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Neubeginn

 

 

 

Es war wieder einer jener hektischen Tage, welche schon frühmorgens als solche erkennbar sind. Dr. Frank Wagner hatte vergessen die Kaffeemaschine aufzudrehen, bevor er ins Badezimmer ging. Als es ihm dann einfiel und er in die Küche lief, um den Knopf zu betätigen, hatte er auch vergessen den Kaffee in den Filter zu geben und so lief das Wasser einfach durch. Er hatte aber keine Zeit mehr, den Fehler wieder gutzumachen und ging, ohne Kaffee zu trinken, weg.

Unterwegs merkte er, dass er noch tanken musste und so kam es, dass er wieder einmal sehr knapp im Büro eintraf und einen vorwurfsvollen Blick von Barbara wegstecken musste, die als seine Sekretärin die Termine koordinierte. Sie hatte einen Termin um Punkt 9.00 Uhr vereinbart und der Klient wartete bereits mit einem Anflug von Ungeduld.

Frank öffnete die Türe zum Besprechungszimmer betont schwungvoll und begrüßte einen etwas beleibten Mann mit sehr kurz geschnittenen Haaren. Seine rötliche Gesichtsfarbe verriet den Kolleriker, seine hervorstehenden hellen Augen unterstrichen diesen Eindruck noch.

„Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“, fragte Frank mit einem Anflug eines Lächelns im Gesicht; er wollte die Stimmung etwas verbessern.

„Nein danke, ich habe Bluthochdruck und darf keinen Kaffee trinken“, der Klient winkte mit der Hand ab.

Die Hoffnung, nun doch noch zu einem Kaffee zu kommen, schwand zusehends.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragt er, setzte sich an seinen Schreibtisch und blickte sein Gegenüber erwartungsvoll an.

Dieser holte seine Brieftasche heraus und überreichte seine Karte.

Dr. Wagner warf einen Blick darauf. „Dipl. Ing. Robert Lingens, Baumeister“, war darauf zu lesen. Die Adresse war repräsentativ, in der Innenstadt in einem der größten Bürohäuser.

 

„Ich möchte mich scheiden lassen“, sagte er sehr bestimmt.

„Was ist der Grund, weshalb Sie sich scheiden lassen wollen, und wie lange sind Sie schon verheiratet?“ Dr. Wagner räusperte sich.

„Ich bin seit zirka acht Jahren verheiratet und den Grund, den Grund, weswegen ich mich scheiden lassen kann, bitte ich Sie, für mich zu finden.

Ich stecke mitten in einem großen Projekt, für das ich viel Kapital benötige und ich könnte dieses Kapital auf die Beine stellen, wenn ich mich mit einer anderen Frau verheirate, die sehr kapitalstark ist.“ Er setzte ein schiefes Lächeln auf und fuhr fort: „Ich kenne eine solche Frau bereits seit einiger Zeit, die auch einverstanden wäre, mir im Falle einer Heirat dieses Kapital zur Verfügung zu stellen.“

Er sprach ohne einen Anflug von Bedauern, ohne dass es ihm unangenehm wäre, sich so zu exponieren, sein Vorhaben vor einem Wildfremden offen zu legen, als wäre dies eine geschäftliche Transaktion.

Dr. Frank Wagner war einen Moment lang sprachlos. Es war das erste Mal, dass ein Klient ein derartiges Ansinnen an ihn stellte und er wollte schon empört ablehnen und den Klienten hinauswerfen. Doch dann fing er sich wieder und gedachte seiner etwas zu kleinen Klientenschar und, dass seine Kanzlei erst seit kurzer Zeit bestand, und er neben allen Spesen auch noch Barbara bezahlen musste und … so schluckte er seine Empörung hinunter.

„Ich habe bereits mit meiner Frau gesprochen, um zu einem, für beide Seiten befriedigenden Resultat zu kommen“, er machte einen wegwerfende Handbewegung, „doch meine Frau weigert sich konsequent. Sie ist aus einer Kleinstadt und fürchtet das Gerede der Leute. Ich habe ihr auch eine Abfindungssummeangeboten, die sich sehen lassen kann, doch leider vergebens. Vielleicht können Sie einen Grund finden.“ Er lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme.

„Das ist mir leider nicht möglich, ich bin Anwalt und kein Privatdetektiv. Sie müssten sich entweder mit Ihrer Frau einigen oder einen Privatdetektiv engagieren, der vielleicht etwas beobachten kann, dass Sie dann verwenden können“, sagte Dr. Wagner mit ruhiger, beherrschter Stimme. Er griff nach seinem Telefonbuch und schrieb eine Nummer auf ein Blatt Papier. Dann stand er auf und ging um den Schreibtisch herum. „Dies ist die Nummer eines Detektivs, mit dem ich befreundet bin. Wenn Sie einen Verdacht haben, der sich als berechtigt herausstellt, so wird er es für Sie herausfinden. Sollte es da jedoch keinen Anlass geben, so werden Sie sich nur auf dem gütlichen Wege scheiden lassen können. Meine Sekretärin wird sich nun um die näheren Daten kümmern und alles notieren. Ich muss mich nun verabschieden und wenn Sie Näheres wissen, bitte kontaktieren Sie mich wieder.“ Mit diesen Worten öffnete er seine Bürotüre und geleitete den Baumeister hinaus.

Er spürte, dass dieser nicht sehr befriedigt war, hatte er doch erwartet, sofort einen Vorschlag oder noch besser, eine Lösung für sein Problem zu finden und war nun enttäuscht.

Frank setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch, schloss die Augen und überdachte diesen „Fall“. Er hatte ganz vergessen zu fragen, wie dieser Klient zu seiner Anschrift kam; hatte er ihn unwillkürlich aus dem Telefonbuch herausgesucht, oder wurde er von jemand empfohlen? Dies würde jedoch nicht für seinen guten Ruf sprechen. Er stand auf, öffnete die Tür und warf einen fragenden Blick auf Barbara.

„Wenn Sie mit dem Klienten fertig sind, bitte bringen Sie mir einen Kaffee und die Unterlagen für die heutigen Termine.“

Ohne den Klienten noch eines Blickes zu würdigen, schloss er die Tür.

 

 

 

Die protzig wirkende Villa, das Privatdomizil von Baumeister Robert Lingens, lag am Wilhelminenberg, leicht erreichbar mit dem Autobus, zwei Gehminuten von der Hauptstraße entfernt.

Es war früher Morgen und ringsherum war es sehr still.

