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EINE TOTE ZU VIEL

 

Eine Tote zu viel

 

 

 

 

PROLOG

 

In seinem Haus, am Waldrand im Thayatal nördlich von Wien, durchsuchte der Journalist Robert Staller einen Schrank auf der Suche nach einem alten Artikel, als plötzlich von einem Stapel ein paar Blätter zu Boden fielen. Er setzte sich auf den Holzboden um sie wieder einzusammeln und schmökerte sinnend darin. Sie waren aus einem niemals veröffentlichen Artikel vor mehr als dreißig Jahren! Der Artikel wurde damals von oben her verhindert, es gab Nachrichtensperre, sehr zu seinem Ärger. Er hatte die Geschichte damals zu einer Geschichte umformuliert und sich vorgenommen, diese irgendwann als fiktive Erzählung herauszubringen. Es kam niemals dazu! Die Geschichte verstaubte hier in seinem Archiv, wie so Vieles!

Er war damals ein junger aufstrebender Journalist, kurz nach dem Journalisten-Studium und Sabine arbeitete als Chemikerin im Labor des Allgemeinen Krankenhauses in Wien.

 

Es war ein grausiges Erlebnis, dass ihnen beiden jahrelang zu Albträumen verhalf, das Sabine niemals wieder im Dunkeln einschlafen ließ und bei ihm ein wenig den Glauben an den freien Journalismus zum Wanken brachte. Dieses Erlebnis war ihnen immer gegenwärtig, besonders, wenn er mit der U-Bahn fuhr! Er sah sie überall, die Ratten der Unterwelt einer Großstadt, wenn er durch Tunnels dabei fuhr und aus dem Fenster in die Dunkelheit starrte. Dann glaubte er wieder im Jahre 1977 zu sein, damals als die U-Bahn in Wien gebaut wurde; sie starrten ihn scheinbar noch immer hasserfüllt an.

 

Wie das Schicksal es eben so will, saß gleichzeitig Kommissar Georg Mahrer im Büro der Mordkommission in Wien an seinem Schreibtisch und hatte keine Ahnung, dass ihm diese Sache in Kürze schlaflose Nächte bereiten und ihn mit hilfloser Wut erfüllen wird. Er hatte schon sehr lange nichts von seinem Cousin Robert Staller gehört und dachte im Moment auch gar nicht an ihn!

 

 

Der schwarze Tod. Yestina pestis.

Wenn unter Städten, die Jahrhunderte Geschichtsträchtiges erlebt haben, sich Erdschicht auf Erdschicht gebildet hat, plötzlich mit Baggern und Maschinen eben diese Erdschichten aufgegraben und abgehoben werden, werden Kräfte frei, die sich das menschliche Gehirn gar nicht vorstellen kann und auch gar nicht möchte.

In hochmodernen Bürohäusern werden auf dem Reißbrett Pläne und Skizzen geschaffen, die in die Tiefen dieser niemals toten, nur oberflächlich schlafenden Unterwelt, das Eindringen planen, um Tunnels und U-Bahnen zu bauen.

Die Menschen in der pulsierenden österreichischen Hauptstadt Wien hatten keine Ahnung, welche schrecklichen Kräfte bereit sind, aus den Höhlen und natürlichen Gefängnissen auszubrechen um sich an der Oberfläche auszubreiten und Tod und Verderben zu bringen. Der Bau des U-Bahnnetzes weckte diese lauernden Kräfte und dunklen Geschöpfe jäh aus ihrem Halbschlaf.

 

Unter dem Dom zu St.Stephan verbergen sich Gewölbe aus frühchristlichen Zeiten. Gebeine wurden bei Grabungsarbeiten oder Umbauten immer wieder zu Tage gefördert, sodass sich die Arbeiter aus Aberglauben und Angst oft weigerten noch tiefer in die unübersichtlichen Gänge und Höhlen vorzudringen.

 

Bereits im Jahre 1137 n.Chr. wurde der Dom zu St.Stephan urkundlich erwähnt, doch ergaben spätere Forschungen, dass bereits seit dem Jahre 800. hier eine Kirche bestand, auf deren Grundmauern dann die heutige Kirche zu stehen kam. Die Archive der Kirche sind nicht für jedermann zugänglich und es ist in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder gelungen, stattgefundene, unheimliche Begegnungen oder unerklärliche Ereignisse oder Erscheinungen geheim zu halten.

Manche Menschen vermeinten in mondlosen und stürmischen Nächten Grollen und Brüllen aus den Tiefen der Katakomben gehört zu haben, manche führten sogar Todesfälle auf diese Wahrnehmungen zurück. Es kursieren unzählige, unheimliche und unerklärliche Geschichten und Sagen bis in die heutigen Tage.

 

Niemand hörte jemals auf die mahnenden Stimmen von Wanderpredigern, oder abtrünnigen Mönchen, die behaupteten, dass das Böse schlechthin tief unter den Gassen und alten Häusern hause und immer wieder aus Spalten oder Ritzen entwich. Sie predigten Verdammnis und Tod, Strafe Gottes für gottloses Leben und hielten so die zahlreichen Geschichten im Bewusstsein der Menschen am Leben. Heerscharen von Ratten und der Schmutz in den Strassen der Städte taten ihr Übriges dazu, um das Ausbrechen von allerlei Krankheiten zu fördern.

 

Und so kam es im Jahre 1679 zum Ausbruch der Pest in Wien. Denn das Böse, eine körperlose schwarze Masse mit unendlich verlängerbaren Armen und gierigen Fingern, das sich durch die Erde wühlte, verzweifelt Ausgänge und Schächte nach oben suchte, brach zuerst in der „Leopoldstadt“, einem Vorort der damaligen Stadt Wien aus, infizierte Ratten und Ungeziefer und schickte die todbringenden Boten so an die Oberfläche.

 

Dadurch, dass die Seuche über einen längeren Zeitraum im wahrsten Sinne des Worts, totgeschwiegen wurde, starben rund 100.000 Menschen daran; zuerst die Armen und Schwachen, bis sie dann schließlich auch die Salons und Paläste der Wohlhabenden erreichte und ausgiebige Ernte machte.

 

Ärzte schilderten sie in den Annalen als eine „Heimsuchung der Menschen mit Beulen, Drüsen-Karfunkeln, braunen und schwarzen Flecken, riesigen aufplatzenden Beulen, gefüllt mit stinkendem Eiter und Blut“ Die Menschen in der Stadt waren voll Entsetzen und in Panik. Noch dazu lagen die Leichen todbringend oft tagelang auf den Straßen, denn es fehlte an Siechenknechten und Totengräbern.

Durch die engen Gassen der Altstadt, am Dom vorbei wälzten sich die Menschenmassen, mit Karren voller Leichen und begruben sie in den vor der Stadt vorbereitenden Gruben, die eilig ausgehoben wurden. Die Leichen wurden einfach hinuntergekippt und man eilte davon.

 

Mit gierigen Armen und geifernden Mäulern wurden die Leichen von den bösen Kräften und Gestalten der Unterwelt darin aufgenommen und dienten dem Bösen als Nahrung und zur Vermehrung.

 

In den Nächten, so man sich ins Freie traute, konnte man auf den noch offenen Leichengruben unheimliche, schwarze Gestalten und Schatten mit funkelnden Augen tanzen sehen.

 

Diese Seuche konnte erst eingedämmt werden, als man begann, die Straßen und Häuser zu reinigen, keinen Unrat mehr einfach aus dem Fenster zu werfen.

Da mussten sich diese bösen Kräfte wieder in den Untergrund zurückziehen und auf ihre neue Chance warten.

 

Es vergingen Jahrhunderte, in denen sie als drohende geifernde Gefahr unter unseren Füßen lauerten und auf die Gelegenheit, nach oben zu kommen warteten.

 

Der moderne Mensch verweist diese Dinge natürlich in der Reich der Fabeln und Sagen und setzt sich über alle Warnungen der Wissenden hinweg. Beim Bau der geplanten U-Bahn wurden Baumaschinen, Riesenbagger und Erdbohrer eingesetzt und die Erde unter großem Getöse und intensiven Erschütterungen aufgewühlt. In dem auftretenden Lärm und dem Getöse gingen das Fauchen und Stöhnen dieser unterirdisch lauernden Bewohner der Stadt unter.

 

Im Zuge der Bauarbeiten entstand vor dem Dom ein riesiger Krater von ca. dreißig Metern Tiefe oder mehr. Es wurden Tonnen von Erde nach oben geschafft und mit ihr Extremente der Ratten und anderem Getier und Gewürm. Aus den entstandenen Erdspalten drang Ekel erregender Gestank in diese Luft und wurde von den Männern eingeatmet.

 

Auch als aus einem tiefen Hohlraum ein Heer von Ratten entwich, sich auf die Männer in den Overalls stürzten, wurden sie mit den modernsten Mitteln der Schädlingsbekämpfung getötet oder scheinbar vertrieben. Das Einzige was geholfen hätte, wäre Feuer gewesen, das wurde unterlassen! Rundum gingen die Menschen ahnungslos ihren Geschäften nach, saßen in den Kaffees und plauderten über Belangloses, während über ihnen der Hauch des Todes seine Bahnen zog.

 

 

 

Wien, 1977 Der Griff aus dem Grauen

 

Erschrocken fuhr Sabine in die Höhe. Das Telefon läutete ausdauernd und furchtbar laut.

 

Sie blickte auf die Uhr neben sich. Es war kurz nach zwei Uhr morgens.

Im Halbschlaf griff sie nach dem Telefon.

 

„Ja, wer stört?“

 

„Sabine, hier ist Robert. Ich brauche Deine Hilfe!“

 

„Weißt Du, wie spät es ist? Hat das nicht Zeit bis morgen früh?“

 

„Nein, wir stehen vor einer Katastrophe, tausende Menschen sind gefährdet und es soll vertuscht werden.“

 

Sabine war inzwischen hellwach geworden, hatte das Licht angemacht und saß am Bettrand. Warum überraschte sie dieser Anruf nicht wirklich? Es klang ganz nach Robert, immer dramatisch, immer enthusiastisch und immer übereifrig. Ein engagierter Journalist, der aber auch immer wieder in neue Schwierigkeiten taumelte.

 

„Robert, bist Du schon wieder dabei, etwas aufzudecken? Aber um Gottes Willen, wozu brauchst Du da mich, und noch dazu so mitten in der Nacht?“

 

„Was weißt Du über die Pest?“

 

„Die Pest? Bist Du verrückt, hast Du kein Internet um da nachzusehen?“

„Sabine, wir haben die Pest mitten in Wien, es gibt Tote und Erkrankte und alles soll vertuscht werden!“

 

„Das wäre ja eine Katastrophe, aber ich habe bisher davon nichts gehört und sitze doch einigermaßen mitten im Geschehen.“

 

„Es gab bereits drei Tote, die bereits beerdigt wurden, es waren alles Feuerbestattungen und weitere fünf Erkrankte liegen auf der Isolierstation der Uni-Klinik und werden mit Antibiotika behandelt.“

 

„Und was steht auf den Totenscheinen?“ fragte Sabine.

 

„Diphtherie, einfach Diphtherie. Ich habe keine Ahnung, was sie den Angehörigen über die näheren Umstände gesagt haben, ich finde es nur seltsam, dass alle drei Verstorbenen eine Feuerbestattung bekamen! Das kann doch kein Zufall sein!“

 

Sabine dachte kurz nach.

 

„Wenn das stimmt, dann ist das tatsächlich seltsam. Gibt es denn einen Zusammenhang oder eine Verbindung zwischen den erkrankten Personen?“

 

„Ja, es sind ausschließlich Bauarbeiter und Techniker von der U-Bahn-Baustelle am Stephansplatz, die in derselben Nacht Dienst hatten. Man hat heute Morgen die Arbeiten vorübergehend, mindestens für einige Stunden, ausgesetzt und die Baustelle gesperrt.“ Sagte Robert.

