Der gefundene Großvater
Der alte Mann stand am Eingang zum Friedhof seiner Heimatgemeinde und blickte ein wenig ratlos herum. Es waren viele Jahre, ja Jahrzehnte vergangen, dass er das letzte Mal hier war. Natürlich hatte sich viel verändert. Das Grab seiner Eltern war ganz am anderen Ende des Friedhofes, an der alten Friedhofsmauer. Er ging durch die Reihen der alten und neuen Gräber, las bekannte Namen von altern Familien hier im Ort, aber auch sehr viele neue. Hin und wieder sah er ein Lichtlein flackern, oder die neumodischen neuen Kerzen mit Batterie ein wenig zittern.
Als er endlich am Grab ankam, legte er den Blumenstrauß darauf und nahm Platz auf der Bank vor dem Grab. Er sprach ein stilles Gebet. Dann blieb er ruhig sitzen.
Als er vor vielen Jahren neugierig und abenteuerlustig in die Ferne zog, Ozeane überquerte und viele Menschen kennen lernte, wusste er noch nicht, dass er seine Eltern nie wiedersehen wird. Ihr kurz aufeinander folgender Tod traf ihm tief und er bereute es. Schriftlich, telefonisch und per unzähligen Mails organisierte er das Begräbnis und überwies seitdem regelmäßig die Kosten für die Grabpflege.
Nun, den Tod vor Augen ist er zurückgekommen. Er braucht eine neue Niere und will das in der alten Heimat machen lassen, um im Falle, dass es schiefgeht, neben seinen Eltern, hier am alten Friedhof begraben zu werden, das ist sein letzter Wunsch! Denn er hat dort in der Ferne irgendwann auch seine kleine Familie verloren und begraben, also würde dort keiner an seinem Grabe stehen, wenn es so weit ist. Er nahm sich vor, noch bevor er wieder den Friedhof verlässt, mit dem alten Pfarrer sprechen. Doch nun blieb er noch eine Weile sitzen und hörte der Stille zu, die nur durch leises Vogelgezwitscher und den fernen Geräuschen des Verkehrs unterbrochen wurde. Außer ihm war kein Mensch hier, alles schien einsam und friedlich zu sein.
Doch da bemerkte er ihn.
Ein kleiner Bub, vielleicht so sieben bis acht Jahre ging zwischen den Gräbern herum. Er bemerkte, dass er an einigen Gräber stehen blieb, sich bei zwei oder dreien sogar auf das Nebengrab setzte und zu irgendjemand sprach. Was er sprach konnte der alte Mann nicht hören. Bei einem Grab blieb er länger und las offenbar aus einem kleinen mitgebrachten Büchlein etwas vor. Einmal lachte er sogar. Der alte Mann beschloss, ihn ein wenig zu beobachten. Das Kind holte sogar einmal die Gießkanne von der Wasserstelle und begoss damit ein Grab. Dann ging er wieder.
Er lieb noch eine Weile sitzen, dann ging er hinüber zum Pfarrhaus, das den Friedhof an einer Seite begrenzte.
Der greise Pfarrer saß auf der kleinen Bank vor dem Haus und als er ihn kommen sah, stand er auf und kam ihm entgegen.
„Gregor, mein lieber Freund, schön Dich endlich wiederzusehen!“, sie umarmten sich und Gregor setzte sich neben ihm auf die Bank. Sie waren einige Minuten ruhig, die Rührung übermannte sie.
„Ach Pater Pelegrin, ich bin unendlich glücklich, dass ich doch wieder einmal in der alten Heimat bin, wenn auch der Grund eher bedrohlich ist! In einigen Tagen werde ich unter dem Messer liegen und Gottes Gnade und der Kunst des Arztes ausgeliefert sein. Doch so Gott es will, werden wir uns dann öfter sehen. Ich werde hierbleiben, werde nicht wieder zurückgehen!“
Pater Pelegrin lächelte gütig und deutete ein Kreuz über dem Kopf des alten Freundes an. Sie besprachen noch einige offene Fragen, der Grabstein musste neuerlich befestigt sein und auch der Umfassungsstein. Pater Pelegrin versprach sich darum zu kümmern.
Sie saßen noch bis zum Einbruch der Dunkelheit zusammen, sie hatten sich so viel zu erzählen. Pater Pelegrin versprach, ihn im Krankenhaus zu besuchen.
Doch bevor sie sich trennten, schilderte Gregor noch seine Beobachtung von heute Nachmittag.