Eine zarte Frau, so Mitte Dreißig, am langsam, eingehüllt in einen cremefarbigen Morgenmantel, die Treppe in den Garten herab. Sie hatte dunkles, volles Haar, ihre großen grünen Augen standen in einem starken Kontrast zu der dunklen Haarpracht und waren groß und sehr ausdrucksvoll. Ihre Erscheinung vermittelte Hilflosigkeit und Melancholie.

Giselle Lingens berührte mit einem leichten Druck einen Oleanderzweig, der die Treppe leicht überschattete und obwohl ein zarter Duft aufstieg, konnten sich ihre Gedanken in keiner Weise von ihrer ausweglosen Situation lösen.

Der Vorschlag ihres Mannes, sich von ihr scheiden zu lassen, traf sie unvorbereitet und wie ein Keulenschlag. Sie war nun einige Jahre verheiratet, die Ehe war kinderlos geblieben. Sie suchte einige Ärzte auf und es wurde festgestellt, dass das Problem nicht von ihr ausging, sondern wahrscheinlich von ihrem Mann. Sie konnte ihn jedoch nicht dazu bringen, ebenfalls einen Arzt aufzusuchen, um Gewissheit zu erlangen. Mehr noch, er gab ihr alleine die Schuld.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen und fast hätte sie die letzte Stufe übersehen.

 

Die erste wirkliche Auseinandersetzung gab es als Vater starb und Mutter sich weigerte, das Haus und die beiden angrenzenden Grundstücke zu verkaufen und für den Bau eines Hotels zur Verfügung zu stellen. Ihr Elternhaus liegt anmutig auf einer Anhöhe, mit Blick auf Waidhofen an der Ybbs und das Tal. Robert Lingens hatte geplant, dort ein Hotel mit Kongress- und Schulungszentrum zu bauen, und sah nun seinen Plan vereitelt. Er hatte sie gedrängt, ihr Erbteil einzuklagen, was sie schlichtweg ablehnte. Dieser Streit hatte das Verhältnis zwischen ihnen schlagartig zum Schlechten verändert und vor einigen Tagen kam nun sein Vorschlag, sich scheiden zu lassen.

Ein Seufzer entrang sich ihrer Brust. Sie sah ihr bisheriges Leben und ihre Ehe in Trümmern vor sich liegen. Sie setzte sich zu einer Sitzgruppe mit Tisch, die als Ruhepol im Garten aufgestellt war, und an dem sie, wenn das Wetter es erlaubte, jeden Morgen das Frühstück gemeinsam einnahmen und sie seine Anordnungen für den Tag schweigend entgegenzunehmen bewohnt war.

 

Vor ihrer Ehe war sie als Musikpädagogin am Musikkonservatorium der Stadt Wien angestellt. Sie hatte diese Stellung natürlich gekündigt, um sich voll und ganz dem Haushalt und ihrem Mann zu widmen. Der Haushalt lief unter ihrer Leitung störungsfrei ab, es gab einige Gartenfeste und Partys, die Stadtgespräche waren. sie lud namhafte Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur ein und erntete sehr viel Lob von allen Seiten. Doch von ihrem Mann wurde dies alles als selbstverständlich hingenommen. Er äußerte sich nur, wenn er meinte, Kritik anbringen zu müssen.

Sie seufzte und schnürte den Morgenmantel etwas enger. Es hatte sich so viel verändert. Robert war in der Zeit vor der Ehe ein sehr charmanter und zuvorkommender Mann, der erfolgreich und großzügig war. Er verstand es, sie für sich zu gewinnen und als er um ihre Hand anhielt, blieb Vater kein Argument, um abzulehnen, obwohl er nicht umhinkam, ihr seine Bedenken mitzuteilen.

„Bist Du auch sicher, mein Kind, dass dies der Mann ist, mit dem Du bis an Dein Lebensende zusammen bleiben möchtest?“, seine liebevollen Augen waren voller Zweifel. „Er hat nicht das Geringste übrig für Musik, welche Du so liebst, er ist ganz und ausschließlich Geschäftsmann.“

Doch sie zerstreute seine Gedanken, küsste ihn und war für kein Argument zugänglich. Sie fuhren in die Flitterwochen und verbrachten zwei traumhaft schöne Wochen in Griechenland. Sie fand es nur natürlich, dass er täglich mit der Firma telefonierte und dass er auch immer wieder zu geschäftlichen Gesprächen in der Hotelhalle saß und sie sich am Swimmingpool des Hotels langweilte. Er hatte einige gute Kontakte zu griechischen Baumeistern, es waren auch einige Projekte in Planung.

 

„Guten Morgen, meine Liebe“, tönte es hinter ihr und sie hörte seine Schritte auf der Treppe. Es war dies sein täglicher, stereotyper Satz.

Er hatte die Zeitung in der einen Hand, die Aktenmappe in der anderen und zwischen seinen Brauen eine steile Falte. Anscheinend war etwas nicht nach seinem Willen abgelaufen und er ärgerte sich sehr. Er setzte sich mit einem Anflug von einem Lächeln ihr gegenüber und schaute sie kurz an. Dann rief er in Richtung Haus nach dem Kaffee, öffnete die Aktentasche, nahm sein Telefon heraus, wählte offensichtlich die Nummer von seinem Büro und gab einige Befehle durch.

Inzwischen war Martha mit dem Kaffee gekommen, stellte auch den Korb mit dem Toastbrot zurecht und wünschte einen guten Morgen. Dann ging sie wieder die Treppe hinauf.

Robert nahm sich Kaffee, angelte nach einem Toast und hielt ihn stumm Giselle entgegen und wartete bis sie den Toast mit Butter und Marmelade bestrichen hatte. Ohne ein „Dankeschön“, sondern nur mit einem zustimmenden Räuspern nahm er das Brot und vertiefte sich in seine Zeitung.

‚Wie kann er nur so dasitzen und tun, als wäre nichts geschehen!‘, dachte sie. Sie griff nach der Kaffeekanne und schenkte sich ebenfalls Kaffee ein, da sah er auf, stellte seine Kaffeetasse hin und sagte: „Hast Du Dir die Sache mit der Scheidung nun überlegt? Wir können alles besprechen und die Sache in Ruhe abwickeln. Ich werde Dir eine ansehnliche Abstandszahlung leisten und eine monatliche Überweisung tätigen, so dass Du keinen finanziellen Schaden hast.“ Er blickte sie erwartungsvoll an.

Ohne dass sie es wollte, entglitt ihr die Kaffeetasse und es gab einen hässlichen Fleck am Tischtuch, der sich immer weiter ausbreitete. Sie bekam keinen Ton heraus.