 

„Mit welcher Begründung?“

 

„Technische Probleme und Prüfung. Aber wenn sie Gerede vermeiden wollen, müssen sie sie bis spätestens morgen früh wieder öffnen!“

 

„Robert, ich habe da einen Studienkollegen, der arbeitet im Gesundheitsamt. Den werde ich anrufen, vielleicht weiß er irgendwas. Aber nicht jetzt, mitten in der Nacht, morgen früh! Gute Nacht!“

 

„Das kannst Du Dir sparen, sie mauern! Zieh Dich an, ich hole Dich ab und wir schauen uns das an Ort und Stelle an der Baustelle direkt an“.

 

„Bist Du verrückt? Da gibt es wohl Einiges, das dagegenspricht. Erstens wird die Baustelle sicher bewacht sein, zweitens könnte es für uns ebenfalls gefährlich sein, uns dort irgendwelchen Seuchen, es muss ja nicht gleich die Pest sein, auszusetzen; und drittens riskiere ich meine Anstellung im Labor der Uni-Klinik!“

 

„Also, wenn es doch die Pest sein sollte, dann ist das alles völlig gleichgültig. Du wohnst keine hundert Meter von der Baustelle entfernt, kannst sie sogar sehen, und Du bist sicher bereits infiziert! Wir steigen da einmal hinunter und nachher gehen wir in dein Labor und Du spritzt uns ein Gegengift!“

 

Sabine musste lachen, ja so stellte es sich der kleine Moritz vor!

 

„Sabine, bitte versuche doch einmal, über Deinen eigenen Schatten zu springen, hast Du gar keine Eigeninitiative, keine Abenteuerlust?“

 

„Robert, Du übertreibst wieder einmal maßlos! Aber OK, ich werde mir das mit dir ansehen, wie lange brauchst Du, bis Du hier bist?“

 

„Ich stehe vor deiner Haustüre, ziehe auf jeden Fall Gummistiefel an“, sprach Robert und klickte sich weg.

 

Seufzend erhob sich Sabine, nicht ohne einen sehnsüchtigen Blick auf den Pölstern zu werfen und suchte ihre Jeans und ein T-Shirt mit Jacke zusammen, zog auch die erwähnten Gummistiefel an.

 

Ihre Wohnung lag tatsächlich im Zentrum der City, keine 100 Meter vom Dom entfernt. Nachdenklich blickte sie in den Spiegel beim Stiegenabgang. Sollte tatsächlich aus der Tiefe der Baugrube etwas so Grauenhaftes wie die Pest entwichen sein und einfach einige Menschen befallen haben? War die Pest ein Wesen, hat sich der schwarze Tod hier materialisiert!

 

Als sie vor das Haus trat, löste sich der Schatten Roberts aus dem Torbogen vom gegenüberliegenden Haus. Er war ebenfalls mit einer Jacke mit Kapuze und Gummistiefeln, sowie dem für Robert unvermeidlichen Fotoapparat bestückt.

 

Sie nickten sich stumm zu und Robert ging sofort in Richtung des schwach beleuchteten Platzes vor dem Dom.

 

Es war gespenstig ruhig, niemand war zu sehen. Sabine begann bereits zu bedauern, Robert nachgegeben zu haben. Aber irgendwie reizte das ihre Abenteuerlust und ihre Neugierde doch.

 

Robert gab den Weg vor. Er drückte sich an die Hausmauern gegenüber dem Dom, um an seine Rückseite zu kommen. Dort war es dunkler als an der Vorderseite und dann lief er, geduckt über den kleinen Platz und drückte sich an die Mauer der Kirche.

 

Sabine war stehen geblieben und blickte sich suchend um. Es war niemand zu sehen. Immerhin war es ja inzwischen fast drei Uhr morgens,

 

„Komm herüber“, rief Robert leise und winkte ihr zu.

 

Wie von Geisterhand gestoßen, lief nun auch Sabine geduckt zur Kirche hinüber und drückte sich ebenfalls an die Mauer neben Robert.

 

Sie schlichen sich nun, Robert voran, langsam zur Vorderseite und der Baugrube immer näher.

 

„Hörst Du auch was?“, murmelte Robert

 

Tatsächlich konnte Sabine ein Geräusch wahrnehmen, es war das schwere, mühsame Atmen eines Lebewesens, das anscheinend mit dem Tode ringt.

„Es ist der Hauch des Todes!“, flüsterte Robert.

 

„Sei nicht so kindisch, das wird ein Wind sein“, sagte Sabine, doch es kam auch ihr ein wenig unheimlich vor.

 

 

Sie hatten inzwischen die hölzerne Umrandung der Baugrube erreicht und blickten hinunter. Von hier oben erschien sie sehr tief und eigentlich drohend, musste Sabine zugeben.

 

Robert hatte sich in der Zwischenzeit gebückt und war durch die Absperrung in den inneren Kreis der Baustelle vorgedrungen. Von einer Wache war nichts zu sehen. Nur die Baumaschinen, die am Grund der Grube standen, waren mit Warnleuchten schwach beleuchtet, man konnte kaum ihre Konturen sehen.

 

Ich muss verrückt sein, da mitzumachen! Sabine schüttelte den Kopf über sich selbst, tat es Robert jedoch gleich.

 

„Hier ist eine Leiter, komm und gib Acht, dass Du nicht abstürzt!“ Robert war bereits die Leiter einige Sprossen abwärts geklettert.

 

Dieser dumpfe Ton des schweren Atems verstärkte sich. Es war auch ein leises, gleichmäßiges Klopfen zu hören. `Wie ein Herzschlag`, dachte Sabine nachdenklich, doch es war sicher nur eine Pumpe, die vielleicht irgendwo Wasser abpumpte, beruhigte sie sich gleich selbst.

 

Sie kletterten nun schweigend abwärts, bis sie endlich am Grund der Baugrube standen. Es erschien ihnen alles überwältigend, überdimensioniert.

 

Sabine war nun froh, Roberts Ratschlag gefolgt zu sein und Gummistiefel anzogen zu haben, denn der Boden war feucht, mit Wasserlachen übersät und rutschig.

 

„Merkst Du, dass die Luft hier schwer zu atmen ist und nach Verwesung riecht?“ Robert hatte seine Stimme gesenkt, als wollte er niemand wecken.

 

„Naja, ja irgendwie schon, aber wir sind ja eigentlich unter dem Niveau der Straße und da ist eben alles feucht“, Sabine wiegte den Kopf hin und her.

 

Plötzlich nahmen sie ein seltsames Geräusch wahr. Es war als würde man eine große Menge von Menschen essen und schmatzen hören, als würden tausend Füße in eine Richtung laufen. Und da kamen sie, es mussten Hunderte sein. Es waren große, fast schwarze Ratten, ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit. Sie kamen aus Erdlöchern, aus Spalten und hinter den Baumaschinen hervor. Es war, als würden sie nur auf sie gewartet haben. Die spärlichen Lampen der Notbeleuchtung machten, dass ihre Augen glühten.

 

Sabine und Robert ergriffen in ihrer Panik herumliegende Eisenstangen und Holzlatten und schlugen auf die Tiere ein. Sabine sah entsetzt, dass sich eines der

Tiere am Rücken von Robert festgekrallt hatte und schlug mit voll Wucht zu. Sie hätte Robert fast zu Fall gebracht, doch das Biest ließ doch los und sprang nach unten.

 

„Wir sollten schleunigst nach oben verschwinden“, rief Sabine. Doch die Ratten hatten sich nun am Rande der Grube zurückgezogen und blockierten den Weg zur einzigen Leiter, die aus der Baugrube nach oben führte.

 

Sie hatten sich gegenüber mit dem Rücken zur Wand gestellt und hielten ihre einzigen Waffen, die Eisenstangen und Holzlatten drohend erhoben in den Händen hoch.

 

„Sie sind klug, sie beobachten uns und warten auf ihre Chance!“, flüsterte Robert.

Das dumpfe schwere Atmen verstärkte sich kontinuierlich und drang von überall herbei, es kam aus den Wänden und Rissen und Spalten des sie umgebenden brüchigen Erdwalles. Aus verschiedenen Ritzen drang eine schwarze zähflüssige Masse, die sich am Boden formierte und langsam in ihre Richtung kroch.

 

„Was ist das?“, die Stimme Sabines war nun schrill und man hörte, dass sie Angst bekam.

 

„Ich weiß es nicht, doch es stinkt schrecklich und scheint intelligent zu sein, es versucht, uns einzuschließen, uns hier festzunageln!“. Auch Robert spürte, wie Panik und Kälte langsam von seinen Zehen beginnend, seine Beine aufwärts krochen. Nun begannen die Ratten wieder diese schmatzenden Geräusche zu machen und es kam Bewegung in die homogene Masse der Tierleiber. Sie formierten sich wieder zum Angriff.

 

„Sie kommen, oh Gott, sie kommen wieder!“ Robert verlor nun ebenfalls völlig die Fassung und versuchte in seiner Angst die feuchte, abbröckelnde Wand der Baugrube zu erklimmen.

 

„Wir haben nur eine Chance, wenn wir vielleicht die Baumaschinen erreichen und uns in einer der Kabinen einschließen könnten“, Sabine versuchte ruhig zu bleiben, „ich verstehe das nicht, Du wolltest ja da runter und erforschen, was da los ist und jetzt hast Du Angst?“

 

„Ja, Du hast ja recht, aber ich erwartete nicht, so frontal damit konfrontiert zu werden. In den Baumaschinen sind wir nicht sicher, die sind nach unten hin offen. Sag, wenn uns diese Biester beißen und infizieren, gibt es da ein Gegengift?“

 

„Ja, ja beruhige Dich doch, sollten sich die ersten Anzeichen von Pest zeigen. Husten und Bläschen im Mund, wird Antibiotika verabreicht und Du kommst in Quarantäne. Unbehandelt ist es sicher tödlich. Wahrscheinlich ging es den drei Toten aus irgendeinem Grund so und sie wurden Tage vorher schon von den Ratten gebissen. Man kann nur hoffen, dass sie niemand infiziert haben! Aber die, die in der Intensivstation liegen, werden sicher wieder gesund.“

 

Das wirkte beruhigend auf Robert.

 

Sie hatten inzwischen den großen Tunnel, der ins Erdinnere führte erreicht und drückten sich dort wieder an die Wand. Aus der Finsternis formierte sich plötzlich ein schwarzer Schatten, der sich nach oben hin verbreiterte und nun drohend über ihnen, wie der berühmte Geist aus der Flasche, schwebte.

 

„Da vorne Sabine, siehst Du das?“ flüsterte Robert.

 

„Ja, ich sehe einen Schatten, wie er sich vorwärtsbewegt. Im Lichte der Taschenlampen verändert er seine Gestalt dauernd“, flüsterte Sabine zurück.

 

„Oh nein, es ist nicht das Licht, der Schatten verändert wirklich seine Gestalt. Manchmal ist er hoch aufgerichtet, dann wieder zerfließen die Konturen und sein unteres Ende bewegt sich am Boden dahin. Es sieht aus, als wäre es eine homogene Masse, die sich so fortbewegt“. Robert richtete den Strahl der Lampe wieder nach vorne. Keuchend machte er einen Schritt zurück und die Lampe entglitt seiner Hand. Diese schwarze homogene Masse hielt inne, drehte sich um und aus der dunklen Masse starrte ihnen ein Totenkopf aus leeren Augenhöhlen mit aufgerissenem Mund entgegen. Aus dem Mund kam grauer Schleim heraus, der Hauch der Pestilenz lag in der Luft.

