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Das Geheimnis um OMEGA

 

 

Die Stille war greifbar. Sein Geruch war noch immer in jedem Raum. Besonders intensiv fühlbar war seine imaginäre Gegenwart im Schlafzimmer, im Bad und im Garderoberaum. Seine noch immer herumliegenden Kleinigkeiten, hier ein Buch, darauf seine Brille, da die alte Lieblingsweste, alles erinnerte an ihn. Sogar seine Atemluft, seine Aura spürte sie permanent.

Marlies öffnete die Türe zur Terrasse, frische Morgenluft strömte herein. Wird sie es schaffen, die Schatten der Erinnerung zurück zu drängen?

 

Es war ein großer Abschied, die Kolonne der Limousinen war lang, die Kränze und Blumengestecke türmten sich und die Schlange der Trauergäste war unübersehbar.

Michaels Familie stammte von Seiten seiner Mutter aus Frankreich, väterlicherseits aus Griechenland. Es war eine Familie, die ihre Wurzeln in ganz Europa hatte und auch weit verstreut über Europa lebte. Seine Muttersprache war zu beiden Teilen französisch und griechisch und er war durch die Wirren der Nachkriegszeit letztlich als Einziger in Österreich, in Wien gelandet und da auch geblieben. Zum Begräbnis kamen ein Bruder und ein Cousin aus Frankreich, die Beide nur einige Tage blieben und dann wieder abreisten.

 

Nun war wieder Ruhe eingekehrt, nur mehr vereinzelte Anrufe kamen, die meisten nahm sie gar nicht mehr an. Sie war es müde geworden, immer wieder die gleichen Fragen zu beantworten, zu versichern, dass es ihr gut gehe. Es ging ihr nicht gut. Auch wenn ihre Ehe in den letzten Monaten zu zerbrechen drohte, so waren doch die Gewohnheit und die Achtung vor dem anderen noch immer da und sie hatten sich arrangiert. Es ging sogar so weit, dass sie getrennte Schlafzimmer hatten, da Michael sehr oft später nach Hause kam und sie nicht wecken wollte.

Sie setzte sich zum Esstisch, der Blick ging hinaus in den Garten. Da lag neben dem Rasen der Wasserschlauch, daneben stand die Gießkanne, so als würde er jeden Moment kommen, um die Blumenbeete rückwärts im Garten zu gießen.

Es fiel ihr auf, dass der Tisch eigentlich nun viel zu groß schien für sie alleine. Sie blickte hinüber zu seinem Sessel, dort wo er immer saß. Er war leer, beängstigend leer. Es fiel ihr auf, dass sie seit seinem so unerwarteten Tode diesen Sessel weder verschoben, noch sich darauf gesetzt hatte. Es war wie ein Tabu. Ihre Hände strichen langsam über das Tischtuch und rückten die kleine Blumenschale zurecht. Als sie den blauen Aschenbecher, den er so liebte, berührte, zuckte sie zurück, als hätte sie sich verbrannt. Die Uhr schlug Zehn und erschreckte sie. Würde sie nun hier den ganzen Tag über sitzen und jede Stunde dem Klang der Uhr lauschen? Und morgen und übermorgen…. ?

 

Das Telefon riss sie aus ihrer Starre. Es war Georg, ihrer beiden einzige Sohn. Sie nahm das Gespräch an.

„Mama, was machst Du gerade?“, seine Stimme klang vertraut und ein wenig besorgt. Er wusste, dass sie dieser Schicksalsschlag wie ein Blitz getroffen hatte, sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

 

„Ich weiß es nicht, weiß nicht, wo ich anfangen soll. Im Garten sollte man was machen, im Haus…“, sie hörte auf zu sprechen.

„Mama, lass das einmal, ich komme heute Abend wie vereinbart, wir werden das besprechen!“, er legte auf. Sie blickte das Telefon eine Weile an, dann legte sie es wieder weg.

 

Ein Auto fuhr vor, sie hörte, wie jemand an der Türe war, sie aufsperrte und dann vernahm sie die helle, immer gut gelaunt klingende Stimme von Anna.

„Bin schon da, habe mich nur ein wenig verspätet. Aber ich habe dafür gleich eingekauft und wir werden ein wunderbares Mittagessen für Sie auf den Tisch zaubern!“

Anna war die Haushaltshilfe und kam zwei Mal in der Woche. Sie war immer gut gelaunt, sang oder pfiff, wenn sie werkte, war nie schlecht gelaunt und sehr zuverlässig.