„Diese bereits erwähnten monatlichen Zahlungen leiste ich selbstverständlich nur so lange, bis Du vielleicht noch einmal heiraten solltest.“ Diese letzte Bemerkung erheiterte ihn sichtlich und er lachte laut auf, „ich habe auch mit einem Anwalt gesprochen, er wird sich um die Formalitäten kümmern; er kommt heute im Laufe des Vormittags her. Bespreche alles mit ihm und dann können wir die Sache sehr schnell hinter uns bringen.“

Er hatte in den letzten Tagen mehrmals mit dem Anwalt telefoniert und dessen Einwände vom Tisch gewischt. Er bat ihn, in seinem Auftrag noch einmal mit seiner Frau zu sprechen, bevor er den, seiner Meinung nach, langen Weg über einen Privatdetektiv wählen würde.

Er stand auf, warf die Serviette auf den Tisch, nahm seine Zeitung und die Tasche, drehte sich um und ging die Treppe hinauf. Einige Minuten später hörte sie seinen Wagen wegfahren.

Für ihn war die Angelegenheit am Laufen. „Die Sache“, wie er es nannte.

 

Sie hatte plötzlich ein Würgen im Hals und meinte, sich übergeben zu müssen. Sie wusste nicht, wie lange sie noch im Garten saß. Es fröstelte sie plötzlich, sie erhob sich und ging die Treppe hinauf in den Wohnraum und blieb unschlüssig stehen. Was sollte sie nun machen? Sie fühlte sich überrumpelt und hilflos.

„Ein Anwalt kommt“, durchfuhr es sie, „ich muss mich anziehen.“

Sie ging hinauf in den ersten Stock und stand eine Weile vor dem Garderobenschrank. „Was zieht man zu einer Besprechung mit einem Anwalt an?“ Ihre Finger glitten langsam über die fein säuberlich geordnete Garderobe und verblieben bei einem grauen Kostüm. Das war sicher passend.

 

Gerade als sie sich ihre dunkle Haarpracht aufsteckte, hörte sie die Glocke an der Türe und die Stimme von Martha. Es antwortete ihr eine dunkle Männerstimme und dann hörte sie, wie Martha in den ersten Stock kam.

„Frau Lingens“, sagte sie, „es ist Besuch für Sie in der Bibliothek, er sagt, Sie haben einen Termin mit ihm. Hier ist die Visitenkarte“. Sie legte die Karte auf ein kleines Tischchen neben der Türe und ging wieder hinaus.

Giselle blickte in den Spiegel. „Ein bisschen blass schaust Du aus“, sagte sie zu sich selbst. Sie trug etwas Rouge auf und fuhr die Konturen ihrer Lippen mit einem hellen Lippenstift nach. Ein kurzer Kontrollblick in den Spiegel. Sie nickte sich zu und ging Richtung Treppe, um nach unten zu gehen. Vor dem großen Spiegel beim Treppenabgang blieb sie noch einmal stehen und stellte fest, dass ihre Körperhaltung die Stimmung ausdrückte, in der sie sich befand. Sie holte tief Luft, ließ die Schultern nach hinten fallen und hob den Kopf etwas und schritt langsam die Treppe hinunter. Der Anwalt sollte nicht gleich sehen, dass sie bedrückt war.

 

Als sie die Bibliothek betrat, stand der Anwalt mit dem Rücken zur Türe und betrachtete eines der Bilder an der Wand. Die Kopie eines Bildes von Turner. Es stellte eine Schlacht mit Seeschiffen dar und war die letzte Errungenschaft ihres Mannes. Es war groß und flößte ihr Furcht ein.

 

„Guten Tag“, hörte sie sich sagen und war über die Lautstärke ihrer Stimme erschrocken. Der Mann drehte sich um und sagte ebenfalls guten Tag. Sie standen sich einige Augenblicke gegenüber und starrten sich an.

„Frank?“ Ihre Stimme war nun leiser und fragend blickten sie sich an.

„Ja, das ist ja nicht möglich, Giselle, Du bist Frau Lingens?“, er streckte seine beiden Arme aus und ging auf sie zu.

„Ja, leider“, kam es fast unhörbar aus ihr heraus. „Bitte nimm Platz.“

Sie deutete mit einer Handbewegung auf die große, dunkle Sitzgarnitur, die fast ein Drittel der Bibliothek einnahm und setzte sich ihm gegen-über.

„Mein Gott, ist das lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben.“ Er setzte ein ermunterndes Lächeln auf.

Sie waren einmal gute Freunde, ihr schien es in einem anderen Leben gewesen zu sein. Sie waren eine große Clique von jungen Studenten. Es war eine sehr schöne unbeschwerte Zeit. Sie schwelgten in Jugenderinnerungen und überschlugen sich gegenseitig mit Fragen über gemeinsame Freunde, über den eigenen späteren Werdegang und stellten fest, dass sie nicht mehr wussten, wieso sie sich aus den Augen verloren hatten. Für einige Minuten hatten sie den Grund seines Besuches vergessen.

Als sie dann den Kaffee getrunken hatten und Frank sich eine Zigarette anzündete, lehnte er sich zurück und sah sie fragend an. „Erzähl mir doch alles, wie Du Deinen Mann kennengelernt hast und was eigentlich passiert ist? Ich möchte diese Geschichte auch aus deiner Sicht hören.“

Sie erzählte ihm alles von Anfang an und irgendwie fühlte sie sich danach erleichtert und gelöst. Sie ließ nichts aus und konnte sogar von ihren Gefühlen, ihrer langsam aufkeimenden Enttäuschung und über ihre Hilflosigkeit sprechen. Nachdem sie alles erzählt hatte, trat eine Pause von zwei bis drei Minuten ein, in der Frank vor sich hin starrte, es schien als, müsse er das Gehörte erst verkraften.

Er räusperte sich und beugte sich etwas vor und nahm ihre beiden Hände in die seinen. „Schau Giselle, aus dem Erzählten entnehme ich, dass Dir an einem weiteren Bestehen dieser Ehe nicht mehr sehr viel liegen kann. Der Grund, warum Du so durcheinander bist, ist wahrscheinlich verletzter Stolz und Angst vor Entscheidungen. Wenn Dein Mann nun bereit ist, Dir eine entsprechende Abstandssumme zu zahlen und auch einen monatlichen Unterhalt, solltest Du eher froh sein, wieder frei zu sein. Du könntest Dich aus dieser Abhängigkeit befreien und danach tun und lassen was Du willst.“ Er sah sie fragend an.