 

Die Arme des Schattens wurden dünner, aber dafür länger und wuchsen ihnen entgegen, als würde er nach ihnen greifen wollen. Am Boden breitete sich diese dunkle teerähnliche Masse immer mehr aus und erreichte fast ihre Beine. Sie schrieen und wichen zurück, vergessend, dass draußen in der Baugrube die Ratten auf sie warteten.

 

Sie tasteten sich langsam weiter und fanden plötzlich den Eingang in einen längeren Nebengang, in dem sie einbogen, von dem bedrohlichen Schatten sich fortbewegend.

 

Hier war es dunkel und sie fühlten wieder diesen modrigen kühlen Luftzug an sich vorbei streifen.

 

„Oh, siehst Du das Robert? Auch hier gibt es diese dunklen klebrigen Schatten, sie kriechen an den Wänden und am Boden entlang, sie ähneln suchenden Fingern. Sie kommen immer näher!“ Sabine war das Grauen anzusehen. Sah so die Pest aus, wenn sie sich verbreitete, ihre Opfer suchte?

 

„Wir sollten doch versuchen wieder die Baugrube und die Leiter nach oben zu erreichen!“ flüsterte Robert.

 

Als sie hinausliefen, war das schmatzende, geifernde Geräusch stärker geworden und sie blieben wie angewurzelt stehen. Die Tiere hatten ein Objekt für ihre Gier gefunden. Es war allem Anschein nach jener Wachmann, der die Baustelle zu bewachen hatte, der da am Boden lag. Die Tiere hatten sich in ihm verbissen, rissen Fleischstücke aus seinem Gesicht heraus, tranken das herausquellende Blut an seinem Hals und waren überall in seiner Kleidung, zwei dieser Bestien rauften um einen Finger. Es war ein grauenhaftes Bild. Und über allem schwebten diese schwarzen Schatten, wogten bedrohlich hin und her. Es schien, dass sie sich an diesem Anblick weidete.

 

Die Beiden ergriffen wahllos je eine jener Eisenstange, die zahlreich herumlagen und versuchten die Tiere von dem Manne weg zu jagen. Doch wie es ihnen gelang, einige zu verjagen, waren sofort wieder andere da. Sie mussten sich auch gegen Angriffe auf sich selbst wehren, die Situation schien hoffnungslos.

 

Sie versuchten es auch mit Schreien, doch ohne Wirkung auf die Tiere.

 

„Robert, der Mann ist tot, wir müssen weg!“ schrie Sabine und zerrte nun ihrerseits den Freund am Ärmel

 

Dieser ließ die Eisenstange fallen und sie liefen so rasch als sie konnten zur Leiter, an der sie herabgestiegen waren. Als sie bereits einige Stufen erklommen hatten, blickten sie voll Angst zurück und sahen, wie aus dem großen Tunnel und auch aus mehreren kleinen Nischen und Spalten sich noch mehr solche schwarzen Schatten heraus wälzten und einige der Totenschädel zu ihnen aus schwarzen Augenhöhlen heraufsahen. Ihre langen Arme schwangen in der Luft und es schien als würden sie die Ratten nach oben treiben wollen.

 

„Es ist, als würden ihnen die Ratten gehorchen, sie versuchen die Wände der Baugrube hinauf zu klettern, sie werden Tod und Verderben weitergeben, sie werden in die Kanäle und Keller der Häuser gelangen, die Pest wird sich verbreiten!“ flüsterte Robert.

 

Sie waren sehr froh, als sie wieder oben waren und setzten sich erschöpft auf den Boden, um Atem zu holen und das Entsetzliche zu verkraften.

 

Als eine der Ratten die Oberfläche erreichte, stieß Robert mit seinem Fuß nach ihr und schleuderte sie über den Rand hinunter.

 

Er nahm dann sein Telefon aus der Tasche und rief die Polizei an, meldete den Vorfall und den Toten in der Baugrube. Seine Stimme war unbeherrscht, schrill und laut und es dauerte eine Weile bis er sich wirklich verständlich machen konnte.

Binnen kurzer Zeit waren dann einige Polizeiautos und ein Rettungswagen da.

Einer der Polizisten in Zivil nahm die Beiden zur Seite.

 

„Was haben Sie denn, um Gottes Willen da unten gesucht? Können Sie das Schild nicht lesen? Hier steht groß und deutlich: Betreten der Baustelle verboten. Was haben Sie da unten gemacht?“

 

Robert zeigte seinen Presseausweis her und versuchte seine Beweggründe zu erklären.

 

„Aha, die Pest! Und da dachten Sie, Sie treffen die Pest da unten zu einem Plausch?“ die Stimme des Beamten war schneidend und höhnisch.

 

„Sie werden es nicht glauben, wir haben die Pest auch getroffen in all ihrer Hässlichkeit!“ Sabine schrie es fast.

 

„Haben Sie Bilder gemacht?“, fragte der Beamte nun, mit einem Blick auf den Fotoapparat, ohne auf diese Bemerkung einzugehen, „wenn ja, dann muss ich Sie bitten, mir den Film oder die Karte auszuhändigen!“

 

Doch Robert hatte keine Bilder gemacht, da sie ja von einem Entsetzen ins andere fielen und daran ja nicht zu denken war. Es wurde ihm erst bewusst, als er die Frage hörte und da tat es ihm leid, dass er keine Bilder hatte. Sie würden das Erlebte niemals beweisen können, wurde ihm sofort klar.

 

Inzwischen hatten die Männer der Rettung den Körper des schrecklich zugerichteten Wachmannes heraufgeholt, in den vorbereiteten Metallsarg gelegt und den Deckel geschlossen.

 

„Ich muss Sie bitten, mit aufs Revier zu kommen, ich muss ein Protokoll anfertigen und Ihre Aussagen aufnehmen!“ Der Beamte schien keinen Widerspruch zu dulden.

 

Auf dem Revier schilderten die beiden ihr Erlebnis und stießen bei den Beamten auf Kopfschütteln und Unglauben.

 

„Das mit den Ratten muss untersucht werden, ebenso der Tod des Wachebeamten. Sie dürfen die Stadt nicht verlassen, wir haben sicher noch einige Fragen an Sie. Außerdem wurde vorhin eine Nachrichtensperre aus dem Ministerium verfügt. Sie dürfen also vorläufig nicht darüber berichten“.

 

 

Noch im Morgengrauen konnten Sabine und Robert durch die zugezogenen Gardinen die anrückende Feuerwehr sehen, konnten beobachten wie eine größere Mannschaft in die Baugrube stieg. Sie warfen zusätzliche Strickleitern hinab. Die Männer waren mit schwarzen Schutzanzügen bekleidet, hatten Sauerstoff-Flaschen am Rücken und Flammenwerfer in den Händen. Der Graben, die Kärntnerstraße und die Singerstraße, Seitengassen des Platzes, wurden abgesperrt, um sämtliche Neugierigen fern zu halten.

 

Sie bekämpften offenbar die Ratten, die zweifellos vorhandenen dunklen Schatten und die sich ausbreiten wollenden, unheimlichen schwarzen Massen mit Feuer.

Die Beiden konnten den Feuerschein durch die Gardinen deutlich sehen. Es war wohl die einzige und wirksamste Möglichkeit. Als sie dann auch noch pfeifende Geräusche, Heulen und Stöhnen hörten, drückte sich Sabina an Roberts Brust und begann endlich hemmungslos zu weinen.

 

Sabine und Robert saßen am nächsten Abend in ihrem Stammlokal und starrten gemeinsam in die von Robert mitgebrachte Zeitung.

 

 

Auf Seite drei, als fast unscheinbare Nachricht, konnten sie Folgendes lesen:

 

„Aufgrund von Wasser- und Schlammeinbrüchen bei der U-Bahn-Baustelle am Stephansplatz, wurde diese für zwei Tage gesperrt. Immer wieder dringen Erdmassen und Wasser nach. So werden die Wände nun mit Beton und Bitumen ausgekleidet. Durch Unachtsamkeit ist auch ein kleiner Brandherd entstanden, der jedoch von der Feuerwehr sofort unter Kontrolle gebracht werden konnte.“

 

Sabine stocherte in ihrem Essen herum, sie hatte plötzlich keinen Appetit mehr.

 

Eine Tote zwischen den SärgenWien 2015

 

Kommissar Georg Mahrer hatte endlich seinen vor einiger Zeit nicht angetretenen Urlaub nachgeholt und kam leise vor sich hin summend, in sein Büro.

 

Kollegin Inspektor Monika Pohl hatte in seiner Abwesenheit endlich Gelegenheit seinen Schreibtisch zu ordnen, und die Putzfrau durfte den Schreibtisch reinigen. Das gelang nie, wenn Kommissar Mahrer im Dienst war; er hatte ihr verboten, auch nur einen Zettel zu verschieben.

 

Er öffnete das Fenster und ließ die noch ein wenig frische Morgenluft herein und hängte seinen Mantel auf den Kleiderständer und nahm wieder seinen Sessel in Besitz. Er lehnte sich zurück und drückte die breite Lehne dadurch ein wenig hinunter, dann umfasste er die beiden Handstützen und genoss es ungemein.

Der Urlaub führte ihn und Dr. Barbara Rauch in die Toskana und sie verbrachten da drei wunderbare Wochen. Dr. Rauch war die Pathologin der Medizinischen Fakultät und hatte ihren Arbeitsraum mit dem anschließenden Kühlhaus im unteren Kellergeschoß der Polizeidirektion. Sie beide verband seit geraumer Zeit eine tiefe Zuneigung, wobei sich Mahrer keine Gedanken machen wollte, ob es nun Liebe war oder nicht. Der Tod seiner Frau vor acht Jahren war noch immer nicht ganz überwunden. Doch sie verstanden sich gut und lebten ihrer Zuneigung. Jeder hatte seine eigene Wohnung und so konnten sie sich immer wieder darin verkriechen, sich zurückziehen, wenn ihnen danach war.

 

„Hallo, Chef, da bist Du ja wieder! Gott bin ich froh!! Du hast uns wirklich gefehlt! Die Vertretung kam nicht gleich in die Gänge und wir wurden eigentlich gar nicht wirklich warm mit ihm!“, sprudelte Monika los, als sie die Türe zum anderen Büro aufriss.

 

Sie hatte auch eine Tasse Kaffee in der Hand und stellte sie mit einem fröhlichen Lächeln vor ihm auf den Tisch.

 

„Naja, war ja nicht viel los, denke ich. Ich habe das immer von Italien aus beobachtete und auch Zeitungen gelesen“.

 

„Nein kein Mord und kein Totschlag, aber es gab immer wieder Alarm, Verletzte und Unfälle, die untersucht werden mussten Hauptkommissar Fuhrmann war ebenfalls schlechter Laune. Ich denke, ohne Dich ist er ein wenig unsicher!“, mutmaßte sie.

 

„Oh, das glaubst Du nur. Aber ich muss sowieso gleich zu ihm hinüber und mich wieder zum Dienst melden! Frage kurz im Sekretariat nach, ob er schon da ist, bzw. sag ihnen, sie sollen es mir melden, wenn er gekommen ist!“

 

Monika hatte alles fein säuberlich geordnet, die Journalblätter im Ordner abgelegt, sodass er nur ein wenig darinnen blättern musste, um ein wenig am Laufenden zu sein.

 

Es waren tatsächlich nur minderschwere Vorfälle aber keine Morde oder Anzeichen von Verbrechen. Er bereitete sich auf ein paar ruhige Tage vor.

