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Biografie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Leni

 

 

 

Warum ich niemals mehr ein Kind sein möchte

 

 

von Marlene Koch, 2014

 

 

 

Vorwort

 

Ich habe sehr lange gebraucht, um mich für diese Vergangenheitsbewältigung aufzuraffen. Aber sie ist der letzte Schritt zum glücklich sein. Ich dachte auch, dass ich rascher voran komme, aber ich musste oft längere Pausen einlegen, da ich viele Passagen meines Lebens noch einmal durchlebte und es mich sehr mitnahm, oft deprimierte, zornig machte oder ich einfach eine Auszeit brauchte.

Mein Dank gilt meinen Brüdern, die ich namentlich erwähnen darf und für die ich eigentlich mitschreibe, denn sie litten ebenfalls sehr. Ich glaube auch, dass sich ihre Kindheit sehr oft in ihren Worten, Werken und Leben interpretiert.

Danke auch jenen Freunden, die namentlich erwähnt sind, dass sie mir die Erlaubnis gaben, dies zu tun. Jeder von Euch ist ein Puzzlestein auf meinem Lebensweg und so mancher hat mich geprägt.

Und ein großes Danke gilt meinem Mann, der mich ermutigt hat zu schreiben und mich immer wieder an stupste, wenn ich eine längere Pause machte, damit ich es zu Ende bringe, um endlich gänzlich frei zu sein. Frei von den Zwängen und verkorksten Gedankengängen meiner Kindheit, die mich, zwar selten, aber immer noch verfolgen und mein eigenes Handeln beeinflussen.

 

Dieses Buch ist aber auch für all jene geschrieben, die vielleicht selbst so eine Kindheit erlebten und es geschafft haben ein eigenständiger, selbstbewusster Mensch zu werden – oder es immer noch versuchen. Und für jene, die daran zerbrochen sind. Besonders für diese armen Menschen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mein Erinnerungsvermögen reicht bis zum 4. Lebensjahr zurück. Ich frage mich oft, warum ich von davor nichts weiß. Wahrscheinlich war nichts Aufregendes, oder mein Gehirn schützt mich auf irgendeine Art und Weise. Ich denke aber, dass das, was ich als Kind danach erlebte, nicht schlimmer sein konnte, als das, woran ich mich nicht erinnern kann. Aus stolzen Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass sie mir im zarten Alter von eineinhalb Jahren den Hintern versohlt hatte, weil ich auf den Teppich im Wohnzimmer kotete. Dass ich im Säuglingsalter, beim Wickeln, haarscharf an meinem Bruder Fredi vorbei, auf einen Stehlampenschirm schiss, fand sie wiederum komisch. Dass sie dabei würgte, finde ich allerdings sonderbar. Aber wie gesagt, beides kenne ich nur aus Mutters und Bruders Erzählungen.

 

Ich bin ein fröhlicher Mensch. Ich kann mich stundenlang alleine beschäftigen. Das war und ist mein Glück, oder der Grund, dass ich trotz allem so unbeschwert aufgewachsen bin.

 

Dunkel erinnere ich mich an die Wohnung von damals. Teils wahrscheinlich auch von irgendwelchen Fotos in Mutters Lade. Es war in Favoriten, im 10. Bezirk von Wien. Gleich neben der Laxenburgerstraße. Damals fuhren da ganz wenige Autos. Die Laxenburgerstraße war links und rechts von Kastanienbäumen eingesäumt. Igel, Marder und Fledermäuse lebten um unsere Wohnblocks herum.

Die Häuser waren 3 Stockwerke hoch. Unsere Wohnung lag im Erdgeschoss und hatte einen Balkon zu dieser Hauptverkehrsstraße hin. Es war ein Genossenschaftsbau und meine Mutter war dort Hausbesorgerin. Den Posten hatte sie angenommen, als sie mit mir schwanger war. Vorher war sie Schaffnerin bei der Straßenbahn. Dort hat sie meinen Vater kennengelernt.

Mama war eine sehr schlanke Person, von 167 cm Körpergröße. Großer Busen, schlanke Taille und sehr großem Hintern, im Vergleich zur Taille. Trotz ihrer Schlankheit hatte sie an den Oberschenkeln und am Hintern Orangenhaut. Sie achtete stets darauf, sich zu pflegen und cremte sich mehrmals am Tage die Hände ein, den Rest des Körpers morgens und abends. Ihr Aussehen war ihr immer sehr wichtig, aber selbst diese Eigenschaft war nicht aus ihrem Inneren geboren, sondern durch die Meinung meines Vaters angenommen. Das erkannte ich aber erst, als mein Vater verstorben war und sich einiges änderte.

Vom Charakter her ist und war sie ein sehr oberflächlicher Mensch, was mir aber natürlich erst nach und nach, besonders im Alter auffiel. Ihre Intelligenz einzustufen fällt mir sehr schwer. Das liegt daran, weil ich nicht weiß, ob sie manche Dinge nicht verstehen wollte oder konnte.

Mein Vater arbeitete zu dieser Zeit bei der Straßenbahn, die noch nicht Wiener Linien hießen. Er war 178 cm groß, von sehr kräftiger Statur. Breite Schultern, ausgeprägter Oberkörper, dunkle Haare am Kopf, auf der Brust und den Beinen. Er strahlte immer das aus, was man schlichtweg Autorität nennt. Er hatte die Gabe Menschen zu terrorisieren, zu quälen, ohne sie körperlich anzugreifen. Alleine seine Anwesenheit machte uns Kinder meistens ängstlich. Und selbst, wenn er nicht da war, schwebte seine Ausstrahlung über einem. Wenn man nicht folgte, griff er nach seinem Hausschuh, dass hieß im allgemeinen VORSICHT. Wer das übersah, der hatte es nicht sehr gut. Ich brauchte im Erwachsenenalter sehr lange, um mich aus dem Schatten des Patriarchen zu lösen. Ständig fühlte ich mich beobachtet und hatte Angst, ihm irgendetwas nicht recht zu machen. Mein Vater war auch ein extremer Sauberkeitsfanatiker.

