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Das Boot



Das Boot war zehn Meter lang. Ich sage dies gleich am Anfang, weil es wichtig ist. Zehn Meter lang und die übliche Breite, zwei Kojen- und eine Kajüte und ein großes Deck mit Küche, Eßtisch und natürlich der Steuerbank. Weiß, bullig und langsam. Wir verbrachten drei ganze Tage und Nächte auf diesem Boot, und von zwei Tagen nur einen Teil. Das Boot war gerade ausreichend für acht Personen; wir waren neun. Es ist für mich immer noch erstaunlich, daß bei dieser Enge kein Streit zutage kam. Besonders weil wir noch nie so lange und so eng beieinander waren; wir waren ja keine Familie oder auch keine Freunde, sondern Konkurrenten, nämlich Arbeitskollegen, sechs Männer, zwei Frauen und Nick, der sechsjährige Sohn von Sanne. Wir waren alle im selben Boot.
Ohne Nick wäre das alles nicht passiert. Nick war das Symbol dafür, daß eigentlich nichts hätte passieren dürfen. Nick war so etwas wie ein Schutzschild, und gleichzeitig war er auch der Auslöser, daß es passierte; denn zuerst verlor ich jede Distanz zu diesem Kind, der auch mein Sohn hätte sein können, und dann zu seiner Mutter, die auch meine Frau hätte sein können. Ich spürte es ganz schnell; aber da war es schon zu spät. Auslöser waren dieses Boot, Nick und die Enge.
Der Enge untereinander konnte man nicht entweichen. Jeder war praktisch stets in der Gegenwart mindestens eines anderen. Selbst im Bett war man nicht alleine; aber streng getrennt zwischen Männern und Frauen. Diese Enge untereinander, der man nicht entweichen konnte, wurde zum Schluß eine Last für mich. Denn in Gedanken wollte ich Sanne haben - ohne Distanz, ohne die anderen, ohne Nick, sondern nur wir zwei.
Ich spielte mit Nick. Nicht eine Sekunde hatte ich daran gedacht, eine Vaterrolle zu ihm einzunehmen. Ich hatte Freude mit Nick, und hatte den Jungen gerne bei mir. Ich nahm ihn zum Einkaufen und auf den Spielplatz mit, und spielte mit ihm. Was um alles in der Welt hatte nur bewirkt und bewirkt noch immer, daß es bei Sanne kein Spiel ist. Dabei fing alles sehr spielerisch an, an diesem zweiten Tag bei herrlichem Sonnenschein auf dem Oberdeck.
Sanne, unser Chef Georg, Svenja, die jüngste Kollegin in unserem Team und ich tranken Rotwein, erzählten, lachten und sonnten uns. Ab und zu streiften unsere Arme aneinander. Ich genoß diese Berührungen und unser aller Lachen. Ich genoß es, in dieser Enge miteinander zu sitzen, Rotwein zu trinken und es sich gut gehen zu lassen. Ich genoß die Täler, durch die wir mit unserem Boot langsam tuckerten und freute mich über jede Berührung, die einfach geschehen mußte, solange wir auf diesem Boot waren. Wir alle genossen es, hier zu sein.
Vielleicht sechzig oder hundert Minuten, vielleicht auch länger sah ich Sanne ununterbrochen von der Seite. Wann immer ich es wollte, konnte ich sie anschauen und berühren. Spielerisch wickelte ich ihre Haare um meine Finger, und sie ließ sich das gefallen. Spielerisch strich ich über ihren Rücken und andeutungsweise massierte ich sogar ihren Nacken. Kein Wort und kein Blick begleiteten die Bewegungen meiner Hand, und ich wartete vergeblich darauf, daß sie ein Wohlbehagen darüber oder eine Ablehnung signalisierte. Sie erzählte die selben Dinge wie alle anderen auch; nämlich über unsere zu Hause gebliebenen Mitarbeiter, über Einsätze unseres Kriminalkommissariats, indem ich jetzt schon mehr als ein Jahr mitarbeitete, über das Boot und die Täler, durch die wir fuhren, und über das große Glück, hier auf diesem Kanal zu sein. Der einzige Satz, der mich elektrisierte, war, daß sie sich nicht nackt und auch nicht ohne Oberteil auf dem Boot sonnen würde.
