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Kapitel 1




Noch nie hatte ich so etwas schönes gesehen. Ich stand auf einem Pfad, der sich weit durch ein Tal schlängelte. Der Himmel war hellblau und wolkenlos. Als ich mich so umsah, entdeckte ich vereinzelt ein paar Häuser, aus deren Schornsteinen kleine Rauchschwaden stiegen. Alles sah so ruhig und friedlich aus. Hinter mir erstreckte sich ein dunkler Wald, der jedoch unbedrohlich aussah.
Ich wollte einen Schritt auf das Dorf zu machen, das sich links von mir befand, doch wie immer hielt mich irgendetwas fest. Ich versuchte noch einmal mich von meinem Standpunkt zu lösen. Wieder klappte es nicht. Traurig blickte ich über das Tal, über die vielen Wiesen und Felder, die so gepflegt dalagen.




Und dann schrillte etwas auf und ließ mich zusammenzucken. Ich wurde unsanft aus meinem Traum gerissen, wie so oft, und öffnete meine Augen. Natürlich war ich ein klein wenig enttäuscht, als ich sah, dass ich mich in meinem Zimmer befand und nicht auf dem Hügel mit herrlichem Blick auf das Tal.
Meine Träume waren immer etwas ganz besonderes, weil sie so real waren. Es kam mir immer so vor, als sei ich wirklich da gewesen. Meine Träume waren sogar richtig detailliert, sodass ich sie alle in Malereien festhalten konnte. Manchmal hatte ich mir sogar gewünscht, dass ich nie mehr aufwachen würde, um die Träume und Bilder ewig bestaunen zu können.
Sie waren nicht wie der Alltag von so vielen Menschen auf der Erde. Sie kamen mir eher so vor wie eine andere, bessere Welt. So friedlich, unbekümmert, ruhig und so ganz ohne Hektik.
Doch so etwas gab es nicht in meiner Welt, das hätte ich gewusst, denn ich wäre die Erste dort. Aber da es so einen Ort in der Wirklichkeit nicht gab, wohnte ich in einem großen Haus mit meiner Oma in Ehrenberg.
Das Gute war, dass wir auf einem kleinen Hügel lebten und wir dort oben unsere Ruhe hatten. Es gab weit und breit nur eine Hauptstraße. Die anderen Wege waren kleine Gassen in dem Dorf, das unterhalb des Hügels lag. Es gab sehr wenige Autos, die Bürger legten ihren Weg zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurück. Das sorgte natürlich für noch eine Portion Ruhe.
Rings um das Dorf herum waren Felder und riesige Wälder, in denen ich sehr oft spazieren ging. In dem Dorf gab es eine einzige Schule, die von Kindern im Alter von sieben bis achtzehn Jahren besucht wurde.
Ich war eine von diesen Schülern. Ich war Sechzehn und besuchte, nach den Sommerferien, die elfte Klasse.
Manchmal fragte ich mich, wo all die Jahre hin waren, in denen ich mit den anderen Kindern (hauptsächlich aus meiner Klasse) Dummheiten und Streiche bei den Dorfbewohnern gespielt hatte. Oder ich mit meinen Puppen im Schlamm gespielt hatte. Das hatte ich allerdings nur getan, weil meine Oma es mir verboten hatte allein zu den Bächen zu gehen, die im Wald flossen. Also hatte ich mich aus trotz zusammen mit meiner Puppe in den Schlamm gesetzt und gespielt.
Hier, in dem süßen, kleinen Dorf, war nie wirklich viel los, deswegen freuten sich die Bewohner, wenn es Abwechslung wie zum Beispiel einer Schuldisco oder ein Sportwettkampf, gab.
Ich gehörte nicht zu so einer Sorte Mensch. Ich liebte es wenn ich allein sein, ich nachdenken oder mich in meine eigene Traumwelt zurückziehen konnte.
Meine Lieblingstätigkeit bestand darin, all meine Träume aufzumalen oder zu skizzieren. So etwas beschäftigte mich schon mal den ganzen Tag. Oder ich laß zur Abwechslung mal ein dickes Buch aus der Hausbibliothek, die meine Oma besaß.
Wahrscheinlich dachte jeder, dem ich das erzählte, ich führte ein langweiliges und einseitiges Leben. Aber so war es nicht. Wirklich! Ich langweilte mich so gut wie nie und einseitig war mein Leben, dank meiner lebhaften Träume, zum Glück auch nicht.

Morgens hatte ich einen sehr geregelten Tagesablauf. Dieser begann mit duschen und umziehen, ging über in Frühstück für meine Oma und mich machen und danach verschwand ich so lange in meinem Zimmer, bis Oma mich zum Frühstücken holte.
Was ich in meinem Zimmer die ganze Zeit machte? Ich malte meinen Traum auf.
Mein Bettkasten war voll mit meinen gemalten oder gezeichneten Träumen. Allerdings wusste meine Oma nichts davon. Wenn sie das erfahren hätte, hätte sie die Bilder vermutlich in den Kamin geworfen, um das Feuer am Leben zu erhalten. Sie hielt nicht viel vom Zeichnen. Sie sagte, ich solle meinen Tagträumen nicht hinterher schauen, dass wäre nicht gut. Wenn sie doch nur wüsste, wie umwerfend sie manchmal waren. Eines Tages werde ich sie schon noch begeistern können, das hatte ich mir zum festen Ziel gesetzt. Doch bis dahin hielt ich es für angebracht, die Bilder nicht vor ihrer Nase auszubreiten.
Am liebsten hätte ich auch mein Zimmer mit den Bildern geschmückt, doch so lagen sie nur in einem Schubfach unter meinem Bett.
Um meinen gewohnten Tagesablauf beizubehalten, wühlte ich mich aus meiner Decke und ging mit frischen Sachen ins Bad. Als ich später aus der Küche in mein Zimmer ging, konnte ich es wie immer kaum abwarten meinen Traum auf Papier zu bringen. Ich entschied mich, ihn mit Wasserfarbe festzuhalten, da er so schöne, intensive Farben besaß, die ich mit einem Kohlestift nicht auf das Papier bekommen konnte. Ich holte meine Farben, die in einem Schuhkarton auf meinem Kleiderschrank standen, herunter und stellte sie auf den Schreibtisch. Dann suchte ich mir die passenden Pinsel zusammen und nahm mir ein weißes Blatt aus meinem Schieber. Danach setzte ich mich an meinen Tisch und rief mir meinen Traum in Erinnerung.
Die Landschaft faszinierte mich wieder aufs neue und ich begann ein saftiges grün für die Wiesen und Bäume zu mischen. Ich setzte den mit Farbe durchtränkten Pinsel an und begann zu zeichnen. Immer wieder sah ich das Tal in meinem inneren Auge und meine Hand bewegte sich, wie so oft, wie von ganz allein.
So konnten bei mir schon mal schnell Stunden vergehen, ohne dass ich das auch nur mitbekam. Wenn ich einmal konzentriert an einer Sache arbeitete, die mir Spaß machte, konnte ich schon mal schnell das ringsherum um mich vergessen. Ich hatte dann überhaupt kein Zeitgefühl mehr.
„Alicia! Kommst du runter, essen?“,
rief meine Oma von unten zu mir rauf. Ich war erst erschrocken, doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich noch gar nichts gegessen hatte. Wäre Oma nicht immer gewesen, wäre ich garantiert irgendwann einfach vom Stuhl gekippt.
„Ja, ich komme!“,
rief ich nach unten und machte mir noch schnell eine Skizze meines Traumes, falls ich ihn im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert hatte und ich mich dann nicht mehr an ihn erinnern konnte. Dann ging ich nach unten in die Küche, um mit meiner Oma zu frühstücken. Sie erzählte mir, was sie an diesem Tag alles vor hatte und dass sie höchstwahrscheinlich erst gegen Abend zurück sein würde.
Für mich war das kein Problem, da ich die meiste Zeit an meinem Bild arbeiten würde. Und wenn das Wetter so blieb, wie es war, würde ich bestimmt auch ein paar Stunden draußen auf der großen Wiese verbringen und mir ein dickes Buch durchlesen, dachte ich. Ich beschloss später in der Bibliothek nach einem spannendem Buch Ausschau zu halten. Vielleicht brachte Oma aber auch ein neues aus dem Buchhandel aus dem Dorf mit, um ihre Sammlung zu aktualisieren.

Früher hatte meine Mutter mir aus dicken Büchern Geschichten vorgelesen, doch das lag schon Jahre zurück. Ich konnte mich kaum mehr an meine Eltern erinnern, ich war noch viel zu jung, als sie bei einem Autounfall vor elf Jahren ums Leben kamen. Hätte ich kein Foto von meiner Mutter, indem sie mich als Baby in den Armen hielt, wüsste ich schon gar nicht mehr, wie sie aussah.
Von meinem Vater wusste ich wirklich gar nichts mehr, denn noch nicht einmal ein Foto von ihm existierte. An was ich mich wirklich nicht mehr erinnern konnte, waren ihre Stimmen. Als mir das vor ein paar Jahren bewusst wurde, musste mich Oma eine lange Zeitlang trösten, doch dann habe ich mich damit abgefunden. Die Dinge änderten sich nun mal, ob man wollte oder nicht.
Mein Opa war schon vor meiner Geburt verstorben, ihn kannte ich also gar nicht. Oma, wollte nicht, dass ich in ein Heim oder Waisenhaus kam, sie sagte, dass ich etwas ganz besonderes sei, aber das sagte wahrscheinlich jede Oma zu ihrem Enkel. Auf jeden Fall hatte sie alles daran gesetzt, mich bei sich zu haben und ich war ihr auch zutiefst dankbar. Denn ich liebte meine Heimat. Oma brach gleich nach dem Frühstück auf und ich räumte schnell den Tisch ab, denn ich wollte unbedingt mein Bild weiter malen.

Als ich fertig war mit Aufwaschen, flitzte ich in mein Zimmer hoch, um mich ans Werk zu machen. Doch vor meinem Schreibtisch blieb ich stehen.
Was war das? Vor Schreck klappte mir der Mund auf. Das konnte doch unmöglich wahr sein. Ich blinzelte ein paar mal, um sicher zu gehen, das sich mir dieses Bild wirklich bot.
Meine Zeichnung war ruiniert. Über meinen ganzen Schreibtisch (mein Bild mit einbezogen), erstreckte sich mein gesamtes Farbwasser. Jemand oder etwas musste es umgestoßen haben und damit eine riesen Schweinerei angerichtet haben.
Ich schaute mich in meinem Zimmer um, konnte jedoch nichts ungewöhnliches erkennen. Wie konnte das nur passiert sein? Zwar stand das Fenster speerangelweit offen, doch für einen Windzug wäre der Becher viel zu schwer gewesen. Und Haustiere besaßen wir in diesem großen Haus auch nicht. Höchstens ein paar Ratten in den unterirdischen Keller, indem schon seit Jahren niemand mehr einen Fuß hinein gesetzt hatte.
Also, was war das? Ich entschied mich erst mal die Schweinerei aufzuwischen, bevor ich weiter grübelte und mir den Kopf zerbrach. Wieder ging ich runter in die Küche, um Küchentücher zu holen. Dann ging ich wieder rauf auf mein Zimmer und begann das farbige Wasser aufzuwischen. Mein Bild legte ich zum Trocknen auf das Fensterbrett, vielleicht konnte ich es später ja doch noch retten.
Aus diesem Fehler, meinen Wasserbecher neben dem Bild stehen zu lassen, wenn ich gerade nicht im Zimmer war, habe ich gelernt. Als ich fertig war und die Schweinerei weggewischt hatte, war ich zu deprimiert, um noch einmal mit dem Bild von vorn anzufangen. Das war mir wirklich noch nie passiert und ich würde gerne wissen, was ich heute anders gemacht hatte, als vor ein paar Wochen oder sogar Jahren. Diese Beschäftigung hatte ich schon so lange, dass es einfach ein Muss in meinem Leben war. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich den ersten Traum, in so einer Art wie ich sie jetzt immer hatte, bekam. Ich wusste nur noch, dass mich der erste Traum an irgendetwas erinnert hatte.
An ein Buch, eine Geschichte, die mir meine Mutter früher immer vorgelesen hatte. Doch das war nur Zufall, da ich die Geschichte so oft schon gehört hatte, dass ich vermutlich in meinem Kopf meine eigenen kleinen Bilder gemacht hatte. Und als ich merkte, dass ich immer wieder solche Träume hatte, begann ich sie aufzumalen, um ihre Schönheit nicht zu vergessen.
Und plötzlich kam mir eine Idee. Ich hatte doch sowieso vorgehabt ein Buch zu lesen, wieso also nicht gleich? Ich könnte in die Bibliothek gehen und mir genau dieses Buch heraussuchen, von dem ich einmal geträumt hatte. Das Schwierige dabei war nur, dass ich nicht wusste wie es hieß, geschweige denn, wie es aussah. Es war dick, das war das einzige was ich noch wusste. Aber das konnte mir auch nicht viel weiterhelfen, die meisten Bücher in Omas Regalen waren dicke Wälzer. Und auf einmal wusste ich, wie ich meinen Vormittag verbringen würde.

Ich ging aus meinem Zimmer und die Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Die Bibliothek befand sich am Ende des Ganges und bestand aus einem einzigen, großen Raum. Die Wände waren voll von alten, verstaubten Büchern. In der Mitte des Raumes stand ein runder, kleiner Tisch mit einem gemütlichen Sessel, in dem hatte ich mich immer verkrochen und ein spannendes Buch gelesen, als ich noch klein war.
Doch jetzt las ich meine Bücher lieber draußen, wenn das Wetter gut war oder in dem großen Wohnzimmer vor dem Kamin, auf dem kuscheligen Teppich. Da hatte ich mir ja wirklich etwas vorgenommen, dachte ich, als ich mir den Raum genauer ansah und versuchte zu schätzen, wie viele Bücher das wohl sein mochten. Ich ging zum ersten Regal, das rechts von mir stand und beschloss, mir bei jedem einzelnen Buch die Inhaltsangabe durch zulesen, bis ich etwas gefunden hatte, dass mir bekannt vorkam. Zum Glück kannte ich schon eine Menge Bücher aus dieser Bibliothek und konnte mir so viele Inhaltsangaben sparen zu lesen.

Die Zeit verging wie im Fluge und doch hatte ich nur so wenig geschafft.
Als es am späten Nachmittag ungefähr um vier war, las ich die letzte Inhaltsangabe aus dem zweiten Regal. Das zweite Regal von Fünfzehn. Und bis jetzt hatte ich kein Buch gefunden, das zu der Geschichte von früher gepasst hätte. Glaubte ich zumindest, denn ich wusste ja nicht mehr, um was es darin ging, doch ich dachte, dass es mir bekannt vorkommen würde, wenn ich den Inhalt laß. Zwei von fünfzehn Regalen. Da konnte ich mir ja ausrechnen, wie viele Tage ich in der Bibliothek verbringen werde. Ungefähr eine Woche, wenn ich mich so gut ranhalte wie heute, dachte ich. Natürlich hoffte ich, dass sich das Buch nicht in einer der letzten Regale befand, sondern in einer der nächsten. Vielleicht hielt ich schon morgen das richtige Buch in meinen Händen.
Doch was erwartete ich davon? Auf jeden Fall würde ich es erst einmal lesen, um heraus zu finden, worum es in dieser Geschichte genauer ging. Warum hatte ich mir nicht gemerkt, was meine Mutter mir vorgelesen hatte? War es denn damals überhaupt nicht wichtig für mich gewesen?
Diese Fragen gaben mir noch mehr Ansporn und noch mehr Gründe dieses Buch zu finden. Vielleicht wusste Oma ja was davon oder sie könnte mir ja vielleicht sagen, aus welchem Regal meine Mutter die Bücher genommen hatte, denn ich wusste, dass meine Oma jeden Abend meiner Mutter beim Vorlesen gelauscht hatte. Langsam ging ich aus der Bibliothek und überlegte, was ich jetzt, solange Oma noch nicht da war, machen konnte. Mir fiel auf einmal mein Bild wieder ein. Ob es schon vollständig getrocknet war? Bestimmt, es war ja nur Wasser, aber ob ich es noch retten konnte, war die nächste Frage.