 

„Georg, mein Gott Chef, bin ich froh, dass Du wieder da bist!“, das war die Begrüßung von Inspektor Thomas Bauer, als er hereinstürmte.

 

„Ja, eigentlich bin ich auch froh, ich kann euch sagen, drei Wochen Urlaub in einem Stück genügen vollauf, dann wird es schon wieder fad!“, lachte Mahrer.

 

„Ja, aber Du brauchst es Dir nicht so bequem machen, kaum bist Du da, haben wir eine Tote!“

 

„Wo?“

„Du wirst es nicht glauben, in der Gruft am Michaelerplatz! Zwischen zwei Zinnsärgen ist sie heute Morgen vom Küster der Michaelerkirche gefunden worden! Sie wurde offenbar erwürgt!“

 

„Wie alt ungefähr und weiß man schon wer sie ist?“, fragte Mahrer.

 

„Nein, ich glaube Frau Dr. Rauch ist schon dort, und auch die Spurensicherung. Man erwartete uns, komm…“, er klang ungeduldig.

 

Als sie in der City vor der Kirche eintrafen, war der Platz bereits großräumig abgesperrt und überall standen Beamte in Uniform. Der Michaelerplatz ist ein sehr beliebter Platz bei Touristen und die standen natürlich auch neugierig herum und mussten von den Polizeibeamten immer wieder zurückgedrängt werden. Tom parkte um die Ecke am Kohlmarkt, einer vornehmen Einkaufsstraße und steckte einen Hinweis in die Windschutzscheibe, dass es sich um ein Polizeiauto handelt.

Dann gingen sie zur Michaelerkirche, einer gotischen katholischen Kirche aus dem dreizehnten Jahrhundert und mussten nur mehr vier Beamte überwinden, bis sie endlich in der Kirche standen.

 

Einer der Beamten geleitete sie in die Gruft hinunter, wo bereits Dr. Rauch über den Körper eines jungen Mädchen gebeugt war. Neben ihr stand ein völlig aufgelöster Pater, der offenbar mit gefalteten Händen vor sich hin betete.

Mahrer nickte Barbara kurz zu dann wandte er sich an den Pater

 

„Es tut mir leid, dass wir uns unter solchen Umständen hier kennenlernen, mein Name ist Georg Mahrer, Polizeidirektion, Mordkommission. Wie ist bitte ihr Name?“

 

Der Pater sah in irgendwie verwirrt an, dann fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.

 

„Mein Name ist Dr. Michael von Metres, ich mache hier die Führungen“, sagte er leise.

 

„Sie haben die Tote gefunden? Kennen Sie sie? War sie schon einmal da, bei einer Führung vielleicht?“

 

„Ja, ich habe sie gefunden, aber ich kenne sie nicht. Sie müssen wissen, die Kirche ist von sieben bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet. Aufgesperrt wird sie von unserem Kirchenmeister, abgeschlossen dann am Abend von mir. Es finden am Tage einige Führungen statt, ich sehe mir die Menschen da nicht so genau an. Dann wird sie abends von mir persönlich geschlossen. Ich habe diese Frau noch nie gesehen!“, beteuerte er.

 

„Sie machen Führungen durch die ganze Kirche?“

 

„Nein, es gibt Klosterführungen, Kinderführungen, sogar eine Orgelführung mit Vorführung und dann eine Führung durch die Gruft, die sehr interessant ist, da hier ein Klima herrscht, das die Körper der hier Ruhenden nicht verwesen lässt. Der Raum ist auch klimatisiert, da…“, hier unterbrach ihn Mahrer.

 

„Das ist ja sehr interessant, aber wir müssen uns vorher über andere Dinge informieren, ich komme da noch auf sie zu!“ Mahrer bekam Angst, er würde ihm noch stundenlang über die Gruft erzählen.

 

Barbara erhob sich.

 

„Also, ich lasse den Körper der jungen Frau nun in die Pathologie bringen. Jetzt, so auf die Schnelle kann ich nur sagen, sie ist wahrscheinlich erwürgt worden! Näheres dann Morgen!“

 

„Danke, aber kannst Du mir vielleicht noch sagen, wie lange sie schon tot ist?“, er lächelte sie an.

 

„Ja, das schon, sie ist so ca. sechs Stunden tot, sie wurde also offenbar zwischen drei Uhr und vier Uhr in der Nacht getötet. Sie scheint auch unterernährt und verwahrlost zu sein!“

 

„Das ist unmöglich, da war die Gruft verschlossen und ich habe sie vorher kontrolliert, wie immer. Denn es ist schon passiert, dass sich jemand einschließen lassen wollte, um „den Hauch des Todes“ zu spüren…“, protestiert der Pater.

 

„Offenbar doch, denn der Todeszeitpunkt wurde soeben von unserer Pathologin festgestellt!“

 

Der Pater schüttelte den Kopf und verschränkte seine Arme auf der Brust.

 

Mahrer betrachtete die Tote, als man sie auf die Bahre hob und bevor der Leichensack geschlossen wurde.

 

Sie musste so ca. 25 Jahre alt sein, sie war ganz in schwarz gekleidet, geschminkt, als würde sie aus einem der Särge entstiegen sein. Ihre Augen und Lippen schwarz umrandet. Ihre Haare waren ebenfalls pechschwarz und hingen in Strähnen bis zur Schulter, die Fingernägel waren ebenso schwarz lackiert und sehr lang. In der landläufigen Sprache könnte man sie als „Gruftie“ bezeichnen. Sie war ungepflegt und die Kleidung schmutzig. Mahrer ergriff ihren Arm und stellte fest, dass sie zahlreiche Einstiche hatte, sie hing offenbar an der Nadel!

 

Er deutete den Männern, sie könnten sie nun mitnehmen und wandte sich ab.

 

„Können Sie mich zum Leiter der Pfarre hier führen? Ich meine zum Pfarrer der Kirche?“

 

„Ja natürlich, es ist Pfarrer Justus Reber, bitte folgen Sie mir!“. Er ging voraus.

Doch als die die Treppe hinaufkamen stand da der Pfarrer bereits und streckte ihnen seine Hand entgegen.

 

„Bitte kommen Sie mit, wir haben es bequemer in meiner Pfarrstube!“

 

Tom ging knapp hinter Mahrer und flüsterte ihm zu:

 

„Hast Du den Hauch des Todes nicht gespürt? Da war noch jemand, ganz rückwärts in der Gruft, dort wo es finster war! Ich glaube wir waren nicht alleine!“

Mahrer lächelte und schüttelte den Kopf. Manches Mal war Tom übereifrig, und seine Fantasie blühend! Und doch, er drehte sich um und blickte in die angedeutete Richtung, konnte aber nichts entdecken.

 

Das Büro des Pfarrers war einfach, aber zweckdienlich eingerichtet. Er ließ von einer Schwester Kaffee bringen und sie setzten sich an einen Tisch mit sechs Stühlen und der Pfarrer blickte sie nun erwartungsvoll an.

 

Kommissar Mahrer und Inspektor Bauer legten ihre Visitenkarten auf den Tisch.

 

„Also, Herr Pfarrer, ich habe festgestellt, dass hier doch mehr Menschen daran arbeiten, dass der Betrieb läuft, als ich gedacht habe. Ist Pater Metres alleine für die Gruft zuständig?“

 

„Nein. Seit Mai 2009 ist Herr Karl Haupt in St. Michael als Kirchenmeister tätig. Zu seinen täglichen Aufgaben gehört um sieben Uhr die Kirche aufsperren, die abgebrannten Kerzen einsammeln und neue Kerzen nachzuschlichten, die Opferstöcke leeren. Natürlich fallen auch immer wieder Reinigungs- und Reparaturarbeiten an. Oft turnt er in luftigen Höhen, um eine Lampe auszutauschen oder ein Kabel zu fixeren. Er kontrolliert regelmäßig den Dachboden, ob alle Fenster in Ordnung sind oder ob es Sturmschäden gibt. Soll ich ihn rufen lassen?“

 

„Ja, bitte, vielleicht hat er etwas gesehen!“

 

Der Pfarrer griff zum Telefon und bat, den Kirchenmeister ausrufen zu lassen.

„Wissen Sie, nun ist eine große Unruhe bei uns ausgebrochen, wir alle können das noch immer nicht fassen! Diese junge Frau hätte gar nicht in der Gruft sein dürfen, Karl hätte sie beim Kontrollgang eigentlich sehen müssen, er kontrolliert immer am Morgen den Raum, ob die Särge auch sicher stehen, ob alles in Ordnung ist, ob die Klimatisierung in Ordnung ist etc! Ahja, Karl, hallo komm herein, die Herren von der Polizei haben einige Fragen an Dich!“ sagte er lächelnd zur Türe hin.

 

Der junge Mann, der hereinkam, sah ein wenig schüchtern aus, drehte in der Hand eine Kappe und lächelte freundlich.

 

Irgendwie passt sein Äußeres nicht für all die Aufgaben, wie sie der Pfarrer geschildert hatte.

 

Mahrer wandte sich an ihn.

 

„Ich bin Kommissar Mahrer von der Mordkommission, mein Begleiter ebenfalls von der Mordkommission, Herr Inspektor Bauer. Als sie heute Morgen um 7:00 Uhr morgens die Gruft aufsperrten haben Sie da etwas Ungewöhnliches bemerkt? Waren da Geräusche, oder noch jemand da?“

 

Karl schüttelte den Kopf.

 

„Nein, da war niemand. Es war dunkel in der Gruft, ich habe die Beleuchtung eingeschaltet, da ab neun Uhr eine Führung eingetragen war. Dann kam Pater Michael mit vielleicht 15 Personen herein, als ich ihn plötzlich nach mir rufen hörte. Als ich kam, habe ich einmal alle Besucher hinausgeleitet, und dann die Polizei angerufen. Ich habe nichts berührt!“, versicherte er eifrig.

 

„Wie erklären Sie sich, dass die Tote hier lag, wo doch Pater Michael am Abend die Gruft kontrolliert und dann abgeschlossen hat. Gibt es noch einen anderen Zugang zur Gruft?“

 

Es schien als würde der Kirchenmeister ein wenig zögerlich antworten.

 

„Nein, es gibt keinen anderen Zugang. Es gab früher einige Durchgänge zu einem veralteten Tunnelsystem, doch die wurden alle zugemauert.“ Sagte er bestimmt.

„Gibt es einen Plan über den früheren Zustand über dieses Tunnelsystem und wohin führten sie?“

 

„Ich denke, die gibt es. Ich glaube in der Diözese in der Gebäudeverwaltung, bzw im Archiv. Die Tunnel ziehen sich durch die ganze Innere Stadt, vielleicht auch noch in andere Bezirke und verbanden einige Kirchen miteinander und führten auch zur Stephanskirche. Vielleicht weiß aber der Dompfarrer, Elias Traber da mehr darüber. Ich glaube sie wurden alle so ca. 1980 zugemauert“, sagte er.

 

Mahrer hatte das Gefühl, er verschwieg etwas.

 

„Danke, wenn wir noch Fragen haben, kommen wir auf Sie zu! Die Gruft bleibt bis auf Weiteres geschlossen, es sollte keine Führungen geben. Die Spurensicherung wird noch einige Tage zu tun haben; wir sagen Ihnen dann, wenn sie wieder frei verfügbar sein wird“, damit erhob er sich und gab dem Kirchenmeister die Hand.

„Falls Ihnen noch was einfällt, sagen Sie es bitte Herrn Pfarrer Pater Justus, er ruft uns dann an und wir kommen wieder vorbei“.

 

Der Kirchenmeister ging erleichtert wieder hinaus.

