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GREEK-FEELING

IM SCHATTEN DES OLIVENBAUMES








Es war wieder einer jener hektischen Tage, welche schon frühmorgens als solche erkennbar sind. Dr. Frank Wagner hatte vergessen die Kaffeemaschine aufzudrehen, bevor er ins Badezimmer ging. Als es ihm dann einfiel und er in die Küche lief, um den Knopf zu betätigen, hatte er auch vergessen den Kaffee in den Filter zu geben und so lief das Wasser einfach durch. Er hatte aber keine Zeit mehr, den Fehler wieder gutzumachen und ging, ohne Kaffee zu trinken, weg. Unterwegs merkte er, dass er noch tanken musste und so kam es, dass er wieder einmal sehr knapp im Büro eintraf und einen vorwurfsvollen Blick von Barbara wegstecken musste, die als seine Sekretärin die Termine koordinierte. Sie hatte einen Termin um Punkt 9.00 Uhr vereinbart und der Klient wartete bereits mit einem Anflug von Ungeduld.


Frank öffnete die Türe zum Besprechungszimmer betont schwungvoll und begrüßte einen etwas beleibten Mann mit sehr kurz geschnittenen Haaren. Seine rötliche Gesichtsfarbe verriet den Choleriker, seine hervorstehenden hellen Augen unterstrichen diesen Eindruck noch.


„Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“, fragte Frank mit einem Anflug eines Lächelns im Gesicht; er wollte die Stimmung etwas verbessern.


„Nein danke, ich habe Bluthochdruck und darf keinen Kaffee trinken“, der Klient winkte mit der Hand ab.


Die Hoffnung, nun doch noch zu einem Kaffee zu kommen, schwand zusehends.


„Was kann ich für Sie tun?“, fragt er, setzte sich an seinen Schreibtisch und blickte sein Gegenüber erwartungsvoll an.


Dieser holte seine Brieftasche heraus und überreichte seine Karte. Dr. Wagner warf einen Blick darauf. „Dipl. Ing. Robert Lingens, Baumeister“, war darauf zu lesen. Die Adresse war repräsentativ, in der Innenstadt in einem der größten Bürohäuser.


„Ich möchte mich scheiden lassen“, sagte er sehr bestimmt.


„Was ist der Grund, weshalb Sie sich scheiden lassen wollen, und wie lange sind Sie schon verheiratet?“ Dr. Wagner räusperte sich.


„Ich bin seit zirka acht Jahren verheiratet und den Grund, den Grund, weswegen ich mich scheiden lassen kann, bitte ich Sie, für mich zu finden. Ich stecke mitten in einem großen Projekt, für das ich viel Kapital benötige und ich könnte dieses Kapital auf die Beine stellen, wenn ich mich mit einer anderen Frau verheirate, die sehr kapitalstark ist.“ Er setzte ein schiefes Lächeln auf und fuhr fort: „Ich kenne eine solche Frau bereits seit einiger Zeit, die auch einverstanden wäre, mir im Falle einer Heirat dieses Kapital zur Verfügung zu stellen.“

Er sprach ohne einen Anflug von Bedauern, ohne dass es ihm unangenehm wäre, sich so zu exponieren, sein Vorhaben vor einem Wildfremden offen zu legen, als wäre dies eine geschäftliche Transaktion.


Dr. Frank Wagner war einen Moment lang sprachlos. Es war das erste Mal, dass ein Klient ein derartiges Ansinnen an ihn stellte und er wollte schon empört ablehnen und den Klienten hinauswerfen. Doch dann fing er sich wieder und gedachte seiner etwas zu kleinen Klientenschar und, dass seine Kanzlei erst seit kurzer Zeit bestand, und er neben allen Spesen auch noch Barbara bezahlen musste und … so schluckte er seine Empörung hinunter.


„Ich habe bereits mit meiner Frau gesprochen, um zu einem, für beide Seiten befriedigenden Resultat zu kommen“, er machte einen wegwerfende Handbewegung, „doch meine Frau weigert sich konsequent. Sie ist aus einer Kleinstadt und fürchtet das Gerede der Leute. Ich habe ihr auch eine Abfindungssummeangeboten, die sich sehen lassen kann, doch leider vergebens. Vielleicht können Sie einen Grund finden.“ Er lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme.


„Das ist mir leider nicht möglich, ich bin Anwalt und kein Privatdetektiv. Sie müssten sich entweder mit Ihrer Frau einigen oder einen Privatdetektiv engagieren, der vielleicht etwas beobachten kann, dass Sie dann verwenden können“, sagte Dr. Wagner mit ruhiger, beherrschter Stimme. Er griff nach seinem Telefonbuch und schrieb eine Nummer auf ein Blatt Papier. Dann stand er auf und ging um den Schreibtisch herum. „Dies ist die Nummer eines Detektivs, mit dem ich befreundet bin. Wenn Sie einen Verdacht haben, der sich als berechtigt herausstellt, so wird er es für Sie herausfinden. Sollte es da jedoch keinen Anlass geben, so werden Sie sich nur auf dem gütlichen Wege scheiden lassen können. Meine Sekretärin wird sich nun um die näheren Daten kümmern und alles notieren. Ich muss mich nun verabschieden und wenn Sie Näheres wissen, bitte kontaktieren Sie mich wieder.“ Mit diesen Worten öffnete er seine Bürotüre und geleitete den Baumeister hinaus.


Er spürte, dass dieser nicht sehr befriedigt war, hatte er doch erwartet, sofort einen Vorschlag oder noch besser, eine Lösung für sein Problem zu finden und war nun enttäuscht.


Frank setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch, schloss die Augen und überdachte diesen „Fall“. Er hatte ganz vergessen zu fragen, wie dieser Klient zu seiner Anschrift kam; hatte er ihn unwillkürlich aus dem Telefonbuch herausgesucht, oder wurde er von jemand empfohlen? Dies würde jedoch nicht für seinen guten Ruf sprechen. Er stand auf, öffnete die Tür und warf einen fragenden Blick auf Barbara.

„Wenn Sie mit dem Klienten fertig sind, bitte bringen Sie mir einen Kaffee und die Unterlagen für die heutigen Termine.“


Ohne den Klienten noch eines Blickes zu würdigen, schloss er die Türe.



Die protzig wirkende Villa, das Privatdomizil von Baumeister Robert Lingens, lag am Wilhelminenberg, leicht erreichbar mit dem Autobus, zwei Gehminuten von der Hauptstraße entfernt.


Es war früher Morgen und ringsherum war es sehr still.


Eine zarte Frau, so Mitte Dreißig, am langsam, eingehüllt in einen cremefarbigen Morgenmantel, die Treppe in den Garten herab. Sie hatte dunkles, volles Haar, ihre großen grünen Augen standen in einem starken Kontrast zu der dunklen Haarpracht und waren groß und sehr ausdrucksvoll. Ihre Erscheinung vermittelte Hilflosigkeit und Melancholie.


Giselle Lingens berührte mit einem leichten Druck einen Oleanderzweig, der die Treppe leicht überschattete und obwohl ein zarter Duft aufstieg, konnten sich ihre Gedanken in keiner Weise von ihrer ausweglosen Situation lösen. Der Vorschlag ihres Mannes, sich von ihr scheiden zu lassen, traf sie unvorbereitet und wie ein Keulenschlag. Sie war nun einige Jahre verheiratet, die Ehe war kinderlos geblieben. Sie suchte einige Ärzte auf und es wurde festgestellt, dass das Problem nicht von ihr ausging, sondern wahrscheinlich von ihrem Mann. Sie konnte ihn jedoch nicht dazu bringen, ebenfalls einen Arzt aufzusuchen, um Gewissheit zu erlangen. Mehr noch, er gab ihr alleine die Schuld. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und fast hätte sie die letzte Stufe übersehen.


Die erste wirkliche Auseinandersetzung gab es als Vater starb und Mutter sich weigerte, das Haus und die beiden angrenzenden Grundstücke zu verkaufen und für den Bau eines Hotels zur Verfügung zu stellen. Ihr Elternhaus liegt anmutig auf einer Anhöhe, mit Blick auf Waidhofen an der Ybbs und das Tal. Robert Lingens hatte geplant, dort ein Hotel mit Kongress- und Schulungszentrum zu bauen, und sah nun seinen Plan vereitelt. Er hatte sie gedrängt, ihr Erbteil einzuklagen, was sie schlichtweg ablehnte. Dieser Streit hatte das Verhältnis zwischen ihnen schlagartig zum Schlechten verändert und vor einigen Tagen kam nun sein Vorschlag, sich scheiden zu lassen.


Ein Seufzer entrang sich ihrer Brust. Sie sah ihr bisheriges Leben und ihre Ehe in Trümmern vor sich liegen. Sie setzte sich zu einer Sitzgruppe mit Tisch, die als Ruhepol im Garten aufgestellt war, und an dem sie, wenn das Wetter es erlaubte, jeden Morgen das Frühstück gemeinsam einnahmen und sie seine Anordnungen für den Tag schweigend entgegenzunehmen bewohnt war.


Vor ihrer Ehe war sie als Musikpädagogin am Musikkonservatorium der Stadt Wien angestellt. Sie hatte diese Stellung natürlich gekündigt, um sich voll und ganz dem Haushalt und ihrem Mann zu widmen. Der Haushalt lief unter ihrer Leitung störungsfrei ab, es gab einige Gartenfeste und Partys, die Stadtgespräche waren. sie lud namhafte Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur ein und erntete sehr viel Lob von allen Seiten. Doch von ihrem Mann wurde dies alles als selbstverständlich hingenommen. Er äußerte sich nur, wenn er meinte, Kritik anbringen zu müssen.

Sie seufzte und schnürte den Morgenmantel etwas enger. Es hatte sich so viel verändert. Robert war in der Zeit vor der Ehe ein sehr charmanter und zuvorkommender Mann, der erfolgreich und großzügig war. Er verstand es, sie für sich zu gewinnen und als er um ihre Hand anhielt, blieb Vater kein Argument, um abzulehnen, obwohl er nicht umhinkam, ihr seine Bedenken mitzuteilen.


„Bist Du auch sicher, mein Kind, dass dies der Mann ist, mit dem Du bis an Dein Lebensende zusammen bleiben möchtest?“, seine liebevollen Augen waren voller Zweifel. „Er hat nicht das Geringste übrig für Musik, welche Du so liebst, er ist ganz und ausschließlich Geschäftsmann.“


Doch sie zerstreute seine Gedanken, küsste ihn und war für kein Argument zugänglich. Sie fuhren in die Flitterwochen und verbrachten zwei traumhaft schöne Wochen in Griechenland. Sie fand es nur natürlich, dass er täglich mit der Firma telefonierte und dass er auch immer wieder zu geschäftlichen Gesprächen in der Hotelhalle saß und sie sich am Swimmingpool des Hotels langweilte. Er hatte einige gute Kontakte zu griechischen Baumeistern, es waren auch einige Projekte in Planung.


„Guten Morgen, meine Liebe“, tönte es hinter ihr und sie hörte seine Schritte auf der Treppe. Es war dies sein täglicher, stereotyper Satz. Er hatte die Zeitung in der einen Hand, die Aktenmappe in der anderen und zwischen seinen Brauen eine steile Falte. Anscheinend war etwas nicht nach seinem Willen abgelaufen und er ärgerte sich sehr. Er setzte sich mit einem Anflug von einem Lächeln ihr gegenüber und schaute sie kurz an. Dann rief er in Richtung Haus nach dem Kaffee, öffnete die Aktentasche, nahm sein Telefon heraus, wählte offensichtlich die Nummer von seinem Büro und gab einige Befehle durch.


Inzwischen war Martha mit dem Kaffee gekommen, stellte auch den Korb mit dem Toastbrot zurecht und wünschte einen guten Morgen. Dann ging sie wieder die Treppe hinauf.


Robert nahm sich Kaffee, angelte nach einem Toast und hielt ihn stumm Giselle entgegen und wartete bis sie den Toast mit Butter und Marmelade bestrichen hatte. Ohne ein „Dankeschön“, sondern nur mit einem zustimmenden Räuspern nahm er das Brot und vertiefte sich in seine Zeitung.


‚Wie kann er nur so dasitzen und tun, als wäre nichts geschehen! ‘, dachte sie. Sie griff nach der Kaffeekanne und schenkte sich ebenfalls Kaffee ein, da sah er auf, stellte seine Kaffeetasse hin und sagte: „Hast Du Dir die Sache mit der Scheidung nun überlegt? Wir können alles besprechen und die Sache in Ruhe abwickeln. Ich werde Dir eine ansehnliche Abstandszahlung leisten und eine monatliche Überweisung tätigen, so dass Du keinen finanziellen Schaden hast.“ Er blickte sie erwartungsvoll an.


Ohne dass sie es wollte, entglitt ihr die Kaffeetasse und es gab einen hässlichen Fleck am Tischtuch, der sich immer weiter ausbreitete. Sie bekam keinen Ton heraus.


„Diese bereits erwähnten monatlichen Zahlungen leiste ich selbstverständlich nur so lange, bis Du vielleicht noch einmal heiraten solltest.“ Diese letzte Bemerkung erheiterte ihn sichtlich und er lachte laut auf, „ich habe auch mit einem Anwalt gesprochen, er wird sich um die Formalitäten kümmern; er kommt heute im Laufe des Vormittags her. Bespreche alles mit ihm und dann können wir die Sache sehr schnell hinter uns bringen.“


Er hatte in den letzten Tagen mehrmals mit dem Anwalt telefoniert und dessen Einwände vom Tisch gewischt. Er bat ihn, in seinem Auftrag noch einmal mit seiner Frau zu sprechen, bevor er den, seiner Meinung nach, langen Weg über einen Privatdetektiv wählen würde.


Er stand auf, warf die Serviette auf den Tisch, nahm seine Zeitung und die Tasche, drehte sich um und ging die Treppe hinauf. Einige Minuten später hörte sie seinen Wagen wegfahren. Für ihn war die Angelegenheit am Laufen. „Die Sache“, wie er es nannte.


Sie hatte plötzlich ein Würgen im Hals und meinte, sich übergeben zu müssen. Sie wusste nicht, wie lange sie noch im Garten saß. Es fröstelte sie plötzlich, sie erhob sich und ging die Treppe hinauf in den Wohnraum und blieb unschlüssig stehen. Was sollte sie nun machen? Sie fühlte sich überrumpelt und hilflos.

„Ein Anwalt kommt“, durchfuhr es sie, „ich muss mich anziehen.“

Sie ging hinauf in den ersten Stock und stand eine Weile vor dem Garderobenschrank. „Was zieht man zu einer Besprechung mit einem Anwalt an?“ Ihre Finger glitten langsam über die fein säuberlich geordnete Garderobe und verblieben bei einem grauen Kostüm. Das war sicher passend.


Gerade als sie sich ihre dunkle Haarpracht aufsteckte, hörte sie die Glocke an der Türe und die Stimme von Martha. Es antwortete ihr eine dunkle Männerstimme und dann hörte sie, wie Martha in den ersten Stock kam.


„Frau Lingens“, sagte sie, „es ist Besuch für Sie in der Bibliothek, er sagt, Sie haben einen Termin mit ihm. Hier ist die Visitenkarte“. Sie legte die Karte auf ein kleines Tischchen neben der Türe und ging wieder hinaus.