Ich stieg die Stufen hoch und ging in mein Zimmer. Es hatte sich nichts geändert. Das war gut, ich hatte innerlich irgendwie mit Chaos im Zimmer gerechnet, da ich mir immer noch nicht erklären konnte, wie das mit dem Wasserbecher heute morgen passiert war. Ich lief ans offene Fenster, um meine ´´Malerei“ vom Fensterbrett zu nehmen und erschrak.
Das konnte nicht sein, der heutige Tag musste ein Traum sein. Das war zu viel für mich. Ich konnte nur mit großen Augen und offenem Mund auf mein Blatt Papier gucken. Unmöglich. Ich hatte meine angefangene Zeichnung nass und ruiniert auf dem Fensterbrett zurück gelassen, um es vielleicht noch retten zu können.
Trocken war es auf jeden Fall. Doch retten konnte ich es nicht mehr. Mein Bild wurde bereits von irgendjemandem vollendet. Und das merkwürdige dabei war, dass es haargenau wie in meinem Traum aussah und das war sehr ungewöhnlich.
Woher sollte der Jemand wissen, was ich geträumt hatte? Das war unerklärlich und ein Rätsel für mich. Immer noch völlig fassungslos starrte ich auf das Bild. Ich konnte es mir immer noch nicht erklären, wie konnte das nur sein? Bei diesem Tag musste es sich wirklich um einen Traum handeln. Vielleicht half da wirklich ein zwicken, sagte man ja so.
Ich kniff einmal fest in meinen linken Arm und spürte einen stechenden Schmerz. Also war ich hellwach und ich befand mich in keinem Albtraum. Das war alles real. Immer noch sah ich auf das Bild. Das grüne Tal und der Weg, der sich vor mir erstreckte. Das Dorf zu meiner linken und vereinzelt ein paar Häuser, aus dessen Schornsteinen Rauchschwaden empor stiegen. Der blaue, wolkenlose Himmel. Und irgendwie empfand ich in mir eine völlige Ruhe, wie in meinem Traum.
Ich nahm das Blatt in die Hand und sah aus dem Fenster. Dieser Jemand konnte ja nur vom Fenster ins Innere des Hauses gelangt sein, denn alles andere hätte ich mitbekommen. Ich würde nur zu gerne wissen, wer sich die Mühe gemacht hatte und bis in den ersten Stock geklettert war, nur um mein Bild fertig zu malen. Und plötzlich erkannte ich einen eventuellen Zusammenhang. Vielleicht war heute Morgen schon jemand in mein Zimmer geklettert und hatte dann aus versehen den Wasserbecher umgekippt. Dann musste diese Person draußen gewartet haben bis ich wieder aus dem Zimmer war und hat beobachtet, dass ich für einige Zeit in der Bibliothek beschäftigt war. Dann hatte dieser Jemand sich ins Haus geschlichen und wollte den Schaden wieder gut machen. Einen Hacken hatte das ganze aber dennoch. Wer kannte meine Träume oder wusste, was ich malen wollte?
Mein Blick fiel auf meinen Schreibtisch und streifte ein kleines Stück Papier. Meine Skizze. Aber auf ihr war nun wirklich nicht viel zu erkennen, wenn ich selber nicht gewusst hätte was ich geträumt hatte, würde ich aus der Skizze nicht schlau werden.
„Alicia, ich bin wieder zu hause!“,
rief eine vertraute Stimme zu mir rauf. Oma. Sollte ich ihr davon erzählen? Dass jemand hier in meinem Zimmer war? Dieser Jemand konnte doch aber wohl kaum etwas böses wollen, sonst hätte er genug Zeit dafür gehabt. Ich war schließlich die ganze Zeit allein zu Hause und das wusste diese Person. Hätte dieser Jemand etwas böses vorgehabt, hätte er wohl kaum mein Bild zu Ende gemalt und mein Zimmer völlig unberührt zurückgelassen. Ich entschied mich also, Oma nichts zu sagen. Stattdessen fragte ich sie lieber nach dem Buch, das ich heute versucht hatte zu finden.

Ein paar Minuten später stand ich auch schon in der Küche und half Oma dabei, die Einkäufe in den Schränken zu verstauen. Während ich mit dieser Arbeit sehr beschäftigt tat, überlegte ich, wie ich sie am besten nach dem Buch fragte. Es wäre das erste Mal seit Jahren, dass wir über meine Eltern sprechen würden.
Sie vermied das Thema genau wie ich, doch nicht aus dem selben Grund. Ich redete nicht gerne über sie, weil es mir sehr weh tat über jemanden zu sprechen, den ich kaum kannte und es doch eigentlich sollte. Das Schlimme war, dass sie mir so nah standen und trotzdem wusste ich viel zu wenig über sie.
Ich wusste noch, dass ich Oma früher immer gefragt hatte, ob sie noch ein paar Fotos von meinen Eltern besaß, denn eines auf dem ich mit ihnen als kleines Mädchen zu sehen war, erschien mir doch ein wenig mangelhaft. Doch sie hatte immer vom Thema abgelenkt und mir diese Frage und auch manch andere über meine Eltern nie beantwortet.
Der Tod ihrer einzigen Tochter musste sie sehr, sehr hart getroffen haben. Es tat ihr garantiert genauso weh, an sie zu denken, wie mir, da ich nichts über sie wusste. Eigentlich brauchte ich Oma gar nicht erst nach dem Buch fragen, da ich eigentlich schon wusste, was sie sagen beziehungsweiße machen würde. Sie würde ablenken und gar nicht weiter darauf eingehen. Doch irgendetwas in mir sagte, dass ich es wenigstens einmal versuchen sollte. Und so überwand ich mich.
„Oma?“,
„Ja, was ist denn?“.
Sie schaute gleich zu mir und guckte mich fragend an. Doch auf einmal verließ mich der Mut wieder und ich überlegte fieberhaft, wie ich fragen sollte. Sie schaute mich, jetzt wo ich ziemlich nachdenklich aussah, argwöhnisch an.
„Alicia, du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst.“,
sagte sie.
„Na ja, es geht um meine Mutter.“,
stammelte ich. Oma straffte ihre Schultern und hörte auf in ihrem Beutel zu wühlen. Sie schaute mich eindringlich aus ihren graugrünen Augen an.
„Was ist mit deiner Mutter?“,
fragte sie trocken, ohne irgendeine Gefühlsregung.
„Ich wollte fragen, ob du vielleicht weißt, wo das dicke Buch ist, aus dem mir meine Mutter immer vorgelesen hatte? Du weißt schon, als ich noch klein war und wir Abends in der Bibliothek saßen. Du hast den Geschichten genauso gelauscht, wie ich.“
Ich schaute meiner Oma direkt in die Augen und sah etwas darin aufleuchten.
„Was willst du mit dem Buch?“,
entgegnete sie mit einer Gegenfrage. Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich würde es gern lesen.“,
gab ich zu, doch aus irgendeinem Grund wollte ich ihr nichts von meinen Träumen erzählen. Das hatte ich noch nie gemacht, denn ich konnte mir vorstellen, wie sie auf die Bilder unter meinem Bett reagiert hätte. Und wenn ich ihr dann noch erklärt hätte, dass das meine Träume waren, wollte ich lieber nicht wissen, wo sie mich dann hingeschickt hätte.
Die ganze Zeit ließ ich Oma nicht aus den Augen, bis sie mit ihren Schultern zuckte und mit dem Kopf schüttelte.
„Nein, ich weiß nicht wo das Buch ist.“
Oma hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck und aus irgendeinem Grund konnte ich ihr nicht glauben. Doch so schnell gab ich nicht auf.
„Und kannst du dich noch an die Geschichte in diesem Buch erinnern?“,
hakte ich weiter nach. Sie schaute mir forschend in die Augen.
„Warum willst du das alles wissen?“,
fragte sie mich.
„Weil...weil ich vorhin ein wenig über meine Eltern nachgedacht habe und ich hatte ein paar Erinnerungen an sie. Mutter hatte mir Abends aus einem dicken Buch eine Geschichte vorgelesen. Und ich würde es gern einmal in meinen Händen halten.“,
sagte ich und schaute Oma zwischen meinen Wimpern hindurch an.
„Ich kenne diese Geschichte nicht. Nie habe ich deiner Mutter beim Vorlesen zugehört.“
Das reichte.
Jetzt verstand ich, dass sie mich die ganze Zeit anlog. Sie war dabei, als Mutter mir vorlas, sie saß im Schaukelstuhl und hörte ihr genauso gefesselt, von der Geschichte zu, wie ich. Sie war diejenige, die uns danach noch warme Milch und Kekse brachte. Und sie wusste auch, wo sich das Buch befand, da war ich mir ganz sicher. Aber warum wollte sie es mir nicht sagen? Hatte sie Angst, dass ich es nicht verkraften könnte, etwas von meinen verstorbenen Eltern in den Händen zu halten? Oder wollte sie bloß selbst nicht daran erinnert werden?
Egal was es war, ich war sauer. Ich nickte bloß, sagte:
„Schade.“

Ich ging raus. Raus aus diesem Raum, raus aus diesem Haus.
Mein Weg war zielstrebig, denn ich wusste wo ich hin wollte. Dort führte es mich immer zum Nachdenken hin. Auch wenn ich allein sein wollte genoss ich diesen Ort.
Mein Weg führte über einen Pfad durch das Feld, das bei uns angrenzte und verlief durch ein Stück Wald, bis ich den kleinen Bach plätschern hörte. Denn dann bog ich ab und ging durch enges Gestrüpp, um mich daraufhin auf einen umgekippten Baumstamm zu setzen, der genau über dem Bach lag.
Doch ich dachte nicht nur an das Gespräch mit meiner Oma, sondern an den gesamten Tag. Irgendetwas musste heute falsch gelaufen sein, ich kam bloß nicht drauf. An diesem Tag schien alles schief zu laufen, was nur schief laufen konnte. Aber was hatte ich heute anders gemacht als sonst?
Ich war ganz normal aufgestanden, mit meinen gewohnten Träumen. Vielleicht lag es daran, dass heute der erste Ferientag war. Den ganzen Sommer lang konnte ich mich nur mit mir beschäftigen und das machen, was ich wollte. Darauf hatte ich mich schon die ganzen letzten Wochen gefreut.
Ich schaute runter in das fließende Wasser und hing meinen Gedanken nach. Der Baumstamm war hart und heute irgendwie ungemütlich, also beschloss ich noch ein wenig spazieren zu gehen und dann zu meiner Oma zurückzukehren.


Kapitel 2




Mit offenen Augen lag ich in meinem Bett und starrte hoch an die Decke. Oma hatte heute Abend kein einziges Wort mehr mit mir gesprochen und das machte mich nachdenklich. Sie war kein nachtragender Mensch und ich genauso wenig. Sie versucht immer, über alles mit mir zu reden, doch diesmal tat sie es nicht. Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass Oma von diesem Buch wusste, sie hatte sich schließlich selbst verraten. Als sie mich fragte, was ich mit diesem Buch wolle und mir später sagte, dass sie keine von den Geschichten kenne, wurde ich skeptisch. Erst sagte sie, sie hatte nie die Geschichten angehört und dann wusste sie urplötzlich um welches Buch es sich handelte, so klang es jedenfalls. Ich fragte nach einem Buch mit einer Geschichte, doch sie meinte dass sie keine von den Geschichten kenne. Ich würde das Buch finden, da war ich mir ganz sicher und ich würde herausfinden, warum Oma es mir nicht geben wollte. Mit dieser festen Entschlossenheit schloss ich meine Augen und wartete auf einen wunderschönen Traum.

Und den bekam ich auch, er war genauso schön wie all die anderen, die ich hatte. Ich stand an einen Baum gelehnt und schaute auf ein kleines Häuschen, das von Bäumen und Büschen umgeben war. Im Hintergrund konnte ich ein paar Berge erkennen. Doch etwas war anders an diesem Traum, ich kam bloß nicht gleich darauf. Ich fühlte mich nicht sonderlich ruhig und entspannt, obwohl dieser Ort genau das ausstrahlte. Ich schaute mich um und wusste warum es nicht wie in jedem meiner Träume war. Ich war nicht allein. Neben mir stand jemand, doch ich konnte diese Person nicht erkennen. Noch nie war in meinen Träumen ein Mensch oder ein Tier zu sehen, doch diesmal war es anders. Neben mir stand jemand, diese Person war jedoch nur als Schatten zu sehen und ich erkannte nicht, um wen es sich handelte. Eigenartig. Sie bewegte sich noch nicht einmal. Alles war, wie immer, vollkommen ruhig. Bis mich ein Schrillen aus meinem Schlaf riss. Meine Wecker klingelte wie immer pünktlich um acht Uhr. Nachdem ich im Bad war, um zu duschen, mich umgezogen und unten den Frühstückstisch gedeckt hatte, setzte ich mich wie üblich an meinen Schreibtisch und rief mir meinen Traum in Erinnerung. Zuerst malte ich das kleine Häuschen, mit dem roten Dach und dem Rauch, der aus dem Schornstein kam. Dann fing ich an, das grün für die Bäume und die Büsche zu mischen. Als ich mit dem Bild fast fertig war, überlegte ich, was noch fehlte. Ich hatte das Haus, die Bäume, die Büsche, etwas blauen Himmel mit den Bergen im Hintergrund und den kleinen, schmalen Weg gemalt, doch irgendetwas fehlte noch.
„Alicia, kommst du frühstücken?“,
riss mich meine Oma zurück in die Realität.
„Ja, ich komme.“
Ich war mir sicher, dass es mir jetzt so schnell nicht mehr einfallen würde und ging runter in die Küche. Auch jetzt fing Oma immer noch kein Gespräch an und ich überlegte, ob es vielleicht immer noch wegen meiner Frage von gestern zusammenhing. Wie könnte ich sie bloß zum reden bringen? Irgendetwas musste mir doch einfallen.
„Was hast du denn heute so vor?“,
fragte ich. Ok, die Frage war jetzt nicht ganz so originell, aber immerhin reagierte sie darauf, denn sie schaute mir zum ersten mal wieder direkt in die Augen.
„Ich werde heute noch einmal in die Stadt gehen und ein paar Bücher kaufen. Ich habe das Gefühl, dass du alle in der Bibliothek schon durch hast, deshalb werde ich nach ein paar neuen Ausschau halten.“
Ich nickte und nahm mein Brötchen in die Hand, um davon abzubeißen.
„Und was hast du heute vor?“,
fragte sie mich. Ich überlegte, was ich ihr sagen könnte, denn dass ich malen wollte, mochte ich ihr gegenüber nicht erwähnen. Und dass ich das Buch suchen wollte, schon gar nicht, sonst kam sie noch auf die Idee es wegzuschließen, wenn sie das nicht schon längst getan hatte.
„Vielleicht ein bisschen im Wald spazieren gehen oder so, ich habe noch keinen genauen Plan für den heutigen Tag.“
Und das war gelogen, denn den hatte ich. Ich wollte weiter nach dem Buch suchen, aber zuerst mein Bild vollenden, denn es war ja noch nicht ganz fertig. Keine Ahnung was fehlte, aber ich dachte, dass ich das herausfinden würde. Oma nickte bloß und trank von ihrem Tee. Den Rest des Frühstückes verbrachten wir schweigend.