 

„Also Herr Pfarrer, Sie haben meine Karte, Sie können mich jederzeit anrufen. Ich muss mich nun um die Pläne der Tunnel kümmern, wir werden noch öfter vorbeikommen“.

 

Sie standen auf und verließen das Pfarrbüro.

 

Als sie wieder im Auto saßen, war Tom sehr schweigsam.

 

„Also, sag schon, was liegt Dir am Herzen?“, fragte Mahrer.

 

„Ich weiß, dass Du mir das nicht glaubst, aber ich habe eine Gestalt in der Gruft, ganz rückwärts, im Dunkeln, wo keine Särge mehr stehen, gesehen und sie ist dann mit der Mauer verschmolzen und einfach verschwunden. Es war richtig gruselig. Die Gestalt war in dunkle Laken oder Fetzen gehüllt…..“, sagte Tom.

 

Mahrer lachte.

 

„Da ist sicher Deine Fantasie mit Dir durchgegangen, bedingt durch die an sich gruselige Atmosphäre. Es war sicher ein Schatten, durch die vielen verschiedenen Lichter hervorgerufen“, versuchte ihn Mahrer zu beruhigen. Doch Tom schüttelte den Kopf, er blieb bei seiner Meinung.

 

Mahrer verbrachte den nächsten Vormittag damit, sich in der Diözese telefonisch durchzufragen, bis er endlich im Archiv, bei einem Pater Emanuel landete.

 

„Tja, ich bin sicher, es gibt diese Pläne, doch die müsste ich aus dem Archiv holen, es sind ja immerhin vierzig Jahre seitdem vergangen. Es war 1978 als man die U-Bahn baute und fertigstellte. Ich erinnere mich, da wurden viele Tunnel geschlossen, bzw. die Durchgänge zugemauert. Es ist ein verzweigtes unterirdisches Tunnelsystem und man hatte Angst, dass sich da Leute vielleicht verirren! Wozu brauchen Sie das denn nun?“

 

„Wir sind mitten in einer Morduntersuchung, da kann ich keine näheren Angaben machen. Wann könnte ich da Kopien haben?“

 

„Das kann ich nicht so sagen, aber sicherlich nicht vor zwei bis drei Wochen, da wir..“ er wurde von Mahrer unterbrochen.

 

„Also ich bräuchte sie sofort, bzw. in einer Woche spätestens!“, rief Mahrer im Befehlston ins Telefon.

 

„Ich werde sehen, was ich machen kann!“, sagt der Pater am anderen Ende des Telefons und legte auf. Mahrer war wütend. Die haben Zeit……

 

Er griff wieder zum Telefon und rief Alex Fuhrmann, seinen Chef an und bat um ein Gespräch.

 

Alex Fuhrmann war ein wenig verstimmt, da er schon am Morgen den Besuch von Mahrer erwartet hatte.

 

„Hallo Georg! Wie war Dein Urlaub?“, sagte er und ging ihm entgegen.

 

„Danke, war wunderschön und sehr erholsam! Aber in der letzten Woche schon ein wenig fad´!“, sagte Mahrer lächelnd.

 

„Eigentlich habe ich Dich schon am Morgen erwartet, warst mir ja avisiert, was war denn los?“

 

„Es kam ein Mord dazwischen, ein Mord in der Michaelerkirche!“

 

„Um Gottes Willen, wer ist denn ermordet worden? Doch nicht der Pfarrer Reber?“

 

„Nein, eine junge Frau. Ungefähr 25 Jahre alt. Sie wurde erwürgt!“

 

Mahrer schilderte ihm alle Einzelheiten, soweit sie bisher bekannt waren.

 

„Du kennst den Pfarrer von der Michaelerkirche persönlich? Kennst Du auch den Dompfarrer Traber?“

 

„Ja, ich kenne Beide über drei Ecken und auch über wohltätige Vereine, wo meine Frau aktiv ist“

 

`Hätte ich mir denken können! ´, dachte sich Mahrer und lächelte. Alex ist ein sehr rühriger Gesellschaftstiger und immer unter den VIP´s zu finden. Wenn es nur seiner Karriere nützt!

 

„Sag, könntest Du den Dompfarrer anrufen und ihn bitten, ein wenig Druck auf das Archiv von der Diözese auszuüben, damit ich diese Kopien möglichst rasch bekomme?“

 

„Das trifft sich gut. Ich sehe ihn wahrscheinlich sowieso Übermorgen bei der Segnung der neuen Weine im Weingut Fichtel, bei Dürnstein in der Wachau. Da segnet er die Fässer! Er ist kein Kostverächter! Leider muss ich da auch hinfahren, ist ein gesellschaftliches Muss!“, lachte Alex und zwinkerte Mahrer zu. Man merkte ihm aber gar nicht an, dass es ihm leid tat.

 

Wieder in seinem Büro, besprach er mit Tom die weitere Vorgangsweise.

 

„Du gehst morgen wieder in die Michaelerkirche und sprichst mit allen angestellten, Patres und Schwestern, die dort tätig sind. Vielleicht hat jemand doch was gesehen. Womöglich gibt es doch einen Zugang oder eine Möglichkeit in die Gruft zu kommen. Aber was könnte da jemand gesucht haben? Vor allem so eine junge Frau?“

 

„Muss das sein? Ich meine kannst Du da nicht jemand anderen beauftragen? Ich mag dort nicht hingehen!“, protestierte Tom.

 

„Sei bitte nicht kindisch, bist Du nun ein Polizist, oder nicht? Dort gibt es weder Geister noch Tote, die in Fetzen gekleidet herumwandeln!“

 

Etwas vor sich her murmelnd ging Tom hinaus. Er haderte mit seinem Schicksal.

Familiäre Bande

Mahrer grübelte. Ja, es war ungefähr vierzig Jahre her, dass die U-Bahn gebaut wurde, aber gab es denn niemand mehr, außer der Diözese, die da Insiderwissen hatte?

 

Robert! Ja, Robert sein Cousin! Der war Journalist bei einer großen Tageszeitung und immer gut informiert, was sich so in Wien abspielte. Nun ist er zwar in Pension, doch schreibt er noch immer als Freelancer für verschiedene Zeitungen.

Er nahm sein Telefonverzeichnis zur Hand und zögerte ein wenig. Sie waren zwar Cousins, doch hatten sie schon einige Jahre keinen Kontakt mehr. Er war damals beim Rentenantritt ins Waldviertel gezogen, hatte dort einen alten Bauernhof renoviert und schreibt nun von dort aus. Bei einem Familientreffen hatte er ihm erzählt, dass das sein Refugium sei und er dort wunderbar schreiben könne. Seine Frau Sabine züchtete sogar Hühner!

 

Er fand die Nummer. Es läutete.

 

„Hallo Robert, hier ist Georg, Georg Mahrer, Du erinnerst Dich an mich?“.

Einige Sekunden war es still.

„Ja, Mensch Georg! Wow, wie lange ist das denn her, dass wir uns gesehen haben? Ich denke Jahre!“, lachte er dann.

„Ja Robert und es tut mir eigentlich leid. Aber irgendwie haben wir uns aus den Augen verloren. Aber Du weißt ja, wie das ist, Arbeit, Familie usw.“

„Bist Du nicht bei der Polizei? Ich erinnere mich! Und wieso rufst Du mich gerade jetzt an? Versteh´ mich nicht falsch, ich freue mich wirklich. Aber Du weißt, der Journalist in mir wird da sofort neugierig!“, lacht er.

 

„Ja, Du hast Recht! Ich bin inzwischen Kommissar bei der Mordkommission und habe da einen Fall, der mich irgendwie verstört!“

 

Und er schilderte Robert die bisherigen Fakten, dieser hörte interessiert zu.

„Kannst Du Dich noch an den Bau der U-Bahn in Wien erinnern? Angeblich soll es noch immer, besonders unter der City, unzählige Tunnels und Räume geben, die damals einfach zugemauert wurden. Angeblich, damit sich niemand in ihnen verirrt. Nun vermute ich aber, dass man doch von diesen unterirdischen Gängen und Räumen irgendwie in die Michaelerkirche gelangen könnte! Wird ja sicher nicht dauernd kontrolliert.“

 

Es war einige Sekunden ruhig in der Leitung. Robert atmete tief und schluckte. Und dann erzählte er ihm von jener Nacht, in der er und Sabine fast ihr Leben verloren hätten. Er schilderte ihm das Grauen, das aus der Tiefe kam. Und wie alles vertuscht wurde, nur um die Bevölkerung nicht zu ängstigen.

 

„Und siehst Du, damals haben sie wahrscheinlich einige Gänge und Tunnels zugemauert, nachdem sie sie ausgeräuchert hatten. Die Nachrichtensperre darüber wurde niemals aufgehoben und mein Chefredakteur entschied, dass wir lieber nichts darüber schreiben und uns auch daran halten. Er wollte da keine Probleme haben!“

 

„Wie hat es denn Sabine verarbeitet? Es muss ja schlimm für sie gewesen sein“, fragte Mahrer.

 

„Sabine hatte bis zu ihrem Tod Albträume. Wir konsultierten auch einen Psychologen, aber es ging nicht vorüber. Sie wachte trotzdem oft schweißgebadet und atemlos auf und ich musste sie dann beruhigen. Seit dieser Nacht konnte sie ohne ein kleines Licht im Raum nicht schlafen“.

 

„Sabine ist gestorben? Das tut mir leid! Wann ist sie denn gestorben?“

„Vor fünf Jahren“, sagte Robert sehr leise. Es musste ihn sehr getroffen haben!

„Und wie hast Du das verarbeitet?“

 

„Naja, Männer sind da doch ein wenig härter im Nehmen. außerdem hatte ich als Journalist schon vieles erlebt. Ich steckte das leichter weg! Georg, wenn Du die Pläne erhalten hast, rufe mich an. Ich komme dann nach Wien und wir schauen sie uns gemeinsam an. Du kannst Dir vorstellen, dass mich das sehr interessiert!“

 

„Ich danke Dir! Ja, dieses Angebot nehme ich gerne an. Hast Du eigentlich noch Deine Aufzeichnungen von damals? Kannst Du die mitbringen?“

 

„Ja, suche sie raus. Erst vor einigen Tagen ist mir da etwas in die Hände gefallen, muss daher nicht viel suchen. Habe über alle meine Artikel und Arbeiten Kopien im Archiv! Werde sie Dir mailen!“

 

„Ohja, danke im Voraus, ich freue mich auf Deinen Besuch!“, sagte Mahrer und beendete das Gespräch.

 

Intensive Recherchen.

 

Er rief nach Tom und informierte ihn darüber, was er eben von Robert erfahren hatte.

 

„Du nimmst aber nicht an, dass mich das jetzt beruhigt! Das klingt ja alles wie ein Horrorfilm“, sagte Tom besorgt.

 

Mahrer beschloss in die Pathologie hinunter zu fahren und mit Barbara zu sprechen.

 

„Hallo, Du! Wie geht es Dir, gleich am ersten Tag ein Mord! Kannst Du mir schon mehr sagen über meine Gruft-Tote?“

 

„Ja, sie ist tatsächlich erwürgt worden. Und zwar müsste der Mörder hinter ihr gestanden haben und ihr eine Drahtschlinge um den Hals geschlungen haben. Sie hatte Wunden auch an den Fingern, da sie sich offenbar gewehrt hatte, und die Schlinge lockern wollte. Dadurch hat sich der Draht ins Fleisch gedrückt und ihre Finger wurden teilweise eingeschnitten. Außerdem war sie offenbar auch schwer drogensüchtig. Sie hatte Opiate im Blut und anhand ihrer Haare konnte ich feststellen, dass sie die Drogen schon monatelange genommen haben muss. Das lagert sich in den Haaren immer ab. Außerdem war sie stark unterernährt und wahrscheinlich auch Alkoholikerin, ihre Leber war beeinträchtigt und etwas größer als normal!“

 

Mahrer schüttelte den Kopf.

