öffnen, was das zu bedeuten hatte. Meine Frau samt den Kindern war nicht mehr da. Sie schrieb:
“Ich bin mit den Kindern zum Flughafen nach Lissabon und fliege noch heute Abend nach Hause. Ich bitte dich, uns die nächste Zeit alleine zu lassen und den Urlaub alleine zu Ende zu bringen. Wenn du auch nur ansatzweise versucht hättest, mich zu verstehen oder dich zu erklären, dann wäre ich geblieben. Aber so sehe ich keine andere Möglichkeit als jetzt in den Flieger zu steigen und nach Hause zu fliegen. Überlege dir, ob das auch noch dein zu Hause und deine Familie ist. Es hat die letzte Zeit nicht danach ausgesehen. Tschüß.”


Nachwort

Selbstverständlich bin ich in mein Auto gesprungen und zum Flughafen nach Lissabon gerast. Selbstverständlich war das Flugzeug schon weg. Und selbstverständlich habe ich den Rest des Urlaubs nicht alleine in unserem schönen Ferienhaus verbracht, sondern bin in der gleichen Nacht noch non stop nach Hause gefahren. Und selbstverständlich war ich so schnell wie noch nie zu Hause angekommen, nämlich nach nur 23 Stunden.
Auch selbstverständlich hat meine Frau mich nicht ausgesperrt oder vor der Tür sitzen lassen. Im Gegenteil genoß sie ihren Sieg - so kam es mir vor - und nötigte mir endlich die Erklärungen und Gespräche ab, die ich ihr schon seit Monaten vorenthielt.
Ich erzählte ihr keine Einzelheiten von Sanne, sondern sprach von einer Lebenskrise, dem Älterwerden und so, und ich versprach ihr die große Änderung und Rückkehr zur Normalität. Ich erbat mir natürlich etwas Zeit, aber ich machte Zusagen, und ich machte sie glücklich. Sie war hundert Prozent bereit, mir alles zu vergeben. Hauptsache war, daß ich ihr nichts von Sanne erzählen mußte, weder über ihre Person noch über ihre Existenz. Bei den ganzen Gesprächen in den nächsten Tagen fragte sie niemals nach einer anderen Frau. Ich glaube, sie wußte wirklich nichts. Und wenn, dann wußte sie, daß sie die Siegerin war, und daß mit der anderen endgültig Schluß war. Aus. Ende.