Giselle blickte in den Spiegel. „Ein bisschen blass schaust Du aus“, sagte sie zu sich selbst. Sie trug etwas Rouge auf und fuhr die Konturen ihrer Lippen mit einem hellen Lippenstift nach. Ein kurzer Kontrollblick in den Spiegel. Sie nickte sich zu und ging Richtung Treppe, um nach unten zu gehen. Vor dem großen Spiegel beim Treppenabgang blieb sie noch einmal stehen und stellte fest, dass ihre Körperhaltung die Stimmung ausdrückte, in der sie sich befand. Sie holte tief Luft, ließ die Schultern nach hinten fallen und hob den Kopf etwas und schritt langsam die Treppe hinunter. Der Anwalt sollte nicht gleich sehen, dass sie bedrückt war.


Als sie die Bibliothek betrat, stand der Anwalt mit dem Rücken zur Türe und betrachtete eines der Bilder an der Wand. Die Kopie eines Bildes von Turner. Es stellte eine Schlacht mit Seeschiffen dar und war die letzte Errungenschaft ihres Mannes. Es war groß und flößte ihr Furcht ein.


„Guten Tag“, hörte sie sich sagen und war über die Lautstärke ihrer Stimme erschrocken. Der Mann drehte sich um und sagte ebenfalls guten Tag. Sie standen sich einige Augenblicke gegenüber und starrten sich an.


„Frank?“ Ihre Stimme war nun leiser und fragend blickten sie sich an.


„Ja, das ist ja nicht möglich, Giselle, Du bist Frau Lingens?“, er streckte seine beiden Arme aus und ging auf sie zu.


„Ja, leider“, kam es fast unhörbar aus ihr heraus. „Bitte nimm Platz.“


Sie deutete mit einer Handbewegung auf die große, dunkle Sitzgarnitur, die fast ein Drittel der Bibliothek einnahm und setzte sich ihm gegenüber.


„Mein Gott, ist das lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben.“ Er setzte ein ermunterndes Lächeln auf.


Sie waren einmal gute Freunde, ihr schien es in einem anderen Leben gewesen zu sein. Sie waren eine große Clique von jungen Studenten. Es war eine sehr schöne unbeschwerte Zeit. Sie schwelgten in Jugenderinnerungen und überschlugen sich gegenseitig mit Fragen über gemeinsame Freunde, über den eigenen späteren Werdegang und stellten fest, dass sie nicht mehr wussten, wieso sie sich aus den Augen verloren hatten. Für einige Minuten hatten sie den Grund seines Besuches vergessen.


Als sie dann den Kaffee getrunken hatten und Frank sich eine Zigarette anzündete, lehnte er sich zurück und sah sie fragend an. „Erzähl mir doch alles, wie Du Deinen Mann kennengelernt hast und was eigentlich passiert ist? Ich möchte diese Geschichte auch aus deiner Sicht hören.“


Sie erzählte ihm alles von Anfang an und irgendwie fühlte sie sich danach erleichtert und gelöst. Sie ließ nichts aus und konnte sogar von ihren Gefühlen, ihrer langsam aufkeimenden Enttäuschung und über ihre Hilflosigkeit sprechen. Nachdem sie alles erzählt hatte, trat eine Pause von zwei bis drei Minuten ein, in der Frank vor sich hin starrte, es schien als, müsse er das Gehörte erst verkraften.


Er räusperte sich und beugte sich etwas vor und nahm ihre beiden Hände in die seinen. „Schau Giselle, aus dem Erzählten entnehme ich, dass Dir an einem weiteren Bestehen dieser Ehe nicht mehr sehr viel liegen kann. Der Grund, warum Du so durcheinander bist, ist wahrscheinlich verletzter Stolz und Angst vor Entscheidungen. Wenn Dein Mann nun bereit ist, Dir eine entsprechende Abstandssumme zu zahlen und auch einen monatlichen Unterhalt, solltest Du eher froh sein, wieder frei zu sein. Du könntest Dich aus dieser Abhängigkeit befreien und danach tun und lassen was Du willst.“ Er sah sie fragend an.


Sie nahm ihre beiden Hände aus den seinen und stand auf, um einige Schritte in die Mitte des Raumes zu gehen.

Einen Augenblick stand sie mit dem Rücken zu Frank und er glaubte schon, sie würde nun zu weinen beginnen, als sie sich langsam umdrehte und ganz ruhig sagte:

„Ja, Du hast Recht, ich danke Dir. Bitte setze sen Vertrag auf und unternehme alles Nötige, um die Sache so rasch wie möglich über die Bühne zu bringen.“


Sie war erschrocken über ihre eigene Stimme. Sie klang so fest und klar, wie schon lange nicht mehr. Es fiel ihr sogar auf, dass sie „Die Sache“ sagte und es bereitete ihr Genugtuung.


Frank verabschiedete sich, nachdem sie noch einige Dinge besprochen hatten und sie lief wie befreit die Treppe hinauf, was sie auch schon sehr lange nicht mehr getan hatte.


Die nächsten Wochen waren ausgefüllt mit Besprechungen beim Anwalt und der Suche nach einer kleinen Wohnung und deren Einrichtung. Der Ehemann beobachtete das Geschehen teils mit großer Erleichterung, aber auch mit Staunen über den Gesinnungswandel seiner Frau. Irgendwie erweckte es sein Misstrauen, doch konnte er keinen Grund finden, der dieses Gefühl rechtfertigte. Schließlich gab er es auf, sich zu wundern und war froh, dass die Scheidung und alle damit verbundenen Formalitäten so reibungslos abgeschlossen werden konnten. Giselle zog schließlich aus dem gemeinsamen Haushalt aus, als er sich gerade auf einer Geschäftsreise befand und ersparte sich und ihm eventuelle Peinlichkeiten.




Die Maschine der Austrian Airlines rollte langsam am Flughafen aus und die Passagiere applaudierten dem Piloten zu der geglückten Landung. Langsam öffnete Giselle den Sicherheitsgurt und schloss die Augen. Sie hatte es geschafft. Die vergangenen Jahre lagen hinter ihr und vor ihr lag ein wohlverdienter Urlaub von vier Wochen. Vorerst waren es diese nun kommenden Wochen, die sie sich selbst verordnet hatte, um in der Sonne und einer fremden Stadt abzuschalten und das zu machen, was sie bei ihrem letzten Griechenland-Aufenthalt versäumt hatte. Sie wollte alle Museen und antike Stätten der Umgebung besichtigen und das Flair dieser großen Stadt richtig genießen.


Nach der Zollabfertigung nahm sie ein Taxi und ließ sich in das Stadtzentrum fahren. Sie hatte in der Nähe des Omonia-Platzes über das Reisebüro in einem schönen, nicht zu teuren Hotel ein Zimmer gemietet. Nachdem sie ihre Sachen ausgepackt und geduscht hatte, wählte sie ein leichtes hellblaues Seidenkleid mit schwingendem Rock und ging hinunter in die Hotelhalle. Sie nahm von der Rezeption einige Prospekte vom dort aufgestellten Ständer zur Hand und ließ sich ein großes Glas Orangensaft mit Eiswürfel bringen.


Mit Interesse blätterte sie in dem Folder, um sich für den nächsten Tag einer Führung durch Athen anzuschließen. Sie wählte eine Stadtrundfahrt mit anschließender Besichtigung der Akropolis für den nächsten Morgen aus und für den zweiten Tag eine Autobusfahrt nach Cap Sounion, zum Tempel des Apolls. Sie strich diese beiden Termine mit einem Stift an und lehnte sich zurück, um durch die großen Glasscheiben der Hotelhalle dem regen Treiben vor dem Hotel zuzusehen.

Manche Menschen eilten vorbei, ohne nach links oder rechts zu schauen, andere wiederum schlenderten langsamen Schrittes, oft in ein Gespräch mit einer Begleitperson vertieft, über den Gehsteig. Alle waren umgeben von strahlendem Sonnenschein. Zarte, nicht zu hohe Bäume waren in kurzen Abständen am Rande des Gehsteiges eingepflanzt und die Schatten der Zweige und Blätter, die sich leicht bewegten, warfen Schatten auf die Gesichter. Sie konnte den starken Verkehr mit den vielen Autos vom Hotel aus nur sehen, den Lärm jedoch nicht wahrnehmen, da die Hoteltüre geschlossen war. Das musste sicherlich so sein, da der Raum klimatisiert war.


Sie erhob sich und ging zur Rezeption. „Ach entschuldigen Sie“, sie lächelte den jungen Mann hinter dem Pult an und legte die beiden Folder vor ihm hin. „Ich möchte mich für diese beiden Termine anmelden. Kann ich das gleich bei Ihnen tun?“ Sie hatte ihre Englischkenntnisse in der letzten Zeit etwas vernachlässigt, diese jedoch in den letzten Wochen in Wien aufgefrischt und war sehr stolz darauf, dass sie sich recht gut verständigen konnte.


„Ja, natürlich“, lächelte der junge Mann, „aber Sie können mit mir ruhig deutsch sprechen, ich habe einige Jahre in Deutschland gearbeitet und kann Ihre Sprache.“

Er notierte ihren Namen und bat sie noch, um Punkt neun Uhr morgens, sofort nach dem Frühstück, in den vor dem Hotel wartenden Bus einzusteigen.


Sie nahm ihre Folder und die Bestätigung in die Hand, drehte sich um und wollte die Zettel in die Tasche stecken, als sie mit jemandem zusammenstieß. Alles fiel zu Boden. Sie bückten sich gleichzeitig und stießen zu allem Überfluss auch noch mit den Köpfen gegeneinander. Mit einem Schmerzensschrei richtete sie sich auf.

„Um Gottes Willen, Frau Lingens“, rief der junge Mann in der Rezeption und eilte sofort herbei und stützte sie. Er führte sie zu einer Sitzgruppe und sie setzte sich hin.

„Ach Dankeschön, ist schon gut“, lächelte sie und sah ihn erleichtert an. Erst jetzt merkte sie, dass sie auch die Handtasche fallen gelassen hatte.

Ein großer, sehr elegant gekleideter Mann hob ihre Tasche und die he-rumliegenden Zettel auf und kam auf sie zu. „Ich hoffe, das sind alle Papiere, mehr konnte ich nicht finden. Es tut mir schrecklich leid, dass ich die Ursache des Missgeschickes war, ich möchte es wieder gut machen.“ Er legte alles auf den Tisch vor ihr und winkte dem Kellner.

„Ach bitte bringen Sie mir einen Orangensaft und für die Dame ...?“ Er blickte sie fragend an.


„Auch einen Orangensaft, bitte“, nickte sie. Sie hatte in Englisch geantwortet, da der Unbekannte auch in Englisch zu ihr sprach.


„Sie sind Deutsche?“, fragte er.


„Nein ich bin aus Österreich, Wien“, fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu.

„Sie gestatten, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Kosta Nikolaidis.“ Er deutete eine kurze Verbeugung an.


„Giselle Lingens“, sagte sie mit kurzem Kopfnicken.


„Sehr erfreut. Ohne es zu wollen, habe ich beim Einsammeln Ihrer Papiere festgestellt, dass Sie zwei Ausflug geplant haben?“, fragte er mit einem verlegenen Lächeln. „Sie sind das erste Mal in Athen?“


„Ja und Nein. Das erste Mal war ich mit meinem Mann hier, doch da war vor lauter Geschäftsterminen keine Zeit für Müßiggang und Kultur. Nun bin ich allein hier und möchte das alles nachholen.“

Sie war über ihre Antwort erschrocken. Warum hatte sie ihm erzählt, dass sie alleine da war. Sie hätte den Satz gerne zurück genommen, doch es war zu spät.


Sie machte eine einladende Geste in Richtung des zweiten Sessels. Er setzte sich und trank ganz langsam aus seinem Glas und stellte es sodann wieder hin.


„Ich möchte jetzt nicht, dass Sie mich missverstehen“, sagte er, „doch ich wollte Sie gerade fragen ob Sie und eventuelle Ihre Begleitung mir die Ehre geben würden, um mit mir zu Abend zu essen. Das ist das Wenigste, was ich für Sie tun kann, nachdem ich Sie fast umgerannt habe“, er lächelte sie entwaffnend an, „bitte machen Sie mir die Freude.“ Er sah sie bittend an und zu ihrer eigenen Überraschung nickte sie zustimmend. „Ich bin alleine hier“, fügte sie noch hinzu.


„Ich warte auf Sie um acht Uhr hier in der Halle. Ich freue mich.“ Er stand auf, deutete eine Verbeugung an, durchquert die Halle und verließ das Hotel mit großen Schritten.


Sie blieb noch eine Weile sitzen und wunderte sich über sich selbst.

Sie war nach Athen gekommen, um Abstand zu gewinnen, um zu sich selbst zu finden und gleich am ersten Tag sprach sie ein fremder Mann an und wollte mit ihr ausgehen. Ich werde diesen Termin nicht einhalten, nahm sie sich vor. Obwohl, er war eine sehr interessante Erscheinung. Mit dem vollen gewellten Haar und dem braun gebrannten Gesicht, den strahlend weißen Zähnen und den schwarzen, großen Augen sah er wie ein Gott aus einer griechischen Sage aus. Sie musste unwillkürlich über sich selbst lachen. So von einem Mann geschwärmt hatte sie zuletzt als junges Mädchen.


Den Rest des Tages verbrachte sie damit, sich in der Nähe des Hotels umzusehen. Sie entdeckte eine kleine Taverne, die durch eine Vitrine hindurch eine Auswahl an leichten Gerichten bot und bestellte sich gleich zwei dieser Leckerbissen, die sie vor dem, von der Straße etwas zurück gebauten, Lokal im Schatten der Arkaden zu sich nahm. Dann ging sie wieder ins Hotel zurück auf ihr Zimmer und bereitete sich auf die im Süden übliche Mittagsruhe vor.


Sie hatte geduscht, sich in ein auf dem Bett zu Recht gelegtem Leintuch eingehüllt und lag nun im halb verdunkelten, klimatisierten Zimmer auf dem Bett und ließ ihre Gedanken um die Geschehnisse des heutigen Tages kreisen.


Wien war so weit weg, dass sie gar nicht glauben konnte, dass sie noch heute früh in ihrer kleinen neuen Wohnung gefrühstückt hatte und nun hier in Athen, leicht eingehüllt auf dem Bett lag und an einen Mann dachte, der so plötzlich in ihrem Leben aufgetaucht war.


Sie versuchte, sich ihn nochmals in Erinnerung zu rufen. Er war für einen Griechen eigentlich sehr groß und er wirkte gepflegt und war für die Tageszeit, zu der sie ihn traf, eigentlich viel zu elegant angezogen. Es war ungefähr zwölf Uhr mittags. Das heißt für Griechenland, spät morgens. Hier gingen die Uhren anders. Alles lief verspätet ab, Mittag war zwischen zwei und vier Uhr nachmittags, der Abend ist spät in die Nacht verlegt.