„Ja, das ist ein tragischer Fall. Das ist der kleine Bastian. Vor fünf Jahren hatte er seine Mutter verloren, Vater gab es nie, dann wuchs er bei seiner Großmutter auf, doch auch die ist nun gestorben. Bastian war und ist ein sehr stilles Kind. Irgendein Arzt stellte sogar fest, dass er ein wenig autistisch ist. Er hat immer sehr wenig gesprochen und war immer eher introvertiert. Er kam nach dem Tode seiner Großmutter dann ins Kinderheim und seither spricht er fast kein Wort mehr“
„Nein, nein, er spricht schon, ich dachte vorerst, dass da noch ein Kind sein musste, er ging zwischen den Gräbern herum und sprach ununterbrochen!“, wandt Gregor ein.
„Ja und Nein! Er spricht nur mit den Toten am Friedhof und mit Gott, wie er mir einmal im Beichtstuhl verriet. Er kommt manches Mal in den Beichtstuhl, sitzt dann da, ohne was zu sagen und geht wieder. Hin und wieder sagt er einen Satz“. – „Ja, kann er denn so immer allein vom Kinderheim weggehen, fällt das niemand auf?“
„Doch natürlich; doch sie wissen, wohin er geht und rufen dann immer bei mir an und ich habe ein Auge auf ihn und rufe dann zurück, wenn er wieder den Friedhof verlässt. So haben wir ihn unter Kontrolle“
„Ja aber, wieso macht er das?“ fragte Gregor erstaunt.
„Er sucht einen Großvater! Ein Großvater ist alles, was er sich wünscht! Seine Großmutter sagte immer, wenn er nach seinem Großvater fragte, dass er schon viele Jahre am Friedhof ist. Leider ist dieser aber nie aus dem Krieg zurückgekommen, es gibt also gar kein Grab! Und so sucht er ihn, fragt immer an den Gräber, ob sie wissen, wo er denn sein kann. Da er keine Antwort bekommt, denkt es sich offenbar die Antworten aus. Er erzählt ihnen Geschichten, erzählt ihnen von der Schule und verspricht immer wieder, dass er wiederkommt!“, lächelte Pater Pelegrin.
Gregor schüttelte den Kopf.
„Das ist ja erschütternd, Aber das kann ja so nicht weitergehen. Gibt es denn niemand, der ihn aufnimmt, keine Familie, die vielleicht auch einen Großvater hat?“
„Nein, niemand will ein offensichtlich gestörtes Kind, er will aber auch nirgends hin, er hofft, dass er seinen Großvater finden wird und dass dieser so einfach aus dem Grabe auferstehen wird“ seufzte Pater Pelegrin.
Noch bis spät in die Nacht lag Gregor in dem kleinen Hotel in seinem Bett und dachte an den Jungen.
Er hatte so ein kleines Gesicht, so große traurige Augen, obwohl es aussichtslos erscheinen musste, dass eines Tages dieser imaginäre Großvater auferstehen wird, gibt er nicht auf! Ein zäher kleiner Kerl!
Am nächsten Nachmittag macht er sich wieder auf den Weg zum Friedhof, in der Hoffnung, dass er ihn wiedersehen wird. Er hatte einen Plan.
Und tatsächlich, am späteren Nachmittag kam der Junge wieder. Er setzte sich vorerst auf einen der Bänke und verspeiste in aller Ruhe ein belegtes Brot, dann wischt er sich seine Finger in der Hose ab und begann seinen Rundgang. Er zupfte hier und dort ein wenig Unkraut weg, schmiss verwelkte Blumen weg und goss die eine oder andere Grünfläche. Dazwischen sprach er ununterbrochen, lachte sogar ein wenig.
Als er zur Bank kam, wo Gregor saß stutzte er. Er blieb stehen und dreht sich um, als wollte er weggehen. Doch offensichtlich übermannte ihn die Neugier, er kam näher.
„Wer sind Sie?“, fragte er und seine Stimme war hell, aber doch ein wenig streng.
„Ich bin ein alter Mann, das da ist mein Familiengrab!“ er deute auf das Grab seiner Eltern, „es ist auch mein Grab!“
Bastian stutzte einen Moment.
„Wenn das Ihr Grab ist, warum sitzen Sie dann hier auf der Bank?“, seine großen Augen schienen ratlos.
„Ich glaube, Gott hat mir noch eine Chance gegeben. Vielleicht darf ich weiterleben!“, sagte Gregor.
Bastian hielt den Kopf schief, Zweifel sah man in seinen Augen.
„Sind Sie ein Großvater?“, platzte es dann aus ihm heraus.
„Nein, wäre aber gerne einer, aber leider habe ich keinen Enkel, oder ich weiß es nicht genau!“, log er.