Erleichtert atmete Marlies auf. Sie fühlte sich gleich nicht mehr so alleine in dem nun so groß erscheinenden Haus und die gute Laune von Anna hellte ihre Stimmung ein wenig auf. Sie ging in die Küche, wo Anna soeben die Tüten auspackte und verschiedenes in den Kühlschrank einräumte.

 

„Sie sind ein wirklicher Engel, Anna. Mir ist heute schon die Decke auf den Kopf gefallen. Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, plötzlich so alleine im Haus zu sein“, zum Ende des Satzes hin wurde ihre Stimmer immer leiser.

Anna hielt einen Moment inne, legte die Schürze wieder weg, die sie gerade eben umbinden wollte und ging auf Marlies zu. Sie nahm ihre beiden Hände in die ihren und blickte sie mit schräg geneigtem Kopf traurig an.

„Mir fehlt Herr Michael auch. Er war so ein netter und humorvoller Mensch. Ich habe mich mit ihm gut unterhalten können und er war immer sehr verständnisvoll! Er hatte Humor und so viel Lebenserfahrung, man konnte viel von ihm lernen. Aber, Frau Marlies, das Leben geht eben weiter, seien sie nicht so traurig!“

Marlies dankte ihr diese Worte mit einem kleinen Lächeln.

„Das ist lieb Anna, dass Sie das sagen. Es geht schon wieder. Es war nur, weil es heute Morgen so still hier war und ich so ratlos, was ich zuerst machen soll.“

Sie überließ Anna die Küche und ging in den Vorraum. Sie erschrak als sie sich beim Vorübergehen in dem Spiegel sah. Ihr Gesicht wirkte fahl, die Haare waren achtlos zurückgekämmt und ihren Augen sah man die Trauer und die Tränen der vergangenen Tage an. Sie wollte so nicht von Georg gesehen werden und beschloss, etwas für sich zu tun.

Als sie sich abrupt umdrehte, streifte sie mit der Hand den Autoschlüssel und er fiel zu Boden. Sie hob ihn auf und hielt ihn in der flachen Hand. Es war Michaels Autoschlüssel mit dem silbernen Anhänger, der schon sehr abgegriffen war und im Laufe der Zeit schon einigen Autos gedient hatte. Er war ein Maskottchen für Michael, wie er immer sagte. Es war ein großes Omega, der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets. Sie legte ihn wieder hin.

Als sie dann in der Wanne lag, das warme Wasser sie umspülte, das Haarshampoo sich wohltuend über ihre blonde Mähne legte und sie spürte wie sich der Körper entspannte, schloss sie die Augen und ließ einige Bilderfolgen aus der Vergangenheit abrollen.

 

 

Als Georg am Abend kam, sah die Welt schon wieder besser aus. Sie hatte sich nach dem Essen, das Anna ganz vorzüglich zubereitet hatte, im verdunkelten Schlafzimmer ausgeruht. Sie hatte ihre beiden Polster in der Mitte platziert, sich mit einer leichten Decke zugedeckt und zum ersten Mal seit Tagen wieder einmal traumlos und tief fast zwei Stunden geschlafen.

Anna war inzwischen gegangen, hatte kleine selbst gebackene Muffins in der Küche auf den Tisch gestellt und einen kleinen Zettel hinterlassen, auf dem sie ihr mitteilte, wann sie wieder kommen wird.

 

Sie ließ sich von ihrem Sohn einmal so richtig in den Arm nehmen und dann machte sie Kaffe, während Georg im Wohnzimmer einige Zeitschriften, die herumlagen auf einen Stapel legte und sich vornahm sie mitzunehmen.

Als sie dann gemütlich den Kaffee tranken und sich die Muffins schmecken ließen, schien die Welt wieder in Ordnung zu sein.

 

„Also, Mama, was fällt nun am dringendsten an?“

Sie holte eine Mappe vom kleinen Sekretärmöbel, die sie vorbereitet hatte, in der sich einige Schriftstücke von Notar und Friedhof, der Versicherung und noch so allerlei befanden und reichte sie ihm.