Sie musste eingeschlafen sein. Durch die offene Balkontüre drangen die Geräusche der Straße herein und holten sie langsam aus der Tiefe des Schlafes wieder in die Wirklichkeit zurück. Langsam öffnete sie die Augen zu einem schmalen Spalt und stellte fest, dass die Dämmerung vom Hotelzimmer bereits Besitz ergriffen hatte und das Halbdunkel irgendwie bedrohlich wirkte.


Sie zog ein hellgelbes Leinenkleid mit einem kleinen Jäckchen an und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Sie war zufrieden. Nachdem sie etwas Lippenstift aufgetragen und sich frisiert hatte, trat sie auf den Balkon hinaus und genoss das südliche Treiben zu ihren Füßen.

Sie blickte auf ihre Uhr und stellte fest, dass es bereits halb acht Uhr war.


„Soll ich nun diese Verabredung einhalten oder nicht?“ Sie war sehr unschlüssig, gab sich jedoch einen Ruck, nahm ihre Handtasche, warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel und fuhr in die Hotelhalle hinunter.


Zu ihrem großen Erstaunen saß er bereits an einem der kleinen Tische und las angeregt in einer sehr großen Zeitung, welche er mit ausgestreckten Armen vor sich hielt.

Als er die Lifttüre hörte, senkte er die Zeitung und faltete sie zusammen. Er stand mit einem strahlenden Lächeln auf und kam mixt großen Schritten auf sie zu.

„Ich freue mich“, sagte er.


Sie lächelte ihn an und senkte ein wenig den Kopf. Was sollte sie sagen.


´Eigentlich wollte ich gar nicht kommen, aber …? ´ Nein doch nicht, es klingt vielleicht albern, dachte sie.


Er winkte dem Hotelpagen und dieser holte, scheinbar war das vereinbart, seinen Wagen von irgendwo her und übergab ihm den Schlüssel. Er eilte um den Wagen herum und öffnete mit einer einladenden Geste die Wagentüre.


„Bitte, steigen Sie ein, ich werde Ihnen Athen bei Nacht zeigen.“


Sie fuhren im Kreisverkehr um den Omoniaplatz, er nannte all die breiten Straßen bei ihrem Namen, welche von diesem Platz sternförmig wegführten.


Nach einer Rundfahrt durch das nächtliche Athen landeten sie in einer kleinen typisch griechischen Taverne in der Plaka, am Fuße der Akropolis. Er sprach fast ununterbrochen, erzählte vom antiken Griechenland, wusste die unglaublichsten Geschichten über Götter und Halbgötter zu erzählen.


Es war ein unterhaltsamer Abend in Gesellschaft eines geheimnisvollen, unglaublich charmanten Mannes.


Als sie nach dem ausgiebigen Abendessen schließlich beim Obst gelandet waren, sah er ihr forschend in die Augen. „Ich habe Sie doch nicht gelangweilt?“, fragte er, indem er seine Stimme etwas erhob.

„Nein, überhaupt nicht, es war für mich vieles neu und auch amüsant“, hörte sie sich sagen und wünschte sich, ihr wäre etwas Klügeres eingefallen.


„Jetzt müssen Sie mir aber etwas über sich erzählen“, lächelte er sie erwartungsvoll an.


Was sollte sie ihm erzählen? Ihr kleines unbedeutendes Leben, das En-de einer Ehe, die Flucht nun in die Ferne? Sie entschied sich mit dem Leben vor ihrer Ehe zu beginnen und den Rest nur zu streifen, schließlich kannte sie ihn ja kaum.

Er hörte ihr interessiert zu. Die Tatsache, dass sie Pianistin war, schien ihn ganz besonders zu interessieren. Er stellte darüber einige Fragen und wirkte plötzlich wie abwesend.


„Oh Gott“, entfuhr es ihr, als sie einen Blick auf die Uhr warf, um die entstandene Gesprächspause zu überbrücken, „es ist schon weit über Mitternacht und ich habe mich für morgen, das heißt eigentlich schon für heute, für einen Ausflug angemeldet, an dem ich unbedingt teilnehmen möchte. Ich glaube es ist Zeit, dass ich ins Hotel komme.“

Er erhob sich sofort ohne den kleinsten Einwand, und sie verließen das Lokal. Sie fuhren auf dem kürzesten Weg ins Hotel und er verabschiedete sich gekonnt galant.

Sie lag noch eine Weile wach und ließ den Abend an sich vorüberziehen. Es war ein netter Abend, doch irgendetwas störte sie, sie konnte es nicht definieren.


Die folgenden Tage waren ausgefüllt mit Stadtbesichtigungen, Museumsbesuchen und kleinen Exkursionen in die nähere Umgebung von Athen. Ihre Erinnerung an den Abend mit Kosta Nikolaidis begann zu verblassen und sie dachte schon gar nicht mehr an ihn, als drei Tage vor ihrem Abreisetermin frühmorgens, sie war gerade im Bad, das Telefon klingelte.


„Guten Morgen“, klang ihr eine geschäftsmäßig klingende Frauenstimme ans Ohr. „Herr Nikolaidis bittet Sie, ihm die Ehre zu geben, heute Abend in seiner Villa mit Freunden zu Abend zu essen. Selbstverständlich werden Sie abgeholt und auch wieder in Ihr Hotel zurückgebracht Der Chauffeur wird sie um neun Uhr abholen.“


„Aber ich …“, konnte sie gerade noch sagen, da war das Gespräch auch schon unterbrochen.


Sie legte verärgert und nachdenklich den Hörer auf. In der anderen Hand hielt sie die Haarbürste und das Handtuch, welches sie umgebunden hatte, als das Telefon klingelte. Durch ihre ärgerliche Handbewegung fing es an zu rutschen. Sie ging ins Bad, trocknete das gewaschene Haar ab und zog ihren Morgenmantel über.

Sie musste sich setzen. Es war doch seltsam, dass ein ebenso gebildeter, wie charmanter Mann eine solch formlose Einladung vorbrachte, die schon fast wie ein Befehl klang.

Sie fuhr anschließend in das Frühstückszimmer des Hotels hinunter und nahm ihren Platz ein. Während des Frühstücks musste sie dauernd an das Telefonat denken und beschloss, dieser Einladung nicht Folge zu leisten. Dieser Entschluss wirkte befreiend auf sie.


Den ganzen Vormittag verbrachte sie mit einem Einkaufsbummel in einer der Geschäftsstraßen, die vom Omoniaplatz zum Sintagmaplatz führt. Ein veilchenblaues Chiffonkleid mit dazu passendem kleinem Hut gefiel ihr besonders und sie erstand es, obwohl ihr der Preis den Atem raubte.


Nach einem kleinen Mittagsimbiss in der kleinen Taverne in der Nähe des Hotels begab sie sich sofort wieder auf ihr Zimmer, um zu duschen und danach legte sie sich ermattet auf das Bett und schlief wieder sofort ein. Sie träumte sehr intensiv, ohne sich nachher an den Traum erinnern zu können.


Erst der aufkommende Abendverkehr vor dem Hotel holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie blinzelte leicht im verdunkelten Raum zu den zugezogenen Vorhängen hin.

Blitzartig fiel ihr wieder die telefonische Einladung ein und sie begann, ohne aufzustehen, fieberhaft zu überlegen.


„Es ist doch nichts dabei, die Einladung für ein Abendessen im Kreise von einigen, wenn auch unbekannten Menschen anzunehmen. „Hauptsache, man kennt den Hausherrn“, überlegte sie und stand auf.


Um Punkt neun Uhr trat sie aus der Hotelhalle ins Freie und der ihr vom Vortag wohlbekannte Wagen stand schon bereit. Der Chauffeur war dezent und unauffällig gekleidet. Er hielt die Wagentüre geöffnet und lächelte einladend. Die Fahrt ging durch das Zentrum von Athen wieder über den Sintagmaplatz und die große breite Singrou hinunter zum Meer. Dann bogen sie links ab und die Fahrt ging weiter bis zum Stadtteil Kavouri, der direkt am Meer liegt und mit großen Villen und Apartmenthäusern bebaut war. Die Räume der Villen waren fast alle beleuchtet und durch die geöffneten Fenster und Terrassentüren konnte man den Wohlstand von der Straße aus sehen. Große Gärten umrandeten die Häuser und in den meist offenen Garagen konnte man die teuersten Autos stehen sehen. Eine dieser Villen war offenbar das Ziel. Der Wagen bog in die Auffahrt ein und rollte vor einer breiten, nicht sehr hohen, Treppe aus.


Sie stieg aus und machte einen unschlüssigen Schritt Richtung Treppe, als auch schon aus der geöffneten Türe Kosta Nikolaidis heraustrat. Er blieb einen Augenblick stehen und sie konnte in seinen Augen so etwas wie Überraschung und Bewunderung sehen. Ihre schlanke Gestalt mit den dunklen Haaren und den graugrünen Augen harmonisierten mit dem veilchenblauen Chiffonkleid, welches sie sich heute gekauft hatte, insbesondere da die schon schräg stehende Sonne sie in ein besonderes Licht tauchte. Er eilte mit ausgestrecktem Arm die Treppe hinab um sie ins Haus zu führen.


„Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen“, sagte er mit seiner dunklen, ihr wohl bekannten Stimme.


Sie betraten einen Raum, den man ohne weiteres ‚Halle‘ nennen konnte. Überall lagen Teppiche auf dem beigefarbenen Marmorboden und kleine Sitzgruppen waren darin verteilt. Eine Wand war mit einem Bücherregal bis zur Decke verbaut. Rundherum kam Licht von der Decke. Die Lichtquellen waren mittels durchscheinender Marmor-Arabesken verkleidet, die an griechische Säulenkapitele erinnerten. Sie glaubte nicht so etwas schon einmal gesehen zu haben. Er führte sie zu einer Gruppe von zwanglos herumstehenden Personen und stellte sie zuerst in griechischer und dann in englischer Sprache als eine Bekannte aus Österreich vor, und sie musste einige höfliche Bemerkungen über Österreich und besonders über Wien geduldig anhören und versuchte ebenso höflich die Konversation aufrecht zu erhalten.


Plötzlich spürte sie im Nacken ein seltsames Kribbeln und hatte das Gefühl beobachtet zu werden. Sie drehte sich langsam um und blickte in ein dunkles Augenpaar, das sie aus dem Gesicht einer weißhaarigen älteren Dame sehr eingehend musterte. Es war ein forschender, fast taxierender kalter Blick. Ihr aufkommendes Lächeln erfror auf ihren Lippen und sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Da drehte sich die Frau, auf einen Stock gestützt, plötzlich um und verschwand durch eine der offenen Türen, ohne Giselles Lächeln zu erwidern.


Giselle hielt ihr Glas ganz fest in der Hand und suchte sich einen Platz zum Sitzen neben einer der großen grünen Pflanzen, wo sie einen bezaubernden Blick hinaus in den Garten und auf das Meer hatte. Ihr Blick wurde von einem großen, offensichtlich sehr alten Olivenbaum angezogen, der in der Mitte des Gartens stand und von einem Ring aus hellen Steinen umgeben war. Er war mächtig und ausladend, nicht sehr hoch, wie eben Olivenbäume immer mehr in die Breite wachsen, mit einem dicken, sehr zerklüfteten Stamm. Er schien für die Ewigkeit hier zu stehen.


„Da haben Sie sich ja den schönsten Platz im ganzen Haus ausgesucht“, hörte sie plötzlich hinter sich eine tiefe Stimme und einen Moment glaubte sie, die Stimme von Kosta Nikolaidis zu hören, doch es war ein ihr unbekannter, wesentlich jüngerer Mann.


„Sie sind sicher die geheimnisvolle Unbekannte, von der mein Bruder erzählt hat. Wir waren alle schon sehr neugierig auf Ihre Bekanntschaft. Sie sind ausgebildete Pianistin?“


Das war es. Das war das Stichwort, das die Störung an jenem Abend ausgelöst hatte, das war es, wonach sie im Unterbewusstsein vergebens gesucht hatte. Dass sie Pianistin war, muss für die Beziehung zwischen ihr und Kosta Nikolaidis von großer Bedeutung sein.


Sie lächelte unsicher.


„Ich verstehe gar nicht, dass das für Sie von so großer Bedeutung ist“, sagte sie und stellte ihr Glas auf den kleinen Tisch neben ihr.

„Ja, hat denn mein Bruder mit Ihnen noch nicht darüber gesprochen?“ Er wirkte sichtlich betroffen und es schien ihm Leid zu tun, darüber gesprochen zu haben.


„Worüber wollte er denn mit mir sprechen?“ Giselle sah ihn fragend an.


In diesem Moment kam der Gastgeber auf sie beide zu. Er konnte den letzten Satz gerade noch hören und sah seinen Bruder stirnrunzelnd an.

„Ich finde, Du solltest Dich auch etwas mehr um die anderen Gäste kümmern und nicht um Sachen, die Dich absolut nichts angehen.“


Seine Handbewegung, Richtung der anderen Gäste, war zwar beherrscht, aber nicht zu übersehen. Dann drehte er ihm den Rücken zu.


„Sie hätten mir Ihren Bruder aber auch vorstellen können“, sagte sie mit einer etwas zu lauten Stimme und war darüber erschrocken.


„Es tut mir leid“, sagte er mit einer um Entschuldigung bittenden Geste.

Sie sah ihn erwartungsvoll an. Es musste doch nun die Erklärung kommen, wieso sie darauf angesprochen wurde, dass sie Pianistin ist.


Doch er berührte nur ganz vorsichtig ihren Ellenbogen und führte sie zu einer kleineren Gruppe von Gästen, welche sich dem reichhaltigen Buffet widmeten. Dann ließ er sie mit einer kleinen ununterbrochen sprechenden Frau alleine. Sie nickte hin und wieder zustimmend, ohne wirklich zu hören, was diese sprach. Hin und wieder sah sie zwischen den einzelnen Gästegruppen die schlanke Gestalt des Bruders, dessen Namen sie noch immer nicht wusste. Wie unabsichtlich begegneten sich beider Blicke und sie glaubte, ein Zwinkern in seinen Augen zu sehen. Aber das war augenscheinlich ein Irrtum. Es musste an der Beleuchtung liegen.


Plötzlich spürte sie den durchdringenden Blick der alten Dame, die ihr schon anfangs einmal aufgefallen war, neuerlich. Aus Verlegenheit lächelte sie ihr zu und zu ihrer Überraschung lächelte diese sehr verhalten, mit einem kleinen Nicken des Kopfes, zurück. Dann verschwand sie wieder hinter derselben Türe wie vorhin.

Sie fühlte sich sehr alleine unter all diesen Menschen, die sich in einer für sie fremden Sprache unterhielten und sie wollte nur noch gehen. Sie stellte ihr Glas und den kleinen Teller mit den Häppchen auf einem der nächsten Tische ab und steuerte dem Ausgang zu.


„Wie komme ich nun aber nach Hause?“, überlegte sie noch, als Kosta schon wieder an ihrer Seite war.

„Sie langweilen sich“, stellte er fest, „es tut mir leid, aber ich musste mich um einige für mich wichtigen Gäste kümmern, doch jetzt bin ich ganz für Sie da.“ Er nahm ihren Arm und führte sie wieder zurück, quer durch den Raum, auf die Terrasse hinaus. „Wie gefällt Ihnen die Bucht?“


„Sie ist wunderschön, besonders in der Nacht, wegen der vielen Lichter, die sich im Wasser spiegeln.“ Ein leichtes Lächeln spielte um ihren Mund. Sie stellte sich den Blick vom Balkon ihrer neuen Wohnung in Wien vor und da verlor diese haushoch.