 

„Das klingt ja schrecklich! Diese arme Frau!“

 

„Ich habe ihre Fingerabdrücke durch das System gejagt, es gab keinen Erfolg! Ich vermute, aus ihrem Gesamtzustand heraus, dass sie obdachlos war. Sie hatte auch einen Ausschlag und einige Rattenbisse. Diese Biester fallen oft über im Freien schlafende Menschen oder Tiere her! Und um die Sache noch komplizierter zu machen, habe ich festgestellt, dass sie im vierten Monat schwanger war!“

 

Das Wort „Ratten“ war der Auslöser dafür, dass Mahrer ihr von seinem Gespräch mit seinem Cousin Robert erzählte. Barbara hörte ihm mit großen Augen zu und es schauderte sie.

 

„Also, das ist ja entsetzlich! Ich kann mir vorstellen, dass das Spuren bei der armen Frau hinterlassen hat. Von einem solchen Erlebnis kann man sich nie wieder erholen!“, sie schüttelte sich und kam Mahrer ganz nahe und ließ sich umarmen.

„Ja, halt mich einen Moment!“ flüsterte sie. Der Samstagabend war für Beide eine nachdenklicher. Sie saßen eng aneinander gekuschelt am Sofa im Appartement von Mahrer und hörten gemeinsam Musik. Georg Mahrer blätterte in einem Fotoalbum und fand einige Bilder, wo Cousin Robert ebenfalls drauf war. Er lächelte.

 

„Guten Morgen Monika, wo ist Tom?“ fragte er am Montagmorgen. Monika blickte von ihrem Schreibtisch kurz auf.

 

„Tom ist in der Michaelerkirche, er befragt dort die Leute. Die Spurensicherung ist noch am Samstag fertig geworden. Die Protokolle liegen in Deinem Körberl“, sagte sie.

 

Das Telefon klingelte, es war Alex Fuhrmann.

 

„Guten Morgen Georg! Ich habe gestern in Dürnstein noch mit Dompfarrer Traber gesprochen, er wird heute noch seinen Freund in der Diözese anrufen und die Dringlichkeit der Angelegenheit betonen! Solltest vielleicht am Nachmittag anrufen, vielleicht haben sie die Kopien schon gemacht!“, sagte Fuhrmann, offenbar gut gelaunt. Also war sein Ausflug gestern angenehm und er traf sicherlich viele Prominenz.

 

Mahrer beschloss, ebenfalls zur Kirche zu fahren und Tom vielleicht ein wenig zu entlasten, oder nochmals an Ort und Stelle Eindrücke zu sammeln.

 

Tom hatte sich in einem Nebenraum des Büros von Pfarrer Reber eingerichtet und befragte die Leute dort. Mahrer beschloss, ihn nicht zu stören und begab sich zur Gruft. Er stieg die Treppe hinunter. Der Raum war wohl temperiert und klimatisiert. Die Luft leicht einzuatmen, keine Spur von Feuchtigkeit oder vielleicht eines muffeligen Geruches, wie man sich nun eben eine Gruft vorstellt. Es war gerade keine Führung, daher war die Beleuchtung ausgeschaltet.

 

Mahrer wollte gerade nach dem Schalter neben dem Eingang greifen, als er im hinteren, wesentlich dunklerem Teil der Gruft eine Bewegung wahrnahm.

„Hallo, ist da jemand?“ rief er, doch er bekam keine Antwort. Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, er schaltete das Licht ein. Ja, da war eine Bewegung, es war tatsächlich eine Gestalt, die sich an die Wand drückte.

„Hallo, Herr Kirchenmeister, sind Sie es?“ reif er lauter, doch es kam keine Antwort. Mit großen Schritten ging Mahrer durch den Mittelgang, an den Särgen vorbei und stand vor einer Mauer. Es war kein Durchgang, oder Türe zu sehen. Mahrer tastete die Wand ab, drückte einige Steine, aber es war alles unbeweglich. Er klopfte auch das Mauerwerk ab, doch es klang nicht hohl. Er tastete sich weiter nach links und drückte jeden Stein extra, als einer plötzlich nachgab und sich ein Spalt öffnete ein Arm hervorschoss und ihn an seiner Jacke packte und hineinzog. Sofort schloss sich der Spalt wieder. Mahrer sah im ersten Moment gar nichts als Dunkelheit. Er spürte nur, dass er nicht alleine war. Es stand offenbar jemand hinter ihm, er spürte den Atem und Bewegung. Langsam gewöhnte er sich an die Dunkelheit und sah Umrisse. Er drehte sich rasch um und sah neben sich eine vermummte Gestalt. Diese Gestalt sah tatsächlich so aus, wie sie Tom geschildert hatte. Sie war eine große, in fetzenartige Tücher gewickelte Figur mit einer Art Kapuze, die Augen lagen im Schatten oder durch eine Sonnenbrille verdeckt. Er trug eine Art Vollbart.

 

„Wer sind Sie und wo kommen Sie so plötzlich her?“ fragte Mahrer erschrocken.

 

„Das ist nicht von Belang! Sagen Sie ihren Leuten, sie sollen verschwinden, sie stören uns hier! Wir wohnen und leben hier!“ sagte diese Gestalt mit rauer, tiefer Stimme. Die Stimme war zwar rau, aber sie klang kultiviert.

 

„Das kann ich nicht. Wir untersuchen hier einen Mord, den Mord an einer jungen Frau. Sie war schwanger, also kann man sogar sagen, es war ein Doppelmord, Wenn Sie etwas darüber wissen, müssen Sie es sagen!“, schrie ihn Mahrer an. Gleichzeitig registrierte er, dass der Atem dieser unheimlichen Gestalt irgendwie schneller wurde.

 

In der Zwischenzeit hatte er sich soweit an die Dunkelheit gewöhnt, da außerdem in der Tiefe des Raumes zwei Öllampen brannten. Sie gaben aber nur so viel Helligkeit ab, dass Mahrer nun verschwommen auch noch andere Gestalten erkennen konnte. Sie standen einfach nur da, bewegten sich im Rhythmus hin und her und summten. Es wirkte bedrohlich.

 

„Ich habe Sie gewarnt!“, sagte die Gestalt neben ihm. Es klang wie eine Drohung.

Eine der Gestalten löste sich aus dem Pulk kam auf ihn zu und gab ihm einen leichten Stoß. Er stürzte. Die anderen kamen nun ebenfalls näher und beugten sich über ihn und gaben schmatzende Geräusche von sich. In Mahrer stieg Angst auf.

Es gab auch Bewegung rundum, immer wieder huschte etwas an ihm vorbei; es waren wahrscheinlich Ratten.

 

Das Licht im Hintergrund erlosch so plötzlich als es gekommen war, das Schmatzen hörte auf, Mahrer spürte einen leichten Luftzug und dann fühlte er, dass er plötzlich alleine war. Sie waren alle verschwunden, als wären sie niemals da gewesen. Völlige Dunkelheit umgab ihm.

 

Er richtete sich mühsam auf, tastete sich an der Wand entlang und suchte irgendeinen Mauervorsprung oder etwas Erhabenes, um den Spalt wieder öffnen zu können, doch er fand nichts. Er holte sein Mobil-Telefon hervor, doch es gab keinen Empfang.

 

„Halloooo! Hört mich Jemand!!“ rief er einige Male laut. Ganz schwach hörte er nach einer Weile die Stimme Toms.

 

„Georg, hallo, bist Du da irgendwo?“, rief dieser.

 

Mahrer zog einen Schuh aus und klopfte an die Wand und rief immer weiter nach Tom. Endlich hörte ihn dieser.

 

„Hierher, Leute kommt hierher!“, rief Tom.

 

Sie kamen mit einem Vorschlaghammer und waren bereit, die Mauer zu durchbrechen. Tom ging ein wenig zur Seite, lehnte sich an die Mauer um Platz zu machen und plötzlich öffnete sich wieder der Spalt und ein zwei Meter langer Steinblock drehte sich und sprang hervor und die Öffnung war gefunden. Einer der Männer sicherte den Stein, sodass er sich nicht wieder drehen konnte, der Spalt wurde offen gehalten. Mahrer stürzte heraus. Er war staubig und schmutzig von oben bis unten, hatte in der Hand einen seiner Schuhe und drei seiner Finger waren blutig. Er musste sich erst an das Tageslicht gewöhnen

 

„Um Gottes Willen, Georg, wie bist Du denn da hineingeraten?“, Tom klang wirklich sehr besorgt!

 

Mahrer schilderte Tom, was geschehen war.

 

„Na, siehst Du! Du hast mir nicht geglaubt! Ich habe diese Gestalt wirklich gesehen, doch sie ist plötzlich wieder in der Mauer eingetaucht, mit ihr verschmolzen. Jetzt wissen wir, wie sie das gemacht hat!“

 

„Es tut mir leid, dass ich Dir nicht geglaubt habe! Aber danke Tom für diese Aktion! Wieso hast Du mich überhaupt gesucht?“

 

„Der Kirchenmeister sah Dich in die Gruft gehen und nicht wieder raufkommen. Er ging dann auch hinunter und wollte wissen, ob Du was brauchst, konnte Dich aber nicht mehr finden! Da kam er zu mir!“

 

„Tom, da unten leben Menschen unter menschenunwürdigen Umständen! Man sollte sie heraufholen. Da unten ist es feucht und muffelig, kein Tageslicht kommt da hin. Wer weiß eigentlich davon? Da sie aber offenbar nicht durch die Gruft ein und ausgehen können, ohne gesehen zu werden, muss es andere Zugänge zu dieser Unterwelt geben. Die sollten schleunigst gefunden werden“.

 

Mahrer dachte wieder an Robert. Was hat er gesagt, da gibt es Ratten, Krankheiten, die Pest……..

 

Der Gedanke, dass die City unterminiert war, dass sich da seltsame Gestalten bewegten, ja sogar wohnten, erweckte in ihm ein dumpfes Gefühl. Also nur nicht in Panik geraten, lächelte er. Das muss man aufklären! Wahrscheinlich war die junge Frau auch eine von ihnen; und einer war womöglich der Mörder!

 

Trotz intensivem Suchens in der Innenstadt und im angrenzenden vierten Bezirk konnte man nirgendwo solche Zugänge von außen finden. Die Kanalbrigade suchte sogar den Wienfluss entlang, wo es einige Eingänge in Kanäle gab, doch leider verlief alles ohne Ergebnis.

 

Pfarrer Julius Reber von der Michaelerkirche war nahezu entsetzt, als er von Kommissart Mahrer über den Stand der Untersuchungen informiert wurde. Er sprang auf und ging im Raum auf und ab.

 

„Sie sagen jetzt, dass da in den Tunnelanlagen Menschen leben, ja sogar in unserer Gruft aus und eingehen könnten? Natürlich habe ich gewusst, dass es ein weit verzweigtes Tunnelsystem mit Verbindungen zu verschiedenen Kirchen und Gebäuden gibt. Viele stammen noch aus dem Mittelalter. Die Innenstadt ist mancherorts bis zu fünf Stockwerken unterkellert! Es gab immer wieder Gerüchte. Aber ich nahm an, dass das alles stillgelegt wurde. Von meinem Vorgänger habe ich da keinerlei Informationen erhalten. Allerdings nehme ich an, dass die Diözese schon informiert ist. Ich nehme auch an, dass das Denkmalamt noch Pläne haben dürfte!“. Er setzte sich wieder.