Sie nahm ihre beiden Hände aus den seinen und stand auf, um einige Schritte in die Mitte des Raumes zu gehen.

Einen Augenblick stand sie mit dem Rücken zu Frank und er glaubte schon, sie würde nun zu weinen beginnen, als sie sich langsam umdrehte und ganz ruhig sagte: „Ja, Du hast Recht, ich danke Dir. Bitte setze sen Vertrag auf und unternehme alles Nötige, um die Sache so rasch wie möglich über die Bühne zu bringen.“

Sie war erschrocken über ihre eigene Stimme. Sie klang so fest und klar, wie schon lange nicht mehr. Es fiel ihr sogar auf, dass sie „Die Sache“ sagte und es bereitete ihr Genugtuung.

Frank verabschiedete sich, nachdem sie noch einige Dinge besprochen hatten und sie lief wie befreit die Treppe hinauf, was sie auch schon sehr lange nicht mehr getan hatte.

 

Die nächsten Wochen waren ausgefüllt mit Besprechungen beim Anwalt und der Suche nach einer kleinen Wohnung und deren Einrichtung. Der Ehemann beobachtete das Geschehen teils mit großer Erleichterung, aber auch mit Staunen über den Gesinnungswandel seiner Frau. Irgendwie erweckte es sein Misstrauen, doch konnte er keinen Grund finden, der dieses Gefühl rechtfertigte. Schließlich gab er es auf, sich zu wundern und war froh, dass die Scheidung und alle damit verbundenen Formalitäten so reibungslos abgeschlossen werden konnten.

Giselle zog schließlich aus dem gemeinsamen Haushalt aus, als er sich gerade auf einer Geschäftsreise befand und ersparte sich und ihm eventuelle Peinlichkeiten.

 

Die Maschine der Austrian Airlines rollte langsam am Flughafen aus und die Passagiere applaudierten dem Piloten zu der geglückten Landung. Langsam öffnete Giselle den Sicherheitsgurt und schloss die Augen. Sie hatte es geschafft. Die vergangenen Jahre lagen hinter ihr und vor ihr lag ein wohlverdienter Urlaub von vier Wochen. Vorerst waren es diese nun kommenden Wochen, die sie sich selbst verordnet hatte, um in der Sonne und einer fremden Stadt abzuschalten und das zu machen, was sie bei ihrem letzten Griechenland-Aufenthalt versäumt hatte. Sie wollte alle Museen und antike Stätten der Umgebung besichtigen und das Flair dieser großen Stadt richtig genießen.

 

Nach der Zollabfertigung nahm sie ein Taxi und ließ sich in das Stadtzentrum fahren. Sie hatte in der Nähe des Omonia-Platzes über das Reisebüro in einem schönen, nicht zu teuren Hotel ein Zimmer gemietet. Nachdem sie ihre Sachen ausgepackt und geduscht hatte, wählte sie ein leichtes hellblaues Seidenkleid mit schwingendem Rock und ging hinunter in die Hotelhalle. Sie nahm von der Rezeption einige Prospekte vom dort aufgestellten Ständer zur Hand und ließ sich ein großes Glas Orangensaft mit Eiswürfel bringen.

Mit Interesse blätterte sie in dem Folder, um sich für den nächsten Tag einer Führung durch Athen anzuschließen. Sie wählte eine Stadtrundfahrt mit anschließender Besichtigung der Akropolis für den nächsten Morgen aus und für den zweiten Tag eine Autobusfahrt nach Cap Sounion, zum Tempel des Apolls. Sie strich diese beiden Termine mit einem Stift an und lehnte sich zurück, um durch die großen Glasscheiben der Hotelhalle dem regen Treiben vor dem Hotel zuzusehen.

Manche Menschen eilten vorbei, ohne nach links oder rechts zu schauen, andere wiederum schlenderten langsamen Schrittes, oft in ein Gespräch mit einer Begleitperson vertieft, über den Gehsteig. Alle waren umgeben von strahlendem Sonnenschein. Zarte, nicht zu hohe Bäume waren in kurzen Abständen am Rande des Gehsteiges eingepflanzt und die Schatten der Zweige und Blätter, die sich leicht bewegten, warfen Schatten auf die Gesichter. Sie konnte den starken Verkehr mit den vielen Autos vom Hotel aus nur sehen, den Lärm jedoch nicht wahrnehmen, da die Hoteltüre geschlossen war. Das musste sicherlich so sein, da der Raum klimatisiert war.

 

Sie erhob sich und ging zur Rezeption. „Ach entschuldigen Sie“, sie lächelte den jungen Mann hinter dem Pult an und legte die beiden Folder vor ihm hin. „Ich möchte mich für diese beiden Termine anmelden. Kann ich das gleich bei Ihnen tun?“ Sie hatte ihre Englischkenntnisse in der letzten Zeit etwas vernachlässigt, diese jedoch in den letzten Wochen in Wien aufgefrischt und war sehr stolz darauf, dass sie sich recht gut verständigen konnte.

„Ja, natürlich“, lächelte der junge Mann, „aber Sie können mit mir ruhig deutsch sprechen, ich habe einige Jahre in Deutschland gearbeitet und kann Ihre Sprache.“

Er notierte ihren Namen und bat sie noch, um Punkt neun Uhr morgens, sofort nach dem Frühstück, in den vor dem Hotel wartenden Bus einzusteigen.

Sie nahm ihre Folder und die Bestätigung in die Hand, drehte sich um und wollte die Zettel in die Tasche stecken, als sie mit jemandem zusammenstieß. Alles fiel zu Boden. Sie bückten sich gleichzeitig und stießen zu allem Überfluss auch noch mit den Köpfen gegeneinander. Mit einem Schmerzensschrei richtete sie sich auf.

„Um Gottes Willen, Frau Lingens“, rief der junge Mann in der Rezeption und eilte sofort herbei und stützte sie. Er führte sie zu einer Sitzgruppe und sie setzte sich hin.

„Ach Dankeschön, ist schon gut“, lächelte sie und sah ihn erleichtert an. Erst jetzt merkte sie, dass sie auch die Handtasche fallen gelassen hatte.

Ein großer, sehr elegant gekleideter Mann hob ihre Tasche und die he-rumliegenden Zettel auf und kam auf sie zu. „Ich hoffe, das sind alle Papiere, mehr konnte ich nicht finden. Es tut mir schrecklich leid, dass ich die Ursache des Missgeschickes war, ich möchte es wieder gut machen.“ Er legte alles auf den Tisch vor ihr und winkte dem Kellner.