„Da sind einige Telefonaten zu führen, die Versicherung habe ich ja schon verständigt, da habe ich einen Termin am kommenden Montag und da will ich, dass wir zusammen hin gehen. Dann ist auch noch das Ticket für Kreta zu stornieren. Ich habe einfach nicht die Nerven dafür. Ich habe es schon versucht, aber die Dame dort war sehr ungehalten. Da wollte Papa nächste Woche hinfliegen, wegen dem Grundstück, das die Firma dort angeboten hat. Sie müssen sich halt nun selbst darum kümmern.“

 

„Ja, ok, das nehme ich mit, das erledige ich, das kannst Du vergessen. Was noch?“

„Im Garten muss einiges erledigt werden. Die Sträucher geschnitten, der Rasen gemäht, Blumen gesetzt werden, und so weiter!“ sie blickte verzagt.

„Das ist auch kein Problem, da rufe ich in der Gärtnerei Moser an, die schicken Dir einen Gärtner, der macht das. Die haben das richtige Werkzeug und sind Profis“.

„Naja und dann das Auto! Der Volvo ist ein so großes, schweres Auto. Denkst Du ich kann damit fahren? Ich bin meinen kleinen Fiat gewöhnt, bin erst ein Mal mit dem Volvo gefahren, als Michael noch gelebt hat…“

„Du kannst ihn ja verkaufen und weiter mit dem Fiat fahren. Aber der Volvo ist verhältnismäßig neu, hat wenige Kilometer und ist ein Diesel, der fährt noch viele Jahre. Es wäre besser, Du verkaufst den Fiat“, gab Georg zu bedenken.

Sie versprach es sich zu überlegen.

 

Als Georg gegangen war, fühlte sie sich erleichtert, als wäre eine große Last von ihren Schultern genommen. Wie einfach doch alles klang! Als sie ihrem Sohn zuhörte, schienen das alles nur Kleinigkeiten zu sein. Aber wenn man eben so alleine dasitzt und die Gedanken stürmen auf einen ein, dann wird alles zu einem Problem. Dankbar nahm sie seine Hilfestellung an.

Es war beruhigend, dass sich Georg dieser Sachen annahm. Es wird sowieso noch zu überlegen sein, was mit dem Haus auf Kreta geschehen soll. Sie hatte keine große Lust, dort alleine im Sommer über zu leben. Jedes Jahr sind sie auf ca. drei Monate hingeflogen, haben manches Mal auch Freunde aus Wien eingeladen, oder Georg kam mit seiner kleinen Familie immer wieder auf ein oder zwei Wochen. Man wird es verkaufen müssen, für sie alleine ist das zu schwierig.

 

Sie setzte sich an den kleinen Sekretär-Schreibtisch und begann, die einzelnen Schubfächer zu öffnen. Es war ein alter Schreibtisch mit einem Aufbau und auf beiden Seiten mit je drei Schubfächern. Michael erledigte hier seine Korrespondenz und seine Telefonate, die er trotz Pensionierung noch immer hatte. Er war vor fünf Jahren aus der Maklerfirma ausgeschieden, wo er für Osteuropa zuständig und daher auch sehr viel unterwegs war. Nun, nach der Pensionierung zog er sich nicht ganz zurück, sondern vermittelte sporadisch hin und wieder Grundstücke und Projekte in Griechenland. Im Zuge dieser Tätigkeit wollte er sogar nächste Woche nach Kreta fliegen.

Im Büro bei Reischl & Reischl war man über die Nachricht von seinem Tode sehr geschockt und bedauerte es sehr. Sie schickten einen jungen Mann, der die noch verbliebenen Unterlagen abholte. Seitdem hatte sie keinen Kontakt mehr; außer beim Begräbnis, doch da sprachen sie nicht viel miteinander. Reischl sen. kondolierte schon vorab telefonisch und holte sich bei diesem Anlass ihre Zusage, mit ihr zu Abend zu essen und sie vereinbarten einen Termin.

Mitten in ihre Gedanken läutete das Telefon. Überraschender Weise war es Gerd Reischl, der Junior-Chef der Firma.

„Hallo, Gnädige Frau, ich hoffe, ich störe Sie nicht?“, fragte er höflich.

„Nein, nein, gar nicht. Was kann ich für Sie tun?“

„Wir haben vor einigen Tagen einige Akten, die ihr Mann noch in Verwahrung hatte abgeholt, doch es fehlt eine Akte. Kann es sein, dass er sie irgendwo anders hingelegt hat?“

„Nein, tut mir leid. Mein Mann hatte alle seine Unterlagen hier in seinem Sekretär aufbewahrt, an dem ich gerade sitze, da ist nichts mehr und ich habe auch nirgends im Haus noch was gefunden!“, sagte Marlies wahrheitsgemäß, „wie soll diese Akte denn aussehen, bzw. was sollte drauf stehen?“

„Es sollte eine weinrote Mappe sein, ungefähr drei Zentimeter dick und der Name der Akte ist Omega“, es schien als klänge seine Stimme ein wenig erregt.

