Er sammelte Sprüche, Zitate und Lebensweisheiten. Mac’s erster PC war kein Spielecomputer, sondern eine reine digitale Bibliothek mit immerhin zum Schluß 3617 Zitaten, versehen mit Quellenangaben, erster Erwähnung, Ableitung und Deutung des Textes. Sein Interesse an den geflügelten Worten begann im Atalaya
, dem Ferienhaus der Familie in Portugal, ganz in der Nähe von Lissabon. Das Atalaya war eine Art Miniaturschloß im maurischen Stil, erbaut vom Bruder des damaligen Landbesitzers, einem Künstler, nämlich Maler und Bildhauer, der justament zur Fertigstellung des luxoriösen Domizils seine lezte Zuflucht in einem psychiatrischen Krankenhaus in der Nähe von Paris fand. Er selbst hatte sein Atalaya niemals vollendet gesehen. Nur seine Möbel, Bücher und der Hausrat waren eingezogen. Und es dauerte bis zum Jahre 1979 bis die erste Seele im Atalaya übernachtete.
Das Atalaya stand weit abseits des nächsten Dorfes inmitten endloser Kork- und Olivenbaumplantagen, deren Stämme meist rot eingefärbt und jeweils mit einer Zahl versehen das Jahr verrieten, in dem der Baum wieder geschält werden sollte. Weithin sichtbar waren die kantigen Zinnen des überdachten Söllers, in dem sich auch ein großer Wasserspeicher befand, der das ganze Haus mit fließendem – anfangs nur kaltem – Wasser versorgte. Wäre nicht in ca. 300m Entfernung das Generatorhäuschen gestanden, in dem der Strom für die Wasserpumpen und dem elektrischen Licht lautstark erzeugt wurden, hätte man das maurische Schlößchen auch auf gut 300 bis 400 Jahre Alter schätzen können. Tatsächlich wurde das Atalaya aber erst 10 Jahre zuvor erbaut, bevor Mac’s Vater es entdeckte und kaufte.
Mac’s Seele war nicht die erste, die in diesem Neubau schlafen durfte. In der Februarnacht 1979, als Vater und Sohn als Vorhut der Familie ankamen, herrschte ein gewaltiges Unwetter, und die letzten hundert Meter zum Haus mußten die beiden Fremdlinge zu Fuß den schlammigen Weg bis zum Portal des Atalaya gehen. Eine Eiche war im vom Regen aufgeweichten Grund umgefallen und versperrte kurz vor dem Ziel die Zufahrt. Vor der Barriere stand das Auto nun im Schlamm, die Koffer standen zurückgelassen im PKW, und Mac sen. und jun. standen tritschnaß auf den Stufen des Hauptportals. Nachdem der Vater den riesigen altertümlichen Schlüssel im Türschloß drehte, ließ sich die massive eisenbeschlagene Eichentür laut knarrend und ächzend öffnen. Der Generator lief natürlich nicht, folglich gab es auch noch kein elektrisches Licht. Während es draußen zwar finster, aber noch ein wenig Dämmerlicht war, gab es hinter dem Portal nur noch Dunkelheit.
„Noch einen Moment“, sagte der Vater, „dann haben sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt.“ Mac nickte stumm. „Hier ist es wenigstens trocken“, stellte sein Vater fest. Mac’s Augen suchten in der Finsternis nach irgendetwas Erkennbaren. Noch waren seine Pupillen aber zu klein, um im Restlicht auch nur einen Schemen zu erkennen. Die Hände vorgestreckt tasteten sich die Ankömmlinge durch den Raum und fanden am Ende des Portalzimmers die Treppe nach oben. Eine sehr großzügige und bestimmt drei Meter breite Steintreppe., die das Zentrum des Atalaya martialisch beherrschte.