„Ach bitte bringen Sie mir einen Orangensaft und für die Dame ...?“ Er blickte sie fragend an.

„Auch einen Orangensaft, bitte“, nickte sie. Sie hatte in Englisch geantwortet, da der Unbekannte auch in Englisch zu ihr sprach.

„Sie sind Deutsche?“, fragte er.

„Nein ich bin aus Österreich, Wien“, fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu.

„Sie gestatten, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Kosta Nikolaidis.“ Er deutete eine kurze Verbeugung an.

„Giselle Lingens“, sagte sie mit kurzem Kopfnicken.

„Sehr erfreut. Ohne es zu wollen, habe ich beim Einsammeln Ihrer Papiere festgestellt, dass Sie zwei Ausflug geplant haben?“, fragte er mit einem verlegenen Lächeln. „Sie sind das erste Mal in Athen?“

„Ja und Nein. Das erste Mal war ich mit meinem Mann hier, doch da war vor lauter Geschäftsterminen keine Zeit für Müßiggang und Kultur. Nun bin ich allein hier und möchte das alles nachholen.“

Sie war über ihre Antwort erschrocken. Warum hatte sie ihm erzählt, dass sie alleine da war. Sie hätte den Satz gerne zurück genommen, doch es war zu spät.

 

Sie machte eine einladende Geste in Richtung des zweiten Sessels. Er setzte sich und trank ganz langsam aus seinem Glas und stellte es sodann wieder hin.

„Ich möchte jetzt nicht, dass Sie mich missverstehen“, sagte er, „doch ich wollte Sie gerade fragen ob Sie und eventuelle Ihre Begleitung mir die Ehre geben würden, um mit mir zu Abend zu essen. Das ist das Wenigste, was ich für Sie tun kann, nachdem ich Sie fast umgerannt habe“, er lächelte sie entwaffnend an, „bitte machen Sie mir die Freude.“ Er sah sie bittend an und zu ihrer eigenen Überraschung nickte sie zustimmend. „Ich bin alleine hier“, fügte sie noch hinzu.

„Ich warte auf Sie um acht Uhr hier in der Halle. Ich freue mich.“ Er stand auf, deutete eine Verbeugung an, durchquert die Halle und verließ das Hotel mit großen Schritten.

 

Sie blieb noch eine Weile sitzen und wunderte sich über sich selbst.

Sie war nach Athen gekommen, um Abstand zu gewinnen, um zu sich selbst zu finden und gleich am ersten Tag sprach sie ein fremder Mann an und wollte mit ihr ausgehen. Ich werde diesen Termin nicht einhalten, nahm sie sich vor. Obwohl, er war eine sehr interessante Erscheinung. Mit dem vollen gewellten Haar und dem braun gebrannten Gesicht, den strahlend weißen Zähnen und den schwarzen, großen Augen sah er wie ein Gott aus einer griechischen Sage aus. Sie musste unwillkürlich über sich selbst lachen. So von einem Mann geschwärmt hatte sie zuletzt als junges Mädchen.

Den Rest des Tages verbrachte sie damit, sich in der Nähe des Hotels umzusehen. Sie entdeckte eine kleine Taverne, die durch eine Vitrine hindurch eine Auswahl an leichten Gerichten bot und bestellte sich gleich zwei dieser Leckerbissen, die sie vor dem, von der Straße etwas zurück gebauten, Lokal im Schatten der Arkaden zu sich nahm. Dann ging sie wieder ins Hotel zurück auf ihr Zimmer und bereitete sich auf die im Süden übliche Mittagsruhe vor.

Sie hatte geduscht, sich in ein auf dem Bett zurecht gelegtem Leintuch eingehüllt und lag nun im halb verdunkelten, klimatisierten Zimmer auf dem Bett und ließ ihre Gedanken um die Geschehnisse des heutigen Tages kreisen.

 

Wien war so weit weg, dass sie gar nicht glauben konnte, dass sie noch heute früh in ihrer kleinen neuen Wohnung gefrühstückt hatte und nun hier in Athen, leicht eingehüllt auf dem Bett lag und an einen Mann dachte, der so plötzlich in ihrem Leben aufgetaucht war.

Sie versuchte, sich ihn nochmals in Erinnerung zu rufen. Er war für einen Griechen eigentlich sehr groß und er wirkte gepflegt und war für die Tageszeit, zu der sie ihn traf, eigentlich viel zu elegant angezogen. Es war ungefähr zwölf Uhr mittags. Das heißt für Griechenland, spät morgens. Hier gingen die Uhren anders. Alles lief verspätet ab, Mittag war zwischen zwei und vier Uhr nachmittags, der Abend ist spät in die Nacht verlegt.

 

Sie musste eingeschlafen sein.

Durch die offene Balkontüre drangen die Geräusche der Straße herein und holten sie langsam aus der Tiefe des Schlafes wieder in die Wirklichkeit zurück. Langsam öffnete sie die Augen zu einem schmalen Spalt und stellte fest, dass die Dämmerung vom Hotelzimmer bereits Besitz ergriffen hatte und das Halbdunkel irgendwie bedrohlich wirkte.

Sie zog ein hellgelbes Leinenkleid mit einem kleinen Jäckchen an und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Sie war zufrieden. Nachdem sie etwas Lippenstift aufgetragen und sich frisiert hatte, trat sie auf den Balkon hinaus und genoss das südliche Treiben zu ihren Füßen.

Sie blickte auf ihre Uhr und stellte fest, dass es bereits halb acht Uhr war.

„Soll ich nun diese Verabredung einhalten oder nicht?“ Sie war sehr unschlüssig, gab sich jedoch einen Ruck, nahm ihre Handtasche, warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel und fuhr in die Hotelhalle hinunter.

Zu ihrem großen Erstaunen saß er bereits an einem der kleinen Tische und las angeregt in einer sehr großen Zeitung, welche er mit ausgestreckten Armen vor sich hielt.

Als er die Lifttüre hörte, senkte er die Zeitung und faltete sie zusammen. Er stand mit einem strahlenden Lächeln auf und kam mit großen Schritten auf sie zu.

„Ich freue mich“, sagte er.

Sie lächelte ihn an und senkte ein wenig den Kopf. Was sollte sie sagen.

´Eigentlich wollte ich gar nicht kommen, aber …?´ Nein doch nicht, es klingt vielleicht albern, dachte sie.