„Nein tut mir leid, so eine Akte habe nicht gefunden. Sollte sie aber auftauchen, melde ich mich bei Ihnen!“

„Könnte ich noch einmal vorbei kommen, ich würde da gerne selbst nachsehen?“

Sie fand das sehr seltsam und spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg.

„Nein, das können Sie nicht! Wenn ich Ihnen sage, dass da keine Akte ist, dann ist es auch so! Der Schreibtisch ist fast leer! Sie entschuldigen mich nun, ich muss in die Küche, ich habe etwas am Herd!“ Sie beendete das Gespräch und lehnte sich zurück.

Sie spürte, dass sich der Ärger über die anmaßende Art des Juniorchefs der Firma Reischl in ihrem ganzen Körper ausgebreitet hatte und nur langsam wieder abebbte. Gerd Reischl war so ganz anders als sein Vater, der ein Kavalier der alten Schule war.

Seltsam, sie hatte noch nie etwas von einem Projekt „Omega“ gehört, oder dass es Michael auch nur erwähnt hätte. Den einzigen Bezug zu Omega assoziierte sie mit dem in der Garage stehenden Volvo und dem Schlüsselanhänger am Autoschlüssel im Vorraum.

Sie dachte nach. Was konnte in dem Akt so Wichtiges stehen, dass Gerd Reischl eine solche Vehemenz an den Tag legte?

Einerseits hatte sie nie den Eindruck, dass Michael so viel mit dem Juniorchef zu tun hatte, andererseits wiederum, wieso wusste dieser über die Akten Michaels so gut Bescheid, dass er sogar die Farbe des Umschlages kannte?

Sie durchsuchte nochmals alle Laden und Fächer des Schreibtisches, klopfte sogar die Außenwände ab, in der Hoffnung, dass er ein Geheimfach hätte, fand jedoch nichts.

Sie blickte das Möbel nachdenklich an. Welches Geheimnis verbarg sich hinter dem Namen Omega?

Ihr Blick streifte im Wohnzimmer herum. Wo konnte er sonst noch irgendwelche Papiere oder Akte aufbewahrt haben? Doch ihr wollte nichts einfallen. Es gab auch sonst keine Stelle, die logischer als der Schreibtisch gewesen wäre. Sie schob alle Laden zu und stand auf.

 

Als sie in den Vorraum ging, fiel ihr Blick auf die Autoschlüssel die dort auf der Ablage lagen.

Vielleicht hatte er den Akt im Auto? Hatte keine Zeit mehr, sie zu den anderen zu legen? Entschlossen nahm sie die Schlüssel und ging in die Garage.

Selbst das Auto machte einen vereinsamen, traurigen Eindruck, fand sie und musste unwillkürlich lächeln. Was man in seiner Einbildung doch in Dinge hinein interpretiert!

Sie wusste, dass weder auf den Vordersitzen, noch auf der Bank im Fond etwas lag. Das Handschuhfach war wohl zu klein für eine Aktenmappe, also könnte sie nur im Kofferraum liegen.

Sie schloss auf und blickte suchend hinein. Michael war ein sehr ordentlicher Mann, rechts stand der Koffer mit dem Werkzeug, daneben der Erste-Hilfe-Kasten und links lagen eine Decke und ein größeres Reisenecessaire mit Handtuch, Seife und Toilettenartikel, für alle Fälle. Sonst sah sie nichts, das auf eine Aktenmappe hinweisen würde.

`Die Decke könnte ich aber waschen, sie liegt sicher schon sehr lange im Kofferraum´, dachte sie bei sich und nahm die Decke hervor. Als sie die Decke hervorzog, fiel eine schmale schwarze Mappe herunter. Sie bückte sich und hob sie auf. Es war so eine lederne Mappe, wie man sie zu Besprechungen mitnahm, sie hatte nur eine Lasche, die man überschlagen konnte und Innen einen Block und einen Kugelschreiber. Außerdem lag eine weinrote Akte darin, die auf dem Deckel ein großes, goldenes Omega eingeprägt hatte. Es blieb ihr fast das Herz stehen! Das war offenbar die Akte, die Gerd Reischl sucht! Michael hatte sie sicher im Wagen, weil er sie zu einer Besprechung mitnehmen wollte.