„Wir gehen nach oben, da sind Fenster, die man öffnen kann“, stellte der Vater fest. Und nach den ersten Stufenschritten fügte er mit besänftigendem Tonfall an: „Du brauchst keine Angst zu haben. Gleich wird es heller.“ Mac jun. lächelte, obgleich niemand dieses Lächeln sehen konnte, denn es war immer noch stockduster, und die Augen hatten sich noch nicht gewöhnt. Er lächelte immer noch als sie oben angekommen waren und der Vater eine Tafel von der Wand abnahm, die von innen ein Fenster in der langen Zeit geschützt hatte, als kein Mensch in diesem Haus lebte. Der Vater wußte, wie man die Holzplatte rasch entfernen konnte, weil er vor dem Kauf des Anwesens bereits dreimal im Atalaya war und damals das Haus mit Licht flutete. Gerade das Spiel mit dem Sonnenlicht, das der Künstler geschickt in seiner Architektur berücksichtigt hatte, waren einer der Hauptgründe, weshalb Mac’s Vater das Schloß erworben hatte. Mac jun. hatte das Atalaya vor wenigen Minuten zum ersten Mal betreten und zuvor nur auf wenigen Bildern gesehen. Sein Vater beabsichtigte von nun an seine freie Zeit und später einmal den Lebensabend hier zu verbringen.
Im gleichen Moment, in dem das Dämmerlicht von draußen durch das nun unversperrte Fenster eindringen konnte und Mac sich zur Treppe umgedreht hatte, erhellte ein greller Blitz den Raum und die Wände, und ein überlebensgroßer Rabe stürzte von der Wand auf den Jungen hinab. Mac schrie auf und riss sich schützend die Arme vors Gesicht, noch bevor der Vater seinen Sohn von der Seite greifen und zu sich ziehen konnte. Ein Donnerschlag beendete die Erhellung und jede Bewegung, und Vater und Sohn standen mit Herzklopfen Arm in Arm auf der obersten Stufe der Treppe.
„Kein Angst, mein Junge.“ Die Stimme des Vaters beruhigte. „Es ist nur ein Bild, ein gemalter Rabe. Davon gibt es hier einige an den Wänden.“ Und so schrecklich der erste Gedanke des Jungen auch war, so wohltuend war nun die seltene Nähe und Berührung des Vaters. Wann wurde er zuvor in seinen Armen gehalten?
Sicherlich nur eine kurze Zeit, aber doch von beiden intensiv erlebt, verweilten Vater und Sohn auf der obersten Stufe dieser Treppe. Es war der Vater der vernünftig die nächsten Schritte nannte: „Der Schlüssel vom Generatorhäuschen ist in der Küchenkammer. Ich gehe den Motor starten. Du bist schon naß genug und wartest am besten hier. Du brauchst keine Angst zu haben; das Haus ist gewiß leer. Haben wir Strom, dann haben wir auch Licht und Wasser. Den Rest können wir am Tage besorgen. So machen wir es. Frierst Du? Du kannst meine Jacke haben!“
Mac brauchte nicht zu antworten. Nicht, daß der Vater lieblos oder gar despotisch wäre. Aber was gesagt ist, ist gesagt. Und selbstverständlich nahm der Sohn die Jacke und legte sie über seine Schultern, während er sich auf die Stufe setzte und der Vater langsam in die Dunkelheit der Treppe verschwand.
Es war still. Das letzte Geräusch war das Knarren der Portaltür, das den Vater hinaus in den Olivenhain begleitete, an dessen Ende ein Generatorhäuschen stehen sollte. Mac hatte es noch nicht gesehen. Er hatte eigentlich noch gar nichts von diesem Haus, genannt Atalaya, gesehen, außer dem Raben, der ihm einen solchen Schrecken bereitet hatte. Und selbst diesen Unglücksbringer sah er nur einen winzigen Augenblick, denn unwillkürlich hatte er die Augen geschlossen, als sein Verstand erkannte, welch gräßliches Tier es war, daß über ihn hereinbrechen wollte.
