Portugal
Portugal hat als einziges Mitglied der Europäischen Union die Sommerzeit nicht eingeführt. Dieses rebellenhafte Benehmen machte mir die Portugiesen noch sympathischer als sie mir ohnehin schon waren. Wenn es in Portugal 20 Uhr ist, dann ist es in Deutschland bereits 21 Uhr. Die Hauptpost in Setúbal, die correios
, schließt bereits um 18 Uhr 30. Früher, als Portugal noch nicht zur EU gehörte, konnte man getrost ein paar Minuten später kommen, und bekam immer noch Briefmarken oder Postpäckchen. Früher hätte man auch Telefonkarten bekommen; die gibt es aber erst seit kurzem zu kaufen - allerdings nur, wenn man pünktlich bis 18 Uhr 30 die Hauptpost erreicht hat.
Ich kam ein oder zwei Minuten zu spät. In den Schalterräumen war noch lebhafter Kundenbetrieb, doch der freundliche Mitarbeiter der correios de Setúbal ließ mich nicht mehr eintreten. Ich bettelte: “Faz favor, senhor. Um minute, faz favor. Quero um crediphone?” Er ließ sich nicht erweichen. Es kamen zwar noch Leute aus der Post hinaus, aber ich wurde nicht mehr eingelassen.
Die Tatsache, daß außer mir niemand anderes versuchte, die Bank noch zu betreten, der Mitarbeiter und ich also völlig alleine am Eingang standen, brachte mich auf zwei Gedanken. Erstens: Der Mitarbeiter hatte es eindeutig auf ein Bestechungsgeld abgesehen, von dessen Höhe es nun abhing, ob ich noch eine Telefonkarte bekam oder nicht. Oder zweitens: Jeder Versuch, nach 18 Uhr 30 in die Post zu gelangen, war so zwecklos, daß es sogar für die der Landessprache mächtigen Portugiesen pure Zeitverschwendung war, jetzt noch in Richtung Post zu gehen.
Da ich nicht Portugiesisch spreche, außer faz favor. muito obrigado und nao falare portugues, konnte ich weder meine erste Idee testen, noch den Wahrheitsgehalt von Möglichkeit Nummer zwei überprüfen. Ich mußte mich damit abfinden, daß ich heute wohl nicht mehr telefonieren konnte und verfluchte den rasanten Fortschritt Portugals in der Europäischen Union, der aus Portugal ein Land von Telefonkartenzellen gemacht hatte. Nicht nur das: Der europäische Gedanke hat wahrscheinlich auch die Menschen in diesem westlichsten Zipfel Europas schon so sehr vergiftet, daß die Freundlichkeit der Portugiesen der allgemeinen Prinzipienreiterei der meisten restlichen EU-Bewohner weichen mußte. Einen lebendigen Beweis dieser Wandlung hatte ich in Gestalt des Mitarbeiters der portugiesischen Post aktuell vor mir stehen. Nicht nur aus diesem Grund war, bin und bleibe ich ein EU-Gegner!
Ich brauchte drei Tage, drei ganze Tage, um diese Gelegenheit zu einem Telefonat nach Deutschland zu bekommen. Denn ich war mit meiner Familie hier in Urlaub, und im Urlaub ist es fast unmöglich etwas zu unternehmen, von dem die Familie, insbesondere die Ehefrau, nichts mitbekommen soll. Jetzt war die Gelegenheit da, aber mir fehlte die Telefonkarte. Was gäbe ich für ein gutes altes Münztelefon?
Während ich enttäuscht zurück in Richtung unserer Ferienwohnung fuhr, passierte ich auf der Luisa Todi das Hotel Esperanca.
“Hotel”, schoß es mir durch den Kopf. In einem Hotel war es doch das natürlichste der Welt, daß man ein Auslandstelefonat führen kann, und anschließend in echtem Geld an der Rezeption bezahlt.
Ich suchte einen Parkplatz - ein Unternehmen, daß im neuen Portugal der EU zu einer widerlichen Angelegenheit geworden ist. Denn überall lauern jetzt junge Leute, die sich mitten auf die Straße stellen, um vorbeikommenden Autofahrern freie Parklücken zu zeigen, die der Suchende sowieso gefunden hätte. Da diese selbsternannten Parkplatzwächter aber jeden vorbeikommenden Autofahrer stoppen und in die freie Lücke einwinken wollen, bricht der gesamte Verkehr weitestgehend zusammen und eine endlose Schlange Nicht-Parkplatz-Suchender quält sich durch die Straßen. Benötigt tatsächlich jemand einen Parkplatz, so wie ich gerade, dann muß er in dieser Schlange ausharren, bis auch er an der Parklücke vorbeikommt und eingewiesen werden kann. Der eigentlich überflüssige Parkplatzeinweiser wartet nun mit offener Hand, bis sein Kunde aus dem Wagen steigt und macht mittels Gestik und Gesichtsausdruck deutlich, daß es besser wäre jetzt eine gewisse Summe in die angebotene Handfläche zu legen. Gelegentlich wird dabei auch das leere Versprechen gegeben, daß man in der Zwischenzeit auf den Wagen aufpaßt. In Wirklichkeit ist dies aber nur die versteckte Drohung, daß das Auto garantiert einen platten Reifen oder gar einen erheblichen Lackschaden aufweisen wird, falls man nicht oder zu wenig Bares springen läßt.