 

Er winkte dem Hotelpagen und dieser holte, scheinbar war das vereinbart, seinen Wagen von irgendwo her und übergab ihm den Schlüssel. Er eilte um den Wagen herum und öffnete mit einer einladenden Geste die Wagentüre.

„Bitte, steigen Sie ein, ich werde Ihnen Athen bei Nacht zeigen.“

Sie fuhren im Kreisverkehr um den Omoniaplatz, er nannte all die breiten Straßen bei ihrem Namen, welche von diesem Platz sternförmig wegführten.

 

Nach einer Rundfahrt durch das nächtliche Athen landeten sie in einer kleinen typisch griechischen Taverne in der Plaka, am Fuße der Akropolis. Er sprach fast ununterbrochen, erzählte vom antiken Griechenland, wusste die unglaublichsten Geschichten über Götter und Halbgötter zu erzählen.

Es war ein unterhaltsamer Abend in Gesellschaft eines geheimnisvollen, unglaublich charmanten Mannes.

Als sie nach dem ausgiebigen Abendessen schließlich beim Obst gelandet waren, sah er ihr forschend in die Augen. „Ich habe Sie doch nicht gelangweilt?“, fragte er, indem er seine Stimme etwas erhob.

„Nein, überhaupt nicht, es war für mich vieles neu und auch amüsant“, hörte sie sich sagen und wünschte sich, ihr wäre etwas Klügeres eingefallen.

„Jetzt müssen Sie mir aber etwas über sich erzählen“, lächelte er sie erwartungsvoll an.

Was sollte sie ihm erzählen? Ihr kleines unbedeutendes Leben, das En-de einer Ehe, die Flucht nun in die Ferne? Sie entschied sich mit dem Leben vor ihrer Ehe zu beginnen und den Rest nur zu streifen, schließlich kannte sie ihn ja kaum.

Er hörte ihr interessiert zu. Die Tatsache, dass sie Pianistin war, schien ihn ganz besonders zu interessieren. Er stellte darüber einige Fragen und wirkte plötzlich wie abwesend.

„Oh Gott“, entfuhr es ihr, als sie einen Blick auf die Uhr warf, um die entstandene Gesprächspause zu überbrücken, „es ist schon weit über Mitternacht und ich habe mich für morgen, das heißt eigentlich schon für heute, für einen Ausflug angemeldet, an dem ich unbedingt teilnehmen möchte. Ich glaube es ist Zeit, dass ich ins Hotel komme.“

Er erhob sich sofort ohne den kleinsten Einwand, und sie verließen das Lokal. Sie fuhren auf dem kürzesten Weg ins Hotel und er verabschiedete sich gekonnt galant.

Sie lag noch eine Weile wach und ließ den Abend an sich vorüberziehen. Es war ein netter Abend, doch irgendetwas störte sie, sie konnte es nicht definieren.

 

Die folgenden Tage waren ausgefüllt mit Stadtbesichtigungen, Museumsbesuchen und kleinen Exkursionen in die nähere Umgebung von Athen. Ihre Erinnerung an den Abend mit Kosta Nikolaidis begann zu verblassen und sie dachte schon gar nicht mehr an ihn, als drei Tage vor ihrem Abreisetermin frühmorgens, sie war gerade im Bad, das Telefon klingelte.

„Guten Morgen“, klang ihr eine geschäftsmäßig klingende Frauenstimme ans Ohr. „Herr Nikolaidis bittet Sie, ihm die Ehre zu geben, heute Abend in seiner Villa mit Freunden zu Abend zu essen. Selbstverständlich werden Sie abgeholt und auch wieder in Ihr Hotel zurückgebracht Der Chauffeur wird sie um neun Uhr abholen.“

„Aber ich …“, konnte sie gerade noch sagen, da war das Gespräch auch schon unterbrochen.

Sie legte verärgert und nachdenklich den Hörer auf. In der anderen Hand hielt sie die Haarbürste und das Handtuch, welches sie umgebunden hatte, als das Telefon klingelte. Durch ihre ärgerliche Handbewegung fing es an zu rutschen. Sie ging ins Bad, trocknete das gewaschene Haar ab und zog ihren Morgenmantel über.

Sie musste sich setzen. Es war doch seltsam, dass ein ebenso gebildeter, wie charmanter Mann eine solch formlose Einladung vorbrachte, die schon fast wie ein Befehl klang.

Sie fuhr anschließend in das Frühstückszimmer des Hotels hinunter und nahm ihren Platz ein. Während des Frühstücks musste sie dauernd an das Telefonat denken und beschloss, dieser Einladung nicht Folge zu leisten. Dieser Entschluss wirkte befreiend auf sie.

 

Den ganzen Vormittag verbrachte sie mit einem Einkaufsbummel in einer der Geschäftsstraßen, die vom Omoniaplatz zum Sintagmaplatz führt. Ein veilchenblaues Chiffonkleid mit dazu passendem kleinem Hut gefiel ihr besonders und sie erstand es, obwohl ihr der Preis den Atem raubte.

Nach einem kleinen Mittagsimbiss in der kleinen Taverne in der Nähe des Hotels begab sie sich sofort wieder auf ihr Zimmer, um zu duschen und danach legte sie sich ermattet auf das Bett und schlief wieder sofort ein. Sie träumte sehr intensiv, ohne sich nachher an den Traum erinnern zu können.

Erst der aufkommende Abendverkehr vor dem Hotel holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie blinzelte leicht im verdunkelten Raum zu den zugezogenen Vorhängen hin.

Blitzartig fiel ihr wieder die telefonische Einladung ein und sie begann, ohne aufzustehen, fieberhaft zu überlegen.

„Es ist doch nichts dabei, die Einladung für ein Abendessen im Kreise von einigen, wenn auch unbekannten Menschen anzunehmen. „Hauptsache, man kennt den Hausherrn“, überlegte sie und stand auf.

 

Um Punkt neun Uhr trat sie aus der Hotelhalle ins Freie und der ihr vom Vortag wohlbekannte Wagen stand schon bereit. Der Chauffeur war dezent und unauffällig gekleidet. Er hielt die Wagentüre geöffnet und lächelte einladend. Die Fahrt ging durch das Zentrum von Athen wieder über den Sintagmaplatz und die große breite Singrou hinunter zum Meer. Dann bogen sie links ab und die Fahrt ging weiter bis zum Stadtteil Kavouri, der direkt am Meer liegt und mit großen Villen und Apartmenthäusern bebaut war. Die Räume der Villen waren fast alle beleuchtet und durch die geöffneten Fenster und Terrassentüren konnte man den Wohlstand von der Straße aus sehen. Große Gärten umrandeten die Häuser und in den meist offenen Garagen konnte man die teuersten Autos stehen sehen. Eine dieser Villen war offenbar das Ziel. Der Wagen bog in die Auffahrt ein und rollte vor einer breiten, nicht sehr hohen, Treppe aus.