Mit zittriger Hand öffnete sie den Aktendeckel. Der Inhalt war oben und unten mit zwei Gummibändern gesichert, die man über die Ecken ziehen musste. Drinnen fanden sich einige Bögen, teils in Englisch, teils in Griechisch und auch Deutsch, sowie eine Straßenkarte von Kreta. Sie erkannte sie sofort, sie war ja schließlich wie zu Hause dort. Sie erkannte die längliche Form der Insel, die Hauptader des Straßennetzes, das sich von Kaseli über Chania, Rethimon bis Iraklion und weiter zur Ostküste zog, dann im Bogen den südlichen Teil der Insel wieder mit Rethimon verband. Die kleinen Straßen dazwischen waren mehr oder minder schlechte Landstraßen, ja sogar Bergstraßen. Mit einer Ausnahme, einer Straße vom nördlichen Vrises nach dem südlichen Sfakia. Um zu den schönsten Stränden und Tourismus-Zentren zu gelangen, musste man von Rethimon aus über Pirgos, an antiken Stätten vorbei fahren.

Sie hatten vor vielen Jahren einen wunderschönen Bungalow in der Nähe von Matala gekauft. Das ergab sich damals aus Michaels Tätigkeit bei der Maklerfirma. Der Bungalow wurde damals sehr günstig angeboten und sie kauften ihn. Dort war das Meer smaragdgrün, der Wald rundum dicht und von Pinien beherrscht. Man konnte von hier aus die größeren Schiffe sehen, die auf der Schiffsroute von Paleohora bis Sfakia ihre weißen Schaumkronen zogen, oder weiter hinaus aufs Meer, zu unbekannten Zielen weiter fuhren. Sie spürte, wie es in ihrer Brust zog und sie sich ein wenig danach sehnte. Doch sie wusste auch, dass es nie wieder so schön werden wird, wie damals, als sie noch von der Liebe Michaels umgeben war.

Sie schloss die Mappe wieder und hielt sie abwägend in der Hand. Was sollte sie nun damit machen? Sie war neugierig geworden. Obwohl sie die Geschäfte Michals nie sonderlich interessierten, er auch nicht viel darüber sprach, wollte sie nun wissen, worum es sich hier handelte. Den englischen Text könnte sie lesen und verstehen, doch den griechischen Text muss ihr Georg übersetzen, der wie sein Vater ebenfalls griechisch spricht, ja sogar einige Zeit nebenbei in eine griechische Schule in Wien ging, um die Sprache zu vertiefen.

Sie legte die Mappe wieder in den Kofferraum. Dann ging sie ins Haus, rief Georg an und erzählte ihm von ihrem Gespräch mit Gerd Reischl und dass sie die Akte dann doch im Volvo gefunden hatte.

 

„Ja, finde ich auch äußerst seltsam. Ich wollte sowieso morgen vorbei kommen und den Wagen in die Werkstatt zur Überprüfung bringen. Da schaue ich mir das dann an. Lass die Papiere wo sie sind und rufe auf keinen Fall Gerd an. Wenn er so gierig auf diese Papiere ist, würde er sicher sofort kommen und sie sich holen. Ich will sie aber vorher sehen!“

 

Am nächsten Morgen, gleich nachdem Marlies gefrühstückt hatte, zog sie sich an und wartete. Sie wollte mit ins Zentrum fahren, wenn Georg den Wagen holt und in die Werkstätte bringt. Sie wollte einiges Einkaufen und auch zum Frisör gehen.

Sie stand hinter dem Vorhang im Wohnzimmer und blickte hinaus. Es war ein sehr ruhiger Stadtteil, eine nicht sehr breite Straße, meist von Einfamilienhäusern gesäumt, kleinen, gepflegten Vorgärten und sauberen Gehsteigen. Die meisten Häuser hatten Garagen. Aus diesem Grund fiel ihr die dunkle Limousine schräg gegenüber auf. Es saß ein Mann darin, der bereits seit einer halben Stunde seine Zeitung las, sodass man sein Gesicht nicht sehen konnte. Offensichtlich wartete er auf jemand.

Da kam auch schon Georg. Er parkte gleich vor dem Haus und sie öffnete ihm die Türe.

„Schön, dass Du da bist. Ich möchte mitfahren, verschiedenes erledigen, zum Frisör gehen und wenn es geht, essen wir zu Mittag beim Plachuta, so ca. um ein Uhr Mittag?“

„Ok, ja das machen wir und danach nehmen wir gemeinsam ein Taxi hierher und ich fahre mit meinem Wagen dann von hier gleich nach Hause“, er war mit dem Plan einverstanden.