Bastian setzte sich nun neben ihm auf die Bank. Er blickte hinauf zu dem großen alten Mann und etwas wie Hoffnung und Freude war in seinem Blick. Seine kleine Hand, warm und ein wenig zittrig legte sich in seine alte kalte Hand. Diese Berührung ging wie ein Stromschlag durch den Körper des alten Mannes.
„Vielleicht bin ich Dein Enkel? Ich suche ja einen Großvater und Großmutter hat immer gesagt, dass Du da am Friedhof bist! Geh ‘nicht wieder zurück, in Dein Familiengrab, ich würde Dich brauchen!“
Sie gingen dann Hand in Hand zum alten Pfarrhaus, zu Pater Pelegrin.
„Pater Pelegrin, ich habe ihn gefunden!“ rief der Kleine schon von Weitem!
In dieser Nacht lag nicht nur Gregor schlaflos und glücklich in seinem Bett, sondern auch der kleine Bastian.
Gregor und Pater Pelegrin besprachen in den nächsten Tagen, wie es weitergehen soll, der OP-Termin rückte immer näher. Ein Notar wurde zugezogen und einiges amtlich bestätigt. Aufgrund der finanziell sehr fundierten Lage des alten Mannes aus Übersee war es ein Leichtes, die Adoption in die Wege zu leiten.
Nun musste nur noch die OP gelingen, Gott seinen Segen geben und es werden zwei Menschen sehr glücklich sein.
Nach einer Woche im Krankenhaus konnte man aufatmen, die Krisis war überstanden. Bastian war der erste, außer Pater Pelegrin, der mit einem riesigen Blumenstrauß vor seinem Zimmer stand und alle Leute anstrahlte, die vorbeikamen.
„Wo willst Du denn hin?“, fragte ihn die Stationsschwester.
Bastian strahlte sie an.
„Zu meinem Großvater!“, sagte Bastian, „ich habe ihm vom Friedhof geholt!“
„Ja, das kannst Du laut sagen, es ist fast ein Wunder!“, sagte diese und ging weiter.
Die kleine alte Dame trippelt langsam den Weg zum Bahnhof. Vorbei an den Geschäften mit den bunten Auslagen, vor denen Leute stehen und abwägende Blicke auf die angebotenen Waren werfen. Sie hat kein Auge dafür. Mit ihrer kleinen Rente kann sie sich ja all diese Dinge sowieso nicht kaufen. Sie muss froh sein, wenn es sich für das Nötigste ausgeht und sie außerdem noch ein wenig auf die Seite legen kann für ihr Begräbnis, wie sie allen erzählt.
Aus einem Lokal am Hauptplatz kommt eine Gruppe junger übermütiger Menschen heraus und sie fühlt sich gezwungen vom Gehsteig herabzusteigen um auszuweichen. Nach einigen Schritten bleibt sie stehen und hält sich an einem Hydranten fest, um etwas Luft zu holen und durchzuatmen
So verweilt sie einige Minuten, ihre Handtasche fest an sich gepresst und lächelt. Ihre Gedanken gehen viele Jahre zurück, in ihre Jugendzeit.
Ach, was waren sie da auch für lustige Menschen, mit vielen Freunden und noch voller Hoffnung. Sie konnte die Straße hinunterlaufen, ohne anzuhalten und dabei auch noch lachen. Heute schien ihr das wie aus einer fernen Zeit, unwirklich und verschwommen. So stand sie da und lauschte in sich hinein, in die Vergangenheit.
Lautes Hupen lässt sie erschrocken zusammenfahren. Oh Gott, sie stand fast auf der Straße und ein Wagen wollte eben dort parken. Mit einem verlegenen Lächeln in Richtung des ungeduldigen Lenkers drehte sie sich um und stieg wieder auf den Gehsteig hinauf. Sie streifte den Rock mit ihren schlanken, vom Alter gezeichneten Händen mehrmals glatt, was sie immer tat, wenn sie verlegen war und ging unbeirrt Richtung Bahnhof weiter.
Sie würde den Weg zum Bahnhof auch mit geschlossenen Augen finden. Sie ging ihn nun schon seit Jahren täglich. Sie kannte fast alle Fahrgäste die regelmäßig wegfuhren, bzw. ankamen. Sie saß dort immer am frühen Nachmittag auf derselben Bank, fast am Ende des lang gestreckten Bahnhofsgebäudes, wo sie niemand störte und erwartete die herankommenden Züge und winkte den abfahrenden Zügen nach.