Die Wohnung war gut angelegt und witziger Weise weiß ich noch ganz genau, wie die Räume aufgeteilt waren. Warum vergaß ich aber zum Beispiel, dass ich in der Sparkassenschule für einen Kollegen immer in die Apotheke um Kondome ging, weil er selbst sich genierte? Das teilte dieser mir bei einem späteren Klassentreffen mit, und ich nickte eifrig, so als würde ich mich tatsächlich erinnern. Nun egal. Links vom Vorzimmer ging es zum Bad, wo ein riesiger Boiler hing. Da musste man auf seinen Kopf aufpassen. Wir hatten ein eigenes Baderitual, das wahrscheinlich von der begrenzten Wassermenge des Boilers herrührte. Erst badeten unsere Eltern gemeinsam. In das gleiche Wasser kam dann, mein sechs Jahre älterer Bruder und die kleine Leni kam zum Schluss dran, damit sie spielen konnte. Na brrrr. Heute bin ich froh, dass ich damals nicht wusste, dass man in einer Badewanne Sex haben kann oder dass mein Bruder vielleicht zu faul war, die Toilette aufzusuchen. Ja, ich hatte große Freude in der Badewanne und es war mir ein Spaß an der Seife zu lutschen und dann große Blasen mit der Lauge im Mund zu erzeugen. Oder ich stellte mir vor, dass der Brausekopf ein Telefon sei. Dieses Baderitual wurde auch beibehalten, als wir 1969 in eine andere Wohnung zogen, wo kein Boiler war. Heute gibt mir das zu denken ….

 

Rechts neben der Eingangstüre war gleich unser Zimmer. Ich denke es war gemütlich. Da hapert es etwas mit der Erinnerung an die Einrichtung. Ein Holzbett hat sich mir eingeprägt. Dunkles, schweres Holz. Ich verbinde mit dem Zimmer nur ein Erlebnis mit meinem Bruder. Ich hatte eine kleine Autobergbahn aus Metall. Auch die kleinen Autos waren aus Metall. Blech genau genommen, also nicht sehr stabil. Aus irgendeinem Grund hatte ich nur ein Auto. Jedenfalls spielte ich damit, als mein Bruder meinte: „Was ist stärker, Dein Auto oder meine Hand?“ Natürlich sagte ich ihm, dass das Auto stärker ist. Welch Fehler meinerseits. Er ballte eine Faust, ließ sie auf mein Auto niedersausen und sagte trocken: „Die Panzerfaust ist stärker!“ Ich nehme an, dass ich geweint habe, aber ich glaube, dass ich das leise tat. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ich gepetzt hatte, denn unserer Mutter saß die Hand recht locker.

Der Hauswartjob dürfte sie etwas gestresst haben. Habe ich schon erwähnt, dass ich auch seit nunmehr über 25 Jahren Hausbesorgerin bin, vier Töchter habe und tausend andere Jobs nebenbei?

Nun gut, alle sind nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt, also weiter mit der Wohnung. Die nächste Türe links war das Klo und dann kam die Küche. Da durfte ich nicht so oft hinein, deshalb weiß ich auch nicht, wie die ausgesehen hat. Die nächste Tür war das elterliche Schlafzimmer, auch hier herrschte strengstes „Betreten verboten“. Rechts war dann noch das Wohnzimmer mit besagtem Balkon. Und es gab einen Fernseher, der nicht sehr oft an war, weil es nicht viele Sendungen gab. Kasperl. Kasperl spielte es einmal die Woche, und zwar am Mittwoch. Das war fein. Auf dem Balkon habe ich einmal eine schallende Ohrfeige bekommen. Ich hatte ein Schimpfwort gehört, ein ganz böses Wort und ich wollte es so gerne einmal selber sagen. Also ging ich auf den Balkon, drehte mich zur Wand und sagte es. Eigentlich ganz leise, aber sehr oft. Es hat wehgetan, als die Hand meine Backe traf, und diesmal weinte ich und natürlich musste ich ins Zimmer. Ich hatte „Arschloch“ gesagt. Im Nachhinein wäre es passender gewesen, dieses Wort zu sagen, aber das traute ich mich natürlich nicht. Bis heute habe ich meine Eltern nicht ein einziges Mal laut geschimpft. Oder gar mit Tiernamen versehen. Und damals war ich doch erst vier Jahre alt.

 

Ansonsten war es recht schön im „Wienerfeld“. Ich durfte mit meinem Bruder auf die Gasse raus und auf den Spielplatz. Er lernte mir Radfahren, bremsen erst nachdem ich einer alten Dame zwischen die Beine gefahren war und eine Tachtel kassierte.

Einmal blieb ich mit dem Kopf in den Sprossen des Geländers vom Stiegenhaus stecken, als ich meiner Mutter beim Kehren der Stiegen zusah. Da musste mein Vater die Sprossen verbiegen. Und einmal, als ich noch nicht bremsen konnte, bin ich mit dem Rad gegen die steinerne Rutsche am Spielplatz gefahren, über den Lenker geflogen und hab mir die Nase und die Zähne angeschlagen beim Aufprall. Solche Dinge erzählten wir daheim besser nicht…... Solche Dinge ließen sich ganz gut geheim halten. Ich war ein kleiner Wiffzack.

Seit ich gesehen hatte, dass Mama den Teppichklopfer oder den Kochlöffel am Hintern meines Bruders ausprobierte, wusste ich, dass es oft besser war, zu schweigen. Da fällt mir ein, dass ich sie nie Teppich klopfen damit sah. Wir hatten gar keine Teppiche.