Der Sohn schaute zur Wand und erkannte Konturen. Ja, seine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, und das wenige Licht von draußen hellte den Raum tatsächlich auf. Der Rabe befand sich auf der linken Seite der Wand. Eine gleichgroße Kontur, nur spiegelverkehrt, befand sich auf der anderen Seite der Wand. Sicherlich ein ebensolches Tier. Mac’s Augen sprangen von einem zum anderen Bild, die er immer deutlicher erkennen konnte. Es waren sehr einfach gemalte Figuren mit verzerrten Proportionen und bedrohlichen Schenkeln, wie Brathühnchen sie haben. Und zwischen diesen beiden symmetrischen Rabeneltern befanden sich eine Vielzahl von Rabenkindern, kleine Figuren, die Mac in der Dunkelheit nicht genauer erkennen konnte, die aber in einer langen Reihe sich über den ganzen Raum zwischen Rabenvater und scheinbar Rabenmutter verbreiteten.
Mac strengte seine Auigen an, eines dieser Rabenkinder in der Dunkelheit genauer zu erkennen. Es gelang ihm nicht. Er stellte nur fest, daß die Rabenbrüder und Rabenschwestern einander nicht so ähnelten wie sich die Eltern ähnelten. Während er versuchte die Unterschiede zu deuten, hatte die Angst keine Chance sich seiner zu bemächtigen, obwohl der eigene Vater viel zu weit weg und nicht mehr zu hören war. Erneut erhellte ein greller Blitz gefolgt von einem Donnerschlag den Treppenraum. Der Augenblick genügte, dass Mac erkennen konnte, was auf den kleinen Tafeln – denn in der Tat waren die Figuren nicht auf die Wand gemalt, sondern als Keramikfliesen dort angebracht – zu finden war. Es waren Buchstaben. Keine Rabenkinder, sondern Großbuchstaben.
Mac’s Herz klopfte vor Aufregung. Rechts und links an der Wand wachten furchterregende Vogelfiguren über Buchstaben, die Mac zwar noch nicht identifizieren, aber zweifelsfrei als Buchstaben erkannt hatte. Was war da geschrieben? Welche Botschaft bewachten die Raben? Jetzt sollte rasch wieder ein Blitz den Raum erhellen, wünschte sich Mac. Doch es blieb still. Das natürliche Licht der Nacht reichte nicht aus die Buchstaben an der Wand zu erhellen.Man konnte die Botschaft – und ohne Zweifel war es eine Botschaft – nicht lesen. Es blieb still und dunkel.
Mac versuchte zu erraten, was dort an der Wand stehen könnte. Unwillkürlich dachte er an: „Mene Tekel“, aber es waren viel mehr Buchstaben, viel mehr Worte. Hatte der Text etwas mit den Raben zu tun? „Ein weißer Rabe, das ist eine große Seltenheit!“ Aber die Raben waren schwarz, rabenschwarz. In diese Überlegungen hinein drang das Rattern eines Motors. Das Dieselaggregat lief. Mac horchte, ob er den Vater kommen hören konnte. Es dauerte nicht lange, und wieder knarrte die große Portaltür, doch diesmal nur Freude bringend. „Läuft der Motor?“ rief Mac nach unten. „Haben wir Licht?“
„Wir werden’s gleich sehen!“ kam die Antwort zurück, und erwartungsvoll gierte der Junge zu den Fliesen und Tafeln hinüber, und wiederholte leise: „Gleich werde ich’s sehen!“
Lautlos ging im Treppenhaus das Licht an und schmerzte im ersten Moment die Augen, deren Pupillen in der Dunkleheit maximal geöffnet waren und nun das viele Licht so plötzlich ertragen sollten. Mac zwang sich die Augen dennoch offen zu halten; denn er wollte lesen. Die Buchstaben zwischen den Raben – tatsächlich ein assymetrisches Vogelpaar - waren:
DVCVNT VOLENTEM FATA NOLENTEM TRAHVNT
Fassungslos starrte Mac auf die Wand. Was sollte das bedeuten? Das hatte doch keinen Sinn! Sollte man es etwa rückwärts lesen, oder spiegelverkehrt? Mußten Vokale ergänzt werden? Der Vater bemerkte das Interesse seines Sohnes und schaute auch auf die Wand. „Nette Tierchen, diese Vögel, was?“
„Was soll das bedeuten, Papa? Tvecenft …“ fragte Mac seinen Vater.