Ich saß in meinem Büro und ärgerte mich über meine opportunistische Verhaltensweise. Vielleicht wäre es besser gewesen, die eine Woche noch in Portugal zu bleiben und nicht sofort nach Hause zu rennen wie ein getretener Hund. Dann wäre der Bruch vollzogen. Ich machte meiner Frau und mir doch nur etwas vor; denn die Geschichte mit Sanne, der ich immer versprach, daß es mit ihr niemals eine Geschichte sein würde, war zwar vorbei, aber ich war ein Anderer geworden.
Sanne - ich dachte immer noch an sie. Meine Schuhe hatte sie mir ausgesucht. Meine neue Jacke war die, die ihr am besten gefallen hatte. Die Lampe in unserem Flur hatte ich mit ihr zusammen gekauft. Auf der Arbeit würde ich täglich ihren Namen in den Dienstberichten lesen. Und obwohl wir nicht mehr unmittelbar zusammen arbeiteten, so würde ich doch ihre Stimme hin und wieder im Funk hören. Vielleicht mußten wir in irgendeiner Sonderkommission sogar mal wieder zusammen arbeiten. Sanne war nach wie vor gegenwärtig. Ich hätte um sie kämpfen müssen!
Ich kämpfte aber nicht um sie, sondern ich kämpfte gegen ihre Gegenwart in meinen Gedanken. Ich wollte ihren Ausstieg respektieren und sie nicht belästigen oder nötigen. Unser Vertrag war für mich in diesem Punkt sehr ernsthaft zu nehmen. Ich zwang mich dazu, nichts zu tun. Und das beste Mittel, um Sanne zu verdrängen, war die Aussöhnung mit meiner Frau.
Dieses Bewußtsein und die Bereitschaft meiner Frau, mir alles zu verzeihen, führten dazu, daß binnen 14 Tagen alles wieder beim Alten war. Sanne schmerzte noch, aber die Wunde blutete nicht mehr. Und ich konnte gewiß sein, daß ich nicht nur eine schöne und intelligente Frau hatte, sondern auch eine gute Partnerin in allen Zeiten. Zwanzig Jahre waren wir verheiratet. Das war ein solides Fundament auch für die Stürme des Lebens.
Auf meinem Schreibtisch im Büro lag eine Notiz. Ich sollte bis um 16 Uhr eine bestimmte Nummer zurückrufen; der Anruf kam um 13 Uhr 50, als ich gerade außer Haus war. Es war kurz vor 16 Uhr, als ich diese Notiz fand. Und die Telefonnummer, die dort stand, war Sannes Telefonnummer.
“Sanne”, durchzuckte es meinen Körper heftig. “Sanne”, und ich wählte so geläufig wie eh und je ihre Nummer. Einmal nur klingelte es, und schon hob Sanne ab. Nicht der Anrufbeantworter redete, sondern Sanne selbst sagte: “Hallo?”
“Hi, ich bin’s. Du hast hier angerufen?” Es klang scheußlich distanziert.
“Ja, wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann muß der Berg eben zum Propheten. Wieso hast du mich denn nicht mehr angerufen?” fragte sie.
“Mein letzter Anruf aus Portugal endete etwas abrupt. Sagtest du nicht: Und Tschüß? Das klang für mich sehr endgültig.”
“Ich weiß nicht, was du meinst? Das heißt doch nicht, daß du nicht mehr anrufen kannst. Ich habe mich über deine Postkarten gefreut. Ich habe alle aufgehoben. Und dann meldest du dich einfach nicht mehr. Wie war denn dein Urlaub?” Sie erklärte nichts. Sie tat einfach so, als ob sie niemals Schluß gemacht hätte. Und ich? Was tat ich?
Ich erzählte Sanne von dem Land, dem Meer, den lieben Menschen dort, und vor allen Dingen schwärmte ich über das phantastische Wetter. Ich erzählte ihr es so, daß sie glauben konnte, selbst dort gewesen zu sein. Und ich sagte wiederholt: “Das hätte dir auch gefallen. Du hättest bei mir sein sollen.”
Und sie schlug vor: “Dann laß uns doch bald zusammen dort hin fliegen. Ich würde gerne mit dir in Portugal Urlaub machen. Ja, laß uns doch einfach fliegen!”
“Fliegen wir noch?” fragte ich Sanne.
“Spielst du jetzt wieder mit Worten?” wollte sie wissen.
“Ja”, sagte ich, “du weißt doch, unser Flugzeug, Abheben und Fliegen. Fliegen wir noch?”
“Natürlich fliegen wir! Wir fliegen sogar ziemlich hoch. Wieso fragst du?”
“Ich bin jetzt etwas verstört”, gab ich lachend zu. “Ich meine, du hättest zu mir so etwas wie und tschüß gesagt. Das bedeutet doch: Es ist aus! Weißt du: Tür auf, rausspringen, und tschüß. Ich dachte, du wärst ausgestiegen oder abgesprungen. Verstehst du, was ich meine?”
“Nein, ich verstehe nichts. Warum soll ich ausgestiegen sein?” hinterfragte sie meine Vorhaltungen.