Ja, wir waren sehr viel an der frischen Luft, mein Bruder und ich. Er hat mich oft mitgenommen. Wenn man die Laxenburgerstraße überquerte kam man auf wildes Gelände, das heißt Heubergstätten. Heute stehen dort außer den alten Kleingartensiedlungen auch schöne Wohnhäuser und alles wurde kultiviert. Damals also war nur Wildwuchs. Zu so etwas sagten wir einfach „Gstetten“. Dort bauten wir Baumhäuser und dergleichen. Man konnte gut verstecken spielen. In dem Teich dort sind zwar regelmäßig Kinder ertrunken, aber das war normal. Und in unserer Anlage gab es auch Geschäfte. Ein Postamt, einen Meinl und einen Adegmarkt, glaube ich. Ich musste immer Eis holen, wenn ich mit meinem Bruder und seinen Freunden unterwegs war. Egal welches und egal wie viel Eis. Ich musste damit immer gleich raus gehen und um die Hausecke. Manchmal habe ich auch eines bekommen, wenn die Burschen nachgekommen sind. Verwundert hat mich nur, dass wir es im Strauch sitzend aßen oder unter parkenden Autos im Liegen. Heute weiß ich natürlich warum. Da sind ihm unsere Eltern nie drauf gekommen.

 

Die Anlage war sehr weitläufig und ging bis zur nächsten großen Straße, dort wohnte meine Tante Anni. Sie war die Frau von Papas Bruder Herbert, der sehr jung verstorben ist. Eine Hand hatte er schon bei seiner Arbeit verloren und trug links eine Prothese. Er soll mich sehr lieb gehabt haben. Leider war das vor meinem vierten Geburtstag und die Erinnerung daran ist gelöscht. Die beiden hatten auch einen Sohn, meinen Cousin Herbert. Benannt nach seinem Vater. Manchmal durfte ich zur Tante, die mich sehr verwöhnte, mich auf ihren Schoß nahm und mir vorlas. Sie beschäftigte sich viel mit mir. Das war schön und noch heute fühle ich mich wohl, wenn ich daran denke.

Nur der Herbert, der mochte mich nicht leiden und erzählte mir Geschichten von Killerfliegen. Er meinte diese dicken, fetten Fleischfliegen, die so laut brummen. Ich litt von da an Todesängste, wenn sich eine näherte. Irgendwann, noch bevor ich zur Schule kam, besuchten wir Tante Anni nicht mehr. Man sagte mir erst, sie hätte keine Zeit, dann, dass Tante Anni böse wäre. Und ihr Bub, der Herbert sowieso, der hat mit meinem Bruder um die Wette gepinkelt. Auf so eine Idee wäre unser Fredi alleine nie gekommen. Ja, eh nicht. Heute weiß ich, dass sie um das Grab vom Onkel gestritten hatten und so eine Feindschaft entstanden war. Ja so waren meine Eltern. Freundschaften hatten sie wenige und die, die sie hatten, waren meistens nur sehr kurz.

 

Auch meine Oma wohnt nicht weit weg. Bei der Spinnerin am Kreuz in Favoriten. Im Fliederhof. In der Nähe des Wasserturms. Heute ist auch der Eisring Süd in der Nähe. Damals lebte auch noch mein Opa. Er ist 1889 geboren und hieß Franz. Er war Ingenieur und maßgeblich am Bau der Südautobahn beteiligt gewesen, außerdem war er Dichter und hat den Text zum Lied für Graz geschrieben. Sein Vater wiederum soll die Kanzel der Votivkirche geschlagen haben, als Steinmetz. Ich habe allerdings keine Unterlagen dazu. Nun wie gesagt, Oma wohnte nicht weit und wir gingen sie oft besuchen. Meistens am Sonntag, da hatte Papa frei. Opa lag da schon meistens im Bett, weil es ihm nicht gutging. Er hatte Diabetes. Aber das alleine wird’s wohl nicht gewesen sein. Deshalb liegt man doch nicht wochenlang im Bett herum. Wenn er auf war, machte er lustige Dinge. Er nahm oft sein Gebiss heraus um mich zu erschrecken. Oma tyrannisierte ihn gerne, seit er krank war. Als Rache auf seine russische Geliebte im Krieg. Sie hat auch auf allen Fotos, die er von ihr besaß, das Gesicht rausgeschnitten. Angeblich hat sie Opa auch geschlagen, gesehen habe ich das aber nie. Er war gute 20 cm kleiner als sie. Und wenn sie spazieren gingen, und es lag ein Pferdeapfel auf der Straße, den ein Fiaker verloren hatte, fragte er sie immer, ob sie nicht Heimweh hätte. Meine Oma kommt nämlich vom Land, aus Weikendorf, Bezirk Gänserndorf in Niederösterreich. Ich finde das heute noch lustig. Er hat auch immer „mein Monkey“ zu ihr gesagt. Gut dass sie nicht englisch konnte, ich hab es ihr auch später nicht verraten, dass er sie Affe nannte.

Wenn wir also dann bei Oma waren wurde erst einmal ganz köstlich gespeist. Oma konnte kochen, da kommt noch heute kein Haubenkoch mit. Dann wurde über Tante Anni, sowie über Papas erste Frau Hermine, mit der er auch einen Sohn hat getratscht und kein gutes Haar gelassen. Zum Schluss bekam Papa meistens ein paar Scheine. Und ich Bensdorp Schokolade. Die kleinen Riegel in grün und blau. Ich liebte sie. Heute gibt es diese Schokoriegel leider nicht mehr. Wenn man die Schleifen sammelte und 100 Stück an die Schokoladenfabrik schickte, bekam man Gratisschokolade.