Sie stieg aus und machte einen unschlüssigen Schritt Richtung Treppe, als auch schon aus der geöffneten Türe Kosta Nikolaidis heraustrat. Er blieb einen Augenblick stehen und sie konnte in seinen Augen so etwas wie Überraschung und Bewunderung sehen. Ihre schlanke Gestalt mit den dunklen Haaren und den graugrünen Augen harmonisierten mit dem veilchenblauen Chiffonkleid, welches sie sich heute gekauft hatte, insbesondere da die schon schräg stehende Sonne sie in ein besonderes Licht tauchte. Er eilte mit ausgestrecktem Arm die Treppe hinab um sie ins Haus zu führen.

 

„Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen“, sagte er mit seiner dunklen, ihr wohl bekannten Stimme.

Sie betraten einen Raum, den man ohne weiteres ‚Halle‘ nennen konnte. Überall lagen Teppiche auf dem beigefarbenen Marmorboden und kleine Sitzgruppen waren darin verteilt. Eine Wand war mit einem Bücherregal bis zur Decke verbaut. Rundherum kam Licht von der Decke. Die Lichtquellen waren mittels durchscheinender Marmor-Arabesken verkleidet, die an griechische Säulenkapitele erinnerten. Sie glaubte nicht so etwas schon einmal gesehen zu haben. Er führte sie zu einer Gruppe von zwanglos herumstehenden Personen und stellte sie zuerst in griechischer und dann in englischer Sprache als eine Bekannte aus Österreich vor, und sie musste einige höfliche Bemerkungen über Österreich und besonders über Wien geduldig anhören und versuchte ebenso höflich die Konversation aufrecht zu erhalten.

Plötzlich spürte sie im Nacken ein seltsames Kribbeln und hatte das Gefühl beobachtet zu werden. Sie drehte sich langsam um und blickte in ein dunkles Augenpaar, das sie aus dem Gesicht einer weißhaarigen älteren Dame sehr eingehend musterte. Es war ein forschender, fast taxierender kalter Blick. Ihr aufkommendes Lächeln erfror auf ihren Lippen und sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Da drehte sich die Frau, auf einen Stock gestützt, plötzlich um und verschwand durch eine der offenen Türen, ohne Giselles Lächeln zu erwidern.

Giselle hielt ihr Glas ganz fest in der Hand und suchte sich einen Platz zum Sitzen neben einer der großen grünen Pflanzen, wo sie einen bezaubernden Blick hinaus in den Garten und auf das Meer hatte. Ihr Blick wurde von einem großen, offensichtlich sehr alten Olivenbaum angezogen, der in der Mitte des Gartens stand und von einem Ring aus hellen Steinen umgeben war. Er war mächtig und ausladend, nicht sehr hoch, wie eben Olivenbäume immer mehr in die Breite wachsen, mit einem dicken, sehr zerklüfteten Stamm. Er schien für die Ewigkeit hier zu stehen.

„Da haben Sie sich ja den schönsten Platz im ganzen Haus ausgesucht“, hörte sie plötzlich hinter sich eine tiefe Stimme und einen Moment glaubte sie, die Stimme von Kosta Nikolaidis zu hören, doch es war ein ihr unbekannter, wesentlich jüngerer Mann.

„Sie sind sicher die geheimnisvolle Unbekannte, von der mein Bruder erzählt hat. Wir waren alle schon sehr neugierig auf Ihre Bekanntschaft. Sie sind ausgebildete Pianistin?“

Das war es. Das war das Stichwort, das die Störung an jenem Abend ausgelöst hatte, das war es, wonach sie im Unterbewusstsein vergebens gesucht hatte. Dass sie Pianistin war, muss für die Beziehung zwischen ihr und Kosta Nikolaidis von großer Bedeutung sein.

Sie lächelte unsicher.

„Ich verstehe gar nicht, dass das für Sie von so großer Bedeutung ist“, sagte sie und stellte ihr Glas auf den kleinen Tisch neben ihr.

„Ja, hat denn mein Bruder mit Ihnen noch nicht darüber gesprochen?“ Er wirkte sichtlich betroffen und es schien ihm leid zu tun, darüber gesprochen zu haben.

„Worüber wollte er denn mit mir sprechen?“ Giselle sah ihn fragend an.

In diesem Moment kam der Gastgeber auf sie beide zu. Er konnte den letzten Satz gerade noch hören und sah seinen Bruder stirnrunzelnd an.

„Ich finde, Du solltest Dich auch etwas mehr um die anderen Gäste kümmern und nicht um Sachen, die Dich absolut nichts angehen.“

Seine Handbewegung, Richtung der anderen Gäste, war zwar beherrscht, aber nicht zu übersehen. Dann drehte er ihm den Rücken zu.

„Sie hätten mir Ihren Bruder aber auch vorstellen können“, sagte sie mit einer etwas zu lauten Stimme und war darüber erschrocken.

„Es tut mir leid“, sagte er mit einer um Entschuldigung bittenden Geste.

Sie sah ihn erwartungsvoll an. Es musste doch nun die Erklärung kommen, wieso sie darauf angesprochen wurde, dass sie Pianistin ist.

Doch er berührte nur ganz vorsichtig ihren Ellenbogen und führte sie zu einer kleineren Gruppe von Gästen, welche sich dem reichhaltigen Buffet widmeten. Dann ließ er sie mit einer kleinen ununterbrochen sprechenden Frau alleine. Sie nickte hin und wieder zustimmend, ohne wirklich zu hören, was diese sprach. Hin und wieder sah sie zwischen den einzelnen Gästegruppen die schlanke Gestalt des Bruders, dessen Namen sie noch immer nicht wusste. Wie unabsichtlich begegneten sich beider Blicke und sie glaubte, ein Zwinkern in seinen Augen zu sehen. Aber das war augenscheinlich ein Irrtum. Es musste an der Beleuchtung liegen.

Plötzlich spürte sie den durchdringenden Blick der alten Dame, die ihr schon anfangs einmal aufgefallen war, neuerlich. Aus Verlegenheit lächelte sie ihr zu und zu ihrer Überraschung lächelte diese sehr verhalten, mit einem kleinen Nicken des Kopfes, zurück. Dann verschwand sie wieder hinter derselben Türe wie vorhin.