Er hatte scheinbar ihre Gedanken erraten und sagte: „Ist doch sicher viel schöner als bei Ihnen in Wien, wo es kein Meer gibt.“


Sie lächelte leicht. Sollte sie ihm jetzt erklären, dass natürlich auch Wien seine Reize hat und ihre Heimat ist?


Er räusperte sich und da wusste sie, dass nun irgendetwas auf sie zukommen würde. „Ich hätte einen Vorschlag, mehr eine Bitte, an Sie.“


„Ja?“


„Möchten Sie nicht hier bleiben, vorerst auf kurze Zeit, damit Sie es sich überlegen können“, fügte er fast ängstlich hinzu, als sie nach seinen ersten Worten eine verneinende Geste machte.


„Ich habe einen Sohn, einen kranken Sohn“, sprach er ganz leise weiter, „er ist Autist, sagen die Ärzte. Das Einzige, womit man seine Aufmerksamkeit erringen kann, ist Musik. Er hört ein Musikstück einmal und spielt es völlig fehlerfrei nach. Wir hatten einen Musiklehrer, doch dieser hat es leider nicht geschafft. Er ist nicht mehr gekommen. Er ist anscheinend mit dem Kind nicht klar gekommen. Mein Sohn ist jetzt 10 Jahre alt.“ Es klang ein wenig stolz, trotz der Sorge, die mitklang.


„Das tut mir leid“, sagte sie und sie bedauerte keine andere Antwort gefunden zu haben, „aber wie könnte ich Ihnen da helfen? Ich bin kein Arzt.“


„Ich weiß das, aber ich würde Sie gerne als Musiklehrerin engagieren. Bitte sagen Sie Ja.“ Sein Blick lag mit einer solchen Intensität auf ihrem Gesicht, dass sie sich abwenden musste. Ihre Hände hielten sich am Gelände der Terrasse fest und sie konnte einfach nicht denken. Was stürzte da auf sie ein, eine völlige Veränderung in ihren Leben nahm vage Gestalt an und es fielen ihr eine Menge Gründe ein, um abzusagen. Aber es fiel ihr auch ein, dass sie momentan im leeren Raume schwebte und es in Wien nichts gab, das sie hielt.


„Ach bitte, ich muss mir das überlegen, ich kann nicht sofort ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ sagen, können Sie das verstehen?“ Sie sah, wie ihm diese Antwort widerstrebte. Er war scheinbar gewöhnt daran, dass alle Menschen sofort seinen Forderungen Rechnung tragen.


Er senkte den Blick etwas, vielleicht um seinen Unmut zu verdecken, vielleicht aber auch, weil er einsah, dass sie nicht sofort zusagen konnte.


„Selbstverständlich“, presste er hervor, „wie lange muss ich auf Ihre Antwort warten?“


„Ich habe noch einige Tage bevor ich abreise, ich werde mich bei Ihnen melden Ich nehme an, dass es da aber ein großes Problem gibt. Ich werde mich mit dem Kind nicht verständigen können. Wie Sie wissen, kann ich Ihre Sprache nicht.“


„Nein, nein, das ist kein Problem, Dimitri ist zweisprachig aufgezogen worden, meine Frau stammte aus einer Diplomatenfamilie, da war Englisch die tägliche Umgangssprache. Er versteht Englisch, nur spricht er leider nicht, überhaupt nicht!“


„Das ist natürlich hilfreich! Ich werde nun aber doch gehen, lassen Sie mich bitte nach Hause bringen?“ Sie kramte in ihrer Tasche, um ihn nicht ansehen zu müssen.

Er nahm wieder ihren Ellbogen sanft, aber mit Nachdruck, und ging an ihrer Seite durch den Salon zum Ausgang.


Derselbe Chauffeur, der sie geholt hatte, brachte sie wieder in das Hotel zurück. Auf der Rückfahrt genoss sie die Fahrt durch das nächtliche, von südlichem Leben durchflutete Athen. Die vielen Lichter dieser großen Stadt, der dichte, scheinbar ungeregelte Verkehr, das Hupen der Autos und das Lachen der Menschen an den kleinen Tischen am Rande der Straßen, war ihr fremd, doch gleichzeitig ergriff es Besitz von ihren Sinnen und darüber war sie sehr erstaunt.


Sie bedankte sich mit einem Kopfnicken und einem Lächeln bei ihrem Chauffeur, der dieses Lächeln erwiderte.

Als sie im Aufzug nach oben fuhr, sah sie dieses Lächeln wieder vor sich. Der Chauffeur war ein älterer Mann, sehr gepflegt und sehr sympathisch, aufmerksam, ohne aufdringlich zu sein. Es schien ihr nun im Nachhinein, als wollte er sie mit diesem Lächeln bitten, doch ‚Ja‘ zu sagen. Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich wusste der Mann gar nichts vom Vorschlag seines Chefs.


In dieser Nacht schlief sie sehr unruhig und wachte mehrmals auf.



Die folgenden Tage waren ausgefüllt mit einem sehr dichten Programm, zugeschnitten auf Touristen. Sie hatte sich einer Gruppe angeschlossen, machte einige Führungen mit und ließ sich mit Informationen über das alte und neue Griechenland berieseln. Einen Tag fuhren sie mit dem Bus auch nach Cap Sounion und im Angesicht des Apoll-Tempels schaukelte sie in den Wellen des Meeres auf einer Luftmatratze und hing ihren Gedanken nach. Und diese Gedanken kreisten ausschließlich um das Angebot von Kosta Nikolaidis.

Sie fuhren dann sehr spät abends wieder mit dem Bus ins Hotel zurück und sie beschloss gleich am nächsten Tag mit Frank zu telefonieren und ihn um seine Meinung zu fragen. Frank war immerhin Rechtsanwalt und außerdem derzeit die einzige Person, welcher sie vertraute. Außerdem hatte er eine breite Schulter, an die man sich anlehnen konnte. Wenn auch nur symbolisch.


Es war eine ungeheuerliche Beruhigung für sie, überhaupt einen Beschluss gefasst zu haben und in dieser Nacht schlief sie fest und tief.


Gleich nach dem Frühstück ließ sie sich von der Rezeption mit Frank verbinden. Sie erzählte ihm von dem Angebot, hier eine Stelle als Musiklehrerin anzunehmen. Sie erzählte ihm alles der Reihe nach und dass sie eigentlich nicht wusste, was sie nun machen soll.

Dr. Frank Wagner ließ sie reden und hörte sich alles ruhig an. Er war aber sehr überrascht, dass sie nicht gleich abgelehnt hatte, sagte ihr das aber nicht.


„Hallo, bist Du noch da?“, rief sie in das Telefon, weil er nach ihren Ausführungen nicht gleich antwortete.


„Oh! Ja, ich bin da. Du, ich bin sehr überrascht und musste das erst ein wenig ordnen, bzw. überdenken. So am Telefon ist das sehr schwer zu entscheiden. Wir haben uns so viele Jahre nicht gesehen. Ich weiß nicht, ob Du in einem fremden Land glücklich bist, wenn Du keinen Menschen dort kennst. Die Sprache ist sicher auch noch ein Problem zusätzlich. Aber wenn Du Dich dafür entscheidest ‚Ja‘ zu sagen, so vereinbare vorerst eine Frist, sagen wir – ein Jahr. Da kannst Du in dieser Zeit herausfinden, ob Du längere Zeit dort leben kannst oder nicht. Das Kind wird ja älter und irgendwann wirst Du dann nicht mehr gebraucht. Außerdem ist Autismus eine sehr schwere Verhaltensstörung, mit der nicht jeder umgehen kann. Aber Du kommst ja sicherlich vorher noch einmal nach Wien zurück, bevor Du eventuell dorthin übersiedelst. Dann können wir uns darüber unterhalten, welche Voraussetzungen für Dich auf jeden Fall gegeben sein müssen. Da ist noch zu klären, was Du bezahlt bekommst und wo Du wohnen wirst.“


„Darüber haben wir überhaupt noch nicht gesprochen. Da siehst Du wieder, was ich für ein realitätsfremder Mensch bin. Aber ich war so überrascht.“ Jetzt konnte sie sogar wieder lachen, „ich bin so froh, dass es Dich gibt, ich danke Dir. Heute ist Donnerstag, am Samstag bin ich wieder in Wien und dann melde ich mich bei Dir. Auf Wiedersehen.“ Sie legte den Hörer auf und trat auf den Balkon ihres Zimmers hinaus. Unter ihr brodelte der Verkehr.


„Kann ich hier leben? Möchte ich hier leben? Wie werden die Menschen auf mich hier reagieren?“ Viele Fragen tauchten auf.

Sie beschloss einkaufen zu gehen. Das war immer ein Katalysator für sie. Nach einer Einkaufstour waren ihre Gedanken immer klarer und sie beschloss, am Abend bei Kosta Nikolaidis anzurufen und ihm ihre Entscheidung mitzuteilen. Sollte sie zusagen, war dann sicherlich noch ein Treffen nötig, bevor sie noch einmal abreiste. Es waren einige Fragen, wie Bezahlung, Wohnung und Dauer des Vertrages abzuklären und auch, ab wann sie wiederkommen und beginnen sollte.


Der Einkaufsvormittag war sehr befriedigend. Sie kaufte neben einigen Dingen, die sie benötigte, auch einige überflüssige und kam völlig erschöpft ins Hotel zurück. Den restlichen Tag bis zum Abend verbrachte sie auf dem Zimmer und ließ sich vom Zimmerkeller nur eine Kleinigkeit zum Essen bringen.


Gegen Abend rief sie in der Villa von Kosta N. an, um einen Termin für die nächsten Tage zu vereinbaren.


„Bitte sagen Sie mir jetzt gleich, ob Sie sich entschlossen haben, mein Angebot anzunehmen, jetzt gleich am Telefon, ich kann nicht bis später warten. Bitte!“ Seine Stimme klang nervös und angespannt und es schwang auch etwas Angst mit.


„Ja, schon.“ Sie sprach sehr zurückhaltend und war erschrocken über seine Ungeduld. „Wir müssen aber doch die Rahmenbedingungen klären“, wand sie zaghaft ein, „ich möchte das natürlich nicht am Telefon besprechen. Bitte.“


„Bitte entschuldigen Sie. Selbstverständlich müssen wir reden. Ich schicke Ihnen den Chauffeur um acht Uhr“, sagte er und legte auf.


Sie erreichte die Villa wieder, wie das erste Mal, über die große Treppe und betrat die Halle. Die Großzügigkeit des Raumes nahm sie wieder gefangen. Kosta musste das Auto gehört haben, er eilte mit großen Schritten auf sie zu, seine Zähne blitzten und seine Augen strahlten vor Freude.


Sie merkte, wie sie von seiner Stärke, seiner großen Willenskraft und seiner nur mühsam beherrschten und im Zaum gehaltenen Wildheit teils angezogen und teils in Angst versetzt wurde.

‚Was passiert eigentlich, wenn man ihm widersprach oder seinem Willen nicht entsprach? ‘, überlegte sie.


Sein Angebot war einfach nicht abzulehnen. Das Gehalt war so großzügig, dass es ihr ein Leben in völliger Unabhängigkeit auch nach Beendigung des Dienstverhältnisses ermöglichen wird. Selbstverständlich musste sie auf dem Anwesen wohnen. Die angebotene Suite war atemberaubend schön, mit eigener, von keiner Seite einsehbarer Terrasse, mit Blick auf das Meer. Sie würde jederzeit über ein Auto verfügen können und hätte auch einen eigenen Telefonanschluss.


Sie saß, von seinen Worten völlig betäubt, ihm gegenüber und hatte kein Argument parat, um dieses Angebot abzulehnen. Sie stellte nur noch eine Bedingung. „Ich möchte das Kind sehen, bevor ich endgültig zusage“, sagte sie mit fester Stimme, „es wäre ja möglich, dass er mich ablehnt.“


Er lächelte leicht und eine große Traurigkeit breitete sich über seinem Gesicht aus. „Selbstverständlich. Ich werde ihn rufen lassen. Aber bitte erwarten Sie sich nicht zu viel. Er wird Sie weder ablehnen, noch wird er mit Ihnen sprechen. Er wird durch sie hindurch sehen. Es wird sehr viel Geduld von Ihnen erforderlich sein. Ich möchte Sie schon jetzt, noch bevor Sie beginnen, bitten, nicht zu verzagen. Die Ärzte sagen, er ist Autist und es wird sich daran nichts ändern. Aber meine Hoffnung liegt ganz in der Musik. Vielleicht können wir ein kleines Fenster zu ihm öffnen.“ Noch nie hatte sie soviel Verzweiflung in den Augen eines Menschen gesehen. Doch sofort wieder hatte er sich in der Gewalt, griff zum Telefon und bat jemand am anderen Ende der Leitung, den kleinen Dimitri zu bringen.


Sie starrte erwartungsvoll auf die beiden Türen in der Halle und hielt den Atem an. Die rechte Türe öffnete sich und es kam die ältere Dame, welche ihr schon am ersten Abend in der Villa aufgefallen war, herein und führte einen kleinen, dunkelhaarigen, eher schmächtigen Buben he-rein. Sie kamen beide bis zu der Sitzgruppe heran. Sie sagte etwas zu dem Kind, er setzte sich gehorsam hin. Er sah nicht auf, sondern spielte mit einem Plastikring in seiner Hand.


„Darf ich vorstellen, meine Mutter, Frau Elena Nikolaidis, das ist Frau Giselle Lingens.“


Sie stand auf und streckte der Frau die Hand hin. Diese nahm ihre Hand und drückte sie mit einem kräftigen kurzen Druck. „Ich darf Sie willkommen heißen, Giselle. Ich darf doch Giselle zu Ihnen sagen?“


Obwohl sie lächelte, blieben ihre Augen kühl und unbeteiligt.

Giselle spürte, wie sie von ihr taxiert, beobachtet und eingeschätzt wurde.

„Natürlich“, sagte Giselle mit möglichst fester Stimme, um ihre Unsicherheit nicht zu zeigen. Dann wandte sie sich an das Kind. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und lächelte ihn an, obwohl er sie noch keines Blickes gewürdigt hatte.


„Mein Name ist Giselle, wie ist Dein Name?“


Es kam keine Reaktion. Er spielte weiterhin mit seinem Plastikring. Es war, als ob er völlig alleine im Raum war. Er hatte ein kleines trauriges Gesicht. Sie konnte seine Augen nicht sehen, da er den Blick nicht hob. Aber sie war sicher, dass sie dunkel waren. So dunkel, wie die seines Vaters. Ein betretenes Schweigen folgte nun auf die Dauer von einer Minute. Sie drehte sich um und schritt energisch auf den am anderen Ende der Halle stehenden Flügel zu.


Sie wandte sich an den Hausherrn. „Ich möchte Ihnen gerne etwas vorspielen, Sie haben mir ein solch großzügiges Angebot gemacht, oh-ne zu wissen, ob ich wirklich spielen kann.“


Alle im Raum wussten natürlich, dass sie das nur wegen des Kindes tat; und er nickte ihr zustimmend zu.