 

„Es gibt viele Häuse, am Trattnerhof und in der Goldschmiedgasse z.B., die haben Kelleranlagen die bis zu drei Stockwerke hinuntergehen und auch heute noch genutzt werden. Da fahren sogar Paternoster hinunter und wieder herauf. Aber niemals habe ich etwas davon gehört, dass man da solche Individuen getroffen hätte. Ja, und natürlich wird es da auch Ratten geben!“

 

Mahrer überlegte kurz, ob er ihm von den Vorkommnissen beim U-Bahnbau erzählen sollte, ließ es aber dann. Das war ja nun sehr viele Jahre her und der Pfarrer viel zu jung um da etwas mitbekommen zu haben.

 

Mahrer und Tom fuhren wieder ins Büro.

„Um Gottes Willen, Chef, wie schaust Du denn aus?“, Monika starrte ihn fassungslos an.

 

Erst jetzt wurde Mahrer bewusst, dass er völlig verschmutzt, staubig und zerrissen aussehen musste. Er bürstete sich notdürftig ab und beschloss, nach Hause zu fahren, um zu duschen und sich umzuziehen.

 

Er stand noch unter der Dusche, als es läutete. Es war Barbara. Sie hatte ihre Arzttasche bei sich und etwas zu essen vom Chinesen.

 

„Wieso kommst Du her? Ich bin völlig in Ordnung, keine Sorge!“, lächelte er sie an und umarmte sie dankbar. Es tat ihm gut!

 

„Setze Dich hierher, und lüfte Deinen Bademantel, ich werde Dich pieken!“, lachte sie.

 

Es nützte Mahrer nichts, dass er protestierte.

 

Sie aßen dann, sprachen dabei sehr wenig, aber Barbara war neugierig, was geschehen ist, denn Tom war sehr beschäftigt und konnte sie nicht wirklich informieren. Mahrer schilderte ihr die Vorkommnisse.

 

„Können wir da nicht wieder hingehen? Ich bin nicht nur Pathologin, ich bin auch Ärztin und ich vermute, dass diese Menschen sicherlich alle möglichen Krankheiten haben werden und Hilfe brauchen. Ich will sie untersuchen, vielleicht auch beeinflussen, dass sie die Tunnels verlassen! Dass sie dort leben, ist ja sicher auch illegal! Warum habt ihr sie nicht weiterverfolgt. Mit starken Lampen hätte man ja tiefer eindringen können!“

 

 

„Also ohne die Pläne vorher einzusehen, gehen wir da sicher nicht rein. Und nein, das ist sicher nichts für Dich! Ich denke, sie sind auch gefährlich, sie haben mich körperlich bedroht und glaube mir, ich hatte wirklich Angst!“

 

„Ich werde aber nicht lockerlassen, ich werde das Gesundheitsamt verständigen und werde um Bewilligung ansuchen! Da bin ich stur!“, lachte sie.

 

Mahrer war klar, dass sie nicht davon abzubringen war.

 

„Ich hoffe, dass ich morgen die Kopien der Pläne bekomme. Ich will wissen, wie groß dieses unterirdische Netzwerk ist, vielleicht sind da auch Ausgänge eingezeichnet. Leider haben wir bis heute keine Ahnung, wer die Tote ist“

 

„Also da kann ich dir vielleicht morgen helfen. Ich habe DNA-Proben und Fingerabdrücke überprüfen lassen. Bei den Fingerabdrücken bin ich nicht fündig geworden, aber ich glaube die DNA hat eine Übereinstimmung mit vorhandenen Aufzeichnungen gegeben. Die Übereinstimmung war nicht 100%-ig, aber in einigen Punkten ergab sich da was“.

 

„Oh, das wäre ja wundervoll, das würde uns sehr helfen! Komm ich ziehe mich nur an und wir fahren gleich ins Büro!“

 

„Wir fahren heute nirgends mehr hin. Du hast soeben zwei Spritzen bekommen, Du brauchst Ruhe und wirst sowieso gleich einschlafen, und außerdem ist es schon vier Uhr nachmittags, da ist sowieso niemand mehr im Büro!“

 

„Du Hexe, Du hast mich ruhiggestellt?“ lachte Mahrer.

 

„Ja, und ich gehe jetzt und lasse Dich alleine, schaue aber später noch einmal vorbei. Deine Wohnungsschlüssel nehme ich mit, falls Du mich nicht hörst!“, sagte sie lächelnd und küsste ihn sanft. Mahrer spürte bereits die Wirkung der einen Spritze und schloss die Augen. Er liebte es, von Barbara so zärtlich behandelt zu werden.

Die Erforschung der Unterwelt.

 

 

Völlig wiederhergestellt und voller Tatendrang betrat Kommissar Mahrer am nächsten Morgen etwas verspätet, sein Büro.

„Guten Morgen Chef, Kaffee?“, strahlte ihn Monika an.

 

„Guten Morgen, nein heute nicht, habe zu Hause Kaffe getrunken und wunderbare Croissants mit Butter und Marmelade bekommen!“.

 

Monika lächelte wissend. Obwohl es offiziell niemand wusste, war die Liaison des Kommissars und der Pathologin doch allgemein bekannt.

 

„Auf Deinem Schreibtisch steht ein flacher Karton, ziemlich groß und versiegelt. Er wurde heute Morgen von einem Boten der Diözese zu Deinen Händen abgegeben und ich musste schwören, ihn nur Dir persönlich zu übergeben!“

 

„Jaaa, das sind die Pläne über das unterirdische Tunnelsystem in der City. Wo ist Tom, wir wollen uns das gemeinsam ansehen!“

 

Er erbrach das Siegel und holte die Pläne heraus. Es waren verschiedene Sektoren unter der City und auch bis in den zweiten und vierten Bezirk. Mahrer war erstaunt, wie weit verzweigt diese Tunnelsystem war, manche erweiterten sich zu saalartigen Räumen. Es waren auch Nischen eingezeichnet. Rote Sterne waren vereinzelt zu sehen und es gab auch offenbar technische Anmerkungen. Es dürfte sich um ein Beleuchtungssystem handeln. Wobei man das mit Vorsicht genießen wird müssen, ob da überhaupt noch was funktionierte.

 

„Wow, Chef, das sind ja eine ganze Menge von Plänen! Wo sind die Pläne, abgehend von der Michaelerkirche?“

Sie suchten sie und fanden sie auch. Sie legten die Pläne am Fußboden aus.

 

„Was hier aber total fehlt, ist die Verbindung von der Michaelerkirche zum Stephansdom, bzw. Stephansplatz. Es gibt nur Aufzeichnungen bis zur Peterskirche am Graben, dann erst geht es wieder weiter von der Stephanskirche zu einer Kirche auf der Taborstraße, dazwischen fehlt ein Stück!“

 

Sie knieten beide am Boden und schoben die einzelnen Bögen hin und her, als Alex Fuhrmann, der Dezernatsleiter hereinkam.

 

„Ja, hallo, was spielt ihr denn da?“, lachte er.

Georg Mahrer erklärte es ihm und bedankte sich gleichzeitig dafür, dass er die Sache so beschleunigt hatte.

 

Sie ließen alles, so wie es ist am Boden liegen und setzten sich zu dem kleinen Tischchen, dass von Mahrer auch zu Besprechungen benützt wurde. Dann berichtete er Fuhrmann über die letzten Ermittlungen.

 

„Also Georg, ich bin froh, dass Du da glimpflich davongekommen bist. Natürlich müssen wir das an das Gesundheitsamt melden und auch ins Rathaus. Ich werde das erledigen. Ich kenne da den zuständigen Stadtrat. Die Peterskirche, hat einen Sonderstatus, die seelsorgerische Betreuung wurde noch von Kardinal König an Opus Dei übertragen. Solltest Du da irgendwelche Fragen haben, bitte komm vorher zu mir. Opus Dei muss man sehr vorsichtig behandeln, sie haben nicht nur Geistliche Mitglieder, die Drähte reichen bis in die höchsten Regierungskreise! Sie bilden eine Gruppe, die sich gegenseitig in Wirtschaft und Politik unterstützt. Eine eigene Seilschaft sozusagen. Das…“

 

„Ja ich weiß, das kann nach Hinten losgehen!“, lachte Mahrer. Alex Fuhrmann war schon wieder vorsichtig und wollte nicht anecken.

 

Sie nummerierten die einzelnen Pläne und legten sie wieder in den Karton. Bevor Mahrer nun etwas plante, wollte er sich doch über die neuen Aspekte informieren

Neugierig geworden, fragte er Opus Dei im Netz ab und konnte folgendes erfahren, was er sich ausdruckte und zum Akt legte.

 

Das Opus Dei („Werk Gottes“), eigentlich Prälatur vom Heiligen Kreuz. Opus Dei ist eine 1928 gegründete Institution in der römisch-katholischen Kirche Kirchenrechtlich stellt sie eine sogenannte Personalprälatur dar.

 

Die Gesellschaft wurde von Josemaría Escrivá als Zusammenschluss von Laien mit dem Ziel der Heiligung der Arbeit und der Verchristlichung der Gesellschaft gegründet und bildet seit 1943 eigene Priester aus. Das Opus Dei ist die bislang einzige Personalprälatur und ausschließlich dem Papst unterstellt. Das Werk hatte 2016 weltweit 94.776 Mitglieder, davon 2.109 Priester, der Hauptsitz liegt in Rom.

Das Vermögen von Opus Dei wurde 2005 auf ca. 2,8 Milliarden US-Dollar geschätzt. Es gibt auch Mitglieder, die keine Priester, aber immer katholisch sind. Sie sind einem tadellosen Lebenswandel verpflichtet und es gibt auch immer wieder geheime Treffen, von denen nichts nach außen dringt.

 

Mahrer wollte unbedingt auch die fehlenden Pläne von dem Teilstück zwischen der Peterskirche und St. Stephan haben. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass das auch wichtig sei. Er griff zum Telefon und rief wieder in der Diözese an. Zuerst bedankte er sich für die prompte Übermittlung, dann bat er, ihm die fehlenden Pläne nachzureichen.

 

„Oh, das tut mir leid, die sind unter Verschluss! Die kann ich Ihnen nicht so ohne weiteres aushändigen!“ sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. Mahrer war verblüfft.

 

„Wieso sind die unter Verschluss?“

 

„Das kann ich ihnen nicht sagen, ich bin nur der Archivar. Da müssten sie mit Dompfarrer Elias Traber von St. Stephan oder mit meinem Chef, Pater Bonifazius sprechen“ und legte auf.

 

Um der Mahnung von Alex Fuhrmann gerecht zu werden, rief er ihn an und bat ihn, nochmals Kontakt zu Dompfarrer Traber aufzunehmen um ihn zu fragen, wieso dieses Teilstück unter Verschluss gehalten wird.

 

Unter Verschluss.

 

Von diesem Telefonat und den dunklen Klostergeheimnissen hatte Mahrer natürlich keine Ahnung, als das Telefon klingelte, es war Barbara.

 

„Du ich habe nun die Ergebnisse der DNA-Untersuchung. Es gibt tatsächlich Übereinstimmungen mit einem Pater aus dem Kloster, das an die Peterskirche am Graben angeschlossen ist. Es handelt sich um Pater Pawlow, ein gebürtiger Russe, der schon viele Jahre in diesem Kloster lebt und nun sozusagen das Gnadenbrot dort bekommt. Er ist schon achtzig Jahre alt. Ich habe seine Unterlagen hier liegen“, sagte sie.

 

„Und woher hast Du da die Vergleichswerte? Der wird doch nicht kriminell sein?“, fragte Mahrer neugierig.