Sie fühlte sich sehr alleine unter all diesen Menschen, die sich in einer für sie fremden Sprache unterhielten und sie wollte nur noch gehen. Sie stellte ihr Glas und den kleinen Teller mit den Häppchen auf einem der nächsten Tische ab und steuerte dem Ausgang zu.

„Wie komme ich nun aber nach Hause?“, überlegte sie noch, als Kosta schon wieder an ihrer Seite war.

„Sie langweilen sich“, stellte er fest, „es tut mir leid, aber ich musste mich um einige für mich wichtigen Gäste kümmern, doch jetzt bin ich ganz für Sie da.“ Er nahm ihren Arm und führte sie wieder zurück, quer durch den Raum, auf die Terrasse hinaus. „Wie gefällt Ihnen die Bucht?“

„Sie ist wunderschön, besonders in der Nacht, wegen der vielen Lichter, die sich im Wasser spiegeln.“ Ein leichtes Lächeln spielte um ihren Mund. Sie stellte sich den Blick vom Balkon ihrer neuen Wohnung in Wien vor und da verlor diese haushoch.

Er hatte scheinbar ihre Gedanken erraten und sagte: „Ist doch sicher viel schöner als bei Ihnen in Wien, wo es kein Meer gibt.“

Sie lächelte leicht. Sollte sie ihm jetzt erklären, dass natürlich auch Wien seine Reize hat und ihre Heimat ist?

Er räusperte sich und da wusste sie, dass nun irgendetwas auf sie zukommen würde. „Ich hätte einen Vorschlag, mehr eine Bitte, an Sie.“

„Ja?“

„Möchten Sie nicht hier bleiben, vorerst auf kurze Zeit, damit Sie es sich überlegen können“, fügte er fast ängstlich hinzu, als sie nach seinen ersten Worten eine verneinende Geste machte.

„Ich habe einen Sohn, einen kranken Sohn“, sprach er ganz leise weiter, „er ist Autist, sagen die Ärzte. Das Einzige, womit man seine Aufmerksamkeit erringen kann, ist Musik. Er hört ein Musikstück einmal und spielt es völlig fehlerfrei nach. Wir hatten einen Musiklehrer, doch dieser hat es leider nicht geschafft. Er ist nicht mehr gekommen. Er ist anscheinend mit dem Kind nicht klar gekommen. Mein Sohn ist jetzt 10 Jahre alt.“ Es klang ein wenig stolz, trotz der Sorge, die mitklang.

„Das tut mir leid“, sagte sie und sie bedauerte keine andere Antwort gefunden zu haben, „aber wie könnte ich Ihnen da helfen? Ich bin kein Arzt.“

„Ich weiß das, aber ich würde Sie gerne als Musiklehrerin engagieren. Bitte sagen Sie Ja.“ Sein Blick lag mit einer solchen Intensität auf ihrem Gesicht, dass sie sich abwenden musste. Ihre Hände hielten sich am Gelände der Terrasse fest und sie konnte einfach nicht denken. Was stürzte da auf sie ein, eine völlige Veränderung in ihren Leben nahm vage Gestalt an und es fielen ihr eine Menge Gründe ein, um abzusagen. Aber es fiel ihr auch ein, dass sie momentan im leeren Raume schwebte und es in Wien nichts gab, das sie hielt.

„Ach bitte, ich muss mir das überlegen, ich kann nicht sofort ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ sagen, können Sie das verstehen?“ Sie sah, wie ihm diese Antwort widerstrebte. Er war scheinbar gewöhnt daran, dass alle Menschen sofort seinen Forderungen Rechnung tragen.

Er senkte den Blick etwas, vielleicht um seinen Unmut zu verdecken, vielleicht aber auch, weil er einsah, dass sie nicht sofort zusagen konnte.

„Selbstverständlich“, presste er hervor, „wie lange muss ich auf Ihre Antwort warten?“

„Ich habe noch einige Tage bevor ich abreise, ich werde mich bei Ihnen melden Ich nehme an, dass es da aber ein großes Problem gibt. Ich werde mich mit dem Kind nicht verständigen können. Wie Sie wissen, kann ich Ihre Sprache nicht.“

„Nein, nein, das ist kein Problem, Dimitri ist zweisprachig aufgezogen worden, meine Frau stammte aus einer Diplomatenfamilie, da war Englisch die tägliche Umgangssprache. Er versteht Englisch, nur spricht er leider nicht, überhaupt nicht!“

„Das ist natürlich hilfreich! Ich werde nun aber doch gehen, lassen Sie mich bitte nach Hause bringen?“ Sie kramte in ihrer Tasche, um ihn nicht ansehen zu müssen.

Er nahm wieder ihren Ellbogen sanft, aber mit Nachdruck, und ging an ihrer Seite durch den Salon zum Ausgang.

Derselbe Chauffeur, der sie geholt hatte, brachte sie wieder in das Hotel zurück. Auf der Rückfahrt genoss sie die Fahrt durch das nächtliche, von südlichem Leben durchflutete Athen. Die vielen Lichter dieser großen Stadt, der dichte, scheinbar ungeregelte Verkehr, das Hupen der Autos und das Lachen der Menschen an den kleinen Tischen am Rande der Straßen, war ihr fremd, doch gleichzeitig ergriff es Besitz von ihren Sinnen und darüber war sie sehr erstaunt.

Sie bedankte sich mit einem Kopfnicken und einem Lächeln bei ihrem Chauffeur, der dieses Lächeln erwiderte.

Als sie im Aufzug nach oben fuhr, sah sie dieses Lächeln wieder vor sich. Der Chauffeur war ein älterer Mann, sehr gepflegt und sehr sympathisch, aufmerksam, ohne aufdringlich zu sein. Es schien ihr nun im Nachhinein, als wollte er sie mit diesem Lächeln bitten, doch ‚Ja‘ zu sagen. Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich wusste der Mann gar nichts vom Vorschlag seines Chefs.

In dieser Nacht schlief sie sehr unruhig und wachte mehrmals auf.

 

Die folgenden Tage waren ausgefüllt mit einem sehr dichten Pro-gramm, zugeschnitten auf Touristen. Sie hatte sich einer Gruppe angeschlossen, machte einige Führungen mit und ließ sich mit Informationen über das alte und neue Griechenland berieseln. Einen Tag fuhren sie mit dem Bus auch nach Cap Sounion und im Angesicht des Apoll-Tempels schaukelte sie in den Wellen des Meeres auf einer Luftmatratze und hing ihren Gedanken

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 09.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8229-7

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