Sie schlug den Klavierdeckel auf und begann zu spielen. Sie hatte Musik von Beethoven gewählt und war auf eine eventuelle Reaktion von Seiten des Kindes schon sehr gespannt. Da sie mit dem Gesicht zu der kleinen Gruppe saß, konnte sie die Reaktionen beobachten. In den Augen der beiden Erwachsenen las sie Erstaunen und Zustimmung. Der Junge spielte noch immer mit dem Plastikring.

Sie spielte mit sehr viel Einfühlung und ging dann zu „Eroica“ über. Nach einigen Minuten beendete sie ihr Spiel. Als sie sich erhob, merkte sie, dass das Kind plötzlich innehielt im Spiel mit dem Plastikring. Er ließ die Hände in den Schoß sinken, hob jedoch nicht den Kopf, um sie anzusehen. Nach einigen Sekunden begann er wieder mit dem Ring zu spielen. Die Großmutter nahm ihn bei der Hand, er ließ sich wieder widerstandslos hinausführen.


„Sehen Sie was ich meine?“, fragte Kosta


„Ja, aber er zeigte eine Reaktion. Sahen Sie nicht, wie er die Hände sinken ließ, nachdem ich aufgehört hatte, zu spielen?“


„Meinen Sie? Aber das war ja kaum zu bemerken.“ Er schüttelte traurig den Kopf.

„Nachdem ich nun den Jungen gesehen habe, sage ich zu.“

Sie war überrascht über ihrem spontanen Entschluss. Hatte sie nicht versprochen, noch mit Frank darüber zu reden und ihm die Überprüfung ihres Vertrages anzuvertrauen?


Als sie am Flughafen in Wien ankam, war es bewölkt und etwas windig. Frank holte sie doch vom Flughafen ab. Er wollte nicht warten, bis sie sich meldete. Bis zu ihrer Wohnung sprachen sie über alles Mögliche, nur nicht über ihre neuen Pläne.

Er half ihr den Koffer und die Tasche hinauf zu tragen, und nachdem sie alle Vorhänge weggezogen und die Fenster geöffnet hatte, kochte sie vorerst Kaffee. Sie sahen sich über den Kaffeetisch an und nun musste sie ihm berichten. Sie schilderte ihm die Gespräche mit Kosta, über die Begegnung mit dem Kind und erst zu allerletzt sagte sie, dass sie schon zugesagt hatte.


Frank zog die linke Augenbraue hoch. „Wir hatten doch vereinbart, dass wir vorher darüber sprechen, die Bedingungen genau prüfen und dass Du Dich dann erst entscheidest“, sagte er verärgert.


Sie reichte ihm die Vereinbarung, welche sie mit Kosta geschlossen hatte, über den Tisch. Er nahm das Papier schweigend in die Hand und begann zu lesen.

„Hmm, es scheint alles in Ordnung zu sein. Es ist sogar überaus großzügig ausgelegt.“


Die Spannung zwischen ihnen löste sich.


„Da bin ich ja so froh, dass Du alles in Ordnung findest.“ Sie griff langsam nach seinem Arm und ihre Finger schlossen sich fest um die seinen.



Die nächsten Tage gestalteten sich sehr hektisch. Es waren einige Dinge mit der Bank zu regeln, wie Daueraufträge für die laufenden Zahlungen zu beauftragen, bereits offene Rechnung zu begleichen, etc.

Sie kaufte noch einige Dinge ein, verabschiedete sich von Freunden und nahm Kontakt mit Martha, ihrer ehemaligen Haushälterin auf und bat sie, auf ihre Wohnung acht zu geben. Sie hatte nach ihrer Scheidung immer noch losen Kontakt und Martha übernahm diese Gefälligkeit gerne für sie und versprach auch, Robert, ihrem Ex-Mann, keine Informationen über die neue Situation weiterzugeben.


Der Abschied von Wien war ihr dann gar nicht so schwer gefallen, wie sie es erwartet hatte. Die letzten Jahre waren nicht so, dass es wehtat, wegzugehen Nur der Abschied von Frank fiel ihr schwer. Sie hatten sich zwar sehr viele Jahre aus den Augen verloren, doch in den letzten Wochen waren sie sich näher gekommen und seine ruhige besonnene Art und sein ausgeglichenes, freundliches Wesen gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit.


So standen sie nun am Flughafen und die letzten Minuten vor dem Abflug waren zu kurz, um alles noch einmal zu besprechen, es war ja schon in den letzten Tagen alles besprochen worden.


„Leb wohl“, sagte er und küsste sie auf die Wange. „Ruf mich gleich an, wenn Du in Athen bist und melde Dich bitte, wenigstens einmal pro Woche, damit ich weiß, dass es Dir gut geht.“

„Ja, natürlich, das werde ich, ich verspreche es Dir. Und wie versprochen, wirst Du bei der ersten Gelegenheit, wenn Du Urlaub machen kannst, nach Athen kommen. Darauf freue ich mich schon. Ich zeige Dir dann diese wunderbare Stadt“, sagte sie lachend und ihm zuwinkend ging sie zur Passkontrolle und entschwand seinen Blicken.


Ein besorgter und nachdenklicher Blick folgte ihr, dann drehte er sich am Absatz um und fuhr wieder ins Büro.


Die ersten Tage in ihrem neuen Zuhause waren sehr ruhig und angenehm. Kosta war nicht da, er musste für einige Tage nach London fliegen. Sie nahm die Mahlzeiten gemeinsam mit der Großmutter und dem Kind ein, wobei ein junges Mädchen vom Personal das Essen brachte und auf die Anrichte stellte und sich jeder selbst bediente. Die Unterhaltung wurde in Englisch geführt, beschränkte sich aber auf belanglose Dinge. Elena war auch schon einmal in Wien und es ergaben sich aus dieser Tatsache einige höfliche Sätze. Auf der Anrichte fanden sich Kaffee, Tee, Brot und allerlei Früchte, Marmelade, sowie Butter, Eier und Schinken.

Bei den Mahlzeiten sprach sie einige Male Dimitri direkt an, bekam aber keine Antwort. Er saß schweigend am Tisch und aß seinen Teller leer. Sie konnte jedoch beobachten, dass er verschiedene Speisen offenbar nicht mochte. Er fuhr dann mit der Gabel empor, wenn ihm seine Großmutter etwas auf den Teller legen wollte und gab einen knurrenden Ton von sich. Sie zuckte dann sofort zurück und erfüllte ihm seinen Willen.


Immer vormittags brachte sie das Kind in die Halle, er musste neben ihr sitzend das Klavierspiel von Giselle anhören. Obwohl sie ihn einige Male einladend anblickte und auch zu sich rief, blieb er sitzen und gab keine Antwort.


Sie wartete schon sehnsüchtig, dass Kosta wiederkam. Sie musste mit ihm sprechen. Sie wollte ihm sagen, dass es so nicht sehr zielführend ist. Sie musste mit dem Kind alleine sein, es musste neben ihr sitzen und ihr auf die Finger schauen können. Sie wollte ihm auch Noten aufschreiben, sie ihn nachspielen lassen. Ja, sie wollte einmal erkunden, wie weit er in der Lage ist, Noten zu lesen und diese vom Blatt zu spielen. Es war ihr jedoch nicht möglich der Großmutter zu sagen, dass sie mit dem Kind allein sein wollte. Da war eine Barriere zwischen ihnen.


Am vierten Tag ihres Aufenthaltes, es war Samstag, kam auch ganz überraschend der Bruder von Kosta zum Mittagessen nach Hause.

Sie konnte die Veränderung gleich sehen, da der Tisch für fünf Personen gedeckt war. Er betrat den Raum und ging direkt auf sie zu.



„Hallo, ich freue mich, dass Sie sich entschlossen haben, Dimitri zu unterrichten … Willkommen in unserem Hause und ich hoffe, Sie fühlen sich wohl. Leider habe ich Sie frühmorgens immer verpasst. Ich bin ein Frühaufsteher und in dieser Woche bin ich außerdem immer sehr spät nach Hause gekommen. Wenn Sie irgendwelche Wünsche haben, wenden Sie sich direkt an Mama, sie hat alles wunderbar im Griff und wird Ihnen sicherlich helfen.“


Er setzte sich und nahm die Serviette zur Hand. Plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne und sah ihr direkt in die Augen. „Da es bisher niemand getan hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich selbst vorzustellen. Mein Name ist Georg“, er erhob sich halb und reichte ihr die Hand quer über den Tisch. Auch sie musste sich halb erheben, um ihm die Hand reichen zu können.


„Giselle“, sagte sie, „Giselle Lingens. Aber bitte nennen sie mich Giselle.“

„Ich bin sehr erfreut, Giselle“, sagte er und wieder glaubte sie in seinen Augen ein kleines Zwinkern gesehen zu haben. Aber es musste das glitzernde Licht der Mittagsonne sein, das durch die herabgelassenen Jalousien der Terrassentüren hindurch schien.


Das Essen gestaltete sich diesmal als sehr unterhaltsam, und sogar Dimitri sah manchmal von seinem Teller auf und direkt seinen Onkel an. Dieser stupste ihn manchmal auf die Nase oder versuchte unter dem Tisch mit seinen Füßen Kontakt aufzunehmen.


Giselle beobachtete dies ganz genau und nahm sich vor, anlässlich des nächsten Telefonates mit Frank diesen zu bitten, ihr einige Literatur über Autismus zu senden. Sie hatte sich zwar in Wien darüber informiert, aber es schien ihr nun zu wenig zu sein, sie wollte mehr wissen.


Nach dem Essen begaben sich alle auf ihre Zimmer, um der in Griechenland üblichen Mittagsruhe zu frönen. Giselle legte sich auch etwas hin und versuchte in einem Buch zu lesen, doch glitten ihre Gedanken immer wieder ab. Wie verschieden doch die beiden Brüder waren.

Der eine war ein Befehle gebender Machtmensch, mit geschliffenem Benehmen, geschultem Charme und die Führungsperson in der Familie. Der andere wirkte wesentlich freier, natürlicher und irgendwie sorgloser. Man konnte sich vorstellen, dass Georg manchmal zu einem Streich aufgelegt war, bei Kosta konnte man sich das überhaupt nicht vorstellen.


Trotz der Klimaanlage spürte sie die aufkommende Hitze des Nachmittags und entschloss sich, an den Strand zu gehen. Sie schlüpfte in ihr Badekostüm und warf ein leichtes, leuchtend blaues Strandkleid über.


Im Hause war es ruhig und sie konnte unbemerkt über die Treppe in das Erdgeschoss und in den rückwärts angelegten Park gelangen. Sie lief den mit Steinen ausgelegten Weg bis zum Strand, an dem in der Mitte des Parks stehenden Olivenbaum vorbei. Sein Schatten fiel auf den sorgfältig gepflegten Rasen und die silbrig glänzenden Blätter schienen ihr etwas zuzuflüstern und veranlassten sie, einen Moment inne zu halten. Doch es war wohl eine Sinnestäuschung. Sie lief weiter, kam zum Strand, legte ihr Badetuch und die Tasche ab und lief sofort ins Wasser. Es war ungemein erfrischend und sie genoss es, durch die leichten Wellen zu gleiten.


Erfrischt und etwas außer Atem setzte sie sich dann auf das Badetuch und trocknete die Haare mit dem Handtuch ab. Dann griff sie hinter sich und versuchte mit der Hand aus der Badetasche ihre Bürste zu nehmen, doch konnte sie konnte sie nicht finden.

Plötzlich spürte sie noch eine andere Hand und fuhr erschrocken herum und blickte direkt in die lustig zwinkernden Augen von Georg.


„Hallo“, begrüßte er sie, „da haben wir beide ja wohl die gleiche Idee gehabt. Es wäre wirklich schade, an so einem Tag im Zimmer zu bleiben. Da ist übrigens Ihre Bürste.“ Ohne lange zu fragen, setzte er sich neben sie auf das Badetuch.


„Wie ich sehe, waren sie schon im Wasser, war es schön?“


„Ja“, nickte sie und begann ihre Haare durchzubürsten und nach hinten zu streifen.

„Ich sehe erst jetzt zum ersten Male, welch wunderschöne Augen Sie haben.“ Seine Stimme war dabei völlig unbefangen und er lächelte sie entwaffnend an.


„Oh, danke“, sagte sie und senkte dann doch verlegen den Blick.


Er sprang auf. „Ich werde jetzt auch ein wenig schwimmen, um mich zu erfrischen, während Sie sich ausruhen.“


Er lief in Richtung Meer, drehte sich dann plötzlich um und machte eine einladende Bewegung. „Oder wollen Sie mir Gesellschaft leisten, so müde können Sie doch nicht sein?!“ Seine entwaffnende Art und seine Fröhlichkeit griffen auf sie über und sie sprang auf.


„Nein, ich bin nicht müde“, sagte sie und nun liefen sie beide neben-einander ins Wasser. Fast gleichzeitig ließen sie sich fallen, es spritzte ausgiebig.


Nachdem sie eine Weile herumgetollt hatten, liefen sie Hand in Hand hinaus und fielen fast gleichzeitig auf das Badetuch. Noch während sie sich abtrockneten unterhielten sie sich. Er interessierte sich sehr für ihr bisheriges Leben und sie erzählte ihm ein wenig daraus. Es tat ihr richtig gut, wieder einmal über etwas anderes sprechen zu können, als über das Essen oder über das Problem mit Dimitri.

Trotz seiner jungenhaften Art sich sonst zu benehmen, hörte er ihr sehr ernst zu. Ohne dass sie es bemerkten, war es spät geworden und die Sonne neigte sich dem Horizont zu.

„Oh, es ist schon spät, wir müssen uns für das Dinner umziehen“, sagte sie erschrocken, mit einem Blick auf die Armbanduhr in ihrer Badetasche.


„Ja, schade“, lächelte er und sprang auf. Er reichte ihr die Hand, half ihr auf und einen Augenblick ruhten seine Augen forschend in den ihren. Sie nahmen ihre Sachen und gingen, ohne zu sprechen nebeneinander in Richtung Haus. Sie kamen seitwärts von der Meerseite auf das Haus zu.


Unwillkürlich hob sie den Blick und musterte die Rückseite der Villa. Sie gefiel ihr sehr mit den großen Balkons und dem schönen, gepflegten Park und dem alles beherrschenden Olivenbaum davor. Sie konnte nicht sagen, ob ihr das Haus von vorne mit der breiten Treppe oder von rückwärts mit den beiden seitwärts angebrachten Treppen besser gefiel.


Sie blinzelte etwas. Hatte sich dort im ersten Stock nicht ein Vorhang bewegt und war dahinter ein großer Schatten zu sehen? Sie nahm die Hand vors Gesicht, um besser sehen zu können. Nein, es war nichts, sie musste sich getäuscht haben.


Die folgenden Tage verliefen in gewohnten Bahnen. Georg kam an den darauf folgenden Tagen erst wieder abends nach Hause, aber sie ertappte sich dabei, dass sie am Strand liegend darauf wartete, dass er auftauchte. Erst am Wochenende war Georg wieder da und unterhielt beim gemeinsamen Essen samstagmittags alle wieder mit seinen Erzählungen über die Ereignisse der vergangenen Woche.