Ich war froh darüber, daß sie das nicht tun würde. Denn in Gedanken hatte ich sie bereits allein für mich haben wollen. Es hätte mich gequält, wenn Georg oder ein anderer der Kollegen sie gesehen hätte oder auch berühren würde. Ich glaube, daß der erotischste Moment der ganzen Fahrt dieser Satz war. So als ob sie unausgesprochen sagen würde: Das tue ich nur für dich. Vielleicht und wahrscheinlich sogar hatte sie sich nichts dabei gedacht, als sie davon sprach, sich nicht nackt zu sonnen. Aber dieser Satz verursachte das Chaos in meinem Gefühlsleben, das bis heute noch andauert.
Wir legten an und Peppo, unser Alterskommissar, machte die Pfanne scharf. Peppo war so etwas wie die Mutter der Kompanie. Er kochte und sorgte gerne für uns. Einmal hatte Sanne über Peppo gesagt, daß sie so einen Vater gerne gehabt hätte. Schon vor einiger Zeit hatte sie mir einiges über ihre Familie und über ihren Ex-Mann erzählt, und ich wünschte ihr von ganzen Herzen, daß sie endlich an einen richtigen Mann geraten würde. Das war aber lange vor dem Boot und lange vor diesem Tag auf dem Oberdeck unter der Sonne und an ihrer Seite. Die Vorstellung, daß ich ein Mann in ihrem Leben sein könnte, beglückte mich und quälte mich gleichzeitig im höchsten Maße; denn ich liebe eine andere Frau und habe eigene Kinder. Das, was ich Sanne früher ganz ehrlich gewünscht habe, nämlich einen Mann, und keinen Versager und Betrüger und Egoisten und Dummkopf, das war ich im gleichen Moment in Person selbst. Ich war es um so mehr selbst, weil ich genau weiß, was passieren wird. Ich kann niemals ehrlich zu ihr sagen: Ich liebe dich! Ganz einfach weil ich meine eigene Frau viel zu sehr liebe und Erfüllung dort habe. Solche Erfüllung und Harmonie, wie ich sie auch Sanne früher gewünscht habe und es ihr immer noch wünsche.
Das Essen an Bord war kräftig und gut. Ich trank noch etwas Rotwein und versuchte von den anderen zu flüchten. Erst ein Spaziergang, und dann sagte ich, daß ich wegen des Rotweins etwas ausruhen müßte. Ich ging in die Kabine, die ich mir nachts mit Georg teilte, und nicht mit Sanne, und begann zu träumen. Ich träumte davon, Sanne verwöhnen zu können. Ich träumte davon, sie glücklich zu machen und ihr zu geben, was ihr so sehr fehlte. Ich träumte in alledem sehr sauber und bei vollem Bewußtsein, und meine Träume waren unerfüllbare, ferne Wünsche, die spätestens an dem Tag beendet sein würden, wenn ich wieder bei meiner Familie sein würde. Und die Enge, in der wir hier auf diesem Boot zusammen waren, bedeutete, daß diese Träume niemals in Erfüllung gehen würden. Das höchste der Gefühle würden im wahrsten Sinne des Wortes nicht ganz zufällige Berührungen und Striche auf dem Oberdeck sein - falls morgen die Sonne wieder scheint, und falls Sanne mir nicht klar zu verstehen gibt, daß sie das wegen der Kollegen nicht will.