Genau wie gestern räumte ich zuerst den Tisch ab und flitzte danach wieder hoch in mein Zimmer. Die ganze Zeit überlegte ich, was an dem Bild noch fehlte, doch ich kam immer noch nicht darauf. Ich setzte mich an den Tisch, vor meinem Bild und schaute es nachdenklich an. Das Haus, die Bäume und Büsche, im Hintergrund die Berge und etwas Himmel. Alles hatte ich auf das Papier gebracht, doch irgendetwas fehlte noch. Plötzlich stutzte ich. Nein, es fehlte nichts mehr. Das Bild sah genauso aus wie in meinem Traum. Und ich wusste auch, woran das lag. Der schwarze Schatten, den ich in meinem Traum nicht erkennen konnte, war auf meiner Zeichnung mit eingebracht wurden. Aber auf keinen Fall von mir. Ich hatte nie in einem meiner Bilder mit purem Schwarz gearbeitet. Nie. Doch dieser Schatten war mit solch einem Schwarz gemalt wurden. Aber nicht von mir. Blitzschnell drehte ich mich um, doch in meinem Zimmer sah alles unverändert aus. Ich sah zu meinem offenen Fenster rüber und ging dann langsam darauf zu. Draußen war alles so ruhig wie immer. Ein paar Vögel sangen ihre Lieder und es wehte ein leichter Wind. Träumte ich oder warum sah ich meine Bilder vollständig bemalt? Es war einfach unmöglich, dass jemand wusste, was ich träumte. Von meiner Skizze konnte es der jenige diesmal auch nicht haben, denn heute hatte ich keine angefertigt. Und außerdem wusste ich selber noch nicht einmal, was in meinem Bild noch gefehlt hatte. Ich wurde nicht schlauer aus meinem denken und schüttelte den Kopf. Wer war das bloß? Ich ging vom Fenster weg und beschloss jetzt etwas spazieren zu gehen, denn ich hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend, wenn ich noch in diesem Haus blieb, indem vielleicht noch ein verrückter umherirrte. Diese Person musste sich ja irgendwo hier versteckt haben, sie wusste ja was ich hier machte und wann genau sie aus ihrem Versteck raus kommen konnte. Ich band meine langen, gelockten, schwarzen Haare zusammen und ging dann, mit einem mulmigen Gefühl, die Treppe runter. Auch draußen ging es mir nicht viel besser. Warum sollte ich mich auch von einem Fremden aus meinem Haus vertreiben lassen? Vielleicht sollte ich einfach mal im ganzen Haus nach dem Eindringling suchen. Doch ob ich ihn finden würde? Das bezweifelte ich. Aber einen Versuch war es schließlich wert und dass mir dabei etwas passieren konnte, glaubte ich auch nicht. Denn der Jemand hätte es die ganze Zeit schon versuchen können. Also ging ich wieder zurück ins Haus und nach oben in mein Zimmer, denn dort hielt sich diese Person schließlich immer auf. In meinem Zimmer angekommen, schloss ich die Tür hinter mir ab, um es für den Eindringling unmöglich zu machen, einfach so abzuhauen. Dann schloss ich auch noch mein Fenster und jetzt konnte die Suche los gehen.

Zuerst schaute ich in jede Ecke meines Zimmers, dann guckte ich unter mein Bett, doch mehr als Staub konnte ich beim besten Willen nicht erkennen. In meinem Zimmer gab es nicht viele Verstecke. Doch einen Ort gab es noch, den ich noch nicht durchsucht hatte. Meinen Kleiderschrank. Ich ging auf ihn zu und streckte langsam meine Arme nach vorn. Meine Hände umfassten langsam den Türgriff und langsam öffnete ich die zwei Schranktüren.
„Ahh...! Hilfe! Geh runter von mir!“,
schrie ich, als sich etwas blitzschnell aus meinem Schrank auf mich stürzte. Ich fiel unsanft auf den Boden und jemand auf mich drauf.
„Lass mich los! Geh runter!“,
schrie ich und versuchte mich zu wehren.
„Ist ja gut. Ist ja gut. Ich habe nur Spaß gemacht.“
Der Eindringling sah aus wie ein Junge und er ließ tatsächlich von mir ab. Ich rappelte mich ganz schnell auf und entfernte mich ein paar Schritte von ihm weg. Mein Herz klopfte immer noch wild, von dem Schreck. So laut, dass man es vermutlich bis runter ins Dorf hören konnte. Es dauerte eine Weile, bis ich mich gefasst hatte und mir ihn genauer anschauen konnte. Er war kein normaler Junge, daran bestand kein Zweifel. Er sah so anders aus. Er war sehr blass, seine Hautfarbe wirkte beinahe grünlich , doch das konnte auch an seiner Kleidung liegen. Er hatte grün-gelbe Sachen an, die ein wenig an die Märchenfigur Peter Pan erinnerte. Seine Haare waren strubbelig und standen in allen Himmelrichtungen ab und außerdem waren sie grün. Es sah schon fast Türkis aus. Er schaute mich aus großen, grünen Augen an. Sie leuchteten ganz aufgeregt.
„Wer bist du? Und was hast du in meinem Zimmer verloren?“,
schrie ich ihn an und verschränkte meine Arme vor der Brust. Er ließ sich unbeirrt auf mein Bett fallen und machte es sich so richtig gemütlich. Ich konnte ihn nur aus großen Augen verständnislos anschauen.
„Was zum Teufel machst du da?“,
fragte ich wütend und verlor langsam die Beherrschung. Dieser Typ hatte mir noch keine einzige Antwort gegeben.
„Ich setze mich doch nur hin. Jetzt bleib mal auf dem Teppich.“
Ich war entsetzt. Ich sollte auf dem Teppich bleiben? Für wen hielt er sich eigentlich? Immerhin war er hier der unerwünschte Gast, nicht ich.
„Wer bist du?“,
fragte ich ihn noch einmal.
„Ich bin Eyvo, ein Blumenkind.“,
sagte er mit einer Selbstverständlichkeit, dass ich mir dachte, er hatte seine Rolle gut auswendig gelernt. Ich blickte ihn missbilligend an.
„Ja klar, und ich bin Alice aus dem Wunderland.“,
sagte ich und verdrehte die Augen.
„Warum lügst du? Ich weiß, dass du nicht Alice aus dem Wunderland bist, aber ich weiß dass du Alicia heißt und Alice scheint eine Art Abkürzung für deinen Namen zu sein.“,
sagte er und schaute mich fragend an.
„Weiß ich nicht. Niemand nennt mich so. Woher weißt du eigentlich wie ich heiße? Spionierst du mir etwa nach?“,
fragte ich und stemmte meine Arme in die Hüfte.
„Auf einer gewissen Art tue ich das schon. Kommt drauf an, wie du das siehst.“
„Und wieso machst du das?“,
fragte ich ihn, jetzt schon ziemlich genervt von ihm.
„Weil mich jemand geschickt hat.“
„Und wer wäre das?“,
fragte ich desinteressiert.
„Das darf ich dir nicht sagen, sonst bringe ich dich in Gefahr.“
„Ach so, sonst noch was?“
„Du glaubst mir nicht, stimmt´s?“,
fragte er und diese Frage kam mir einfach nur lächerlich vor. Wer glaubte schon einem daher gelaufenem Jungen, dass er ein Blumenkind mit dem gewöhnungsbedürftigen Namen Eyvo war? Ich jedenfalls nicht, das stand fest.
„Nein.“,
sagte ich wahrheitsgemäß.
„Würdest du jetzt bitte verschwinden? Ich habe noch eine Menge vor.“
Er nickte und stand von meinem Bett auf. Dann kniete er sich davor und zog das Schubfach darunter vor.
„Hey, was machst du da?“
„Ich versuche dir nur klar zu machen, dass ich nicht lüge.“
„Da kannst du lange warten. Warum sollte ich einem Einbrecher wie dir vertrauen?“,
fragte ich ihn und brüllte es schon fast heraus.
„Glaub mir, es wäre einfach nur besser für dich und vielleicht wirst du mir eines Tages auch dafür danken.“
„Wieso sollte ich mich bei dir bedanken?“,
fragte ich ihn misstraurig.
„Das wirst du schon noch früh genug erfahren.“
„Was heißt hier früh genug? Du wirst dieses Grundstück hier sofort verlassen!“,
schrie ich ihn an. Mittlerweile hatte er in meinem Schubfach rumgestöbert und schien das gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte.
„Kannst du dich noch an diesen Traum erinnern?“,
fragte er und ich bekam einen dicken Klos im Hals. Woher wusste er, dass das mein Traum war? Ich starrte ihn nur sprachlos an.
„Ich hatte ihn für dich zu Ende gemalt. Aber das war dir noch gar nicht aufgefallen, denn du hattest das Bild dann gleich zur Seite gelegt. Aber ich wette mit dir, dass du dich noch an dieses hier erinnerst.“,
sagte er und hielt es so, dass ich es sehen konnte. Das war das Bild das ich gestern gemalt hatte. Das Bild das von irgendjemandem vollendet wurde.
„Oder das hier.“
Er ging an meinen Schreibtisch und hob das fertige Bild von heute Morgen hoch. Auch das hatte jemand vollendet.
„Du warst das, nicht wahr?“,
bekam ich leise heraus und mein Klos im Hals schien noch größer zu werden.
„Ja, das war ich.“
Seufzend ließ er sich wieder auf mein Bett fallen und schaute mich an.
„Um ehrlich zu sein, habe ich mir dich ganz anders vorgestellt.“
Jetzt sah ich ihn wieder fassungslos an.
„Ach ja? Was hast du denn erwartet, wie ich aussehe?“,
fragte ich ihn. Er schaute mich von oben bis unten an.
„Na ja, so in der Art wie ich. Natürlich mit ein paar unterschieden, du hast ja nicht nur die Gene die ich besitze. In dir steckt noch etwas anderes, aber deine Augen sehen auf jeden Fall so aus wie meine.“
Verwirrt blickte ich ihn an.
„Warum sollte ich so aussehen wie du?“,
fragte ich.
„Na, weil du die gleiche Art von Wesen bist wie ich, mit ein paar Ausnahmen natürlich.“
„Also hast du mich vorhin ja doch angelogen. Und ich soll dir vertrauen?“
Er guckte mich verwundert an.
„Wieso habe ich dich vorhin belogen? Was habe ich denn gesagt?“
„Du hast gerade eben noch behauptet, dass du irgend so ein Blumenkind wärst. Und jetzt hast du zugegeben, dass wir die gleiche Art Wesen sind. Also bist du ein Mensch, genau wie ich.“
Er schaute mich grinsend an.
„Ich habe nie behauptet, dass ich das gleiche bin wie du, sondern, dass du das gleiche bist, was ich bin.“
Jetzt reichte es mir. Dieser Typ versuchte doch ernsthaft mir einzureden, dass ich ein Blumenkind sei, das war völliger Blödsinn.
„Und du verlangst ernsthaft von mir, dass ich dir das abnehme? Darauf kannst du lange warten.“
Er grinste mich an.
„Und warum glaubst du, weshalb ich deine Träume kenne? Und ich sie dir aufmalen konnte? Das alles kann ich nur, weil wir zu einer Art gehören.“
„Keine Ahnung warum du in meinen Kopf gucken kannst und meine Träume siehst. Aber ich bin definitiv kein Blumenkind. Oder wachsen mir vielleicht Pflanzen auf dem Kopf? Also ich sehe keine.“
„Blumenkindern wachsen doch keine Pflanzen auf dem Kopf.“,
sagte er. Ich schaute ihn an.
„Und warum hast du dann grüne Haare?“,
wollte ich wissen.
„Das erfährst du später.“,
antwortete er und schlenderte zum Fenster.
„Und woher willst du, bitte schön, erkannt haben, dass ich eins bin?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Das ist offensichtlich. Bis auf deine Kleidung siehst du uns doch schon ganz ähnlich. Bis auf deine Hautfarbe, die ist so rosa. Aber deine Augen hast du wie wir, deine Träume waren bis vor ein paar Monaten noch die gleichen, denn ich konnte dir ja überhaupt keine neuen schicken, das geht nur bei meines Gleichen. Und nicht zu vergessen, du riechst wie wir.“
Ich setzte mich auf meinen Stuhl und versuchte herauszufinden wie ich ihn los werden könnte.
„Meine Haare sind nicht grün.“,
sagte ich schließlich.
„Ja, aber das liegt auch daran, dass du keine reine Rasse eines Blumenkindes bist.“
„Ah, da kommen wir der Sache schon etwas näher.“,
sagte ich und hoffte, dass er aufgab. Fehlanzeige, ihm fiel noch ein Märchen ein.
„Jetzt hör mir doch erst mal zu. Du hast keine grünen Haare, weil du noch ein anderes Gen in dir trägst.“
„Ah, lass mich raten. Das eines Menschen?“
Ich glaube langsam wurde er wütend, denn er hatte dieses breite Grinsen von vorhin nicht mehr auf dem Gesicht. Vielleicht werde ich ihn ja tatsächlich los, dachte ich.
„Natürlich haben wir auch sehr viele Ähnlichkeiten mit einem Menschen, doch so leid es mir tut, du bist kein normaler Mensch.“
Das war zu viel für mich.
„Los verschwinde. Diese Märchen kannst du jemandem anderen auftischen, aber nicht mir. Verschwinde endlich aus meinem Zimmer! Das meine ich ernst. Verschwinde!“
Er guckte mich traurig an und senkte den Kopf.
„Das meinst du jetzt wohl wirklich ernst?“
„Und ob.“
„Na dann, bis zum nächsten mal.“
„Oh glaub mir, es wird kein nächstes Mal geben.“,
erwiderte ich und öffnete ihm die Tür. Doch anstatt aus meiner Zimmertür zu gehen, ging er auf meinen Kleiderschrank zu, der immer noch offen stand.
„Hey, was machst du denn jetzt schon wieder?“,
schrie ich ihn an und wollte auf ihn zustürzen, doch er sprang in meinen Schrank und war kurze Zeit später, ohne auch nur das kleinste Geräusch zu verursachen, verschwunden. Ich traute meinen Augen nicht. Wohin war er verschwunden? Ich ging langsam auf meinen Schrank zu und blinzelte hinein. Im inneren sah alles wie immer aus. Unten auf dem Schrankboden stapelten sich ein paar Schuhkartons und meine Jacken hingen ordentlich auf der Stange. Ich sah noch etwa genauer hin, konnte aber immer noch nichts außergewöhnliches feststellen. Ich nahm zwei Jacken und schob sie auseinander. Was sich mir hier für ein Bild bot, ließ mich nach Luft schnappen. Ich nahm all meine Jacken, samt Kleiderbügel und warf sie auf den Boden. Das war unglaublich, einfach wunderschön und gruselig zugleich. Auf der einen Seite war es für mich ein Rätsel, wie es dahin gelangen konnte, ohne dass ich das auch nur mitbekommen hatte und auf der anderen Seite war es einfach nur unfassbar, dass so etwas in meinem Schrank existierte.