Dazwischen gingen wir auch wieder nicht zu Oma. Da hatten sie wieder gestritten. Ich glaube, Oma mochte meine Mutter nicht, aber dafür Papas erste Frau. Heute weiß ich warum, denn ich habe Hermine kennengelernt. Sie wohnt in Simmering. So wie ich. Ich kenne auch ihren zweiten Sohn, den Halbbruder meines Halbbruders. Ja wir haben etwas eigenartige Verhältnisse bei uns. Auch Peter, den Sohn meines Vaters, lernte ich erst später kennen, da zog mein anderer Halbbruder Fredi zu seinem Vater und seiner Oma. Fredi ist Mamas Sohn aus erster Ehe. Ganz schön verzwickt für ein kleines, vierjähriges Mädchen. Zufällig habe ich erfahren, dass Fredi bis zu meiner Geburt, bei seiner Oma lebte. Das waren immerhin 6 Jahre.

Also zwischen den ganzen Oma ja und Oma nein Besuchen führten wir ein nettes Leben. Dass mein Bruder Fredi an den Wochenenden meistens nicht da war, fiel mir anfangs gar nicht auf. Erst als ich zur Schule ging und wir umgezogen waren. Im Wienerfeld gab es noch ein paar Dinge, an die ich mich erinnere und die ich erzählen möchte, bevor die schlimmere Zeit meines Lebens beginnt. Man sagt ja, alle 7 Jahre ändert sich der Mensch und mit ihm seine Lebensumstände. Wir zogen um, als ich sieben Jahre alt war.

Ganz toll fand ich es, als ich einmal, verkleidet als Cowboy zum Faschingsfest an die Schule meines Bruders in der „Per Albin Hanson Siedlung“ durfte. Dort waren alle sehr nett zu mir und es gab Krapfen, das war wie Weihnachten. Eigentlich besser, aber über unsere Weihnachten schreibe ich später. Für meinen Bruder war der Winter nicht so fein, der musste nämlich Schnee schaufeln helfen. Und da gab es noch Winter. Schneewechten so hoch wie Erwachsene. Einmal wollte mir mein Vater Schifahren beibringen. Erzählte er mir später. Auf der „Gstetten“. Mörderisch steil. 2 Prozent Gefälle. Angeblich habe ich dermaßen geschrien, dass es das erste und letzte Mal war, wo ich auf den Brettern gestanden bin. Meiner Meinung nach, habe ich geschrien, weil die Piste bei dem Teich endete, wo die vielen Kinder ertrunken sind. Nun da ich immer noch kein besonderer Fanatiker der kalten Jahreszeit bin, finde ich diesen Teil nicht besonders schlimm.

Im Sommer marschierten wir immer durch diversen Wildwuchs von hohen Hecken und Sträuchern zum Laaerbergbad. Über den Anningerweg durch die Heubergstätten. Ich ging sehr gerne ins Bad, aber ich hasste diesen Weg, wo überall Gefahren lauerten. Bienen, Wespen, Hummeln und Killerfliegen. Natürlich habe ich mich zusammengerissen, aber ich hatte echt furchtbare Angst. Das Bad war unser sogenanntes Stammbad. Wir waren eigentlich nie in einem anderen, solange wir in Favoriten wohnten. Das Essen hatten wir immer mit und manchmal gab es dort für uns ein kleines Eis. So eines, welches aus der Maschine in die Tüte kam. Einmal ist es mir runtergefallen, da habe ich mich auf den Bauch gelegt und es aufgeleckt. Ein zweites hätte ich niemals bekommen. Im Sommer 1966 konnte ich noch nicht schwimmen, deshalb war ich mit einem Reifen im Sportbecken. Nur leider bin ich beim hinein springen durchgerutscht und drohte zu ertrinken. Papa ist sofort rein gesprungen und hat mich an Land gezogen. Kurz danach wollte ich so gerne vom 3 Meter Turm springen. Ohne Reifen und ohne Schwimmhilfe. Okay – Papa war im Becken, ich am Turm. Er sagte, ich solle springen und ich tat es. Einfach so und ohne einen Funken Angst. Als ich eintauchte, hat er mich sofort geschnappt und raufgeholt. Da war er doch ein wenig stolz auf mich, dass ich so großen Mut hatte. Mama ging immer nur kurz ins Wasser und schwamm ein paar Längen. Sie war ganz darauf bedacht, dass ihr Haar nicht nass wurde. Schon damals habe ich das nicht verstanden, dass jemand so eine Spaßbremse sein konnte. Kein Ballspielen, kein Tischtennis, kein Tauchen – nichts. Absolut null Interessen. Nur Lesen.

Ansonsten liefen die Badetage immer gleich ab. Beim heimgehen, dieselbe Angst vor den hässlichen Krabbeltieren. Dazu noch meistens Sonnenbrand und aufgeriebene Schenkel vom nassen Badezeug. Wir hatten immer nur eine Garnitur, welche wir schon beim hin gehen anzogen und erst abends daheim wieder aus. Und dann gingen wir NICHT in die Badewanne. Schließlich waren wir ohnehin den ganzen Tag im Wasser gewesen.