Ich spürte auf eine unerklärliche und dennoch gewisse Weise, daß sie meine Gedanken kannte und bereit war, den Schmerz zu ertragen, den ihr meine Hände bereiteten. Denn dadurch, daß sie gar nicht auf das Berühren und das Streicheln reagierte, zeigte sie mir, das sie noch nicht entschieden war. Und das konnte nur bedeuten, daß sie auch meine Wünsche respektierte, obwohl es da eine Frau und noch ein paar Hindernisse gab.
Bevor ich diese Gedankenspiele in meiner Kajüte zu Ende bringen konnte, stand Sanne plötzlich in diesem winzigen Raum und schaute mich an. Ich konnte sie an ihren Händen und an der Haaren ergreifen und zu mir hinunter ziehen. Sie lächelte. Ich durfte nichts sagen, denn draußen waren die Kollegen. Sie beugte sich ganz zu mir hinunter und küßte mich innig und leidenschaftlich, und flüsterte solche Sachen, wie daß das ganz unmöglich wäre und das es ihr Untergang sein würde. Sie sagte all das, was in einem Mann das Gefühl erzeugt, ein richtiger Mann zu sein. Und sie küßte mich und ließ sich leidenschaftlich küssen und streicheln. Plötzlich rief sie laut, daß alle es hören mußten: “Komm jetzt raus und setzt dich zu uns. Schlafen kannst du zu Hause. Es ist auch noch Rotwein da”. Ich schüttelte langsam neinsagend den Kopf und freute mich an ihrem Lächeln und an ihrer Verzweiflung, weil jeden Moment ein Kollege oder gar Georg, unser personifiziertes schlechtes Gewissen, kommen könnte und uns so sehen würde. Und dann flüsterte sie zu mir: “Komm jetzt! Die kriegen das doch alle mit. Ich bin geliefert, wenn die etwas mitbekommen.”
Ich blieb liegen, drehte mich auf den Bauch, und Sanne ging mit irgendeiner fröhlich geschauspielerten Bemerkung zu den anderen hinaus. Kurz darauf kam sie mit einem Wasserbecher zurück und drohte, mich damit naß zu machen. Also stieg ich auf, ging mir ihr zu den anderen, saß neben ihr, berührte sie zufällig und trank Rotwein.
Es gab auf diesem Ausflug mit dem Boot nicht mehr eine einzige Gelegenheit, wo wir länger als drei Minuten alleine waren. Ich investierte meine ganze Vorstellungskraft aber in diese winzigen Zeitfetzen und sehnte mich danach, mit Sanne alleine zu sein. Ich telefonierte nicht ein einziges Mal nach zu Hause, ich verdrängte jeden Gedanken an alle Vernunft, und ich konzentrierte meine ganze Kraft auf die Momente mit Sanne.
Natürlich bemerkten die anderen unsere Blicke und zufälligen Streicheleinheiten. Natürlich wußten sie, warum ich nachts nicht mehr schlafen konnte und stattdessen oben am Steuer saß - in der unausgesprochenen Hoffnung, daß auch sie sich aus ihrer Kajüte stehlen und zu mir setzen würde. Wir brauchten nicht zu sprechen oder zu flüstern. Ich hatte nur das Bedürfnis, ihr nah zu sein und sie zu streicheln und zu liebkosen. Aber sie war stärker als dieses Gefühl und kam nicht.
Die Abfahrt ließ sich nicht aufschieben. Ich versuchte an diesem Morgen unbefangen und vernünftig zu sein. Ich ging sogar ans Telefon und log, daß ich mich auf zu Hause freuen würde. Eine erste Lüge, denn meine Freude war geteilt. Ich versuchte sogar Sanne aus dem Weg zu gehen - es ging nicht. Wir waren ein bißchen kühler, ein bißchen besonnener, ein bißchen in der Vorahnung dessen, was noch passieren sollte.