In dessen inneren befand sich doch tatsächlich ein wunderschönes Bild, das meinen Träumen sehr stark ähnelte. Es waren satte, kräftige Farben und es wurde sehr detailliert gemalt, das erkannte ich auf den ersten Blick. Mir bot sich eine sagenhaft, traumhafte Aussicht auf ein Stück Land. Wie in meinen Träumen, war es in einem Tal, umringt von Wäldern, Feldern und großen, sommergrünen Wiesen. Links von mir befand sich ein Dorf und überall verteil im Tal, befanden sich kleine Häuser. Ich streckte meine Hand instinktiv aus, um das Meisterwerk zu berühren, denn ich war mir zu tausend Prozent sicher, dass das vorher noch nicht da war. Meine Finger waren nur noch ein wenige Millimeter vom Bild entfernt, als ich plötzlich durch ein lautes Geräusch zusammen zuckte. Es klang so, als wäre unten ein Teller in tausend Einzelteile zersprungen. Mein Herz machte einen Aussetzer und pochte mir stark gegen die Rippen. Was war denn jetzt schon wieder passiert? Ich schaute das Bild noch einmal wehmütig an, bis ich beschloss nach unten zu gehen und nach zusehen ,was passiert war. Vielleicht war Oma schon wieder zurück und wollte das Mittagessen vorbereiten. Doch in der Zeit, in der ich gerade mal hier allein war, hätte sie es gerade mal bis zum Dorf schaffen können. Niemals hin und zurück. Und Bücher hätte sie auch niemals so schnell gefunden, sie war nämlich sehr wählerisch, was die Auswahl an Büchern anging. Vielleicht hatte sie sich ja auch entschieden doch nicht ins Dorf zu gehen und wollte mir etwas Gesellschaft leisten. All das ging mir auf dem Weg zur Küche durch den Kopf. In der Küche angekommen wollte ich sie schon begrüßen, bis ich jedoch nicht Oma, sondern diesen Jungen drinnen vorfand. Mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen. War er nicht gerade eben in meinem Schrank verschwunden? Langsam zweifelte ich an mir. Alles schien plötzlich aus dem Ruder zu laufen. Erst meine Träume, dann meine Bilder und jetzt wurde ich diesen Typen nicht mehr los.
„Wie kommst du hierher? Was machst du hier? Ich habe dir doch gesagt du sollst verschwinden.“
Er grinste mich über beide Ohren an.
„Du hast nur gesagt, ich soll aus deinem Zimmer verschwinden. Von diesem Haus war keine Rede.“
Ich konnte einfach nicht glauben, dass er wirklich so frech war und nicht aus diesem Haus gehen wollte.
„Mein Gott, was willst du?“,
fragte ich ihn genervt.
„Na ja weißt du, ich soll dich mit in unser Land nehmen. Kommst du mit?“
Ich schaute ihn verblüfft an und irgendwie schien ich ihm langsam zu glauben, denn nicht jeder konnte einfach so in einem Bild verschwinden. Und das hatte ich schließlich mit eigenen Augen gesehen. Auch wenn ich dabei ein wenig an meiner Intelligenz zweifelte. Auf einmal glaubte ich ihm alles. Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte, ich und ein Blumenkind? Das konnte nun wirklich nicht stimmen.
„Wie meinst du das? Wie stellst du dir das vor? Ich kann doch nicht einfach mit dir mitgehen und meine Oma hier nichtsahnend allein zurück lassen. Sie würde sich schreckliche Sorgen um mich machen.“
„Keine Sorge, sie wird schon wissen, wo du steckst. Ist ja nicht so, dass bei ihr jemand zum ersten Mal das Haus unangekündigt verlässt.“,
sagte er achselzuckend. Ich verstand nicht ganz, auf was er hinaus wollte.
„Wie meinst du das? Hat sie etwa noch jemandem in diesem Haus, von dem ich nichts weiß?“,
fragte ich ihn.
„Nein, nein. Ich bin nur deinetwegen hier. Deine Oma weiß gar nichts von mir. Aber die hatte eine gute Bekannte, die sie so verlassen hatte, wie du es wahrscheinlich gleich tun wirst.“,
sagte er und grinste mich frech an.
„Ach ja? Und was ist, wenn ich überhaupt nicht mit dir mitgehen möchte?“,
fragte ich ihn provokativ.
„Dann werde ich zurückkehren und meine Auftragsgeberin benachrichtigen. Sie wird dich dann entweder, vermutlich, persönlich abholen oder du wirst von ein paar Blumenkindern heimgesucht, die dich etwas unsanft zu uns bringen werden. Die Wahl liegt bei dir.“
„Wie lieb von dir, dass du mich das entscheiden lässt.“,
sagte ich grimmig und ließ mich auf einen Stuhl am Esstisch fallen.
„Und was soll ich da?“,
fragte ich ihn müde. Es überanstrengte mich mit ihm zu reden.
„Keine Ahnung, was sie von dir will. Ich soll dich bloß zu ihr hin begleiten. Früher oder später wärst du sowieso dort gelandet.“
„Ach ja?“
„Ja, durch die ganzen Träume die ich dir in all den Jahren geschickt habe. Irgendwann hätten sie vermutlich von mir verlangt, dir einen Traum zu schicken, indem du gerade auf ein Bild schaust.“
Ich guckte ihn verwirrt an.
„Auf ein Bild?“
Er nickte.
„Also lass mich das noch mal alles zusammenfassen. Du gehst in meinen Kopf rein und gibst mir die Träume die ich habe?“
Er schüttelte den Kopf.
„Nicht ganz. Ich gehe nicht in deinen Kopf und gebe dir Träume. Ich war immer noch, da wo ich herkomme und habe dir diese Bilder geschickt, die ich vor meinen Augen hatte.“
„Also hast du das alles schon mit eigenen Augen gesehen?“,
fragte ich ihn fasziniert.
„Ja, ich sollte dir Bilder aus unserem Land schicken, damit du irgendwann den Drang hast, unbedingt einmal dort hin zu wollen. Vielleicht ist dir ja schon mal aufgefallen, dass deine Träume nie irgendwelche Geräusche oder Tiere und Menschen hatten. Das liegt daran, das ich dir nur das überbringen kann, was ich sehe. Ich kann zwar Menschen und Tiere sehen, doch ich kann sie aus irgendeinem Grund nicht mitteilen. Das hat mich schon eine Zeit lang total umgehauen, doch mit der Zeit habe ich mich damit zufrieden gegeben. Und das Gute an meiner Gabe ist, dass du die Bilder immer so detailliert siehst, wie ich. Außerdem kann ich dir, wann immer ich will, diese Bilder vor dein inneres Auge rufen. Nur deshalb konntest du all deine Träume so wahrheitsgetreu aufmalen und erinnerst dich ständig wieder an sie.“
Ich blieb stumm. Was sollte ich auch schon groß dazu sagen? Oh wie schön, dass du mir wunderschöne Bilder gezeigt hast? Nein, das konnte ich nicht sagen. Ich kam mir in diesem Moment sehr sehr leer vor. Also waren das nie meine Träume gewesen. Nie habe ich das gesehen. Ich war deprimiert und am Boden zerstört. Und ich dachte meine Träume stammten aus einem Buch. Ich habe immer daran festgehalten, dass ich wenigstens noch etwas von meiner Mutter wusste, doch ich hatte mir all die Jahre wahrscheinlich selbst etwas vorgemacht. Und mir blieb nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Ich muss nachschauen, ob dieses Buch wirklich nicht existiert.
„Können wir das ganze vielleicht etwas verschieben? Ich muss noch etwas sehr wichtiges nachsehen.“,
fragte ich und erwartete eigentlich gar keine Antwort, da es von mir eine beschlossene Sache war.
„Was gedenkst du denn, wie lange es dauern wird?“,
fragte er mich.
„Ich denke höchstens eine Woche. Wenn ich Glück habe und ich es noch eher finde, dann früher.“,
sagte ich.
„Kann das nicht warten? Es ist ja nicht so, dass du nie wieder zurück kommen kannst.“
„Nein, es kann nicht warten. Es ist für mich von sehr großer Bedeutung.“,
entgegnete ich und stand auch schon auf, um mich auf den Weg in die Bibliothek zu machen.
„Kommst du mit?“,
fragte ich und schaute ihn auch gleichzeitig nachdenklich an.
„Sag mal, wie heißt du eigentlich wirklich?“
„Eyvo.“
Nachdenklich guckte ich ihn an. Dieser Name kam mir sehr ungewöhnlich vor.
„Und ja, ich komme mit. Wo willst du denn hin?“,
fragte er mich.
„In die Bibliothek, ich suche ein Buch, dass mir meine Mutter früher vielleicht immer vorgelesen hatte.“
„Aha und wie heißt es?“
Ich schaute ihn an.
„Keine Ahnung, ich weiß nur, dass es ziemlich dick gewesen war.“
„Aha, dann lass uns mal suchen. Umso schneller wir es finden, desto schneller können wir verschwinden.“
Er marschierte an mir vorbei und ich schaute ihm hinterher.
„Hast du es immer so eilig?“,
fragte ich Eyvo und ging ihm hinterher auf den Flur. Wenig später bogen wir beide in die Bibliothek ein.
„Nein, nicht immer. Ich fühle mich nur irgendwie nicht wohl hier.“,
gab er zu und blieb an der Tür stehen.
„Das ist dein Ernst? Hier gibt es ja Hunderte von dicken Büchern. Wie willst du denn ausgerechnet das eine hier finden?“,
fragte er entgeistert und ich zuckte bloß mit den Schultern.
„Ich lese mir einfach jede Inhaltsangabe durch, bis mir die eine Geschichte bekannt vorkommt. Aber ich kann viele Bücher schon ausschließen, weil ich regelmäßig lese. Und es gibt noch eine gute Nachricht. Ich bin bei den ersten beiden Regalen schon fertig mit suchen und dort war es leider nicht mit dabei.“,
fügte ich noch leise hinzu. Eyvo schaute sich um und es sah so aus, als verlasse ihn der Mut!.
„Du hilfst mir doch noch, oder?“,
fragte ich ihn und schaute ihn flehend an.
„Klar, ich hab doch sonst nichts besseres zu tun.“,
sagte er und ging rüber zum dritten Regal. Er zog das erstbeste Buch heraus und hielt plötzlich inne.
„Nach was suche ich denn eigentlich?“,
fragte er mich auf einmal.
„Nach einem Buch, was sonst?“,
sagte ich und verdrehte die Augen.
„Das ist mir mittlerweile auch schon klar geworden. Ich meinte nur, woher weiß ich das ich die richtige Inhaltsangabe gefunden habe?“,
fragte er und hielt das Buch in die Höhe.
„Na ja, ich weiß nicht so genau. Als die Träume bei mir anfingen, habe ich sofort an die Geschichte gedacht, die mir meine Mutter früher vorgelesen hatte. Ich glaubte, dass ich von dem Buch geträumt hatte.“
„Aber ich hab dir doch vorhin erklärt, dass ich dir die Tr....“
„Ja, ich weiß, aber es erinnert mich trotzdem an meine Mutter.“
„Gut, also erinnert dich das Buch an die Träume, die ich dir geschickt habe.“
„Genau.“,
bestätigte ich seine Überlegung.
„Aber das heißt doch, dass ich dieses Buch kennen müsste oder?“,
überlegte er weiter.
„Keine Ahnung, ich weiß nicht mehr um was es sich handelte.“
Und ging zum dritten Regal und stellte mich zu ihm.
„Wir sollten anfangen mit suchen, bevor meine Oma wieder nach Hause kommt.“
„Gut, aber irgendwie glaube ich nicht, dass wir dieses Buch finden werden. Ich meine eine Inhaltsangabe beschreibt doch bestimmt keine schöne Landschaft, sondern um was es sich in dem Buch handelt.“
Ich schaute ihn nachdenklich an und auf einmal war mir ganz elend zu mute.
„Du hast ja recht. Vielleicht habe ich mich auch nur in irgendetwas hineingesteigert.“
Ich ging in die Mitte des großen Raumes und ließ mich in den großen, gemütlichen Sessel fallen. Wie konnte ich nur so dumm sein und glauben, dass ich dieses Buch finden würde? Ich hatte doch nur ein paar Bilder im Kopf, die noch nicht mal mir gehört haben, sondern aus einem anderen Kopf stammten. Es waren nicht meine Träume und doch erinnerten sie mich an dieses Buch. Aber warum? Ich glaube nicht dass Eyvo genau das gleiche Buch kennt, das ich von meiner Mutter vorgelesen bekommen habe. Wie sollte ich mit ein paar Bildern im Kopf ein Buch, mittels Inhaltsangabe, finden?
„Was hast du denn?“,
fragte mich Eyvo und kam zu mir rüber. Er kniete sich vor mich hin und schaute mich mit seinen großen, grünen Augen an.
„Ach nichts. Du hast mir bloß die Augen geöffnet. Ich kann das Buch gar nicht finden, das ist mir jetzt klar geworden.“,
sagte ich und stützte mich vor und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
„Klar können wir es finden. Das gute an der ganzen Sache ist doch, dass ich ganz genau weiß wie deine Träume aussahen und ich dir somit richtig gut helfen kann.“
„Du meinst deine Träume.“
verbesserte ich ihn und schaute ihn wieder an. Er grinste breit und zuckte mit den Schulter.
„Ja, ich dachte an meine Träume.“,
gab er zu. Ich grinste zurück und holte einmal tief Luft.
„Ok, dann fangen wir mal an.“
Zusammen liefen wir zu Regal drei und lasen uns die ersten Inhaltsangaben durch.