“Du sagtest: Und tschüß! Unser letztes Telefonat - Portugal. Ich habe auf dein Band gesprochen, und dann hast du plötzlich gesagt: Und tschüß! Für mich war das eindeutig.”
“Okay”, sagte sie ganz ernst. “Ich lege jetzt auf, und du ruftst bei mir an. Ich werde nicht abheben, okay? Aber du wartest trotzdem ganz einfach ab, bis der Anrufbeantworter von alleine abstellt. Ja? Okay? Ich rufe dich anschließend ganz bestimmt zurück. Du läßt aber das Band durchlaufen, ja?”
“Ich wähle deine Nummer und lasse das Band durchlaufen. Sanne, äh, das kann ich schon im Schlaf. Das brauchen wir nicht üben.”
“Tu es mir zu liebe, ja Spatzl? Bis gleich.” Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern legte einfach auf.
So ein Blödsinn hätte von mir stammen können. Nämlich jetzt schnell eine Cassette in den Anrufbeantworter mit irgendeinem Vers oder Lied oder sonst einem Vortrag, oder so. Aber Sanne mochte solche Spielchen eigentlich nicht. Außerdem paßte das jetzt gar nicht zur Situation.
Trotzdem spielte ich mit und wählte ihre Nummer: “Hallo, wir sind leider nicht zu Hause. Aber sie können uns eine Nachricht auf Band sprechen, und wir werden sie sofort zurückrufen. Piep.”
Nach dem Piep kam nichts. Ich wartete, aber Sanne hatte nichts eingelegt. Ich sprach zum hundertsten Mal zu meinem Freund, dem Anrufbeantworter. “Sanne, ich warte. Ich höre nichts. Das Band ist leer. Soll ich nochmal anrufen?” Sie rührte sich nicht. Ich überlegte, ob ich es nochmal probieren sollte.
Nach vielleicht 30 Sekunden oder sogar einer Minute, ich weiß es nicht genau, geschah es. Ich hörte dieselbe Stimme, denselben Tonfall und dieselben Worte. Ganz deutlich hörte ich: “Und tschüß”, und unmittelbar darauf schaltete der Anrufbeantworter aus. Mir hing der Kinnladen herunter. Unbewußt und ungesteuert legte ich auf und sah mich zurückversetzt in die Telefonzelle im Hotel Esperanza in Setúbal. Mein Herz klopfte und ich begann zu schwitzen.
Es klingelte. Immer noch geschockt hob ich ab und hörte sofort Sanne fragen: “Meintest du das?”
“Ja. Ich wußte nicht, daß du am Ende des Bandes auch noch was gesprochen hast. Ich habe immer nur den Anfang gehört. Ist das neu auf dem Band?”
“Nein, das ist schon immer so. Ohne das Signal am Ende kann ich bei meinem Gerät gar keine Aufzeichung machen. Also habe ich einfach Und tschüß am Ende gesprochen, ich meine aufgezeichnet. Und das bedeutet schlicht und einfach, daß das Band voll ist. Ich habe die ganze Zeit überlegt, was du gemeint hast, als du von einem abrupten Ende am Telefon gesprochen hast. Spatzl, ich war gar nicht zu Hause, als du von Portugal angerufen hast. Und ich konnte einfach nicht begreifen, warum du dich nach dem Urlaub nicht mehr gemeldet hast. War das nur wegen diesem Spruch?”
“Ja, nur wegen diesem blöden Spruch. Ich habe darauf ziemlich heftig reagiert.”
“Kann es sein, daß du ein bißchen pinzig bist?” reizte sie mich.
“Ich bin empfindlich!” betonte ich. “Und es ist gut, daß du dich gemeldet hast. Stell’ dir vor, du hättest heute nicht angerufen - ich hätte mich ganz bestimmt nicht mehr gemeldet. Für mich war der Flug schon vorbei.”
“Wie gesagt, ich bin nicht ausgestiegen. Im Gegenteil. Können wir uns sehen?”
Ich verabredete mich mit Sanne für den nächsten Abend. Es war nicht vorbei, yippee. Es war nicht Schluß, sondern alles nur ein Trugschluß. Und ich würde mit Sanne noch einmal von vorne anfangen, so wie ich es mit vielen Postkarten aus Portugal versprochen, verheißen und gewünscht habe.
Sanne beendete das Gespräch, in dem sie sagte: “Ich werde jetzt nicht Tschüß sagen, damit es keine Mißverständnisse gibt. Ich lege ganz einfach nur auf.” Und zum ersten Mal sagte sie: “Ich glaube, wir gehören wirklich zusammen. Ich habe dich sehr lieb!”


Impressum

Texte: Nachdruck - auch auszugsweise - nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Vielen Dank für die mutmachenden Kritiken bei Bookrix, ohne die ich mich nicht herausgewagt und hineingetraut hätte, hier die vollständige Geschichte zu erzählen. Nicht auszudenken, wenn meine Kinder das mal lesen und denken würden ....

Nächste Seite
Seite 1 /