Sie beobachtete dabei Dimitri. Immer, wenn Georg anwesend war, ruhten seine Hände unter dem Tisch im Schoß. Seine Gewohnheit war es sonst immer, mit dem Plastikring in seiner Hand zu spielen und auf keine Anrede zu reagieren. Er schaute auch fast nie auf.

Doch nur wenn Georg anwesend war, hob er manches Mal den Blick, um ihn gleich wieder zu senken, wenn ihn dieser ansprach.


Giselle merkte, dass Georg die einzige Person war, die imstande war sein Interesse kurz zu wecken. Und Georg wusste das auch!


Während Georg sprach, fiel Eleni die Serviette zu Boden und sie bückte sich. Giselle blickte unwillkürlich auf die Gegenüberseite des Tisches und fing den Blick von Kosta auf, den dieser Georg zuwarf. Sie war sehr erschrocken über diesen kalten, und wie es ihr schien, bösen Blick. Sein Gesicht war versteinert und seine Lippen zusammengepresst.


Fast wäre ihr das Glas aus der Hand gefallen. Durch den heftigen Aufprall des Glases beim Niederstellen bemerkte Kosta ihren Blick. Sein Gesicht entspannte sich sofort wieder und er hob sein Glas und prostete ihr zu.


Was war das? Ihre Gedanken waren ganz durcheinander. Sollte es zwischen den Brüdern Zwistigkeiten geben, war da ein Geheimnis, das außer den beiden niemand kannte? Oder war Kosta wegen der offenen und unbeschwerten Art von Georg eifersüchtig auf diesen? Störten ihn die zarten Bande zwischen Dimitri und Georg?

All diese Fragen schwirrten in ihrem Kopf herum, als sie die Treppen zu ihrem Zimmer empor schritt. Sie schloss die Holzläden bis auf einem Spalt, zog sich aus und ging ins Badezimmer. Sie duschte und ging dann, nur mit einem Handtuch bekleidet, wieder zurück ins Zimmer.

Sie griff nach einem weiten, sehr dünnen Kaftan aus kühler Baumwolle und erstarrte mitten in der Bewegung. Aus dem Schatten des Zimmerhintergrundes trat die große Gestalt von Kosta hervor. Er musste in den Raum gekommen sein, als sie im Bad war. Er kam langsam auf sie zu und blieb mitten im Raum stehen. Er hatte einen Bademantel an, den er nun langsam öffnete und dann zu Boden fallen ließ. Er stand nun vor ihr, völlig nackt und sie spürte, wie sie langsam zu zittern begann. Sie brachte keinen Ton hervor und starrte ihn nur an. Er streckte langsam die Arme aus und ging weiter auf sie zu.


Sie wollte die Arme zu einer abwehrenden Bewegung heben, doch sie konnte nicht. Sie war wie gelähmt und konnte sich nicht bewegen, ja nicht einmal atmen.

Er stand nun vor ihr und seine faszinierenden dunklen Augen blickten sie an. Er legte einen Arm um ihre Hüfte und mit der anderen Hand fuhr er ihr durchs Haar, bog ihren Oberkörper zurück und küsste sie. Sein Kuss war anfangs zärtlich und forschend, um dann immer leidenschaftlicher zu werden. Sie war außerstande sich zu wehren und versuchte es auch gar nicht ernsthaft. Sie war gefangen in einem Strudel der Gefühle, die sie bisher nicht kannte und sich auch bisher nicht vorstellen konnte. Er hob sie wie eine Feder auf und trug sie hinüber zum Bett, legte sie langsam nieder und knüpfte ihr Handtuch auf. Seine Lippen begannen sie zu liebkosen und als sie bei ihren Brüsten angelangt waren, spürte sie, wie der noch verbliebene innere Widerstand schwand und sie gab sich seinem leidenschaftlichen Verlangen hin.

Es war wie ein Sturm, der über sie hinweg brauste, eine Leidenschaft entflammte sich immer wieder und sie vermeinte in einen tiefen Brunnen zu fallen, um nie unten anzukommen. Ein roter Nebel umfasste alle ihre Sinne und verdrängte jeden Widerstand. Sie überließ sich seinen fordernden Liebkosungen, sie tauchte ein in Gefühle, die sie niemals zuvor erlebt hatte und verlor das Gefühl für Zeit und Raum, als er in sie eindrang. Sein durchtrainierter Körper glich sich dem ihren an und suchte immer mehr Berührungspunkte mit dem ihren, um ihre aus-brechende Leidenschaft noch mehr anzufachen. Seine kraftvollen Arme hielten sie so fest, dass sie aus Schmerz kleine Schreie ausstieß, die seine Leidenschaft noch mehr anfachte. Als sich ihre Lust entlud, glaubte sie zu verbrennen.


So plötzlich, wie er sie genommen hatte, so plötzlich ließ er ab von ihr und legte sich schwer atmend neben sie.

Da raffte sie sich auf und lief ins Badezimmer. Sie erschrak, aus dem Spiegel blickte ihr ein völlig fremdes Gesicht entgegen. Es war gerötet, die Augen weit geöffnet und der Blick zeigte die innere Erschütterung. Unter der Dusche ließ sie das warme Wasser an ihrem Körper hinunter fließen und begann zu weinen. Ihr ganzer Körper wurde von diesem Weinen geschüttelt und die Tränen rannen über ihr Gesicht und mischten sich mit dem Wasser. Noch nie war sie so erschüttert worden, noch nie hatte sie solche Erfüllung ihrer Lust verspürt. Sie wusste nicht, wie lange sie so da stand, als sie wieder zurückkam, war er nicht mehr da.

Sie legte sich quer über das Bett. Es war wie ein Spuk. Was war geschehen? Es musste ein Traum gewesen sein, doch da spürte sie seinen Duft aus dem Bettlacken aufsteigen und sie wusste, es war kein Traum. Es roch nach Moschus und Vanille, Moos und frisch geschnittenem Holz. Sie hatte das Gefühl, als würde sie im schwerelosen Zustand in einem dunklen Raum ohne Begrenzung dahin taumeln; sie spürte sich körperlos, als gasförmiger Körper, der ständig seine Form und Konsistenz verändert.

So lag sie da, bis es sie fröstelte. Sie hatte vergessen sich abzutrocknen und hatte sich auch nicht bedeckt. Sie richtete sich langsam auf und zog nun den Kaftan über. So blieb sie mit angezogenen Beinen sitzen und versuchte, das Erlebte zu analysieren. Sie war in ihrem Leben als Frau noch nie von einem Mann in dieser Art genommen worden. Sie hatte von all diesen Gefühlen und dieser Leidenschaft bisher nichts gewusst und es erschreckte sie. War das die „große“ Liebe, von der man immer las? Nein sicher nicht, versuchte sie sich zu beruhigen.


Sie stand langsam auf und öffnete die Holzläden und trat auf den Balkon hinaus. Die Sonne stand nun schon tief und die Schatten im Garten waren schon sehr lang. Ihr Blick blieb am Strand hängen, dort war niemand zu sehen. Ob Georg heute auf sie dort gewartet hatte? Der Gedanke an Georg verursachte ihr Unbehagen, ohne dass sie sagen konnte, warum.

Sie ging in das kühle Zimmer zurück und beschloss, heute beim Abend-essen zu fehlen. Wie sollte sie sich bei Tisch verhalten? Was ist, wenn Kosta sie ansprach oder ansah; sie wusste, sie würde rot werden.

Sie nahm sich ein Buch und setzte sich auf den Balkon in einen der großen gepolsterten Fauteulles, in welchem man fast ganz verschwinden konnte. Doch sie merkte, dass sie gar nicht wahrnahm, was sie las. Sie ließ das Buch wieder sinken. Es war inzwischen dunkel geworden und sie hörte vom Untergeschoss her die Geräusche aus dem Speisezimmer, Teller klapperten und Stimmen waren zu hören. Sie versuchte, die Stimmen zuzuordnen, doch es gelang ihr nicht. Sie waren doch zu weit weg. Ihr Blick glitt über den gepflegten Rasen und blieb am Stamm des Olivenbaumes hängen. Dieser Baum zog sie auf seltsame Weise mächtig an. Immer, wenn sie ihn betrachtete, hatte sie den Wunsch, sich an seinen Stamm zu lehnen. Was war nur an diesem Baum, dass er sie so faszinierte?


Als plötzlich das Telefon klingelte, erschrak sie.


„Bitte lasst mich in Ruhe“, wollte sie schreien, doch es kam kein Laut von ihren Lippen. Sie grub sich noch fester in die Kissen des Stuhles und wollte nichts hören, doch das Klingeln hörte nicht auf. Sie erhob sich und überlegte, was sie als Ausrede gebrauchen könnte, als es zu läuten aufhörte.


„Auch gut“, dachte sie und ging wieder auf den Balkon hinaus.


Sie kuschelte sich wieder in die Polsterung und schloss die Augen. Was sollte sie nur machen, wie sollte sie sich verhalten?


Es klopfte an der Türe. Dieses Klopfen dröhnte wie ein Hammerschlag im Raum, schien es ihr, obwohl es eher ein zaghaftes Klopfen war.


Sie gab sich einen Ruck. Es wurde ihr klar, dass sie sich nicht bis zum Ende ihrer Tage in den Stuhl verkriechen konnte.


„Ja?“, rief sie.


„Ich soll fragen, ob Sie heute nichts zu Abend essen wollen“, rief die Stimme des Zimmermädchens, welche auch sonst das Essen servierte.


„Nein, danke, es tut mir leid, ich fühle mich nicht wohl. Ich werde gleich zu Bett gehen“, rief sie durch die geschlossene Türe.


„Ich stelle hier einige Kleinigkeiten ab, falls Sie doch noch Hunger bekommen sollten.“


Dann hörte sie die sich entfernenden Schritte des Mädchens.


Es wurde eine unruhige Nacht, sie hörte Geräusche im ganzen Haus, ihre immer wieder unterbrochenen Träume waren erfüllt von wirren Begebenheiten, die sie dann im wachen Zustand nicht mehr definieren konnte. Sie hätte so gerne die Türe zugesperrt, doch gab es im ganzen Haus keine Türe mit Schlüssel. Alle Räume waren frei zugänglich, auch ihre Suite. Lange nach Mitternacht erhob sie sich und ging langsam auf die Terrasse hinaus. Ihr Blick streift über den fast schwarzen Nachthimmel und erfasste die vielen Sterne. Sie senkte den Blick und er fiel wieder auf den Olivenbaum. Sie sah, wie sich eine hohe Gestalt langsam aus dem Schatten des Baumes löste und langsam über den Rasen zum Haus ging. Der Schritt war schwer und bedächtig, der Kopf gesenkt. Sie erkannte die Gestalt von Kosta. Sie war verwirrt darüber, wie verändert er ihr erschien. Es war nichts zu sehen von seiner dominanten und Befehle gebend gewohnter Art. Er entschwand ihrem Blick und sie ging auch wieder zurück ins Zimmer.


Den Sonntag verbrachte sie auf ihrem Zimmer und auf dem Balkon. Sie schützte weiterhin Migräne vor und ließ sich das Essen herauf bringen. Sie hatte sich ein Tagebuch zugelegt und versuchte die Ereignisse der letzten Wochen und insbesondere jene vom Samstagnachmittag niederzuschreiben. Immer wieder musste sie unterbrechen, weil es ihr unmöglich war, ihre Gefühle richtig zu beschreiben.

Sie wachte sodann Montagmorgen mit schwerem Kopf und in gedrückter Stimmung auf. Als sie zum Frühstück kam, war es schon sehr spät und doch waren noch Eleni und Dimitri im Frühstückszimmer. Das Kind spielte wieder mit seinem Plastikring und schaute sie dabei wieder nicht an. Es war, als wäre sie gar nicht anwesend.


„Ich möchte so gerne heute in die Stadt fahren, um einiges einzukaufen, fährt der Chauffeur vielleicht in die Stadt?“, fragte sie Eleni.


„Der Chauffeur ist leider vor einer Stunde mit meinem Sohn in die Stadt gefahren, aber Sie können mit mir fahren. Ich fahre auch in die Stadt. Wie geht es Ihnen heute? Wir haben Sie vermisst.“ Eleni warf ihr einen besorgten Blick zu.


War sie wirklich ehrlich besorgt oder war es nur reine Höflichkeit? Da sie nicht in der Lage war, das klar herauszufinden, wählte sie die erste Variante und beschloss, sich darüber zu freuen.


Sie nahm das Angebot dankend an und vereinbarte, in einer Stunde bereit zu sein. Sie wollte sich ablenken und hoffte in einer anderen Umgebung wieder zu sich selbst zu finden.


Eleni ließ sie im Zentrum der Stadt aussteigen und sie vereinbarten, dass Giselle mit dem Taxi zurückfahren werde, um am gemeinsamen Mittagessen teilzunehmen.

Es war Montagmorgen und die Straßen waren erfüllt von lebhaftem Treiben. Sie machte einige Besorgungen, kaufte Kleinigkeiten, um sich abzulenken. Doch sie war mit ihren Gedanken nicht dabei und merkte, sie wollte ein Tuch kaufen, das in keiner Weise zu ihrer Garderobe passte. Sie legte das Tuch wieder zurück.


In einer kleinen Seitengasse entdeckte sie ein Musikgeschäft und blieb in Gedanken davor stehen. Es lagen verschiedene Flöten in der Auslage mit verstreuten Noten dazwischen. Sie entschloss sich, das Geschäft zu betreten. Als sie eintrat, ertönte eine Glocke, von der sich schließenden Türe ausgelöst. Unwillkürlich musste sie lächeln. Dieses Geschäft erinnerte sie an einen kleinen uralten Laden in Wien, in der Taubergasse. Selbst der gleiche Geruch von staubigem Papier und alten Regalen war hier zu spüren. Sie schloss für einen Moment die Augen und wähnte sich in Wien.

„Oriste“, ertönte es aus dem Hintergrund, ein etwas gebückter alter Mann trat aus dem Dunkel des Geschäftes heraus.


„Ich …“, sie lächelte. Beinahe hätte sie ihn in deutscher Sprache angesprochen, so vertraut kam ihr das Geschäft vor. Doch dann erklärte sie ihm in englischer Sprache, sie wolle sich nur umsehen und vielleicht eine kleine Flöte und Musiknoten für Anfänger kaufen.


Er legte ihr einige Flöten auf den Tresen und sah sie erwartungsvoll an. Plötzlich sagte er: „Sind Sie aus Deutschland? Sie können mit mir ruhig deutsch sprechen. Ich stamme aus Wien, habe aber das damalige Reich schon vor einer Ewigkeit verlassen, es war im Jahre 1938.“ Er sprach deutsch, mit einem unverwechselbaren Wiener Dialekt. Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht, während er ihr die andere Hand entgegenstreckte. “Gerade noch rechtzeitig, als ganz junger Mann“, fügte er noch leise hinzu.


Sie nahm seine Hand. „Jaa, ich bin auch aus Wien, es freut mich, Sie kennen zu lernen, und das meinte sie auch so.