Wir bemerkten gar nicht, wie schnell die Zeit verging. Doch als plötzlich mein Magen knurrte, überkam mich der Hunger.
„Wie spät haben wir es denn schon?“,
fragte ich Eyvo. Er schaute von einem Buch, das er in der Hand hielt auf und guckte mich verwirrt an. Ich seufzte und schaute aus dem Fenster. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, doch die Mittagszeit war eindeutig schon vorüber.
„Hast du Hunger?“,
fragte ich ihn und er nickte.
„Und ein Glas Milch könnte ich auch noch vertragen.“
Gemeinsam machten wir uns auf den Weg in die Küche.
„Eigentlich müsste Oma auch jeden Augenblick zurück sein.“
„Es wäre nicht gut, wenn sie sehen würde, dass ich hier bin.“,
sagte Eyvo und ich guckte in fragend an.
„Wieso? Ich kann doch sagen, dass ich jemand neues kennen gelernt habe und dass du mich heute besuchen gekommen bist.“
Mittlerweile waren wir in der Küche angekommen und ich holte zwei Gläser aus dem Schrank, die ich dann mit Milch füllte.
„Das ist nicht so einfach wie du denkst. Wir beide unterscheiden uns doch in wesentlichen Merkmalen und diese wird deine Oma ganz bestimmt auch sehen. Selbst du hast mich von oben bis unten verächtlich angeschaut. Was soll dann deine Oma von mir denken, wenn sie mich sieht?“,
da hatte er Recht. Oma würde tausend Fragen stellen, auf die ich gar keine Antwort wüsste. Ich stellte die Gläser auf den Tisch und überlegte, was wir essen könnten.
„Aber fang jetzt bitte nicht an zu kochen. Etwas kleines reicht mir auch. So großen Hunger habe ich auch wieder nicht.“,
sagte Eyvo und ich schaute im Küchenschrank nach, was wir denn kleines für zwischendurch hatten.
„Möchtest du Kekse und ein Stück Kuchen?“,
fragte ich ihn und er nickte wieder. Er half mir, den Tisch zu decken, und wir setzten uns dann an diesen. Gleich darauf machten wir uns über den Kuchen her. Dann fiel mir ganz urplötzlich auf, dass ich so gut wie gar nichts über ihn wusste. Ok, er war ein Blumenkind, was auch immer das sein mochte, aber mehr wusste ich auch nicht.
„Sag mal, wie hast du es geschafft durch dieses Bild in meinem Schrank zu gehen? Und seit wann ist dieses Bild überhaupt da? Ich kann mich nicht erinnern es jemals dort gesehen zu haben.“
Eyvo grinste.
„Das Bild ist eigentlich schon immer dort, doch du kannst es erst sehen, wenn es von jemandem benutzt wurde. Das erste Mal zu dir, kam ich schon vor drei Tagen, seitdem hättest du es schon sehen können.“
Ich dachte kurz nach.
„Und wie kannst du da durch gehen? Ist das irgendein Zauber?“,
jetzt lachte er und es war das erste Mal, dass er so laut war.
„Auf bestimmte Weise scheint es schon ein Zauber zu sein, aber jeder könnte durch dieses Bild gehen. Es hat nichts mit mir zu tun.“
Ich staunte und schaute ihn mit großen Augen an.
„Also könnte ich auch dort durch gehen?“,
fragte ich ihn erwartungsvoll.
„Klar, was denkst du denn wie wir sonst in mein Land gelangen sollen?“,
meine Augen wurden noch großer. Darüber hatte ich ehrlich gesagt noch gar nicht nachgedacht.
„Und wie sieht es in deinem Land eigentlich aus?“,
fragte ich ihn voller Neugier. Er guckte mich bloß erstaunt an.
„Aber das weißt du doch schon.“
Ich schaute ihn an. Und nach einer langen Überlegung dämmerte es mir.
„Du meinst die Träume von dir?“,
Eyvo nickte. Also gab es doch ein Land, das so friedlich und wunderschön wie in meinen (bzw. Eyvos) Träumen war. Ich konnte es kaum glauben.
„Das muss ich unbedingt sehen. Ich muss da unbedingt hin.“,
sagte ich und stand auf. Eyvo blieb der Mund offen stehen und er schaute mich erstaunt an.
„Aber wir wollten doch das Buch noch suchen. Und außerdem warst du vorhin noch total dagegen deine Oma einfach so zu verlassen.“
Ich setzte mich langsam wieder hin und schaute in mein Glas mit Milch. Ich dachte nach. Es gab irgendeinen Zusammenhang, ich kam bloß nicht drauf, welcher es war. Ich trank von meiner Milch und nahm mir einen Keks. Eyvo tat es mir gleich.
„Über was denkst du denn gerade nach?“,
fragte er mich. Ich blickte auf und schaute ihn an.
„Es gibt irgendeinen Zusammenhang und ich komm nicht drauf, was es ist. Ich übersehe hier irgendetwas wesentliches.“
Eyvo nickte kurz und schaute sich dann in der Küche um.
„Ist das Haus nicht ein wenig groß für zwei Personen?“,
fragte er mich auf einmal. Ich blickte wieder auf und schaute in seine fragenden Augen.
„Meine Mutter und mein Vater haben hier früher mit gewohnt.“
Er guckte mich an.
„Und jetzt sind sie umgezogen?“,
fragte er.
„Nein, sie sind verstorben.“,
gab ich als knappe Antwort.
„Alle beide?“
Er ließ einfach nicht locker.
„Ja, bei einem Autounfall. Meine Oma ist die einzige, die ich noch habe und ich bin froh sie zu haben, denn sie hat sich all die Jahre gut um mich gekümmert.“,
sagte ich und stand auf. Ich trank mein Glas Milch im stehen leer und stellte es in den Abwasch.
„Bist du fertig?“,
fragte ich ihn. Er nickte und ich machte Anstalten sein Geschirr wegzuräumen.
„Lass nur, ich mach das schon.“
Eyvo nahm sein Glas und stellte es auf den Teller. Dann nahm er ihn und die Keksdose in die Hände und brachte sie auf die Anrichte. Das Geschirr stellte er mit in die Spüle und die Keksdose schloss er.
„Wo kommt die Dose denn hin?“,
fragte er mich und ich zeigte auf den Schrank neben ihn. Er verstaute die Kekse und drehte sich zu mir um.
„So, wollen wir weiter suchen gehen?“
„Ich weiß nicht, meine Oma müsste doch jeden Augenblick kommen und wenn sie dich sieht dann....“
Ich brauchte den Satz gar nicht zu beenden, er wusste worauf ich hinaus wollte.
„Ok, ich hab verstanden.“
„Gehen wir am besten wieder hoch in mein Zimmer, da kannst du dich immer noch im Schrank verstecken, wenn meine Oma rauf kommt.“
Er nickte und wir machten uns auf den Weg nach oben.

Hinter uns schloss ich die Tür sorgfältig ab, damit sie uns gar nicht erst überraschen konnte und Eyvo Zeit hatte sich zu verstecken. Eyvo machte es sich wieder auf meinem Bett bequem und ich setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl. Dabei fiel mein Blick auf den offenen Kleiderschrank und ich stand wieder auf, um hinein zuschauen. Meine Sachen waren immer noch zur Seite geschoben und ein paar auf dem Boden davor zerstreut. Sie gaben den Blick auf das wunderschöne Bild frei.
„Und so sieht es tatsächlich in deinem Land aus?“,
fragte ich ihn.
„Jap, genauso. Außer die Tiere und Menschen fehlen, aber dass habe ich dir ja schon erklärt.“ Ich nickte und schaute ihn an.
„Was glaubst du, warum du das nicht mitschicken kannst?“,
fragte ich ihn und er zuckte nur mit den Achseln.
„Meine Eltern haben gesagt, dass es vielleicht noch entwickelt werden muss, aber dass glaube ich nicht. Alle anderen in meinem Alter haben ihre Gaben schon vollständig. Ich glaube eher, dass es einfach nur meine Fähigkeit ist.“
„Haben denn alle in deinem Land solche Gaben?“
„Nein, nicht alle. Etwas weniger als die Hälfte besitzen eine und die sind vollkommen unterschiedlich. Einige sind gebrauchbar andere wiederum nicht.“
Er zuckte mit den Schultern.
„Und sehen alle so aus wie du?“,
fragte ich neugierig nach.
„Wenn du die grünen Haare und Augen meinst, ja. Und eine sehr helle Haut haben wir auch. Aber es gibt auch andere Wesen in unserem Land. Zum Beispiel die Erdbewohner. Sie leben unter der Erde und kommen nur gelegentlich mal an die Oberfläche. Dann noch die Baumkinder.“
„Lass mich raten.“,
fiel ich ihm ins Wort.
„Sie leben auf Bäumen?“
„Nein, nicht direkt, sie schlafen nur dort und holen ihre Kraft von den Bäumen. Und ein paar andere Arten gibt es auch noch, dass sind dann Mischlinge, genau wie du.“,
sagte er so ganz beiläufig.
„Und was für eine Art Mischling bin ich?“,
fragte ich jetzt vorsichtig.
„Na, das ist doch klar. Du bist halb Blumenkind halb Mensch.“,
gab er lächelnd zurück. Ich nickte bloß, war doch klar. Was hätte ich sonst anderes sein sollen? Ich setzte mich wieder zurück auf meinen Stuhl und durchdachte noch einmal alles. Ich hatte etwas vergessen, ich wusste bloß nicht was? Aber ich fühlte dass es in greifbarer Nähe lag.
„Was denkst du denn schon wieder nach?“,
fragte mich Eyvo.
„Ach, gar nichts.“
Ich schenkte ihm ein lächeln und blickte aus dem Fenster. Die Sonne stand immer noch hoch am Himmel und ich schätze, dass es ungefähr um zwei Uhr war. Ich schaute auf mein kleines Nachtschränkchen neben meinem Bett und stellte fest, dass es schon eine Stunde später war, als ich gedacht hatte. Was machte Oma bloß so lange unterwegs? Sie müsste doch schon längst wieder zu hause sein, oder fand sie etwa keine Bücher mehr? Vielleicht hatte sie aber auch jemanden getroffen und ist noch ein Kaffee trinken gegangen. Vielleicht mit ihrer Freundin, mit der sie sogar schon hier auf die Schule gegangen war. Die beiden waren unzertrennlich. Sie sind schon Jahrzehnte miteinander befreundet und ich staunte immer wieder, wie stark doch so eine Freundschaft sein konnte. Eine beste Freundin besaß ich nicht. Ich hatte nur ein paar Klassenkameraden, mit denen ich mich sehr gut verstand. Manchmal war ich auch mit ein paar von ihnen Picknicken gegangen oder wir sind zum See runter um zu baden, aber von niemanden dieser Leute könnte ich behaupten, dass das ein echt guter Freund oder eine gute Freundin für mich wäre. Ich weiß selbst nicht wieso. Entweder war ich zu wählerisch, was ich aber nicht glaubte oder ich war einfach nur anders. Und ich tippte eher auf zweiteres, denn niemand hatte auch nur ansatzweise das Hobby zu malen oder zu lesen. Ich war ein Mensch der viel nachdachte und alleine sein wollte. Die anderen waren immer in kleinen Gruppen und stellten ärger im Dorf an oder fuhren in die Stadt, in mehrere Kilometer von hier entfernt war, weil es ihnen hier einfach zu langweilig war. Mir gefiel es hier. Es war ruhig und es gab viele Orte, an denen man einfach nur allein sein und nachdenken konnte.
„Alicia, ich bin wieder zu hause!“,
der Ruf brachte mich blitzartig aus meinen Gedanken. Vor Schreck machte mein Herz einen heftigen Satz und ich blickte Eyvo ängstlich an.
„Keine Sorge, ich bin schon weg.“
Und mit diesem Satz begab er sich zu meinem Kleiderschrank.
„Warte.“
Ich zog ihm am Arm zurück. Er drehte sich zu mir herum und schaute mich überrascht an.
„Wirst du wieder kommen?“,
fragte ich ihn und plötzlich hatte ich angst, dass ich ihn jetzt verlieren könnte. Ihn und die schönen Träume. Ich hatte angst, dass das alles ,was ich heute durch gemacht hatte, doch nur ein Traum war und ich gleich aufwachen würde. Und das wollte ich nicht. Komisch, vor nicht all zu langer Zeit noch, wollte, ich dass er sich nie mehr blicken lies. Und jetzt?
„Ja klar werde ich wieder kommen. Du wirst schon sehen ich bin nicht lange fort.“
Und mit diesen Worten machte er sich seinen Arm wieder frei und hüpfte in das Bild. Ich schaute ihm hinterher. Doch schon bald war nur noch das Bild zu sehen.
„Alicia? Bist du da?“,
rief Oma nach oben und ich machte mich auf den Weg zu ihr nach unten.

„Ah, du bist ja doch da. Hilfst du mir mit auspacken?“,
ich nickte und machte mich an die Einkaufe. Ich verstaute sie in den Regalen, Schränken und in der Essenskammer. Oma saß schon mit einer heißen Tasse Tee am Tisch und beobachtete mich.
„So, ich glaube das war alles.“,
sagte ich seufzend und setzte mich mit zu Oma an den Tisch. Sie blickte jetzt auf den Tisch und schürzte ihre Lippen.
„Hattest du heute Besuch?“,
fragte sie mich und legte ihre Hände um ihre heiße Tasse. Mist, wieso wusste sie immer alles?
„Warum?“,
fragte ich mit einer Gegenfrage.
„Weil in der Spüle zwei Gläser und zwei Teller stehen.“
Ich schaute auf meine Hände und wurde nervös. Verdammt, warum hatte ich daran nicht gedacht? Was sagte ich denn jetzt bloß? Ich konnte ihr ja wohl kaum sagen, dass da so ein Typ aus meinem Kleiderschrank gesprungen kam.
„Nun, ich höre.“
Ich beschloss ihr eine Geschichte zu erzählen, die so ziemlich der Wahrheit entsprach.
„Na ja, es war so, ich habe oben in meinem Zimmer gesessen und gelesen, da kam von hier unten ein lautes Geräusch und ich ging runter, um nach zu schauen. Dann sah ich diesen Jungen und versuchte ihn hier raus zu bekommen, doch er wollte nicht gehen. Dann hat er mir geholfen etwas zu suchen und hat mir ein wenig über sich erzählt. Ich fand ihn ganz nett und habe ihn dann noch zum Kaffee eingeladen. Danach ist er gegangen.“
Oma schaute von ihrer Tasse auf und aus dem Fenster.
„Und was wollte er hier?“,
hakte sie nach.
„Keine Ahnung, er hat gemeint, dass er etwas gesucht hat. Und ich habe dann auch gar nicht mehr weiter nach gefragt.“
Sie nickte. Das schien ihr wohl als Antwort zu genügen.
„Und was hast du so lange im Dorf gemacht?“,
fragte ich sie, um vom Thema abzulenken.
„Ich habe eingekauft und nach Büchern Ausschau gehalten.“
„Und hast du welche gefunden?“,
fragte ich nach und hoffte, dass sie sich ablenken ließ.
„Ja, aber bloß zwei. Das bedeutet, dass ich bald mal in die Stadt fahren werde.“
Ich nickte und schaute aus dem Fenster. Oma wühlte ihn ihrem Beutel und reichte mir die zwei Bücher.
„Schau mal, ob sie dir gefallen.“
Ich nahm die Bücher entgegen und stand auf. Das war die beste Gelegenheit beschäftigt zu tun. Ich ging rauf auf mein Zimmer und las mir die Inhaltsangaben durch. Ja, es war schon wieder eine Inhaltsangabe, als hätte ich nicht schon genug davon. Ich setzte mich auf mein Bett und legte die Bücher auf mein Nachtschränkchen. Irgendwie kam mir das Zimmer auf einmal sehr leer vor. Ich konnte es einfach nicht glauben, aber anscheinend vermisste ich sein freches Grinsen und seine Art mit mir zu reden. Ich dachte an den Morgen zurück und spielte den ganzen Tag in meinem Kopf noch einmal ab. Es war wie ein Traum. Es schien schon so lange her zu sein. Nein, das war kein Traum. Eyvo war echt. Und seine Welt existierte. Zum Beweis stellte ich mich vor meinen Kleiderschrank und öffnete ihn. Und tatsächlich. Das Bild war da. Unverändert und in seiner schönsten Pracht. Zufrieden schloss ich die Türen wieder und ging an mein Fenster. Ich schaute hinaus, die Sonne neigte sich dem Horizont zu, doch es war immer noch wohlig warm. Vielleicht sollte ich draußen noch ein wenig spazieren gehen bevor es dunkel wird. Ich ging runter, zog mir die Schuhe an und sagte meiner Oma Bescheid. Dann ging ich raus in Richtung Wald, doch dieses Mal hatte ich keine Lust mich wieder auf den umgekippten Baumstamm zu setzen. Ich wollte einfach ein bisschen umher laufen. Und vor allem nachdenken.