Ich weiß nicht, ob wir Kinder in der Anlage hatten. Aber ein Mädchen muss es gegeben haben, denn dort durfte ich ein einziges Mal spielen hin gehen. Da sah ich zum ersten Mal eine Barbie. Wow, und ein Puppenhaus dazu. Vielleicht habe ich daheim zu viel davon fantasiert, ich ging nie mehr hin. In unserem Bau wohnte übrigens ein Junge namens Rudi Nemecek. Er wurde später mit dem Lied „Rudi, Rudi gib acht, Dein Schatten schleicht durch die Nacht“ kurzzeitig berühmt. Das hat mir aber Fredi erzählt, sie waren im selben Alter. Um nochmal das Spielzeug zu erwähnen – viel besaß ich nicht. Da waren ein riesiger Stoffaffe, ein Teddy, eine Schlummerle und eine Blechautobahn, nunmehr ohne Auto. Und ein kleiner, weißer Konzertflügel. Ich glaube, den hat mir eine Verwandte aus England einmal mitgebracht. Eine Schwester von Papas erster Frau hat nach England geheiratet. Der Flügel war zwar nur ungefähr so groß, wie ein kleines Kofferradio, aber man konnte wirklich darauf spielen. Das tat ich sehr gerne. Natürlich konnte ich es nicht. Aber ich fand schon das Geklimpere schön. Bis meine Mutter eines Tages einen Anfall bekam, es mir unter dem Spiel aus der Hand riss und auf den Boden schmiss. Ohne Vorwarnung. Dann stieg sie noch drauf und meinte: „Jetzt ist es hin!“ Wie wahr – ich glaube, da hasste ich sie sehr und dachte mir das böse Wort.

Einmal war mein Vater nicht da, obwohl er frei hatte und wir fragten sie ständig, wo er denn sei. Schließlich sagte sie, dass er einen Hund holen würde. Ich freute mich. Tiere mochte ich immer schon. Tiere sind lieb und lassen sich streicheln und sie spüren, wenn man traurig ist und legen sich zu einem. Ich hatte so eine Freude, dass ich mich auf das Bett legte und mit meinen Beinchen gegen die Wand trommelte und immer wiederholte: “Wir kriegen einen Hund, wir kriegen einen Hund!“ Mein Bruder saß nur auf seinem Bett und schaute mir zu. Sehr beschäftigt war Fredi zu Hause nie. Ich weiß auch nicht, ob er Spielsachen hatte. Wenn ja, dann sicher nicht sehr viele. Dann kam Papa heim. Ein kleines Rottweilerbaby auf dem Arm. Athos solle er heißen, aber eigentlich heiße er Alf von der Ostbahn. Nun, das habe ich nicht wirklich kapiert, aber egal. Athos war am Anfang sehr ängstlich, klar, weg von seiner Mama und der gewohnten Umgebung. Aber das gab sich bald. Er durfte übrigens auch nicht ins Schlafzimmer. Aber dieses Mal fand ich das super, denn so konnte ich nachts zu ihm gehen und ihn streicheln. Wenn ich am Boden mit den Figuren des Mensch-ärger-dich –nicht Spiels spielte, dann lag er bei mir. Manches Mal klaute er mir eine Figur und ich musste sie ihm aus dem Maul holen. Das war echt cool. Auch mein Bruder liebte diesen Hund, der bald sehr gut erzogen war (auch er fürchtete Papas Schlapfen). Wir konnten sogar mit ihm spazieren gehen und er gehorchte uns, oder er wusste, dass er folgen musste, da wir sonst alle drei Probleme bekommen hätten.

Leider mochte auch Athos keine Paradeissosse, sonst hätte sie mein Bruder nicht kleinweis in seine Geldbörse leeren und dann im Klo entsorgen müssen. Das mit dem Essen war bei uns immer so eine Sache. Wir mussten immer alles aufessen. Nur wir durften nicht die Größe der Portionen bestimmen. Das war echt schlimm. Den Trick mit der Geldbörse hat mir mein Bruder erst verraten, als wir erwachsen waren. Aber ich glaube, ich hätte mich ohnehin nicht getraut, aus Angst vor Ohrfeigen. Mein Kopf hat einiges ausgehalten, das ist schon ein kleines Wunder. Einmal bin ich mit einem Glas Wasser aus der Küche ins Wohnzimmer zum Esstisch gegangen und natürlich gestolpert. Das war es dann. Wenn ich dann da saß und schluchzte, pflegte mein Vater immer zu sagen; „Lach endlich!“ und dazu schnitt er Grimassen. Irgendwann musste ich dann tatsächlich lachen und für meine Eltern war die Sache erledigt. Für mich eigentlich nicht. Mein Bruder Fredi schaffte es, selbst bei Kochlöffel und Teppichpracker nicht zu weinen. Das machte Mutter noch verärgerter. Ich bewunderte ihn dafür. Ich schrie meistens schon vorher. Hat irgendjemand eine Ahnung, wie sich Kochlöffelschläge auf dem nackten Hintern anfühlen? Es ist furchtbar. Meine Mutter pflegte mich daran zu erinnern, dass ihre eigene Mutter ihr den Hintern vorher mit Salz eingerieben hätte, damit es noch mehr schmerzt. Ich konnte mich damals noch nicht geistig wegbeamen. Das klappte erst später. Dafür hatte ich schlimme Träume. Allerdings schwer erklärbare. Ständig wachte ich weinend auf. Ich wurde von einer schwarzen Welle verfolgt. Irgendeine Stimme sprach monotones Zeug, das eigentlich nicht furchterregend war. Es war der Tonfall und die schwarze Welle. Ein einziger anderer Traum ist mir auch noch in Erinnerung geblieben. Ich träumte davon, dass plötzlich alle Menschen Affen wären. Und ich suchte meine Eltern. Jeder, den ich ansprach, war ein Affe. Endlich fand ich in meinem Traum heim, lief in die Wohnung und zu meinen Eltern. Da standen sie – und sie waren Affen. Auch dieser Traum machte mir Angst. Ich war ja immer noch vier Jahre alt.

Ich litt damals bereits unter starker Migräne. Aus heutiger Sicht betrachtet, war es möglicherweise die Folge meiner Erziehung. Bei diesen Attacken half nur, die Fenster zu verdunkeln und sich flach und ohne Polster aufs Bett zu legen. Da hatte mein Vater volles Verständnis dafür. Auch er litt an Migräne. Meiner Oma soll auch die Hand sehr locker gesessen sein. Vielleicht war das der Grund dafür. Oder aber der Wein und Schnaps. Sie tranken ganz gerne. Aus meiner Sicht viel. Andere würden sagen, dass es gelegentlich war.