„Ich weiß nicht! VOLENTEM erinnert doch an Volunteers aus dem Englischen, deiner Muttersprache, mein Sohn, auch wenn du noch nie im Lande deiner Ur-Urväter warst.“
„Und FATA – hat das was mit Fatamorgana zu tun?“ Mac überlegte: „Das wäre dann soetwas wie freiwillige Erscheinung, oder so.“
„Das können wir morgen klären“, beendete der Vater die Literaturstunde. „Jetzt versuchen wir mal zu schlafen. Die Betten sind zwar nicht bezogen, aber in den Sitzbänken sind Decken. Das muß für’s Erste genügen.“ Vater und Sohn gingen den Gang weiter in den ersten der Schlafräume und fanden die Decken wie erwartet in den Sitzbänken. „VOLENTEM … NOLENTEM … Das klingt doch fast gleich“, sinnierte Mac, als er seine Decken nahm und das Bett herrichtete. „VOLENTEM NOLENTEM VOLENTEM NOLENTEM“, sagte er leise vor sich hin.
„Nolens volens“, unterbrach sein Vater Mac’s Singsang. „Nolens volens. Das hatte ich vor tausend Jahren mal im Lateinunterricht. Soll wohl bedeuten, ob Du willst oder nicht. Also mein Junge, ab ins Bett – ob du willst oder nicht, jetzt wird geschlafen. Nolens volens!“
„Dann ist der Satz lateinisch?“ entfuhr es Mac freudig.
„Vor allen Dingen ist der Satz morgen auch noch da. Also gute Nacht, mein Sohn. Schlaf gut!“
Während der Vater einschlief und sanft zu schnarchen begann, gingen Mac die Worte und Bedeutungen und eine Frage beständig durch den Kopf. „Welche Botschaft ist so wichtig, daß man eine ganze Wand mit 33 Buchstaben-Fliesen beklebt? Wie lautet das Geheimnis?“
Während der Vater der erste war, dessen Seele in diesem Haus den Schlaf des Gerechten schlief, schlich sein Sohn aus dem Bett und aus dem Zimmer hinaus auf den Flur zur Treppe hinauf und betrachtete sich abermals die Fliesen. Nach einer Weile fiel ihm auf, daß das „V“ in Volentem ein bißchen anders war als die anderen „V“ in den Worten, die von den Raben beschützt wurden. Und sogleich fiel ihm ein, daß früher das „U“ wie das „V“ geschrieben wurde. Also lautete der Satz: „Ducunt volentem fata, nolentem trahunt“, und es war zweifelsfrei Latein, die Sprache des römischen Reiches.
Instinktiv ging Mac in den großen Saal, in dem sich eine vollständige Wand mit Büchern befand. Auch in diesem Raum fanden sich Raben wie draußen im Treppensaal auf der gegenüberliegenden Seite. Mac suchte auf den Buchrücken nach etwas Lateinischem oder so ähnlich. Er wußte selbst nicht genau, was er suchte, aber er ließ sich von seinem instiktiven Geschick führen, ohne lange darüber nachzudenken. Es hatte ein wenig Übernatürliches, fast schon Religiöses. Mac ließ es geschehen und sperrte sich nicht dagegen. Er war kein Kind mehr, sondern ein junger Mann. Er war nicht trotzig, sondern neugierig. Er war nicht widerspenstig, sondern willig.
Mehrere Buchrücken berührte er, während er die Titel las. Die Erhabenheit der Buchstaben unter seinen Fingerspitzen faszinierte ihn. Mac liebte Bücher. Ein Buch des Philosophen Seneca nahm er in die Hand und schlug es planlos auf. „Den Willigen führt das Geschick“, las er darin, „den Störrischen schleift es mit - Ducunt volentem fata, nolentem trahunt.“
Viele Jahre sind seitdem vergangen. Der Vater hat auch seinen letzten Schlaf im Atalaya, dem maurischen Schloß 40 km südlich von Lissabon, inmitten der Korkeichen- und Olivenbaumhaine getan und seine Entscheidung nie bereut. Und Mac, sein Sohn, wird nie die Nacht vergessen, in der er zum ersten Mal in seinem Leben seinem Schicksal erlaubte, die Führung an seiner Stelle zu übernehmen.
Tag der Veröffentlichung: 12.05.2009
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