Sie gingen zur Garage und fuhren weg.

 

„Hast Du die Akte im Kofferraum gelassen? Wenn ich in der Werkstätte bin, nehme ich sie heraus und ins Büro mit. Ich werde sie mir anschauen, dann können wir noch immer Gerd anrufen, oder ich gebe sie ihm, wenn wir uns morgen Früh am Tennisplatz treffen!“ Georg kannte Gerd Reischl; sie besuchten dieselbe Handelsakademie und maturierten mit nur einem Jahr Differenz dort. Sie trafen sich beim Tennis, oder hin und wieder bei einem gesellschaftlichen Event. Sie waren jedoch keine sehr engen Freunde und hatten auch einen total verschiedenen Freundeskreis.

 

Er ließ Marlies beim Einkaufszentrum aussteigen und fuhr dann weiter in die Werkstätte.

 

Marlies hatte in den vergangenen Wochen nach dem Tode von Michael fast ausschließlich schwarze Kleidung getragen, doch spürte sie, dass diese Farbe auf ihr Gemüt drückte und sie total hilflos machte. Sie erhaschte auch hin und wieder einen mitleidigen Blick von Passanten, oder wenn sie Bekannte traf, die es noch nicht wussten, musste sie unzählige Fragen beantworten. Also entschloss sie sich zu einem Einkaufsbummel, der ja bekanntlich der Seele gut tun soll.

Sie war eine Frau Anfang Fünfzig, die ihr niemand glaubte. Wenn sie jemand einschätzte, dann gab er ihr höchstens 45 Jahre. Sie trug ihr blondes, schulterlanges Haar meist nach innen geföhnt, seitlich ein wenig kürzer geschnitten und kleinere Haarfransen in die Stirne. Des Öfteren fasste sie es auch rückwärts zusammen und ließ nur vereinzelte Strähnen bis zum Kinn baumeln.

Durch die vergangenen Wochen und der ewig schwarzen Kleidung ein wenig traumatisiert, entschied sie sich durchwegs für sanfte Pastelltöne und Pumps mit nicht zu hohen Keilabsätzen. Sie ließ die schwarze Kleidung gleich in den Plastiktüten verschwinden und behielt ein zartrosa Chanellkostüm und eine cremefarbene Bluse für das Essen mit ihrem Sohn an. Sie spürte, wie sie langsam ihre Lebensmitte wieder fand. Mit einigen Paketen beladen, landete sie endlich, völlig außer Atem, bei ihrem Friseur.

 

Als sie sich dann zum vereinbarten Zeitpunkt mit Georg im Lokal traf, hätte dieser sie fast nicht wieder erkannt. Sie hatte sich auch von der Friseurin überreden lassen, die Haare ein wenig zu kürzen und sich verschieden schattierte Strähnchen ins Haar machen zu lassen.

„Mama, Du schaust wunderbar aus! Ich freue mich!“, das Lob des Sohnes bestätigte nur ihr neues Lebensgefühl.

Als sie dann beim Nachtisch waren, legte Georg die weinrote Mappe auf den Tisch. Sie blickte ihn erwartungsvoll an.

„Also ich glaube, diese Akte enthält Sprengstoff. In der Nähe von Panagia, irgendwo in den Bergen gibt es viele Höhlen und unterirdische Tunnels, die teilweise vom Tourismus genutzt und besucht werden, teilweise aber auch unerforscht und unzugänglich sind. Da gibt es nun eine französisch-deutsche Unternehmensgruppe, die dort irgendwelche Abfallstoffe lagern möchte. Die Bewilligung bekommt man angeblich ganz leicht von den griechischen Behörden. Ich nehme an, dass da einige Gelder, bzw. Kuverts die Besitzer wechseln werden, wie üblich. Es sind auch einige chemische Formeln genannt, die ich natürlich nicht kenne. Sie wollen das ausgedehnte Tunnelsystem für die Lagerung benützen und betonen, dass das in keiner Weise die Landschaft zerstören kann und fast nur unsichtbare Einschnitte in die Natur erfordert. Das Einzige, was man an der Oberfläche sehen könnte, wären Zufahrtswege. Doch da will man behutsam vorgehen. Es sind verschiedene Expertisen gemacht worden, die sich gegenseitig widersprechen. Eine spricht davon, dass die unterirdischen Höhlen sehr labil sind, ja sogar einstürzen können; Andere wiederum bescheinigen, dass es sich um festes Urgestein handelt, daher kann das nicht der Fall sein. Eine griechische Expertise ist dabei, die warnt vor Wassereinbrüchen, sollten die Gebinde undicht werden und die Inhalte ins Grundwasser durchsickern Dann gibt es geheimnisvolle E-Mails, wo man sich untereinander ausmacht, welche Grundstücke wem gehören, welche Bauland sind und welche Industriegebiet. Du weißt ja, ein Katasteramt und Grundbücher wie bei uns gibt es nicht in Griechenland, noch nicht! Dann sollte es auch Förderungen von der EU geben. Ich glaube, da ist eine ziemlich große Schweinerei im Gange, an der offenbar die Reischl´s beteiligt sind.“