Ich hatte immer noch nicht vergessen, dass mir irgendetwas entgangen war. Etwas das praktisch wirklich zum greifen nah lag. Jetzt befand ich mich auf einem kleinen Hügel, von wo aus ich das ganze Dorf, und seine Umgebung, sehen konnte. Es sah wirklich traumhaft aus, denn im Hintergrund ging langsam die Sonne unter und der Himmel hatte eine
rot-violette Farbe angenommen. Das bedeutet, dass morgen wieder so ein herrlicher Tag sein würde. Der Anblick war so schön, dass ich mich doch hinsetzte und zusehen wollte, wie die Sonne unterging. Ich setzte mich auf einen kleinen Fels, der auf dem höchsten Punkt des Hügels lag und bestaunte das Bild. Von hier aus konnte man sogar die Bauernhöfe sehen, die etwas abseits von dem Dorf lagen. Ich versank wieder in meinen Gedanken und konzentrierte mich auf den heutigen Tagesablauf. Was wollte mir bloß nicht in den Sinn kommen? Ich schaute abwechselnd das Dorf und dann die Sonne an. Mit meinen Gedanken war ich schon sehr nah dran, das spürte ich. Ich konzentrierte mich weiter und plötzlich kam mir die Erleuchtung. Aber natürlich, das Buch und die Träume. Die Träume waren der Auslöser für das Buch. Erst nach Eyvos Bildern hatte ich mich wieder an meine Mutter erinnert und wusste, dass sie mir aus einem dicken Buch vorgelesen hatte. Und durch diese Bilder wusste ich auch, um was es in dem Buch ging. Oder zumindest wie es früher in meinem Kopf aussah. Das hieß, dass Eyvo mir Bilder gezeigt hatte, die aus dem Buch waren. Das war wahrscheinlich unbewusst, aber das war mir egal. Also hatte meine Mutter mir aus einem Buch vorgelesen, dass genau dem Land von Eyvo entsprach. Ich musste ihn unbedingt wieder sehen und ihm das erzählen. Mir ging es auf einmal richtig gut, denn ich wusste dass ich es endlich herausgefunden hatte. Ich hatte endlich herausgefunden, was mich den ganzen Tag schon so quälte. Ich schaute wieder zum Himmel auf und musste feststellen, dass der Himmel ins dunklere blau überging. Die Sonne war am Horizont verschwunden, doch der Himmel war hinten immer noch rot violett. Ich machte mich wieder auf den Heimweg und wollte danach ganz schnell einschlafen, denn ich hoffte, dass Eyvo morgen wieder kommen würde.