 

Man sagt immer, was man nicht kennt, das vermisst man nicht. Und das entspricht voll der Wahrheit. Mir ist nicht aufgefallen, dass nie jemand mit mir gekuschelt hat. Das man zwar einen Gutenachtkuss bekam, aber sonst eigentlich sehr große Distanz herrschte. Das fiel mir erst auf, als ich älter war und die Gespräche der anderen Kinder mithörte. Meine Eltern kuschelten sehr viel. Die klebten förmlich aneinander. Er fasste ihr auch ständig an den Busen. Ich frage mich, wie Fredi das empfunden hat. Er fuhr ja jedes Wochenende zu seinem Papa und seiner Oma. Er war ja nicht das Kind meines Vaters, also griff da ein „Fremder“ seine Mama an. Manchmal stritt ich auch mit meinem Bruder, aber das war selten. Meistens mussten wir zusammenhalten. Das war besser so.

Ich hatte auch einen Onkel. Der hieß Teddy, das war der Bruder meiner Mutter. Seine Frau hieß Adele, aber alle sagten Binky zu ihr. Keine Ahnung , warum. Die waren damals öfter an Sonntagen zum Essen bei uns. Die zwei mochte ich total gerne. So wie meine Tante Anni. Wenn sie kamen, gab es immer Suppe, Hauptspeise und Nachspeise. Ja und eines Tages kamen sie dann nicht mehr. Mir wurde erklärt, die sind jetzt böse. Ich habe schon eine komische Familie. Alle werden böse. Ob das irgendwie meinen Affentraum erklärt??

In der Anlage, gab es ein Stück weiter weg auch einen Konsum. Das war ein Lebensmittelgeschäft. Da bin ich mal mit meiner Mutter hingegangen. Während sie einkaufen war, habe ich draußen gewartet. Da kam Tante Anni aus dem Geschäft. Wir freuten uns beide und ich gab ihr ein Bussi und wir redeten. Sie gab mir eine Banane und ging. Ich aß gerade, als meine Mutter kam. Woher die Banane sei? Tante Anni ….. Platsch. Ich hatte wieder einmal eine rote Backe, die Banane wurde mir grausam entrissen und in den Müll geworfen. „Tante Anni ist böse!“ sagte meine Mutter am Heimweg. Mann oh Mann. Wenn sie das Busserl gesehen hätte, wäre ich wahrscheinlich ins Krankenhaus gekommen, oder anderes. Tante Anni existierte fortan nur mehr in geistiger Form für mich. So wie meine Oma und auch Onkel Teddy. Oder dieses Mädchen aus dem Haus. Die mit den Barbiepuppen. Aber ich hatte ja meinen Bruder, der nahm mich wirklich oft mit. Immer in die Wildnis, wo er mit seinen Freunden spielte und ich halt mit den kleineren Kindern, die dort herumrannten. Ich spielte damals sogar mit Kellerasseln. Die gab es zu Hauf. Am liebsten spielte ich Cowboy und Indianer. Wie man sich so verändert im Laufe der Zeit. Die Albträume waren sehr häufig. Oft hatte ich Angst einzuschlafen. Aber, wenn immer ich versuchte, es Mama zu erzählen, sagte sie nur, denk an etwas Schönes vorm Einschlafen. Ja gut, nur an was?? Ich betete jeden Tag. Das half zwar nicht vor den Albträumen, aber ich hatte wem zum Reden. Keine Ahnung, wer mir das Beten beigebracht hat. Meine Eltern glaubten beide nicht an Gott. Aber vielleicht dachten sie, dass es besser aussieht, wenn ich zur Schule komme und weiß, dass es Gott gibt. „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!“ So fing es an, das Gebet. In unserem Zimmer hing auch ein Bild. Zwei Kinder gehen im Wald über eine Holzbrücke und ein großer, wunderschöner Schutzengel passt auf sie auf. Mein Schutzengel war und ist – davon bin ich fest überzeugt – Onkel Berti. Tante Annis verstorbener Mann. Schließlich hat er mich angeblich so sehr geliebt, also warum soll es nach seinem Tod nicht auch so sein. Kindliche Logik.