Sie war allen, den Fahrgästen ebenso, wie dem Bahnpersonal bekannt. Manche grüßten sie sogar. Das freute sie besonders. Wenn sie dann abends in ihrem Bett lag und das Licht auslöschte, ließ sie den Nachmittag vorbeiziehen und wusste ganz genau, wer sie heute bemerkt hatte und wer nicht. Sie dachte sich Geschichten über die Schicksale der Ankommenden und Abreisenden aus und registrierte jede Veränderung an ihnen; sei es an der Kleidung, oder im Gemüt. Sie sah ihnen ins Gesicht und spürte sofort, wenn Jemand Sorgen hatte.
Manchmal setzte sich der Bahnhofsvorstand ein Weilchen zu ihr und fragte sie, wie es ihr geht. Er kennt sie gut, sie ist die Witwe eines seiner ehemaligen Vorgesetzten. Vor vielen Jahren hatte dieser hier gearbeitet und sie holte ihn damals öfters von der Arbeit ab. Dann ging er in Pension und er hörte einige Jahre nichts mehr von ihm.
Bis sie plötzlich auftauchte, sich auf diese Bank setzte und den Zügen nachsah. Sie erzählte ihm anfangs vom Tod ihres Mannes. Eines Tages sprach sie darüber nicht mehr und erweckte den Eindruck, als wollte sie ihren Mann abholen und warte hier nur auf ihn. Sie hatte Bilder dabei und zeigte sie jeden, der mit ihr sprach. Doch mit der Zeit wollte sich keiner mehr die Bilder anschauen, die Menschen gingen rasch vorbei und lächelten nur. Dann betrachtete sie die Bilder alleine und lächelte dabei still vor sich hin, bis sie sie wieder in ihre kleine Tasche einsteckte.
Heute jedoch erwartete sie eine Überraschung. Ihre Bank war besetzt. Sie verlangsamte den Schritt und näherte sich zögernd. Es war ein Bahnbediensteter in voller Uniform, so wie sie ihr Mann immer getragen hatte. Sie grüßte leise und setzte sich an das andere Ende der Bank. Eine Weile saßen sie stumm neben einander.
„Der Zug aus St. Pölten kommt heute zu spät, er sollte schon da sein“, sagte sie und lächelte den Mann schüchtern an.
Sie glaubte ein kleines Nicken gesehen zu haben und blickte wieder geradeaus. So saßen sie wieder stumm nebeneinander, bis der Zug aus St.Pölten einfuhr. Einige Fahrgäste stiegen aus, andere ein. Rasch leerte sich der Bahnsteig wieder und es trat wieder Ruhe ein, nur durch Weinen eines kleinen Kindes unterbrochen.
Sie rückte näher an ihn heran. Er bemerkte es kaum. Sie blickte zu ihm auf. Das einfallende Sonnenlicht blendete sie und sie glaubte in den Zügen des Fremden, ihren Mann wieder zu erkennen.
So lange hatte sie gewartet, dass er wiederkam und nun war es soweit.
„Wir werden zusammen nach Hause gehen, ich werde Kaffee kochen und es ist wieder wie früher.“
Sie rückte noch näher und schob ihren Arm unter den seinen. So saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander. Mit der freien Hand holte sie die Bilder aus ihrer Tasche und schob sie in seine Hand.
„Erinnerst Du Dich?“, fragte sie.
Sie glaubte wieder dieses Nicken zu bemerken, legte ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Ein glückliches Lächeln legte sich über ihr Gesicht, sie spürte seine Kraft und schmiegte sich noch näher an ihn.
Der Bahnhofsvorstand stand am Ende des Perrons und sprach mit dem jungen Mann, der die Aktion leitete. Sie hatten am ganzen Bahnhof lebensgroße Puppen in Uniform aufgestellt und die Reaktionen der Reisenden beobachtet. Im Gespräch bewegten sich die beiden Männer langsam in die Richtung der besetzten Bank.
Die alte Dame schien zu schlafen.
Der Vorstand neigte sich zu ihr hinunter um sie zu wecken. Er rüttelte sie an der Schulter, doch sie rutschte ganz langsam nach unten und zog gleichzeitig ihren Arm unter dem der Puppe hervor. Die Bilder aus der Hand der Puppe fielen ebenfalls zu Boden und lagen nun verstreut zu ihren Füßen.
„Mein Gott“, entfuhr es ihm, er sah sofort, dass sie tot war. Das glückliche Lächeln auf ihrem Gesicht berührte ihn, er richtete sie wieder auf und lehnte sie wieder an die Puppe an. Dann erst griff er zum Telefon.
Der Dachboden riecht nach Staub und längst vergessenen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Joana Angelides
Cover: Anna MODL, München
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2022
ISBN: 978-3-7554-0906-9
Alle Rechte vorbehalten
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Erschienen auch als Mini-Büchlein-Printausgabe vom
Verlag Edition Märk. Reisebilder, Potsdamm, www.carlotto.de