 

„Nein, nein! Er war einmal in einen Unfall mit Todesfolgen verwickelt und wurde schwer verletzt und da hat man ihm eben auch Blut abgenommen und ihm auch einen Blutspenderausweis ausgestellt. Dieser Pater ist ganz sicher mit der Toten nahe verwandt! Dem Altersunterschied nach müsste es sich um seine Tochter oder Enkelin handeln!“

 

„Oh, sehr interessant! Danke Dir! Und wie kommt ein katholischer Pater aus einem Kloster zu Kindern oder Enkelkindern?“, fragte Mahrer leicht amüsiert. „Vielleicht ist es nur eine Nichte, vielleicht hat er Geschwister?“

 

„Nein, es ist eindeutig eine direkte Linie!“, widersprach Barbara, „kommst Du heute Abend zu mir, ich erkläre es Dir! Theoretisch und auch praktisch“ lachte Barbara.

 

Mahrer rief nun wieder Alex Fuhrmann an, er musste unbedingt mit diesem Pater sprechen.

 

„Alex, ich habe schon wieder ein kleines Problem!“ und er informierte ihn über die letzten Erkenntnisse.

 

„Also nein, ich flehe Dich an, das geht gar nicht! Du kannst keinen so alten Pater, noch dazu von Opus Dei, vorladen, ohne stichhaltige Beweise!“

 

„Alex, wieder einmal, wir sind die Mordkommission und wenn ich jemand befragen will, weil er vielleicht helfen kann, den Mord aufzuklären, dann muss ich das machen! Ich suche Beweise. Ich dachte Du bist mein Chef und auch für die Abteilung verantwortlich“

 

„Also gut! Aber lasse mich da außen vor, nenne vorerst nicht meinen Namen, mache das über den Amtsweg und neutral. Ich denke, Du brauchst aber das Einverständnis des Regionalvikariat im Dritten. Rufe da einmal an. Sollte sich was ergeben, dann stoße ich dazu und unterstütze Dich selbstverständlich! Servus!“

Alex Fuhrmann war verärgert und man konnte das hören.

 

Mahrer legte auf und schüttelte den Kopf. Das war wieder typisch! Alex wollte nirgends anecken, hatte Angst um seinen Stuhl und seine Karriere! Aber wenn es Erfolge gab, dann war er der Sprecher in eventuellen Pressestunden und betonte seine Mitarbeit.

 

 

Es war gar nicht so einfach, bis zur Geschäftsleitung von Opus Dei vorzudringen. Mahrer hatte Monika gebeten, ihn mit der Geschäftsleitung zu verbinden.

Inspektor Monika Pohl warf genervt das Handtuch und gab diese Agenda an Mahrer zurück.

 

„Chef, ich schaffe das nicht! Sie verbinden mich zehn Mal und dann fliege ich letztendlich raus!“

 

Seufzend machte sich Mahrer an die Arbeit und war endlich mit einem Pater Josef verbunden.

 

„Habe ich das richtig verstanden Herr Kommissar! Sie wollen einen unserer Patres in die Mordkommission zitieren, um ihn zu Ereignissen zu befragen, die über 40 Jahre her sind?“

 

„Ja, aber es ist sehr wichtig für die Recherchen, die wir machen!“, versicherte ihm Mahrer.

 

„Pater Pawlow ist über achtzig Jahre alt. Er verlässt das Kloster nicht mehr und genießt bei uns seinen Ruhestand. Aber, wenn Sie wirklich Fragen haben, dann reichen Sie sie bei uns schriftlich ein und wir beantworten das gemeinsam mit Pater Pawlow gerne, ebenfalls schriftlich! Sie müssen wissen, sein Gedächtnis ist nicht mehr so gut und er leidet an beginnender Demenz“, sagte er abweisend.

Das war natürlich ein kluger Schachzug von Pater Josef! Denn wie soll man Aussagen bewerten, die von jemand gemacht werden, der an Demenz leidet!

 

„Also nein. Das geht so nicht. Aber wenn Pater Pawlow das Kloster nicht mehr verlässt, dann bin ich gerne bereit, zu ihm zu kommen!“, versuchte Mahrer, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben.

 

Einen Moment war es still, dann sagte die Stimme am Telefon:

 

„Wir werden das besprechen. Bitte senden Sie uns eine Mail mit Ihrer Anfrage und wir melden uns, wenn das möglich ist!“ Klick, und weg war er. Nun war Mahrer verärgert.

 

Nicht geklärte Mysterien

Mahrer brütete über den Plänen der unterirdischen Gänge unter der Wiener City. Immer wieder wandte er sich der Sektion unter der Michaelerkirche zu. Er konnte nicht recht glauben, dass man oben nicht wusste, was sich so unterirdisch abspielte. Obwohl natürlich, war schon die Gruft unter dem Straßenniveau. Die Gruft wurde außerdem vor Jahren renoviert und neue Lüftungssysteme eingebaut. Es stand auch damals in allen Zeitungen, dass man dabei Särge geöffnet und festgestellt hatte, dass die Körper nicht wirklich verwesten, sie waren nach Jahrhunderten noch immer gut erhalten. Es musste also irgendwelche klimatischen Einflüsse geben, die das Verwesen verhinderten.

 

Doch durch die vermehrten Besucher veränderte sich auch das Klima dort und es mussten durch Klimageräte die alten Verhältnisse wieder hergestellt werden!

Nie wieder wird er auf der Kärntnerstrasse flanieren, oder am Graben in Ruhe einen Kaffee trinken können, ohne dass er daran denken wird, dass sich unter seinen Füßen dunkle Gänge winden, Ratten herumtummeln und dort Menschen in Lumpen gekleidet leben.

 

Er griff zum Telefon und wählte die Nummer Roberts.

 

Dieser meldete sich sofort, er saß an seinem Schreibtisch und schrieb einen Artikel über die Korruption in allen Bereichen des Landes!

 

„Ja, bitte, wer stört?“ fragte er gut gelaunt.

„Hier ist Dein Cousin Georg. Ich habe inzwischen die Pläne aus der Diözese erhalten und stehe bereits in einem Gefecht mit Opus Dei. Ich nehme an, dass Dich das interessiert?“

 

„Opus Dei? Ohja, das wird interessant! Ich sattle sofort die Hühner und bin morgen bei Dir im Büro!“

 

Mahrer vereinbarte mit ihm noch die Uhrzeit und legte dann auf. Nun rief er Barbara an.

 

„Barbara, mein Cousin Robert, Du weißt schon, der Journalist der damals involviert war, als die Baugrube unter der Stephanskirche tagelang abgesperrt war, kommt morgen zu mir ins Büro. Willst Du da auch dabei sein, wenn wir uns die Pläne ansehen?“

 

„Natürlich will ich das! Ich habe da auch einige Fragen an ihn!“, sie jubelte innerlich, weil sie hoffte, dass sie sich endlich um die Leute in der geheimnisvollen Unterwelt kümmern wird können.

 

„Monika, bitte grabe mir die Unterlagen über einen Unfall aus, der anfangs der achtziger Jahre passierte. Die Beteiligten war auf jeden Fall ein Priester namens Pawlow, russischer Abstammung und noch eine unbekannte Person. Der Priester wurde schwer verletzt und lag sogar längere Zeit im Spittal. Ich will wissen, wer an dem Unfall schuld war, etc. etc“.

 

„Du weißt aber schon, dass das schon ca. fünfunddreißig Jahre her ist? Ich weiß gar nicht, ob der im Computer erfasst ist!“, seufzte Monika.

 

„Ja, ich kann auch rechnen, aber ich glaube der spielt in unseren Mordfall rein“, lachte Mahrer.

 

Tom kam ganz aufgeregt in die Abteilung zurück.

 

„Chef, stell Dir vor, unsere Männer haben nun endlich nach Tagen einen Zugang zum Tunnelsystem gefunden. Du kennst doch die runden Litfaßsäulen, an welchen auch immer Reklameplakate angebracht werden und die auch als Zugang für die Kanalbrigade dienen. Da kann man in die Kanalisation durch Treppen einsteigen und von dort führen ebenfalls Gänge weg, die letztlich auch zu den Tunnels führen. Es wurden nicht alle zugemauert. Wir könnten also durch einer dieser Säulen in der City hinabsteigen!“, er war richtig erregt.

 

„Ohja, das habt Ihr gut gemacht! Diese Litfaßsäulen habe ich ganz vergessen! Wir werden Morgen durch eine hinuntersteigen! Erbitte einen kundigen Führer von der Kanalbrigade, sonst verlaufen wir uns da noch und außerdem muss das gemeldet werden“.

 

Der Abstieg in den Hades

Als am nächsten Tag dann Robert kam, machten sie sich auf den Weg. Tom, Barbara, Robert und Kommissar Mahrer. Sie trafen sich an der vereinbarten Säule mit einem der Männer von der Kanalisation, der sie schon erwartete. Er hatte für jeden von ihnen einen gelben Overall, eine Kapuze mit Nackenschutz, und Gummistiefel, sowie große, mächtige Taschenlampen mitgebracht.

 

Als sie sich beim Wagen umzogen, lockten sie einige Schaulustige an, die spaßige Bemerkungen machten, sie wurden aber von den Beamten der sie begleitenden Funkstreife rasch vertrieben

 

Mahrer hatte Robert vorher im Büro Einsicht in die Pläne genehmigt.

 

„Wow, das ist ja beängstigen, das ist ja fast eine zweite Stadt, da unterhalb der Oberfläche!“, staunte Robert.

 

„Bitte bleiben Sie zusammen. Die Wege in der Kanalisation sind zwar beleuchtet, doch, wenn sie abzweigen oder irgendwohin hineingehen, finden wir sie vielleicht nicht und die Handys funktionieren nur bedingt. Außerdem ist das Echo da unten sehr stark und die Ortung schwierig! An den offiziellen Wegen gibt es Notrufsäulen, also achten Sie darauf!“

 

Sie stiegen nun einer nach dem anderen ein. Es war überraschend laut und es gab sogar so eine Art Gehsteige, da in der Mitte kleine Bäche flossen. Sie hörten sogar so etwas wie einen Wasserfall und sie überquerten diese Bäche über Brücken. Es war eine völlig andere Welt.

 

Und es gab auch Ratten! Sie huschten an ihnen vorbei, liefen durch die kleinen Bäche oder balgten sich in einer Ecke. In Robert stiegen unangenehme Erinnerung auf und er atmete schwer, er hörte sie wieder schmatzen. Er mahnte sich zur Ruhe, wollte seine Nervosität verdrängen, doch es gelang nur sehr oberflächlich.

Auch Mahrer hatte noch immer den Text des Berichtes von Robert in Gedanken parat und es gruselte auch ihm. Nur Barbara und Tom waren völlig ruhig, sie beunruhigte offenbar gar nichts!

 

Mahrer musste lächeln. Das war eben die Jugend, die sich laufend Horrorvideos hineinzog, die nichts mehr erschrecken konnte und eine Frau, die mit Leichen sprach, wenn sie mit ihnen alleine war!

 

„Übrigens mein Name ist Martin. Wir werden jetzt dort vorne abbiegen, ich bitte Sie, die Lampen einzuschalten, dort gibt es keine elektrische Beleuchtung mehr!“, sagte ihr Begleiter.

 

Sie nickten alle und schalteten die Lampen ein. Die Lichtkegel bohrten sich in die Dunkelheit und man konnte sehen, dass der Tunnel enger als die Kanalisationswege von vorhin waren und es dumpf und feucht roch. Sie waren schon einige Minuten vorgedrungen, da sagte Mahrer plötzlich:

 

„Psssst, seid ruhig!“

 

Sofort heilten alle den Atem an.

 

„Hört Ihr Nichts? Ich höre Stimmen, nein, mehr ein

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 19.04.2019
ISBN: 978-3-7487-0196-5

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