Da meine Mutter sehr viel las, ging sie alle vierzehn Tage zum Bücherbus. Das war eine fahrende Leihbücherei der Stadt Wien. Der fuhr dorthin, wo es keine Bibliotheken in Häusern gab. Da bei Kinderbüchern keine Gebühr verlangt wurde, durfte ich mir Bilderbücher ausborgen. Das war schön. Das mochte ich. Und ich hoffte, sehr bald lesen zu lernen. Mein Bruder lernte mir auf Englisch bis zehn zu zählen und ein bisschen rechnen. Ich glaube, ihm war oft sehr fad. Warum sonst, hätte er das tun sollen. Englisch fand ich gut, weil meine Eltern es nicht konnten. Als ich ein Teenager war, fand ich die ultimative Lösung meines Tagebuches in Stenografie. Aber das kommt später. Viel später. Ausflüge wurden viele gemacht. Zum Beispiel in den Schlosspark nach Laxenburg. Dort gefiel es mir. Das Schloss war sehr gruselig und man konnte Blumen pflücken oder im Herbst Kastanien sammeln. Mein Bruder hat mit dem Handbohrer und Zahnstochern mit mir Kastanienmännchen gebastelt. Fredi hat auch aus Spinnenpapier Drachen gebastelt und sie dann (meistens nur einmal, da sie einen Absturz nie unbeschadet überlebten) steigen lassen. Und zu Ostern bemalten wir die gekochten Eier. Ich habe mich meistens gewundert, wieso der Osterhase, die Eier versteckt, die ich bemalt hatte. Krampus war immer sehr gruselig. Ich hatte große Angst, wenn es klopfte. Manchmal schepperten auch Ketten vor der Tür. Ja der holt die bösen Kinder, steckt sie in seine Butte und trägt sie in die Hölle. Ich war ja ein böses Mädchen. Mir fiel der Kuss von Tante Anni ein. Vielleicht hatte er es ja nicht gesehen. Er kann ja nicht allen Kindern zusehen. Fredi war der mutigere. Er holte immer unser Sackerl herein. Ja es waren Nüsse, Datteln, Feigen, Äpfel, Mandarinen und manchmal eine kleine Tafel Schokolade drinnen. Meistens aber brachte der Krampus neue Hausschuhe. Ein kluger Kerl, die vom Vorjahr drückten schon, oder der Zeh hatte sich seine Freiheit erbohrt. Gott sei Dank brauchte Mutter die Datteln und Feigen für das Kletzenbrot, dass sie vor Weihnachten immer buk. Na grauslich. Mein Bruder war auch nicht sehr böse darüber. Aber das Schöne an der Adventzeit war, dass Mutter viele Kekse machte, die keiner bis am Hl. Abend essen durfte. Sie konnte echt gut backen. Stibitzen konnte man sie nicht, sie waren ja im Schlafzimmer versteckt. Und das war Sperrgebiet. Weihnachten war immer spannend. Fredi durfte schon mithelfen den Baum aufputzen. Ich war so aufgeregt, dass ich öfters Migräne bekam. Unterm Baum lagen meistens neue Unterhosen, ein Nachthemd, Wollstrumpfhosen und ein kleines Spielzeug. Zu essen gab es immer Fisch. Eine Tortur. Nachdem man an Gräten, die man mitisst ersticken kann (wie unsinnig) waren alle Finger ständig im Mund. Wir hatten Angst unsere letzten Weihnachten zu feiern. Natürlich stand der Christbaum in unserem Zimmer, denn sonst war kein Platz. Schlimm war nur, dass ich sah, wie mein Vater das Glöckchen versteckte, mit dem angeblich das Christkind läutete, wenn es fertig war. Ich versuchte aus meinem Bruder die Wahrheit heraus zu bekommen, aber da war Herr Panzerfaust sehr schweigsam.

So dann und wann wurde unsere Wohnung ausgemalt. Ich weiß zwar nicht mehr, warum, aber ich habe noch am selben Tag mit einem Groschen an der Wand gezeichnet. Nur ganz klein und gleich über dem Lichtschalter. Groß war ich ja nicht. Das war dann ganz schlimm. Da ist Papa ausgerastet. Genauso wie damals, als ich leider am Wohnzimmerparkett ein Bild zeichnete und über den Blattrand kam. Ich hatte schon sehr große Angst vor Bestrafung, aber oft konnte ich meine Handlungen nicht vorhersehen. Eigentlich wollte ich den Boden nicht anmalen, ich war nur sehr ungeschickt. Ich wollte auch ganz sicher nicht mit dem Wasserglas stolpern.

Im Sommer fuhren wir mit dem Auto immer nach Lignano in Italien. Da wohnten wir in einem Appartement. Mutter kochte selber. Aber es war toll dort. Da konnten wir lange aufbleiben und die Straßen waren voller Leben. Da waren alle lange auf. Mama bekam dort immer eine ganze Menge Gewand und Schuhe von Papa. Wir meistens Shorts oder T-Shirts. Dort aß ich Tintenfische aus der Tüte. Gebackene. Die esse ich heute noch gerne. Es gibt dort im Meer sehr viele Krebse. Die zwicken. Als meinen Bruder ein Krebs zwickte, kam er aus dem Wasser, zeigte die kleine Wunde meinem Vater und der sagte todernst, das wäre ein Skorpion gewesen, in drei Stunden sei er tot. Fredi war zehn Jahre alt. Er saß diese drei Stunden auf der Luftmatratze und schloss mit seinem Leben ab. Als die Zeit um war, lachte mein Vater und klärte ihn auf. Fredi hat es ihm bis heute nicht verziehen, dabei ist mein Vater seit langen Jahren tot. Italien war auch insofern schön, weil die Eltern etwas relaxter waren, als daheim. Ich kann mich an keine „Urlaubswatschen“ erinnern.

Mit fünf Jahren lernte ich endlich schwimmen und Radfahren samt Bremsen konnte ich dann auch schon. Einmal hat es mich genau vor unserem Hauseingang so aufgehaut, dass mir schlecht wurde. Ich hab mich hingesetzt, instinktiv in den Schatten, und gewartet bis es mir besser ging. Dann schnell das Rad inspiziert, ob ja keine Dellen drauf sind. Die angebliche Migräne daheim, war sicher eine leichte Gehirnerschütterung. Es war wahrscheinlich nicht die einzige Hirnprellung, die ich im Laufe meiner Kindheit hatte. Auf dem Spielplatz, wo ich schon mal gegen die steinerne Rutsche gefahren war, hatten sie eine höhere aus Metall aufgestellt. Da setzte ich mich mit den Beinen auf einer Seite baumelnd ganz oben drauf. Ich verlor den Halt und knallte mit dem Kopf auf den Betonboden. Mein Bruder hätte auf mich aufpassen sollen. Der ist sicher etwas blass geworden, denn ich war bewusstlos. Er hat mich zur Bank getragen und mich versucht aufzuwecken, was ihm auch gelang. Etwas benebelt war ich. Aber wir beschlossen den Vorfall zu verschweigen. Es war ohnehin egal. Er hätte Prügel bekommen und mit mir wäre sowieso keiner ins Spital gefahren. Ist doch lächerlich, wegen so einer Kleinigkeit. Besondere Dinge fallen mir bis zur Einschulung nicht mehr ein, nur dass diese Alpträume nicht aufhörten und Athos mein bester Freund war. Außerdem zerriss er regelmäßig die Post, wenn er alleine war. Herrlich. Damals wurde sie noch durch den Briefschlitz in der Tür zugestellt. Ein Kinobesuch hat sich mir auch eingeprägt. Es spielte den Walt Disneyfilm „Schneewittchen“. Todesängste hatte ich mit meinen 6 Jahren im finsteren, lauten Kino. Mein Herz schlug rasch und laut und ich wäre m liebsten weggelaufen. Erst als ich etwas älter war gingen wir dann wieder. Und zwar zu den „Herby“ Filmen. Da ging es um einen VW-Käfer mit Eigenleben. Oma war mal böse und mal nicht. Das heißt, ich sah sie manchmal und dann wieder eine Zeitlang nicht. Tante Anni und Onkel Teddy blieben böse. Sonst kann ich mich nicht wirklich an etwaige Bekannte oder Freunde meiner Eltern aus dieser Zeit erinnern.