Sanne hätte ein Ende an dieser Stelle still akzeptiert und ertragen. Mit dem Ende der Bootsfahrt, hätte man sagen können: ein Flirt, Ende. Man hätte sich gegenseitig belogen, in aller Freundschaft, versteht sich, und hätte versucht da weiterzumachen, wo die Bootsfahrt begonnen hatte. Auf der Arbeit ist ja auch nicht diese Enge, dieses Nicht-Ausweichen-Können. Man hätte gesagt, daß der Rotwein daran schuld war. Ich hätte es auch gesagt, aber ich weiß ja, daß es eine Lüge ist. Besser diese eine Lüge, als jetzt eine ganze Kette eiserner Lügen, die zusammenhalten müssen, was niemals halten kann.
Ich suche nach Motiven, nach Gründen und Erklärungen. Das Boot ist ein Grund, der Junge, die Konstellation, daß es ein absolutes Tabu ist, eine Kollegin anzubaggern: Jeder hat sich daran gehalten, obwohl ich annehme, daß jeder in seinen Gedanken genauso gehandelt hat, wie ich es getan habe; nämlich die Enge, die Romantik, den Rotwein und die Gelegenheit ausgenutzt hat, und sich vorgestellt hat .... Nur ich habe es wirklich getan - viel schlimmer noch: Ich habe es so gewollt!
Und Sanne auch! Für sie bedeutete es mehr, als ich es ahnen könnte, hat sie mir später gesagt.
Rein äußerlich war es nur ein Flirt, völlig harmlos und unschuldig. Eigentlich ist überhaupt nichts passiert, für das man sich schämen müßte. Wir haben nicht miteinander geschlafen, wir haben eigentlich nichts weiter gemacht, als ich es mir von meiner Tochter wünsche, wenn sie, die gerade 16 Jahre alt wird, bald ihren ersten Freund hat. Heimlich geflirtet, heimlich geküßt, vor den anderen geschauspielert. Doch wir haben etwas gemacht, was viel gefährlicher als ein Seitensprung gewesen wäre; wir beide gaben unsere Gefühle preis.
Wir haben etwas ausgelöst, das wir so kaum kontrollieren können. Ich würde mich schämen, wenn ich berechnend gewesen wäre. Ich würde mich noch mehr schämen, wenn Sanne alles berechnet hätte. Aber das war ja nicht der Fall. Und deswegen, so steht die Sache nun einmal, will ich nicht anhalten, sondern weiter taumeln in diesem Zustand. Solange ich dieses Kribbeln spüre, möchte ich nicht anhalten. Das ist gemein, das ist unverantwortlich. Aber so ist es nun einmal.
Den Preis für alledem wird Sanne bezahlen müssen. Und jetzt, in diesem Moment, weiß ich plötzlich, was der eigentliche Auslöser für unser Brennen ist: Sanne akzeptiert diesen Preis! Während ich nur mit einem kleinen Betrug und einem bißchen schlechten Gewissen bezahlen könnte, weiß Sanne ganz genau und akzeptiert, daß sie mit Leiden bezahlen muß. Denn die Tatsache, daß ich niemals Frau und Kinder verlassen werde, selbst wenn meine Gedanken und Gefühle morgen in der BILD-Zeitung oder auf andere schmutzige Weise in aller Welt veröffentlicht sind, steht im krassen Gegensatz zu der völligen Hingabe und Leidenschaft, mit der Sanne in diese Beziehung gehen würde. Was für eine Kostbarkeit, die scheinbar niemand erkennt! Wie blind können sogenannte Männer nur sein, an einer solchen Frau achtlos vorbeizugehen? Instinktiv habe ich es schon vom ersten Tag unseres Kennens an verspürt und bin dagegen mit Härte angegangen..... Nur die Enge des Bootes, und die Tage in diesen Tälern und der Spaziergang am See, und sicherlich auch der Rotwein haben meine Gefühle zu sehr verstärkt. Ich habe nicht gespielt! Ich habe etwas geschehen lassen, daß ich nicht bereuen will, obwohl es nicht sein darf. Ich sitze noch immer im gleichen Boot, in der gleichen Enge, bei der gleichen Frau, die meine ganzen Gedanken fesselt.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.04.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Sanne ...

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