Plötzlich waren sie in ein teils etwas melancholisches, dann wieder fröhliches Gespräch verwickelt. Er träumte von den alten Plätzen seiner Jugend, sie erzählte ihm, was daraus geworden war. Verstohlen wischte er sich dann die eine oder andere Träne aus den Augenwinkeln.


Dann wählte sie eine Flöte aus und er verpackte sie gemeinsam mit einigen Noten in einer Plastiktasche und sie verließ mit einem Lächeln das Geschäft, nicht ohne vorher versprochen zu haben, bald wiederzukommen.


Auf dem Weg nach Hause, im Taxi, lehnte sie sich dann zurück, schob alle sie belastenden Gedanken weg, schloss die Augen und genoss die Fahrt bis zur Villa. Sie ertappte sich dabei, dass sie leise vor sich hin summte, als sie sich für das Mittagessen umzog. Es blieb ihr noch eine halbe Stunde, und in dieser halben Stunde spielte sie eine kleine Melodie aus dem neu erstandenen Notenheft und freute sich schon auf die Reaktion von Dimitri, denn sie hatte vor, ihm die Flöte zu geben und ihn zu veranlassen, diese kleine Melodie ebenfalls zu spielen.


Mitten in ihre Gedanken läutete das Telefon. Es war Frank aus Wien. Er war besorgt, weil sie schon so lange nicht angerufen hatte. Ihre Beteuerungen, dass alles in Ordnung sei und sie keine Probleme habe, konnte er ihr nicht glauben. Er spürte, dass sie etwas vor ihm verbarg. Er hörte einen unsicheren Unterton in ihrer Stimme.

So gerne hätte sie ihm alles erzählt, aber sie wusste nicht wie. Wusste sie doch selbst nicht, wie das alles geschehen konnte. Sie brauchte noch etwas Zeit. Das Gespräch verlief in unbedeutenden Floskeln. Sie versprach, sich in den nächsten Tagen wieder zu melden und legte auf.


Am anderen Ende der Leitung wurde der Hörer sehr langsam aufgelegt und ein sehr nachdenklicher Dr. Wagner holte sich eine Tasse Kaffee und rührte gut fünf Minuten darin herum, ohne dass Zucker oder Milch drin waren.


Auch Giselle stand noch eine Weile vor dem Telefon und ihre Hand blieb am Hörer liegen. Ihre gute Stimmung von vorhin war wie verflogen und bedrückt machte sie sich auf den Weg ins Speisezimmer im Erdgeschoss.


Es waren bereits alle versammelt, man wartete nur mehr auf sie. Sie murmelte eine Entschuldigung und nahm am unteren Ende des Tisches Platz. Am anderen Ende des Tisches, weit weg von ihr, saß Kosta und begrüßte sie mit einem Kopfnicken. Sie hob den Blick und erwiderte seinen Blick. Es gab kein Anzeichen in seinem Benehmen, dass sich irgendetwas geändert hatte. Er war wie immer, freundlich unverbindlich. Wie schaffte er das nur?


Da die spärliche Konversation in griechischer Sprache ablief, musste sie nicht besonders darauf achten und konnte ihren Gedanken freien Lauf lassen. Wie war es möglich, dass Kosta so ruhig am Tisch sitzen konnte, als wäre Nichts geschehen. Sie empfand es als Glück, dass Georg nie, außer an den Wochenenden, am täglichen Mittagessen teilnahm. Sie spürte die Spannung zwischen den Brüdern und es bereitete ihr Unbehagen.


Als die Tafel aufgehoben wurde, verließ sie erleichtert den Raum und begab sich wieder in ihr Zimmer im zweiten Stock. Als sie duschte, horchte sie ängstlich in Richtung der Türe. Würde er heute wieder kommen? Was würde er wohl sagen? Doch er kam nicht. War sie enttäuscht?


Am späten Nachmittag, bevor der Unterricht mit Dimitri begann, entschloss sie sich, Kosta in seinem Büro aufzusuchen. Sie wollte ihn über die Befindlichkeit des Kindes unterrichten. Außerdem wollte sie ihn auch über ihre Absicht informieren, das Kind mit der gekauften Flöte zu konfrontieren. Auch hatte sie sich aus den von Frank übersandten Unterlagen über Autismus informiert und hatte nun berechtigte Zweifel, dass es sich tatsächlich um Autismus handelte. Sie wollte anregen, dass das Kind nochmals untersucht werden sollte und zwar von anderen unabhängigen Ärzten, vielleicht im Ausland.


Ihr Klopfen an der Türe war so zaghaft, als hoffe sie, er würde sie nicht hören. Ein kräftiges „Herein“ ertönte und sie betrat den Raum. Er saß hinter seinem Schreibtisch und blickte sie erwartungsvoll an.


„Ja?“, seine Stimme ließ sie erzittern.


„Ich, hmm, ich will Ihnen Bericht erstatten über den bisherigen Fortschritt von Dimitri“, sagte sie mit unsicherer Stimme.

Er merkte ihre offensichtliche Befangenheit, ließ sich aber nichts anmerken. „Ach bitte, nehmen Sie doch Platz“, sagte er sehr förmlich.


Sie setzte sich auf den vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl, verschränkte ihre Finger ineinander und sprach mit leiser Stimme.


Er hörte ihr konzentriert zu und sein Blick war fest auf sie gerichtet.

„Ich bin über das, was Sie mir erzählen, erfreut und erstaunt. Ja, vielleicht sollten wir auch andere Ärzte konsultieren. Obwohl wir schon viele Ärzte bemüht haben. Das mit der Flöte ist eine gute Idee. Ich möchte wissen, wie er darauf reagiert, bitte“, er beugte sich leicht nach vorne, sie verspürte seinen Duft und leichter Schwindel erfasste sie. Sie beugte sich zurück und drückte sich so fest an die Sessellehne, dass es fast schmerzte.


“Sagen Sie mir, was die Flöte gekostet hat.“


„Oh nein, das ist ein persönliches Geschenk von mir“, versicherte sie und errötete, ohne es zu wollen. Sie stand auf, drehte sich um und verließ den Raum, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.

Was glaubte dieser Mann eigentlich? Sie fühlte sich plötzlich benutzt und wie ein Regenschirm in die Ecke gestellt. Sie wusste nicht was, aber irgendeine Äußerung oder Geste hatte sie schon erwartet.

Bevor sie nun in den Salon hinunterging, ging sie nochmals in ihr Zimmer. Sie wusch sich die Hände und benetzte auch ihr Gesicht mit kaltem Wasser, dann legte sie etwas Make-up auf und zog ihre Lippen nach. Sie war fest entschlossen, den gestrigen Nachmittag zu vergessen und das Vorgefallene sich nicht wiederholen zu lassen.

Dimitri wurde von seiner Großmutter hereingebracht und danach verließ diese wieder schweigend den Raum, wie vor zwei Tagen vereinbart.


Dimitri saß scheinbar völlig unbeteiligt auf der großen Sitzbank vor ihr und doch hörte er ihr konzentriert zu. Sie merkte es daran, dass er plötzlich aufhörte mit den Füßen zu schlenkern und manchmal den Kopf hob oder innehielt den Plastikring zu drehen, den er immer in der Hand hielt.


Sie spielte ein Stück von Mozart, nur den ersten Satz, hörte dann auf und begann den Satz nochmals von vorne. Das irritierte ihn. Er sah auf und blickte ihr voll ins Gesicht. Sie lächelte ihn an und rückte etwas zur Seite auf der Klavierbank, um ihn Platz zu machen. Doch er machte keine Anstalten aufzustehen und zu ihr hinüber zu kommen. Sie spielte den Satz noch einmal. Da stand er plötzlich doch auf und setzte sich neben sie. Er hob die Hände und spielte ihr das Musikstück nach. Fast völlig fehlerfrei. Dann ließ er die Hände sinken und senkte den Blick.


„Gut, sehr gut“, sagte sie. Sie freute sich wirklich. Es war erstaunlich, dass er das Stück so einfach nachspielen konnte. Es war jedoch bekannt, dass Kinder gerade zu Mozart guten Zugang hatten.


„Ich habe Dir da etwas mitgebracht.“


Sie nahm die Flöte vom Klavier und setzte sie an die Lippen. Sie spielte eine kleine Melodie, dann reichte sie sie ihm.


Er hatte noch nie eine Flöte in der Hand gehabt und betrachtete sie von allen Seiten. Er versuchte auch hinein zu blasen, nur kam kein Ton heraus.


In der nächsten Stunde war sie nun beschäftigt, ihm die Flöte zu erklären. Sie zeigte ihm die Fingerhaltung, sie erklärte ihm anhand der ersten Seite der mitgebrachten Noten, welche Fingerhaltung zu welchen Noten gehört. Es war, als hätten sie beide die Zeit vergessen. Er sprach wie immer kein Wort, er nickte nur, wenn er es verstanden hatte oder knurrte, wenn er es nicht verstand oder es nicht gleich richtig funktionierte.


Sie verstand nun, was Kosta bei seinem ersten Gespräch mit ihr gemeint hatte, die Musik war tatsächlich ein Fenster zu seinem Inneren, seiner Seele. Es war nun zu erkennen, dass er Noten lesen konnte. Das war wohl das Resultat seines vor einigen Monaten abgebrochenen Musikunterrichtes. Plötzlich nahm er die Flöte und die Noten an sich, verließ den Raum und ging die Treppe zum ersten Stock hinauf. Sie war sprachlos sitzen geblieben. Es war das erste Mal, dass das Kind eine selbständige Handlung gesetzt hatte. Er hatte noch nie ohne seine Großmutter den Raum verlassen oder ohne sie betreten.


Sie schloss zufrieden den Deckel des Flügels und ging ebenfalls langsam die Treppe hinauf. Bevor sie noch ihr Zimmer betreten konnte, hörte sie ihn spielen. Es waren die ersten Versuche, doch es klang gut. Sie lächelte.


In dieser Nacht kam Kosta wieder. Sie hatte schon das Licht gelöscht und stand an der offenen Terrassentüre und hielt stille Zwiesprache mit dem Olivenbaum. Sie sprach mit ihm. Fragte ihn, welches Geheimnis er wohl bewahrte. Seine Blätter bewegten sich im sanften Wind, als würde er ihr antworten, doch sie konnte ihn nicht verstehen.


Nach einer Weile spürte sie seine Hände auf ihrer Hüfte. Er war, ohne Licht zu machen, leise in das Zimmer gekommen und stand nun hinter ihr. Er umfasste sie sanft und doch fest und zog sie von der Türe weg. Sie drehte sich um und blickte direkt in sein Gesicht empor. So vor ihm stehend, barfuß und im Bademantel, zeigte sich der enorme Größenunterschied deutlich. Nun hob er sie wieder auf und trug sie zum Bett hinüber. Ohne ein Wort zu sprechen, zog er seinen Bademantel aus und zog ihr Nachthemd halb von ihrer Schulter, so dass ihre Brüste völlig frei waren. Es war wieder wie das erste Mal, sie konnte sich seinen Begehrlichkeiten nicht entziehen, sie ließ sich in diesen Strudel der Gefühle hineinziehen und erschrak über sich selbst. Seine Hände verkrampften sich in ihren Haaren, um sofort wieder von ihrem ganzen Körper Besitz zu ergreifen. Er war wie von Sinnen und sprach ihr Worte ins Ohr, die sie nicht verstehen konnte. Sie konnte jedoch den Namen Maria deutlich heraus hören. Sie wollte sich aus seiner Umarmung befreien, doch er war stark und ihre Versuche waren nicht ernsthaft genug. Und plötzlich, so wie beim ersten Mal, ließ er von ihr ab und blieb schwer atmend neben ihr liegen.


„Maria, wer ist Maria?“, sie richtete sich langsam auf und blickte ihn an.

Er richtete sich ebenfalls auf, starrte sie an.


„Ich möchte darüber nicht sprechen.“ Er stand wie das erste Mal wieder auf, zog seinen Bademantel an und verließ wortlos das Zimmer.


Giselle zog die Beine an, schlang ihre Arme darum und begann zu weinen. Es war vorerst ein leises verhaltenes Weinen, das dann in Schluchzen überging. Sie wusste nicht wie lange sie so da saß, bis sie schließlich weiter leise vor sich hin weinend in einen tiefen Schlaf fiel. Am nächsten Morgen entschloss sie sich, selbst zu ergründen, wer Maria ist.


Sie beschloss, dies beim Personal zu tun. Denn schließlich gehörte sie ja auch zum Personal. Von der Familie konnte sie ja wohl niemand fragen. Sie begab sich nach dem Frühstück in die untere Etage zu den Wirtschaftsräumen der Villa. Dort waren die Küche, der Vorratsraum, der Kühlraum, der Weinkeller und die Garage mit dem anschließenden Geräteschuppen.


Die einzige Person, welche sie kannte, war das Serviermädchen. Diese war gerade damit beschäftigt, mit der Köchin gemeinsam das Gemüse zu putzen. Sie wurde freundlich begrüßt und bekam einen Kaffee serviert. Die Köchin war gebürtige Engländerin, mit griechischen Eltern und beider Sprachen mächtig. Giselle war darüber sehr froh, da sich ihre Griechischkenntnisse auf nur sehr wenige Worte beschränkten.


Natürlich waren beide Frauen etwas erstaunt, sie in der Küche anzutreffen, doch sie überwanden dies und versuchten Konversation zu machen. Sie hatte jedoch keine Zeit, sich auf längere Unterhaltungen einzulassen und fragte ganz unverblümt: „Wer ist Maria?“


Es folgte ein betretenes Schweigen, die Köchin stand auf und begann mit Töpfen und Deckeln zu hantieren und die Jüngere der beiden senkte den Blick.

„Bitte, es ist wichtig. Ich brauche es für meine Gespräche mit Dimitri“, log sie. Das zeigte Wirkung.


Die Köchin setzte sich wieder, wischte sich die Hände vor lauter Verlegenheit in ihrer Schürze ein paar Mal ab, bevor sie zu sprechen begann. „Maria war die Frau von Herrn Kosta und die Mutter von Dimitri. Sie haben vor ca. 12 Jahren geheiratet und es schien anfangs alles gut zu gehen. Sie war eine fröhliche, sehr freundliche Frau und sehr verliebt. Sie war allerdings sehr viel alleine, da Herr Kosta sehr oft im Stadtbüro übernachtete und auch sehr viel auf Reisen war, auf die er sie nie mitnahm. Sie fühlte sich sehr einsam. Der Einzige, der sich ein wenig um sie kümmerte, wenn er hier war, war Herr Georg. Mit seiner netten Art brachte er sie sogar öfters zum Lachen. Als Dimitri geboren wurde, schien das Glück wieder vollkommen zu sein. Doch mit der Zeit wurde sie immer stiller und eine tiefe Melancholie ging von ihr aus. Nur das Kind konnte sie zum Lachen bringen. Sie verbrachten viele Stunden am Strand oder sie spielte ihm am Klavier etwas vor. Da saß das Kind dann und hörte ganz verzückt zu. Wir hörten immer öfter, dass sich das Ehepaar furchtbar stritt, danach verließ sie ihr Zimmer oft tagelang nicht.“

Die Köchin seufzte und stand auf. Sie holte sich ein Glas Wasser und setzte sich wieder. „Irgendwann begann sie halbe Nächte im Garten unter dem Olivenbaum zu verbringen. Sie saß da, unter dem Baum an den Stamm gelehnt und blickte nach den Sternen und ich glaube, sie sprach auch mit dem Baum, so als wäre er ihr einziger Vertrauter.