„Deswegen wollte er unbedingt die Akte haben! Ob Michael das entdeckt hat?“

„Kann schon sein! Vielleicht wollte ihnen Papa da in die Suppe spucken?“

„Was machen wir jetzt mit dem Akt?“

„Ich behalte ihn. Ich würde gerne mehr darüber wissen!“

„Also gut, behalte ihn. Bringst Du mich nun nach Hause?“

 

Sie riefen ein Taxi und fuhren fast schweigend zum Haus von Marlies. Als sie ausstieg nahm sie flüchtig zur Kenntnis, dass die dunkle Limousine nicht mehr dastand, vergaß es aber sofort wieder. Sie ging die wenigen Schritte zur Haustür, während Georg zu seinem Auto ging. Er wollte gerade einsteigen, als er Marlies schreien hörte. Er drehte sich um und sah nach dem Haus. Da lehnte Marlies am Türstock und hatte die rechte Hand am Mund und schrie. Mit drei großen Schritten war er bei ihr und versuchte sie zu beruhigen.

„Bitte höre zu schreien auf, was hast Du denn?“

Sie hörte tatsächlich auf, zeigte aber nun mit der Hand in den Flur des Hauses. Er ging hinein und auch ihm entfuhr ein überraschter Laut. Während Marlies abwesend war, musste jemand im Haus gewesen sein. Er hat ganz offensichtlich was gesucht, denn die beiden Sessel im Vorraum waren umgeworfen, die Lampe lag auf dem Boden, die Lade des kleinen Tischchens war herausgerissen und die Dinge darin waren rundum verstreut. Der gleiche Anblick im Wohnzimmer. Sogar die Polstermöbel waren aufgeschlitzt.

„Ja, um Gottes willen, was wollte der Einbrecher denn?“, stammelte Marlies entsetzt.

„Komm setze Dich hierher. Ich rufe sofort die Polizei. Vielleicht kannst Du aber auch in der Zwischenzeit feststellen, ob was fehlt, Wertgegenstände oder sonstiges?“

Er wählte die Nummer der Polizei und ging dann in die Küche um für Marlies ein Glas Wasser zu holen. Auch hier waren alle Türen aufgerissen, der Inhalt der Laden auf den Boden geleert und alles verstreut. Er brachte Marlies das Glas Wasser und sprach beruhigend auf sie ein.

 

Die Polizei kam innerhalb kurzer Zeit, nahm alles auf und stellte einige Routinefragen. Dann gingen sie wieder. Sie baten lediglich das Haus zu versperren und nichts anzurühren, es wird morgen Früh ein Team den Raum auf Spuren untersuchen. Für sie war es ein normaler Einbruch, sie hatten schon wieder einen neuen Funkspruch.

 

„Hier kannst Du nicht bleiben. Komm zu uns, wir werden uns morgen um das Aufräumen kümmern“.

 

Nur widerstrebend ließ sich Marlies dazu überreden. Sie nahm eine Reisetaschen und packte einige Sachen ein. Sie schluchzte vor sich hin, die Verwüstung war zu viel für sie.

 

Es war nun heute nicht mehr daran zu denken, wieder ins Büro zu gehen, außerdem war es inzwischen sowieso schon 17.ooh geworden, so fuhr Georg mit ihr zu seinem Haus, das nicht sehr weit entfernt war. Marlies wurde von der Schwiegertochter liebevoll aufgenommen und sie tröstete sie auch, soweit es eben ging. Nach dem Abendessen saßen sie auf der Terrasse und es war nicht verwunderlich, dass der Einbruch und die Frage nach dem Ziel des Einbruches, Thema Nummer eins war.

Georg drehte sein Weinglas langsam in der Hand.