Ich wartete also, bis vor meinem Auto ein solcher Parkplatzgeier auftauchen würde und legte bereits 100 Escudos Schutzgeld bereit. Stockend zuckelte der Verkehr durch die Luisa Todi. Ich hoffte inständig, daß ich im Hotel Esperanca telefonieren konnte; denn ich hatte Sanne schon seit über zwei Wochen nicht mehr gesehen, gehört, gesprochen, gerochen, geküßt, geliebt ... Sanne! Seit über zwei Wochen schon war ich ohne Sanne. Entsprechend elend fühlte ich mich jetzt.
Der Straßendesperado konnte gerade noch vor meinem Auto wegspringen, und ich riß das Steuer nach links herum, um die Parklücke, die ich beinahe schon verpaßt hatte, doch noch einzunehmen. Hinter mir hupten die Portugiesen, und der kleine Ganove baute sich bedrohlich neben der Fahrertür auf. Gottseidank hatte ich einen Parkplatz in der Nähe des Hotels. Ich zog rasch einen 500-Escudos-Schein aus dem Portemonnaie und zeigte dem üblen Gesellen den Schein. Schlagartig verwandelte sich dessen Drohgebärde, und es hätte nicht viel gefehlt, daß er einen Knicks gemacht hätte, als ich ausstieg und ihm mit dreimaligen Obrigado den Geldschein übergab. “Paß nur gut auf mein Auto auf!” rief ich ihm freundlich zu, wohlwissend, daß er mich zwar nicht verstehen konnte, aber anhand der Stimmlage positiv beeindruckt sein sollte. Er lachte zurück: “Si, si senhor! Si, si.”
Die Rezeption erreichte man, indem man am Zeitungsladen und dem Friseur vorbei durch das Restaurant des Hotels ging. Es herrschte Hochbetrieb mit der entsprechenden Lärmfrequenz. Egal. Ich wollte ja nur telefonieren und fragte den Chef an der Rezeption: “Do you speak english?”
Der Hotelangestellte antwortete in bestem Ruhrpottdeutsch: “Sie könne’ mit mir deutsch spreche’. Ich hab’ zwölf Jahr’ in Beckum maloocht.”
“Warum haben Gastarbeiter nie in Deutschland gewohnt oder gelebt, sondern immer nur gearbeitet?” fragte ich mich selbst. Immer reden sie von in Deutschland gearbeitet. Das sollte mich nicht weiter kümmern. Ich war froh, daß der Mann mich verstand, und ich ihm ohne größere Anstrengungen sagen konnte: “Ich möchte nach Deutschland telefonieren. Kann ich das hier vom Hotel aus machen?”
“Na klar könne’ Sie telefoniere’. Da drübe’ in der rechte’ Zelle. Sie müsse’ 0049 vorwähle’.” Der Mann drückte einen Knopf an seinem Tresen und zeigte mit der anderen Hand zur Telefonzelle hinter mir.
“Ja danke, das weiß ich”, sprach’s und verschwand in der Zelle. Ich wählte die Auslandsvorwahl und Sanne’s Nummer. Besetzt. Nochmal. Wieder besetzt. Und nochmal. Und wieder besetzt. So zog sich das fünf Minuten hin, bis ich entnervt an die Rezeption ging und dem Mann mein Leid klagte.
“Ja, das ist normal um diese Zeit,” sagte er und erklärte: “In Deutschland habe’ sie jetzt nämlich gerade 20 Uhr, und da wird das telefoniere’ billiger. Da breche’ alle Leitunge’ zusamme’.”
Ich schaute ihn ungläubig an. Ich wollte doch nach Deutschland hinein telefonieren, und nicht aus Deutschland hinaus. Der Mann machte mir aber einen Vorschlag: “Trinke’ Sie doch ein Kaffeeche. In zehn Minute’ ist wieder alles normal.”
Also ging ich ins Restaurant, bestellte einen Cafe con lait und setzte mich an einen kleinen Tisch auf den Bürgersteig vor das Hotel Esperanza.
Ich liebe Kaffee mit viel Milch und viel Zucker, wobei ich den Zucker in den letzten Monaten durch Süßstoff ersetzt habe. Und ich liebe Straßen-Cafes. Seit ich Sanne kenne habe ich unzählige Stunden mit ihr in Straßen-Cafes verbracht. Sanne - ich denke bei jeder Gelegenheit an sie. Selbst wenn ich schlafe, dann denke ich an Sanne, und sie wird zum Mittelpunkt meiner Träume. Sanne - sie ist der Mittelpunkt meines Lebens geworden. Sanne - ich denke an Sanne, also bin ich. Ich liebe Milchkaffee, Straßen-Cafes und Sanne.
Ich weiß ganz genau, wie sie jetzt da sitzen würde, wie sie gekleidet wäre, wie sie sprechen, lachen, riechen würde, und wie sie ihren Cappucino trinken würde. Und so sitze ich im Straßen-Cafe zum ersten Mal ohne Sanne, und ich denke daran, wie Sanne mich eroberte.
Texte: Nachdruck und Veröffentlichung nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
"Portugal" ist der Epilog zu meinem Buch SANNE. Vorab veröffentlicht bei BookRix ist das Kapitel 1: "Das Boot".
Das Buch "Sanne" ist nur bedingt Bookrix-fähig, da es 150 Seiten hat. Über meine FL-Liste kann es gelesen werden.