Immer wenn sie so da saß, verschmolzen mit dem Baum, kam nach einer Weile Herr Kosta, um sie zu holen und führte sie schweigend ins Haus. Eines Tages drohte er ihr, den Baum abzuschneiden da er der Meinung sei, er mache sie verrückt. Es ergab sich dann, dass sie immer nur dann zum Baum hinunter ging, wenn Herr Kosta nicht im Hause war. Es war nicht mehr anzuschauen. Und eines Tages …“, sie stockte und wischte sich mit der Schürze eine Träne aus dem Augenwinkel.


„Ja? Was war da?“


„Sie hatte sich umgebracht, hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Es geschah unter dem Olivenbaum, nachts. Als Herr Kosta wieder einmal sehr spät nach Hause kam und hinunterging, um sie zu holen, fand er sie sterbend vor. Ich höre noch heute seinen dumpfen Schrei, es ging mir durch Mark und Bein. Er nahm sie auf den Arm und trug sie durch den dunklen Garten ins Haus, hinauf in den ersten Stock. Durch seinen Schrei waren wir alle im Haus wach geworden. Alle liefen aus ihren Zimmern hinauf in die Halle, auch ich.


Da stand er schon oben am Treppenabsatz und hielt sie auf dem Arm. Das Blut tropfte unentwegt auf den Boden. Es war schrecklich.“

Sie schlug die Hände vors Gesicht. Dann senkte sie die Stimme und sprach weiter: „Das Schrecklichste daran war, dass auch das Kind aufgeschreckt wurde. Er war erst vier Jahre alt. Er stand da, hatte in der einen Hand seinen Teddy-Bären und starrte mit weit aufgerissenen Au-gen auf seinen Vater, durch dessen Finger das Blut tropfte. Dann begann er ebenfalls zu schreien. Er schrie: „Mama, Mama“, er konnte gar nicht mehr aufhören. Frau Eleni nahm ihn schließlich auf den Arm und trug ihn in das Kinderzimmer. Seit damals gerät er immer in Panik, wenn er etwas Rotes sieht. Ich fasste mich zuerst, lief zum Telefon und rief unseren Hausarzt und die Erste Hilfe an. Doch sie kamen alle zu spät. Als der Arzt eintraf, war die Frau bereits tot. Seit diesem Tag spricht das Kind mit niemandem mehr ein Wort.“


Sie musste aufhören zu sprechen, die Tränen erstickten ihre Worte.

„Und wo war denn Georg, der Bruder?“


„Der war zu diesem Zeitpunkt auf einer Geschäftsreise. Er hat alles am Telefon erfahren und ist sofort zurückgekommen. Ach, es war eine Tragödie.“

Es drängte Giselle nun zu gehen. Erstens würde sie nicht noch mehr erfahren und außerdem hatte sie diese Geschichte so aufgewühlt, dass sie alleine sein wollte, um das Gehörte zu verarbeiten.


In der folgenden Nacht konnte sie nicht schlafen. Sie musste immer wieder an die Erzählung der Köchin denken. Ihre Meinung, dass Dimitri gar kein autistisches Kind war, festigte sich. Das Kind stand unter einem Schock, den niemand sehen wollte und diese Tatsache wurde von allen verdrängt. Vor allem von seinem Vater.


Es war weit nach Mitternacht, als sie sich erhob und ihren Morgenmantel überstreifte und das Zimmer verließ. Sie ging in den Park hinunter und näherte sich dem Olivenbaum.


„Hallo“, flüsterte sie, so als wolle auch sie mit dem Baum reden.


Als sie vor dem Baum stand, berührte sie mit der flachen Hand den Stamm. Er war rau und warm. Er hatte die Hitze des Tages aufgenommen und gab sie nun ganz langsam ab. Sie glitt am Stamm entlang und setzte sich mit dem Rücken zum Stamm auf die Erde. Es strömte ein unbeschreibliches Gefühl von Geborgenheit und Schutz vom Baum zu ihr und plötzlich konnte sie die ihr fremde Frau verstehen. Sie vergaß Zeit und Raum und wusste gar nicht, wie lange sie so da gesessen war, als sie spürte, dass sich von hinten jemand dem Baum näherte.


„Hat er auch Sie in seinen Bann gezogen?“ Es war die Stimme Georgs, der unbemerkt näher gekommen war. Er setzte sich neben sie und nahm ihre rechte Hand in seine beiden Hände. „Sie haben die schreckliche Geschichte über den Freitod von Maria nun auch gehört?“


„Ja“, woher wusste er das? Offenbar hatte er überall seine Ohren.


„Sie war eine sehr unglückliche Frau, sehr sensibel und zerbrechlich. Sie ist mit der starken Natur meines Bruders nicht zu Recht gekommen. Er hatte sehr wenig Zeit für sie, versuchte sie zu manipulieren. Sie waren fast nie allein, es waren immer auch andere Menschen um sie herum und er äußerte nur seine Wünsche, die oft wie Befehle klangen und erwartete, dass alles nach seinem Willen lief. Das hielt sie nicht aus. Sie zerbrach daran.“


Ach wie gut konnte sie das verstehen. Sie musste unwillkürlich an ihre Ehe denken. Nur mit dem Unterschied, dass ihr Mann natürlich keine solche faszinierende Persönlichkeit wie Kosta war.


„Wie kommen eigentlich Sie mit ihm zurecht?“, fragte er.


Sie erschrak. Sollte er etwas ahnen? „Ich sehe ihn sehr selten. Nur, wenn ich mich an ihn wende oder wenn ich ihm über meinen Unterricht mit dem Kind erzähle, sprechen wir miteinander, bzw. wenn er am täglichen Mittagstisch teilnimmt.“ Sie hatte einen Frosch im Hals und musste sich räuspern. Gut, dass es so finster war und er nicht sehen konnte, dass sie rot geworden war.


„Ich möchte allerdings mit ihm darüber sprechen, denn ich glaube nicht, dass das Kind autistisch ist. Aufgrund der Ereignisse hat das Kind ein Trauma, das behandelt werden muss. Ich verstehe gar nicht, dass die Ärzte das nicht erkannt haben?“

„Um Gottes Willen, Giselle, rühren Sie nicht daran. Das würde eine sofortige Entlassung zur Folge haben. Ich möchte aber nicht, dass sie uns verlassen.“ Der letzte Satz kam ganz leise und zögernd aus seinem Mund. Sie drehte sich ruckartig ihm zu und ihre Blicke trafen sich. Trotz der Dunkelheit erkannte sie, dass er es wirklich so meinte. Seine dunklen Augen sahen sie bittend an. „Sie sind seit längerer Zeit wieder ein Lichtblick in diesem Hause. Sie waren bisher die Einzige von den Ereignissen unbelastete, unbefangene Person. Ich selbst habe schon mehrfach versucht, mit meinem Bruder über Dimitri zu sprechen. Er blockt ab. Er hat auch den Ärzten, die das Kind in Behandlung haben, von den näheren Umständen des Todes von Maria nichts erzählt und es auch dem damaligen Hausarzt der Familie verboten, sein Wissen an die Ärzte weiterzugeben. Er hat sogar den Hausarzt für sich und das Kind gewechselt.“ Er strich sich mit der Hand über die Stirne und übers Haar.

Sie merkte nun, dass es kühler wurde und der Baumstamm nicht mehr den Schutz gab, den sie glaubte anfangs zu spüren. Unwillkürlich zog sie die Schultern zusammen.

Georg merkte es sofort. Er zog sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern. „Sollten Sie nicht wieder hinaufgehen und etwas schlafen?“, fragte er besorgt.

Diese besorgte Stimme und seine Umarmung, als er ihr das Jackett um die Schultern legte, erzeugte bei ihr ein angenehm wohliges Gefühl. Am liebsten hätte sie sich an ihn angelehnt und wäre noch eine Weile sitzen geblieben. Doch er stand auf und streckte ihr seine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen.

Mit einem Ruck ließ sie sich hinauf ziehen. Durch den Schwung landete sie an seiner Brust und er hielt sie einen Augenblick fest und ihre Blicke trafen sich. Der Mond verbreitete ein zartes Licht und spielte mit ihren Gesichtern. Was war das für ein Ausdruck in seinem Gesicht? Erschrocken trat sie einen Schritt zurück und löste sich dadurch aus seinen Armen. „Ja, gehen wir ins Haus“, sagte sie mit belegter Stimme.

„Was haben eigentlich Sie im Park gemacht?“, fuhr sie dann fort, da sie die Stille unterbrechen wollte.


„Ich kam sehr spät nach Hause und hatte das Bedürfnis, nochmals zum Meer hinunter zu gehen. Das beruhigt mich meist, wenn der Tag sehr anstrengend war. Vielleicht habe ich gehofft, dort eine Meerjungfrau zu finden. Ich fand sie dann aber unter einem Baum“, fügte er lächelnd hinzu.


Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Er hielt ihre Hand in der seinen und ließ sie nicht los. Sie verabschiedeten sich dann in der Halle schweigend, nur ihrer beiden Augen sprachen. Sie stieg ganz leise wieder in den zweiten Stock hinauf, er wollte anscheinend in die Küche. Wollte er vermeiden, mit ihr gemeinsam die Treppe hinaufzugehen? Dieser Gedanke kam ihr, als sie wieder in ihrem Zimmer war.


Den Rest der Nacht verbrachte sie in einer Art Halbschlaf, unterbrochen von Träumen, seltsamen Szenen und teilweisen Erinnerungen.



Das Wochenende brachte ein herrliches Badewetter und sie hielt sich an beiden Tagen fast die ganze Zeit am Strand auf. Sie hatte sich Bücher mitgenommen, las viel und es gelang ihr endlich wieder, auf dem Bauch liegend einen langen Brief an Frank nach Wien zu schreiben. Sie berichtete ihm ausführlich darüber, was sie inzwischen über die Ereignisse vor fünf Jahren im Hause erfahren hatte. Sie schrieb ihm auch, dass sie nun sicher war, dass es sich nicht um Autismus handeln konnte, sondern, dass das Kind eine schwere seelische Störung haben musste.


Was sie ihm nicht schrieb, nicht schreiben konnte, war die Tatsache, dass sie scheinbar rettungslos diesem Mann ausgeliefert war. Er sie in seinen Bann gezogen hatte. Spürte er, wie fasziniert sie von ihm war?


Sie richtete sich langsam auf. War es tatsächlich so? Nutzte er ihre Situation aus? Oder war es vielmehr so, dass er selbst in diesem Strudel der Ereignisse und Gefühle ein Gefangener war?

Konnte er vielleicht nicht selbst aus diesem Käfig ausbrechen, gab er sich selbst Schuld am Selbstmord seiner Frau?



Sie merkte plötzlich, dass sie begann, Gefühle für ihn zu entwickeln, Entschuldigungen und Erklärungen zu finden, die seine Persönlichkeit in einem positiveren Licht erscheinen ließen. Darüber erschrak sie sehr. Sie entschloss sich, auf ihr Zimmer zu gehen, um sich etwas auszuruhen.

Beim Frühstück am nächsten Morgen teilte ihr Eleni so nebenbei mit, dass heute Abend eine große Gesellschaft erwartet wurde und bat sie, doch einmal etwas am Klavier zu spielen. Sie hatte zugesagt, doch erweckte es in ihr das unangenehme Gefühl, als Angestellte sozusagen nur pro-forma gefragt worden zu sein. Sie fühlte sich irgendwie vorgeführt wie ein Zirkuspferd. Sie musste über ihre Empfindsamkeit lächeln und schüttelte über sich selbst den Kopf. Schließlich war sie ja eine Angestellte.


Abends duschte sie ausgiebig, trocknete mit dem Fön ihre Haare und stellte fest, dass sie wieder einmal gekürzt gehörten, sie waren sehr lang geworden. Sie ging zum Spiegel und steckte sie zu einem Knoten rückwärts auf. Ja, sie wird die Haare heute zu einem Knoten gebunden tragen. Sie ließ sie wieder offen herunterfallen und ging zum Kleiderschrank, um ein Kleid auszuwählen, das zu der heutigen Situation am besten passen würde. Sie wählte ein enges, schwarzes Kleid mit kurzen Ärmeln und einem dezentem Ausschnitt aus. Dazu passend einen golddurchwirkten grünen, sehr großen Schal und eine dazu passende Handtasche. Sie legte alles bereit auf den großen Lehnsessel, der im Zimmer neben dem Sekretär stand. Sie nahm auch die Perlenkette aus der Schatulle und die beiden dezenten Ohrstecker.


Ja, so würde sie auf jeden Fall anlassgerecht gekleidet sein. Die Pianistin, unauffällig der Musik die Bedeutung gebend, die sie verdiente.


Sie war zufrieden mit sich und legte sich noch etwas hin um sich auch innerlich die Ruhe zu verschaffen, die ihr Äußeres signalisieren sollte.

Und wieder hatte sie diesen Traum, der sie bereits einige Nächte verfolgte. Sie sah eine Frauengestalt in einem weiten Mantel und mit offenem langem Haar nachts über den Rasen zum Olivenbaum hin-schweben, sah plötzlich einen Mann, der über den Rasen lief, etwas rief und vergebens versuchte, sie zu erreichen. Die Frau war jedoch immer schneller, bis sie in der Dunkelheit hinter dem Baum verschwand. Sie wachte, wie immer, mit Herzklopfen und Angstgefühlen auf. Wer war diese Frau? War es Maria? War sie es selbst? Und wer war dieser Mann? Die Rollenverteilung war nicht klar, alles viel zu undeutlich und verschwommen.


Sie wünschte sich einen Menschen, mit dem sie darüber hätte sprechen können Doch so sehr sie auch darüber nachdachte, es gab niemand im Haus.


Sie erhob sich und ging langsam zur Balkontüre und öffnete den Holzladen. Die kühle Abendluft kam herein und die dumpfen Gedanken verschwanden wieder. Sie richtete ihren Blick nach oben in den Himmel. Der Himmel war dunkel, wolkenlos und voller Sterne. Sie blinkten herab zu ihr, als wollten sie ihr etwas sagen. Sie musste lächeln.


Dann glitt ihr Blick langsam durch den Park, hin zum geheimnisvollen Olivenbaum. Ja, er war für sie geheimnisvoll geworden. Er hatte schon so viel gesehen und gehört, so vieles war unter seinem Schatten schon geschehen. Und alle Mitglieder des Hauses zog es immer wieder zu ihm, zu seinem Stamm hin.


War da nicht eine Bewegung? Sie richtete sich ein wenig auf und blickte angestrengt in die Dunkelheit. Ja, dort stand eine Gestalt, mit dem Rücken angelehnt an den Stamm, die Beine etwas abgespreizt und die Hände an seinen Stamm gepresst. Es war Kosta, sie erkannte ihn an seinem dichten Haar und dem hellen Stecktuch an seinem Sakko.


Er

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 05.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0357-5

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