„Also, wenn Du mich fragst, dann hängt das mit dieser geheimnisvollen Akte „Omega“ zusammen. Das wäre sonst schon ein sehr großer Zufall und ich glaube nicht an Zufälle“, sagte er dann

„Ja, ich glaube auch, dass das zusammenhängt. Wir hätten ihm die Akte geben sollen. Wir kennen uns da viel zu wenig aus und was können wir schon machen, oder gar verhindern.“ Fast hätte Marlies wieder zu weinen begonnen.

„Nein, jetzt erst recht nicht. Ich werde mit Nicos in Matala telefonieren. Vielleicht hat er was gehört, oder weiß sogar Bescheid darüber!“

 

Der nächste Tag war ausgefüllt mit Protokollen bei der Polizei, Meldung bei der Hausratsversicherung, Schadensaufnahme und gemeinsame

Aufräumungsarbeiten im Haus mit Anna.

 

Für Marlies war nicht daran zu denken, dass sie alleine im Haus verblieb, sie schlief auch in den nächsten Tagen bei ihrem Sohn. Sie hatte Angst.

 

 

Nicos Stratopoulus ging langsam an der Mole entlang und genoss die frische salzige Luft, die von der Seeseite hereinwehte. Die Sonne war soeben aufgegangen und war noch immer blutrot. Dieses Rot verzauberte die kleinen Häuser, Tavernen und Läden am Kai des kleinen Ortes zu Kleinodien. Er war soeben bei einem der soeben eingefahrenen Fischerboote gewesen und hatte sich einige Fische für das Mittagessen ausgesucht. Seit seine Frau vor einigen Jahren gestorben war und ihn alleine zurück gelassen hatte, war das Leben um vieles leerer und trister und schwieriger geworden. Die Wohnung über dem Geschäft war völlig unverändert geblieben, sogar ihre Haarbürste lag noch auf der Kommode im Schlafzimmer, als hätte sie sie soeben hingelegt. Über dem ovalen Spiegel hing ihr weißer Morgenmantel aus selbst gehäkelter Spitze und die beiden Kämme, mit denen sie ihr Haar im Nacken immer festhielt lagen sichtbar in der halb geöffneten Schublade der Kommode. Sie sollte alles so vorfinden, wie sie es verlassen hatte, wenn sie das Bedürfnis hat, nächtens kurz zurückzukommen. Er wusste, dass sie das hin und wieder tat. Und erwartete sie, ja er sprach sogar mit ihr! Er nahm dann immer wieder ihren Duft in dem Raum am nächsten Morgen wahr.

Er war inzwischen bei seinem Laden, in dem er neben wertvollen Antiquitäten, auch moderne Dinge mit hellenistischem Touch für die Touristen anbot, angekommen und sperrte ihn auf. Dann ging er nach rückwärts in die Küche und warf die Fische ins Becken der Spüle. Ellena, seine Putzfrau und „Vertraute der letzten Stunden“, wie er sie scherzhaft nannte, hätte eigentlich schon längst da sein müssen. Sie wird sich der Fische annehmen und ein wundervolles Mahl daraus bereiten.

Dann ging er die Treppe nach oben, um sich für die Tagesarbeit im Laden umzuziehen. Es machte ihm Spaß, wenn er tadellos gekleidet, ganz in Weiß, mit einer Kapitänsmütze und einigen goldenen Litzen an der Schulter, im Laden stand und die Touristinnen ihn anhimmelten, ihn „Herr Kapitän“ nannten. Hin und wieder nahm er seine Kapitänsmütze auch ab, dann konnte man seine gepflegten silbergrau schimmernden Haare bewundern, die zu einem ungehörig erotisch anmutenden Wettstreit mit seinen großen fast schwarzen Augen aufriefen. Sein ebenfalls gepflegter weißer Oberlippenbart und die Meerschaumpfeife taten das übrige, um die Damenwelt immer wieder zu veranlassen, sein Geschäft aufzusuchen und das wiederum steigerte seinen Umsatz.

Er war nicht immer Antiquitätenhändler. Eigentlich war er Agent des griechischen Außenamtes, war bei verschiedenen Botschaften in Europa tätig gewesen und für manche Spezialaufgaben im Einsatz. Nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte und dieser Laden gerade zum Verkauf stand, griff er kurz entschlossen zu. Er war aber hin und wieder noch weiterhin im Einsatz, wenn seine Sprachkenntnisse oder Erfahrung gefragt waren. Doch es waren meist Einsätze, die geheim, bzw. nicht unbedingt für die Öffentlichkeit bestimmt waren und

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 09.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8233-4

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