Kapitel 3




Doch er kam nicht. Ich hockte den ganzen Tag vor meinem Kleiderschrank und wartete bis er sich öffnete und ein Gesicht mit seinem grinsenden hindurch schob, doch nichts passierte. Er hatte mir doch versprochen wieder zu kommen. Beim Frühstück und beim Mittagessen nahm ich schweigend meine Mahlzeit zu mir und Oma war auch ganz tief in ihren Gedanken versunken. Was sollte ich den heutigen Tag nur tun? Ich konnte noch nicht mal in die Bibliothek und das Buch weiter suchen, weil Oma mich sonst fragen würde was ich da mache und ich wollte ihr davon nichts mehr erzählen. Sie war ja sowieso nicht so gut darauf zu sprechen. Und malen konnte ich heute auch vergessen, denn ich hatte einen Traumlosen Schlaf. Als hätte Eyvo mir alles weggenommen was mir lieb war. Ich hatte noch nicht mal Lust zu lesen, weil ich ständig hinüber zu meinem Schrank schielte und hoffte er würde jeden Moment herauskommen, bis er es dann doch nicht tat und ich musste noch mal von vorn anfangen zu lesen. Beim dritten Mal hatte ich es dann aufgegeben.
So hockte ich also den lieben langen Tag in meinem Zimmer und wollte mich nicht wegbewegen. Irgendwann legte ich mich auf mein Bett, schaute aus meinem Fenster und träumte vor mich hin. Bald war Abendbrotzeit und Eyvo hat sich immer noch nicht blicken lassen. Was versteht er denn unter bald wieder kommen? Eine Woche? Ein Monat? Oder sogar ein Jahr? Nein, das würde er nicht tun, schließlich musste er mich doch mit in sein Land nehmen. Aber was ist, wenn dann diese anderen Wesen kommen und mich mit Gewalt mitschleppen? Ich zerbrach mir den Kopf vor wilder Gedanken. Damit musste jetzt Schluss sein. Ich beschloss runter in die Küche zu gehen und für meine Oma und mich etwas schönes aufwendiges zum Abendbrot zu kochen, damit ich ja von meinen absurden Gedanken weg kam. Ich ging runter in die Küche und schaute nach was wir da hatten. Eigentlich alles was wir so aßen. Dann holte ich mir das dicke Kochbuch aus dem Schrank und blätterte drinnen umher, bis ich etwas gefunden hatte, dass aufwendig und lecker zugleich aussah. Ich besorgte mir alle Zutaten aus der Speisekammer und aus dem Kühlschrank und machte mich ans Kochen. Zweimal wäre ich beinahe verzweifelt, weil ich einfach nicht verstand was die in dem Kochbuch meinten und ich war kurz davor aufzugeben. Doch dann dachte ich noch einmal an die Langeweile, die mich plagen würde, wenn ich jetzt aufhören würde und machte mich weiter ans Werk. Nach gut zwei Stunden war ich dann tatsächlich fertig mit zubereiten, es musste nur noch alles Kochen und serviert werden. Ich hoffte nur, dass es dann auch schmeckt, dachte ich mir noch im stillen. Sonst wäre die ganze Arbeit umsonst gewesen. Das Kochen nahm noch mal eine dreiviertel Stunde in Anspruch und es war jetzt wirklich Abendbrotzeit. Ich deckte den Tisch und servierte das Mahl darauf. Dann holte ich Oma zum essen. Als sie in die Küche trat, fielen ihr fast die Augen aus dem Kopf.
„Warum hast du denn gekocht? Brot hätte es doch auch getan.“,
sagte sie und ich zuckte bloß mit den Schultern.
„Ich hatte Lust ein wenig zu kochen und außerdem hatte ich sowieso Langweile.“,
sagte ich ausweichend und setzte mich an den gedeckten Tisch.
Nach dem Aufwasch ging ich wieder hoch in mein Zimmer und ließ mich müde auf mein Bett fallen. Das Essen war ausgezeichnet, was ich nun wirklich nicht erwartet hatte und ich hatte so doll hineingelangt, dass mein Bauch wehtat und sich die Müdigkeit bei mir bemerkbar machte. Ich fühlte mich elend, voll und um einiges schwerer. Ich ging hinüber ins Bad, um zu duschen, zog mich um und fiel der Länge nach ins Bett. Kurz darauf war ich auch schon eingeschlafen.
Ich wachte mitten in der Nacht, durch irgendein Geräusch, wieder auf und lauschte angestrengt. Da war nichts, vielleicht nur Einbildung. Ich legte mich zurück und versuchte wieder einzuschlafen, aber ich wollte einfach nicht wieder müde werden. Ich fühlte mich irgendwie beobachtet. Ich suchte mein Zimmer ab, konnte jedoch nichts ungewöhnliches entdecken. Ich blickte auf meinen Kleiderschrank. Er war unverändert, die Türen waren offen und die Sachen darin zur Seite geschoben. Moment mal. Die Türen waren offen. Ich hatte sie doch geschlossen, damit Oma nichts sehen konnte. Ich stand langsam und darauf bedacht keinen Laut von mir zu geben auf und ging langsam auf meinen Kleiderschrank zu. Ich streckte meine Hand aus und ergriff einen der Türgriffe. Ich machte noch einen kleinen Schritt nach vorn und blickte hinein. Ich musste fast anfangen zu lachen, denn was ich hier vorfand war wirklich komisch. Meine Sachen waren zur Seite geschoben und mitten drin im Schrank lag Eyvo und schnarchte. Ich bückte mich und rüttelte ihn leicht an den Schultern, doch er reagierte nicht. Dann versuchte ich es doller und er blickte auf.
„Was...Wa..?“
„Schhhh....“,
machte ich und hielt meinen Zeigefinger vor den Mund.
„Ich bin es nur, Alicia.“,
sagte ich und ging hinüber an die andere Wand, um das Licht anzumachen. Eyvo hatte sich schon erhoben und steuerte geradewegs auf mein Bett zu.
„Warum hast du denn im Schrank geschlafen?“,
fragte ich ihn verwirrt und ging leise zu ihm rüber.
„Du hast so friedlich geschlafen und ich wollte dich nicht wecken. Und weil mir dann nichts besseres einfiel habe ich mich dann wieder in den Schrank zurückgezogen. Ich wollte ja gar nicht einschlafen, aber nach so langem warten, konnte ich nicht anders.“
Ich nickte und setzte mich neben ihn.
„Warum warst du denn so lange weg? Du hast doch gesagt dass du bald wieder kommen würdest und ich dachte du meinst gleich den Tag darauf.“
„Wenn du es so nimmst habe ich genau das getan, es war bloß etwas spät. Nein, ich wollte schon eher kommen, aber ich musste meiner Auftraggeberin noch einen Besuch abstatten und ihr versichern, dass ich dich mitbringen werde. Und außerdem wollte ich nicht unbedingt deiner Oma in die Arme laufen.“
Lange blickte ich ihn an und nickte dann wieder.
„Ok.“
Dann fiel mir plötzlich wieder ein wieso ich Eyvo so schnell wieder sehen wollte. Ich hatte doch das Entscheidende herausgefunden, was mir die ganze Zeit schon auf der Zunge lag und ich bloß nicht darauf gekommen war. Ich schaute ihn wieder an und begann zu erzählen.
„Ich war heute Nachmittag im Wald und habe mich dort auf einen Stein zum Nachdenken gesetzt und dann auf einmal fiel mir das ein, was mich gestern schon die ganze Zeit zum Grübeln brachte.“
Jetzt schaute auch Eyvo mich an.
„Und das wäre?“
„Wir müssen dieses Buch eigentlich gar nicht mehr suchen, denn du hast mir doch diese Bilder geschickt, die mich an diese Geschichte erinnert haben. Das heißt, dass es wahrscheinlich um dein Land ging. Verstehst du was ich meine?“
Eyvo blickte aus dem Fenster und es sah so aus als würde er scharf nachdenken.
„Ja, das macht Sinn. Also könnten wir doch gleich aufbrechen.“
Er stand auf und schaute zu mir herab. Das kam jetzt etwas plötzlich für mich, denn damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.
„Nein, warte ich kann doch jetzt nicht einfach hier weg gehen, was würde meine Oma dazu sagen? Ich würde ihr unendlich weh tun. Das kann ich nicht machen.“
Ich blieb sitzen und senkte den Kopf.
„Komm schon. Vielleicht wird sie davon ja gar nichts mitbekommen. Vielleicht sind wir ja schon eher wieder zurück.“
Versuchte er es weiter. Ich hob den Kopf und schaute ihn an.
„Wie lange wird es dauern bis ich wieder kommen kann? Doch nur ein paar Stunden oder?“
„Wahrscheinlich, aber das kann ich dir nicht versprechen.“
Lange schaute ich ihn gedankenverloren an.
„Und was soll ich da eigentlich?“
Eyvo setzte sich wieder zu mir hin und faltete seine Hände zusammen.
„Also man hat mir mal vor vielleicht drei Jahren aufgetragen, dass ich dir diese Bilder aus meinem Land schicken soll und ich dachte mir nichts dabei. Ich habe lange gebraucht, um dich überhaupt in meinem Kopf ausfindig zu machen. Dann habe ich dir die verschiedensten Gebiete gezeigt, um dich anzulocken. Doch du kamst einfach nicht. Wir dachten erst du seist überhaupt nicht interessiert und sie wollte schon eine Truppe losschicken. Dann meinte ich nur, dass du die Tore vielleicht gar nicht kennst oder du mit dem Bild einfach nichts anzufangen weißt. Dann sollte ich dir die Bilder der Tore zeigen es waren zwei bei denen ich mir sicher war, dass sie in deiner Nähe sind. Doch auch jetzt kamst du noch nicht zu uns. Dann wurde ich das erste Mal zu dir geschickt, um dich zu holen. Ich fand dich aber nirgendwo, du warst außer Haus und ich habe mich nicht raus getraut, aus Angst, jemand könnte mich sehen. Ich meine hier sieht ja nun wirklich niemand so aus wie ich.“
Er grinste mich an und fuhr fort.
„Natürlich kam ich, wie jetzt auch, durch deinen Kleiderschrank zu dir und es sah nicht so aus als hättest du dieses Bild schon einmal gesehen. Aber was ich sah, waren deine Zeichnungen. All die Bilder die ich dir schickte hattest du aufgemalt und da wusste ich dass du dich doch dafür zu interessieren scheinst, dass du aber einfach nicht wusstest was du damit anfangen solltest. Ich ging zurück und erzählte es meiner Auftraggeberin, aber diese meinte nur, dass das völlig unmöglich sei, dass du nichts von uns wüsstest und seist schließlich auch eine von uns. Und so sollte ich dich zu ihr schicken, damit sie mit dir reden kann.“
Endete Eyvo und grinste mich wieder breit an. Ich saß immer noch ganz ruhig da und ließ diese Geschichte auf mich wirken.
„Also ist dein Auftraggeber eine Frau?“,
fragte ich nach und Eyvo nickte.
„Und ist die nett?“,
fragte ich und wieder nickte er.
„Und du weißt nichts genaueres was sie von mir wollen könnte?“
Eyvo schüttelte den Kopf.
„Nein, ich durfte nicht danach fragen.“
„Ist sie so etwas wie eine Königin bei euch im Land?“,
fragte ich ihn jetzt.
„Nein, sie ist eine höhergestellte Bürgerin und ich tat es freiwillig, weil sie mich bat ihr zu helfen. Der König jedoch weiß nichts davon und es wäre besser so wenn es dabei bleiben würde. Er sieht es nicht gerne wenn andere Wesen unser Reich betreten. Du bist zwar auch irgendwie eine von uns, aber er wird bei dir keine großen Ausnahmen machen, denn du siehst einfach anders aus.“
Eyvo guckte mich mit einem entschuldigenden lächeln an. Langsam dämmerte mir, auf was ich mich hier einlasse.
„Also werde ich gegen die Regeln in dieses Land verstoßen?“,
fragte ich vorsichtig nach und Eyvo bestätigte meine Frage mit einem ja. Ich wusste einfach nicht, was ich davon halten sollte. Zum einen wollte ich unbedingt einmal dorthin, weil ich schon immer mal an so einem wunderschönen Ort sein wollte. Doch zum anderen hatte ich auch angst davor erwischt zu werden.
„Was passiert denn mit mir, wenn ich unerlaubt dort bin?“,
fragte ich Eyvo. Er schaute auf den Boden.
„Na ja, du würdest eingesperrt, verhört und dann wahrscheinlich verbannt oder im schlimmsten Fall sogar getö...tet werden.“
Der schlimmste Fall kam kaum hörbar über seine Lippe, aber ich verstand, was er da sagte.
„Aber keine Angst. Dich wird schon keiner sehen, denn zum Glück liegt das Haus der Frau nicht direkt im Dorf sondern ist abgelegen in einem Wald. Sie lebt dort mit einem anderen Blumenkind. Einem Waisen, wie man sie bei euch nennt. Er hat auch eine tolle Fähigkeit. Das einzige Problem wird sein, dich dort erst mal hinzubekommen, denn wir müssen irgendwie um das Dorf herum, sonst gelangen wir in das andere Gebiet und glaub mir da wärst du noch viel schlimmer dran, wenn sie dich dort erwischen. Aber soweit kommt es nicht. Ich habe schließlich versprochen dich heil zu ihr zu bringen.“
Er lächelte mich zuversichtlich an du guckte mich von oben bis unten an.
„Willst du so aufbrechen?“,
fragte er mich. Verwirrt schaute ich an mich runter und musste lachen. Eyvo stimmte mit ein, denn ich stand immer noch im Schlafanzug da.
„Ich geh schnell ins Band mich umziehen. Bei euch ist doch auch Sommer oder?“,
fragte ich nach.
„Ja, das ganze Jahr über.“
Ich staunte. Da wollte ich unbedingt hin.
„Mach leise.“,
sagte er bevor ich zur Tür raus ging. Fertig angezogen kam ich ein paar Minuten später wieder rein und schaute mich in meinem Zimmer um.
„Brauche ich denn noch irgendetwas?“,
fragte ich ihn und er überlegte.
„Nein, eigentlich nicht. Sie will ja denke ich, nur mit dir reden.“
Ich nickte und guckte ihn erwartungsvoll an.
„Ok, dann mal los.“
Eyvo stellte sich vor den Schrank und wollte schon darauf zu gehen, bis er jedoch merkte dass ich mich noch gar keinen Schritt vor bewegt hatte.
„Komm schon, warum zögerst du?“
Er nahm mich bei der Hand und zog mich hinter sich her.
„So du wirst jetzt nichts weiter tun, als meine Hand fest zuhalten und mir zu folgen.“
Ich nickte und gehorchte. Ganz doll drückte ich seine Hand. Ich bekam es auf einmal so richtig mit der Angst zu tun. Denn seit wann kann man durch Schranke, geschweige denn Bilder gehen? Ich hielt die Luft an, obwohl das vielleicht gar nicht nötig gewesen wäre und folgte ihm. Als ich das Bild immer näher kommen sah klopfte mein Herz wie verrückt und als ich nur noch einen Schritt davon entfernt war schloss ich die Augen und ging hindurch. Das Gefühl von Schwerelosigkeit überkam mich, als würde ich davon fliegen, und dann stand ich ganz schnell schon wieder auf festem Untergrund. Ich öffnete langsam meine Augen wieder und wurde von einer strahlenden Sonne geblendet. Ich kniff meine Augen wieder zu, weil ich es nicht gewöhnt war, denn die ganze Zeit standen wir im Dämmerlicht meiner kleinen Schreibtischlampe in meinem Zimmer. Es dauerte etwas bis ich meine Augen wieder öffnen konnte.
„Warum ist es denn hier so hell? Ist es denn nicht mitten in der Nacht?“,
fragte ich verblüfft.
„Nein, hier ist es noch ziemlich früh am Morgen. Deswegen wird es etwas schwieriger, dich hier durch zu bekommen, als bei Nacht. Aber das geht bei dir wiederum nicht, weil dann bei dir Tag wäre und deine Oma es merken würde, wenn du nicht im Haus bist.“
Ich merkte, dass er alles sehr gut durchdacht hatte.
„Und wann merke ich, dass es Zeit wird zu gehen? Ich muss rechtzeitig wieder zu hause sein, bevor sie etwas merkt.“,
sagte ich und schaute ihn an.
„Ja, ich weiß und ich hoffe diese Frau versteht das auch.“
Jetzt erst schaute ich mich erst so richtig um und fand dieses Bild einfach atemberaubend schön. Es war der selbe Anblick, wie ich ihn von meinem Schrank kannte. Doch real wirkte das ganze noch viel viel schöner. Ein wolkenloser, blauer Himmel, der Horizont bestand aus Bergen und das Tal in das man hier oben direkt sah, war wie in meinen Bildern von einem wunderschönen, saftigen Grün von den Wiesen und Wäldern und einem kräftigen Gelb von den Feldern. Und mittendrin lag ein Dorf, das selbst von hier aus ziemlich groß wirkte. Und genau in der Mitte stand ein riesengroßes Gebäude mit einer Kuppel als Dach und unzähligen Türmen. Das musste wohl der Palast des Königs sein, dachte ich und betrachtete es noch etwas genauer. Die Kuppel und all die Dächer der Türme waren grün und von hier aus hätte man meinen können, dass sie aus riesengroßen Blättern bestanden, aber das war unmöglich, denn dann wäre dieses Haus überhaupt nicht geschützt gewesen. Ich war mir allerdings doch nicht so sicher und fragte Eyvo danach.
„Ja, du siehst schon richtig. Alle Dächer in diesem Land bestehen aus großen Blättern, diese bekommen wir von ganz bestimmten Bäumen, die sind nicht überall zu finden. Falls wir mal einen Spaziergang machen sollten, kann ich sie dir zeigen. Aber da müssten wir schon ein ganzes Stück zurücklegen, denn sie sind sehr tief im Wald drinnen.“
Ich nickte und hoffte insgeheim, dass wir heute schon die Zeit finden würden, um einen Spaziergang zu machen, denn ich wollte so viel wie möglich von hier sehen. Da ist es mir egal wie lange wir laufen oder wohin.
„So, lass uns gehen. Wir haben ja nicht ewig Zeit.“,
sagte Eyvo und wir machten uns auf den Weg. Wir liefen erst durch enges Gestrüpp, doch dann lichtete sich der Wald etwas und ein kleiner Trampelpfad kam zum Vorschein. Also waren wir versteckt gelaufen, damit uns, besser gesagt mich, niemand sehen konnte. Der Wald duftete herrlich frisch. Man konnte alle möglichen Tiere hören, wenn man sich nur anstrengte genau hinzuhören. Am lautesten waren die Vögel, die konnte man nicht überhören. Wir gingen den schmalen Weg weiter, bis er sich teilte. Eyvo ging entschlossen den rechten Weg lang und ich folgte ihm.
„Wohin führt denn der andere Weg?“,
wollte ich von ihm wissen.
„Der führt direkt ins Dorf. Es ist nicht mehr weit, dann sind wir bei ihr.“
Schweigend liefen wir nebeneinander her. Doch es war nicht schlimm, denn viel lieber hörte ich in den Wald hinein. Doch schließlich musste ich das Schweigen brechen.
„Wie verhalte ich mich denn bei ihr am besten?“,
fragte ich Eyvo, denn jetzt dachte ich an den Grund, weswegen ich hier bin.
„Du kannst dich ganz normal verhalten. Sie ist nicht streng, im Gegenteil sie ist sogar ausgesprochen nett. Und sie wird dir, denke ich, sowieso sagen, dass du dich nicht verstellen und dich wie zu hause fühlen sollst.“
Eyvo lächelte mich an und ich zurück. Diese Antwort hat mich zwar schon etwas beruhigt, doch komisch war mir trotzdem.
„Halt warte. Noch nicht weiter gehen.“,
sagte Eyvo dann plötzlich und ich blieb wie versteinert stehen.
„Was ist denn?“,
flüsterte ich ihm zu. Doch einige Augenblicke konnte ich mir schon selbst die Antwort geben. Ich hörte auf einmal Stimmen, die immer lauter wurden und ein quietschen.
„Schnell, in die Büsche.“,
befahl Eyvo und ich gehorchte. Er zog mich hinter sich her und drückte mich dann an den Schultern runter, um mir verständlich zu machen, dass ich mich hin hocken sollte.
„So und jetzt leise.“,
sagte er und ich guckte ihn, mit vor angst geweiteten Augen, an.
„Keine Angst, sie haben uns nicht gesehen und werden uns auch nicht finden.“,
sagte er, um mich zu beruhigen, doch ich schaute ihn immer noch mit dem selben Ausdruck an und dann hörte ich die Stimmen näher kommen. Und auch das Quietschen wurde immer lauter. Jetzt waren sie nah genug, um auch noch ihre Schritte zu hören. Es hörte sich so an, als wären es ungefähr zehn Mann und sie unterhielten sich ziemlich laut miteinander.
„Wer sind die?“,
flüsterte ich ihm zu, doch Eyvo hielt einen Finger an den Mund und bedeutete mir damit still zu sein. Ich tat es und guckte zwischen den Zweigen hindurch, um etwas erkennen zu können, doch mir wurde die Sicht wieder genommen. Eyvo hatte mich am Arm gepackt und zurück gezogen. Er schaute mich grimmig an und ich ließ es dann sein. Es schien fast fünf Minuten zu vergehen, bis die Männer endlich vorbei waren. Doch ich konnte heraushören was das Quietschen dazwischen war. Es hörte sich so an, als hätten sie einen ziemlich großen Wagen hinter sich her gezogen. Nun stand Eyvo langsam neben mir auf und ich blieb noch etwas unten hocken, um mir nicht wieder so einen Blick einfangen zu müssen. Das passte ganz und gar nicht in sein Gesicht, denn er war ein Komiker und hatte immer ein leichtes grinsen im Gesicht. Ich beschloss es einfach zu vergessen, da ich ja wirklich in Gefahr geraten hätte können und ihm lieber dankbar zu sein.
„Ok, sie sind weg.“,
sagte er, doch ich blieb immer noch bewegungslos.
„Du kannst wieder aus dem Versteck raus kommen. Sie sind weg.“
Jetzt erhob ich mich und schaute mich vorsichtig, doch gründlich um. Denn ich hatte keine Lust entdeckt zu werden und so Jung schon Lebe wohl zu sagen. Dann ging ich zu ihm hin und schaute ihn fragend an.
„Wer war das?“,
fragte ich ihn dann leise.
„Das waren Jäger. Sie haben neue Beute mitgebracht.“,
sagte er.
„In der Nähe von Jägern, darfst du auf keinen Fall einen Mucks von dir geben. Sie haben einen Mann dabei, der die Gabe hat sehr weit zu hören, dass hilft ihnen beim Jagen.“
Ich überlegte kurz. Deswegen also der strenge Blick von ihm. Er hätte mein Flüstern wahrscheinlich hören können.
„Danke.“,
sagte ich und schaute ihn an. Jetzt grinste er wieder.
„Dafür bin ich doch da.“,
sagte er und wir machten uns weiter auf den Weg.
Wir streiften noch bestimmt zehn Minuten durch den Wald, bis wir dann plötzlich auf einer kleinen Lichtung standen und unser Blick auf die kleine Hütte vor uns fiel. Diese bestand aus Holz und sah schon etwas mitgenommen aus, doch sie machte einen stabilen Eindruck. Und etwas fiel mir auch gleich auf, als ich die Hütte sah, denn ich hatte sie ungefähr so erwartet wie die anderen Häuser in dem Dorf. Doch dieses Haus hatte kein Dach aus riesengroßen Blättern, sondern ein ganz normales aus Holz. An der Vorderseite des Hauses war ein kleiner Gemüsegarten angebracht der von einem Zaun von der übrigen Wiese abgegrenzt wurde. An den draußen vorhandenen Fensterbrettern standen viele bunte Blumen in Blumentöpfen, die sich ganz leicht im Wind mit wogen. Der erste Eindruck war ein sehr positiver, was mich irgendwie überraschte, denn ich hatte etwas anderes erwartet, doch so war ich zufrieden.
„Warum hat denn dieses Haus kein Blätterdach?“
fragte ich Eyvo, doch der zuckte bloß mit den Schultern.
„Ich habe keine Ahnung.“
Wir blieben noch einen Moment so stehen bis Eyvo dann langsam auf das Haus zuging.
„Komm.“
Ich ging ihm hinterher und wir blieben erst vor der Tür stehen. Eyvo klopfte an, doch die Tür ging schon einen Spaltbreit auf. Langsam trat er hinein.
„Hallo?“
rief er hinein. Da kam plötzlich eine Gestalt die Treppe runtergestürzt und direkt auf uns zu. Ich wich instinktiv schon ein wenig zurück und wollte Anstalten machen Eyvo hinter mir herzuziehen. Bis diese Gestalt abrupt inne hielt und uns ansah.
„Ach du bist es. Ich dachte Custos sei zurück geko....“
Der Rest entging ihr als sie mich an seiner Seite bemerkte.
„Oh Eyvo, du hast sie ja endlich mitbringen können.“
sagte sie und schaute mich immer noch an.
„Na los, kommt rein.“
Ich ging einen Schritt in das Haus hinein und Eyvo schloss hinter mir wieder die Tür. Ich guckte die Frau immer noch an und sie mich, bis Eyvo sich räusperte.
„Ja also das ist Alice.“
sagt er mit einer Handbewegung auf mich bezogen.
„Oh verzeih mir. Ich habe mich dir noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Vatis.“
Sie streckte ihre Hand aus und ich ebenfalls.
„Ich bin Alicia.“
sagte ich.
„Ja, ich weiß. Deswegen bist du ja hier. Aber wir wollen nichts überstürzen. Setzt euch doch, ich bringe etwas Milch und eine Kleinigkeit zum essen.“
Und mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und ging hinüber in ein anderes Zimmer. Ich drehte mich zu Eyvo um, doch er war schon gar nicht mehr hinter mir, sondern auf dem Weg zu dem kleinen, runden Tisch der auf der anderen Seite des Raumes stand. Ich ging ihm hinterher und setzte mich ebenfalls auf einen Stuhl, direkt neben ihn.
„Sie erscheint mir ganz nett.“
sagte ich und Eyvo musste abrupt lachen.
„Warum lachst du?“
fragte ich ihn verwirrt, doch er musste sich erst einmal wieder beruhigen.
„Du hättest dein Gesicht sehen müssen, als ihr euch miteinander Bekannt gemacht habt. Du hast sie angeguckt, als wolle sie dir an den Hals springen.“
Ich grinste verlegen.
„Wirklich?“
„Ja.“
Vatis kam mit einem Tablett in den Händen wieder und stellte es auf dem Tisch ab. Jetzt erst betrachtete ich sie. Ihr Gesicht wirkte noch sehr jung, ihr Augen waren strahlend grün, doch ihre Haut genauso blass wie die von Eyvo. Sie hatte lange schwarze Haare, was sie noch blasser wirken ließ. Und sie war ungewöhnlich groß, bestimmt zwei Köpfe größer als ich.
„So, dann erzählt mal. Hattet ihr unterwegs Probleme?“
Sie setzte sich mit an den Tisch und schaute uns fragend an.
„Nein, eigentlich nicht. Ein paar Jäger kreuzten unseren Weg, doch wir konnten uns noch rechtzeitig verstecken.“
sagte Eyvo und nahm sich einen Keks.
„Oh ja, gebt acht bei den Jägern. Sie haben einen guten Hörer dabei.“
sagte sie bloß und nahm einen Schluck von der Milch. Ich tat es ebenfalls und schaute diese Frau, Vatis, an. Ich hatte keine Ahnung warum ich das tat, aber mein Augen wanderten immer wieder zu ihr. Sie ist wirklich sehr schön, dachte ich immer wieder und blickte verlegen runter auf den Tisch, als sie bemerkte dass ich sie die ganze Zeit anstarrte.
„So, du möchtest doch bestimmt wissen warum ich dich hierher bringen ließ?“
fragte sie mich, doch sie wartete noch nicht einmal auf eine Reaktion von mir, sondern fuhr weiter fort.
„Ich warte schon Jahre lang auf diesen Zeitpunkt, er schien nie wirklich perfekt. Doch jetzt, denke ich, ist die Zeit reif. Ich wollte dich unbedingt einmal kennen lernen. Man hat mir schon so viel von dir erzählt.“
Sie grinste mich an, doch ich verstand nicht was sie von mir wollte. Ich schaute sie bloß etwas verwirrt an und fragte dann:
„Wer hat Ihnen denn schon so viel von mir erzählt?“
Sie schüttelte leicht mit dem Kopf.
„Es tut mit leid, aber die Zeit ist noch nicht gekommen, um dir diese Auskunft zu geben.“
Ich verstand Bahnhof. Warum müssen hier alle in Rätseln sprechen? Haben sie etwa Angst, dass ich es in der Welt ausposaunen werde? Ich guckte sie weiter erwartungsvoll an und wartete bis sie mir mehr erzählte.
„Wie gesagt, ich wollte dich kennen lernen und heute nur ein wenig reden.“
Sie zuckte mit den Schultern. Aha also bin ich zu einem Kaffeeklatsch gekommen. Deswegen setze ich hier mein Leben aufs Spiel in der Hoffnung dass mich niemand in diesem Land sieht?
„Eyvo, würde es dir etwas ausmachen uns beide ein wenig allein zu lassen?“
fragte sie den Jungen. Er schaute erschrocken auf, doch verstand anscheinend schnell und nahm sich noch eine Hand voll Kekse mit hinauf in ein Zimmer.
„Nimm dir doch ruhig auch einen Keks.“
sagte Vatis und ich langte zu.
„Was genau wollen Sie denn mit mir besprechen?“
fragte ich sie und bis dann von meinem Keks ab.
„Oh nein, besprechen möchte ich gar nichts. Ich möchte dich wie gesagt nur kennen lernen und du darfst mir auch so viele Fragen stellen wie du möchtest. Ach und bitte duze mich doch. Ich komm mir so alt vor.“
Ich grinste und versuchte meine Fragen im Kopf in eine unkomplizierte Reihenfolge zu bringen.
„Ich bin jetzt also nur hier, um mit ihnen zu reden?“
stellte ich meine erste Frage. Sie musste lachen und schüttelte mit dem Kopf.
„Heute schon, doch ich möchte dich bitten mir noch ein paar Besuche zu bestatten. Es gibt da ein paar komplizierte Dinge die ich dir versuchen werde nahe zu bringen, doch wir wollen nichts überstürzen.“
Sie lächelte wieder und wartete schon auf meine nächste Frage. Doch sie waren auf einmal wie weggeblasen. Vatis schaute mir auf einmal eindringlich in die Augen.
„Wie geht es dir bei deiner Oma?“
fragte sie so plötzlich. Mit so einer Frage hatte ich jetzt nicht von ihr gerechnet.
„Äh... ganze gut, denke ich.“
Ich trank wieder von meiner Milch und überlegte, was diese Frage jetzt sollte.
„Erzähl doch mal, wie bist du aufgewachsen? Was machst du gerne? Und wie ist es so in deiner Welt?“
Sie bombardierte mich mit Fragen, die ich gar nicht alle auf einmal beantworten konnte. Ich sah mich schon alt und grau noch hier sitzen, bis ich ihre ganzen Fragen beantwortet hatte. Und so verging die Zeit. Ich beantworte all ihre Fragen und stellte hin und wieder auch mal eine. Eyvo ließ sich den ganzen Tag nicht wieder blicken und langsam wurde ich unruhig.
„Wie spät ist es denn eigentlich?“
fragte ich sie, nachdem ich die Frage, wie gut ich in der Schule sei, beantwortet hatte.
„Also in deiner Welt hätten wir es wahrscheinlich kurz vor Sonnenaufgang.“
sagte sie und schaute dabei aus ihrem Fenster. Was war das denn für eine Uhrzeit? Kurz vor Sonnenaufgang? Und da erst verstand ich. Ich musste nach hause. Bald würde es Frühstück geben und ich hatte bestimmt erst ein paar Stunden geschlafen.
„Ich muss los. Meine Oma wird bald aufwachen und wenn sie merkt, dass ich nicht im Hause bin wird sie sich wahnsinnige Sorgen machen.“
„Als wenn es das erste Mal wäre, dass bei ihr jemand abgehauen sei.“
nuschelte sie nur kurz und schaute verträumt aus dem Fenster. Ich erhob mich und schaute sie wieder einen Augenblick an.
„Oh, aber du kannst noch nicht nach hause gehen. Ich habe dir doch vorhin erklärt, dass ich mit dir reden muss.“
Ich blieb wie angewurzelt stehen und guckte sie verdutzt an.
„Aber sie haben gesagt ein andern mal.“
Jetzt schaute sie mich verständnislos an.
„Ja, aber mit einem anderen Mal meine ich in ein paar Tagen.“
„Und was ist da jetzt das Problem dabei?“
fragte ich sie, weil ich nicht verstand was sie von mir wollte.
„Na ja du musst natürlich hier bleiben. Es ist viel zu gefährlich, wenn du da jetzt noch einmal raus gehst.“
Ich verlor beinahe die Beherrschung, denn ich musste nach hause.
„Aber meine Oma... und außerdem hat Eyvo mir versprochen, dass ich heute Nacht wieder zu hause sein werde.“
sagte ich und war den Tränen nahe.
„Was hat er...?“
Sie drehte sich ruckzuck um und verschwand die Treppen hinauf. Jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen. Was ist wenn er jetzt Ärger bekommt? Und was ist, wenn ich nicht nach hause komme?
In dem Moment indem ich das überlegte, ging die Haustür auf und ein Junge kam mit einem schwer aussehenden Rucksack herein. Er ähnelte Eyvo sehr, was die Haare, die Haut und die Kleidung anging. Zuerst bemerkte er mich gar nicht, doch als er auf dem Weg zu dem Tisch war, an dem ich stand hielt er und guckte mich verwundert an.
„Oh hallo, du musst Alicia sein.“
Er stellte den schweren Rucksack ab und kam die letzten Schritte auf mich zu.
„Ich bin Custos, der Herr hier im Haus.“
Er lächelte und streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie und lächelte ebenfalls. Doch dann begriff ich seine Wort und ich guckte ihn mit geweiteten Augen an.
„Der Herr im Haus? Aber... du... du bist... ich meine. Dann bist du also mit Vatis...?“
Ich ließ die Frage unausgesprochen, da erklang plötzlich ein lautes Lachen und ich erschrak. Mit Tränen in den Augen und mit einem lauten lachen schaute er mich an. Relativ schnell beruhigte er sich wieder und schaute mich ernst an.
„Du glaubst doch nicht im ernst, dass ich mit Vatis..? Du weißt schon. Nie im Leben, sie ist doch viel zu alt für mich.“
Ich war erleichtert, denn wäre das jetzt wahr gewesen hätte ich diese Welt nicht verstanden.
„Tut mir leid. Ich dachte nur, weil du sagtest, der Herr im Haus...“
„Ja, sie hat mich hier aufgenommen und da sonst weiter keine männliche Person hier ist, bin ich der Herr im Hause.“
Ja, das klang logisch in meinen Ohren und ich hätte mich Ohrfeigen können, dass ich erst anders dachte. Wie peinlich.
„Wo ist denn Eyvo? Sollte er dich nicht hier her bringen?“
fragte er und ich nickte. Das hat er auch, aber Vatis wollte mit mir allein reden und da ist er hoch gegangen.“
„Und wo ist Vatis?“
Ich zeigte nach oben.
„Sie ist gerade eben hoch und ich warte bis sie wieder runter kommt. Ich habe es jetzt ziemlich eilig nach hause zu kommen.“
sagte ich und schaute aus dem Fenster. Custos guckte mich verwirrt an.
„Aber was willst du denn zu hause? Du solltest doch hier bleiben. Weißt du nicht was passiert, wenn dich einer draußen erwischt?“
„Doch Eyvo hat es mir erzählt, aber ich muss. Meine Oma würde sich sonst sorgen machen, wenn ich nicht zu hause bin.“
Jetzt guckte er mit einem frechen lächeln zu mir hinab.
„Glaub mir, dass wäre nicht das erste Mal.“
sagte er und ich hatte das Gefühl, als hätte ich das noch nicht zum ersten Mal gehört.
„Was meint ihr denn alle damit?“
fragte ich ihn, doch er schaute weg, hinauf zur Treppe, denn dort kam Vatis mit Eyvo im Schlepptau runter. Eyvo machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter und ließ die Schultern hängen. Vatis dagegen lief mit geradem Rücken und erhobenen Kopf. Irgendwie bekam ich ein ungutes Gefühl in der Magengegend und ich hoffte, dass es nicht mit mir zu tun hatte. Ich musste unbedingt nach hause, ich wollte Oma nicht ängstigen und ihr keine Erklärungen schuldig sein. Was sollte ich ihr bloß sagen, wenn sie es schon bemerkt hat? Vielleicht dass ich nicht mehr schlafen konnte und deswegen ein wenig spazieren gegangen sei, aber das wird sie mir unmöglich glauben. Denn wenn ich raus gegangen wäre, hätte ich ihr eine Nachricht hinterlassen, damit sie sich keine Sorgen machen musste. Aber das habe ich nicht getan und außerdem passt das gar nicht zu mir, sie würde es merken.
„Alicia?“
Ich schaute auf und direkt in Vatis Gesicht.
„Eyvo wird dich jetzt wieder zurück bringen, doch ich bitte dich, so schnell wie möglich wieder zu kommen. Wie gesagt, ich muss mit dir noch über andere Dinge sprechen.“
Erleichtert öffnete ich meine verkrampften Hände und zurück blieb ein stechender Schmerz in meinen Handflächen.
„Danke. Ich verspreche, dass ich wieder kommen werde.“
Und mit diesen Worten drehte ich mich um und wollte los, da fiel mir ein dass Eyvo noch gar nichts gesagt hatte oder Anstalten machte mit mir zu kommen. Ich guckte ihn an, doch seine Haltung hatte sich immer noch kein wenig verbessert.
„Eyvo, was ist?“
fragte ich ihn und kam mir gleichzeitig bescheuert vor. Das wird er mir ja wohl kaum vor Vatis sagen wollen.
„Komm.“
sagte ich stattdessen und öffnete die Haustür. Bevor er los ging blickte er Vatis noch einmal an und machte sich dann mit mir gemeinsam auf den Weg. Ich wusste nur noch aus welcher Richtung wir kamen, aber wo es dann weiter ging konnte ich nicht sagen. Denn weit und breit war kein Pfad zu sehen.
„Komm, da lang.“
sagte Eyvo und wir gingen in die, von mir angenommene Richtung los.
„Was war denn vorhin mit dir los?“
wollte ich von ihm wissen.
„Ach nichts. Ich habe bloß ärger bekommen, weil ich ohne ihre Einwilligung über dein Schicksal bestimmt habe.“
sagte er und zuckte mit den Schultern.
„Wieso über mein Schicksal bestimmt?“
hakte ich weiter nach.
„Nur weil du mir erlaubt hast, dass ich wieder nach hause darf?“
„Ja, und weil ich dich so in größer Gefahr bringe. Wenn du jedes Mal wieder zurückkehrst ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass dich jemand sieht.“
„Wieso sollte uns schon jemand erwischen? Du bist doch bei mir.“
Ich lächelte ihn aufmunternd an und knuffte ihn in den Arm. Er erwiderte mein Lachen und sein Gesicht erhellte sich wieder.
„Du hast recht. Wenn wir es hier her geschafft haben, schaffen wir es auch wieder zurück.“
So gefällt er mir besser, dachte ich. Hängende Schultern passen einfach nicht zu ihm. Ich mag ihn so, wie ich ihn kennen gelernt habe und da kannte ich ihn noch nicht einmal mit ernstem Gesicht. Er hatte immer nur gegrinst, dass hatte am Anfang ganz schön genervt, doch jetzt liebe ich es.
Wir kamen wieder an dem breiten Weg vorbei, auf dem vor ein paar Stunden Jäger lang gelaufen sind, doch diesmal schien alles leer und ich war froh darüber. Und außerdem bedeutete es, dass wir jeden Moment da sein müssten.
„Wie lange brauchen wir denn noch ungefähr?“
fragte ich Eyvo.
„Vielleicht noch fünf Minuten. Keine Angst, deine Oma wird schon nichts mitbekommen haben.“
Er lächelte mich an und aus irgendeinem Grund fühlte ich mich besser.
„Was habt ihr eigentlich alle damit gemeint, dass es für meine Oma nicht das erste Mal wäre, dass sie sich Sorgen machen müsste.? War ich etwa schon mal hier und weiß bloß nichts mehr davon?“
Eyvo guckte mich verwirrt an.
„Warum solltest du schon einmal hier gewesen sein und davon nichts mehr wissen?“
„Keine Ahnung, das war ja bloß eine Vermutung.“
räumte ich schnell ein.
„Und was ist es dann?“
fragte ich ihn noch einmal.
„Kann ich nicht sagen, dass wird dir Vatis bei Gelegenheit schon noch erzählen.“
Jetzt klang er abweisend und ich hatte das Gefühl, dass ich ihn mit meinen Fragen nervte.
„Da vorne ist es.“
sagte er und deutete auf einen Baum, der nicht anders aussah als die anderen auch.
„Wo?“
erkundigte ich mich deswegen, doch da blieb er schon stehen.
„Siehst du das nicht?“
fragte er und zeigte mit seinem Finger auf den Baumstamm. Jetzt konnte ich etwas ausmachen. Es sah fantastisch aus. Fast schon dachte ich dass ich träumte, doch dann erinnerte ich mich daran, dass ja so vieles in meinem Leben gerade anders lief.
„Gefällt es dir?“
fragte mich Eyvo und schaute mir ins Gesicht.
„Das ist wunderschön.“
antwortete ich und schaute wie gebahnt auf den Baumstamm. Bei genauerem hingucken war die Rinde nämlich gar nicht normal. Sie war so geformt, dass man kleine Bilder ausmachen konnte. Dies war vielleicht eine Geschichte, aber ich konnte den Hintergrund nicht ganz erkennen. Ich sah ein Dorf mit vielen Menschen darin und außen herum war Wald. Andere Bilder zeigten etwas ähnliches, doch sie verschwommen vor meinen Augen. Ich blinzelte und versuchte noch einmal von neuem etwas zu erkennen.
„Du wirst nicht alles sehen. Das musst du nach und nach machen, um die Geschichte zu verstehen. Die Bilder ändern sich dauernd und wenn du die ganze Zeit davor stehen bleibst wirst du irgendwann verrückt.“
Ich guckte ihn erschrocken an und entfernte mich ein wenig von dem Baum. Er grinste.
„So meinte ich das nicht. Ich meinte, dass deine Augen dann Dinge sehen, die dort gar nicht abgebildet sind und du dann wahrscheinlich etwas fantasierst.“
Ich nickte und schaute kurz auf den Baum.
„So, wollen wir?“
fragte er und ich nickte. Er nahm wieder meine Hand und ich schloss instinktiv die Augen. Dann gingen wir wieder langsam auf das Tor zu und ehe ich mich versah standen wir in meinem Schrank. Ich blickte an mir herunter, ob auch alles da war und schaute dann rüber zu Eyvo. Auch er guckte mich an.
„Ich muss jetzt wieder los, aber ich werde wieder kommen, versprochen.“
Ich grinste.
„Aber lass dir nicht so viel Zeit wie das letzte Mal, ok?“
Er grinste bloß zurück und drehte sich um. In meinem Schrank war es zu zweit ganz schön eng.
„Und du musst mir versprechen, dass du mir noch das Land zeigen wirst. Ich will alles schöne darin sehen.“
„Ich verspreche es.“
Er winkte mir noch zum Abschied und verschwand dann in dem Bild.

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Tag der Veröffentlichung: 29.12.2012

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