So wie jedes Kind entdeckte auch ich einmal meine Genitalien. Dann und wann fummelte ich daran herum oder bewegte meinen Hintern über Möbel, weil das gut tat. Aber leider hat mich Mutter einmal dabei erwischt. Was ich da mache und wer mir das gezeigt hätte. Das war überhaupt die dämlichste aller Fragen. Da bin ich ganz allein drauf gekommen. Sie ließ nicht locker, bis ich endlich sagte, dass es mir mein Cousin gezeigt hätte. Zwar aus heutiger Sicht ein Ding der Unmöglichkeit, aber sie ließ sich nicht anmerken, ob sie wusste, dass ich log. Wenn sie mir glaubte, dann war sie dumm. Buben machen es anders. Jedenfalls musste ich auf dem Kokosläufer knien. So an die zwei Stunde. Fredi und ich knieten oft auf dem Läufer. Ich glaube mich daran zu erinnern, dass er zusätzlich noch etwas auf den ausgestreckten Armen halten musste. Bin mir aber nicht sicher. Der Kokosläufer tat weh, er ging ins Gewebe des Kniegelenkes. Man hatte nach Beendigung dieser Strafe, für ziemlich lange Zeit hässliche Abdrücke. Da war Eckenstehen eine bessere Strafe. Wenn keiner zusah, konnte man sich anlehnen. Diesmal kam noch dazu dass Mama kein Wort mehr mit mir sprach, den ganzen Tag nicht mehr. Erst als wir zu Fuß Papa abholen gingen, hinauf zur Remise auf der Raxstrasse, gab sie mir die Hand beim gehen. Das machte mich doch sehr glücklich. Kinder lieben ihre Eltern, egal was passiert. Papa hat sie nichts erzählt. Ich nehme mal an, sie wollte nicht über so ekelige Dinge reden. Das Ignorieren der Themen körperliche Liebe, Sex, Fortpflanzung und ähnliches hat sie auch beibehalten. Die Kinder bringt der Storch. Man muss Zucker aufs Fensterbrett legen für ein Mädchen und Mohn für einen Buben. Dabei blieb sie. Erst in der ersten Klasse Hauptschule habe ich gemerkt, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach.

Papa abholen gingen wir öfters. Sie machte sich dann immer ganz schick. Sie war sehr schlank und kleidete sich gerne elegant. Sie war das Gegenteil von mir. Ich wurde eigentlich nie wirklich schick gemacht. Es ging mir auch nicht sehr ab.

Manchmal marschierten wir von unserer Wohnung bis zum Prater. Das war ein sehr weiter Weg (Hatscher) Vom Herrmann Schöne Platz hinauf zur Raxstrasse, dann rechts hinüber zur Favoritenstraße, diese stadteinwärts bis zur Zweierlinie, die wiederum weiter bis zum Donaukanal und dort entlang des Kanals bis zum Praterstern. In etwa 15 Kilometer. Und das mit kurzen Kinderbeinen. Ohne jammern und ohne klagen. Dort durfte ich bei zwei Ringelspielen fahren und dann gingen wir wieder zu Fuß heim. Ich fragte niemals, ob ich vielleicht noch ein drittes Mal auf ein Ringelspiel dürfte, oder ob ich ein Eis bekomme oder gar einen Langos. Ich hatte sehr früh gelernt, dass Papa ohnehin immer verneinte. So wurde ich vor Fremden immer gelobt, welch bescheidenes Mädchen ich doch war. Von wegen, ich war nur nicht dumm.

Wo wir auch manchmal hingingen, das war der Zahnarzt. An die Ordination, den Arzt oder sowas erinnere ich mich nicht, nur an den Weg dorthin. Am Rand standen nämlich Maulbeerbäume. Lecker. Das war wie Schokolade so fein. Nur der rosa Klee und die Blüten der Akazien am Laaerberg waren noch besser. Diese Dinge aßen mein Bruder und ich oft. Oder Früchte der Kleingärtner, die über den Zaun hingen. Akazien probiere ich noch heute, wenn ich welche greifen kann.

Mein Vater wechselte Arbeit. Von der Straßenbahn zum Telegraphenbauamt. Ich wurde 1968 eingeschult. Die Schule war gleich in unserer Anlage. Ich war schon sehr aufgeregt. In dieser Klasse saßen nur Mädchen. Eine jede toll zurechtgemacht mit allerhand Schnickschnack. Auf jedem Tisch lag eine Rolle Kekse, ein Bleistift und ein Namenskärtchen stand vorne am Pult. Meinen Vornamen mochte ich nicht. Keiner außer mir hieß Marlene. Es war mir peinlich. Und ich mochte diese Mädchen nicht. Sie waren so ganz anders. So zickig. Ich hatte nie gelernt mit Mädchen zu spielen. Fast alle Kinder hatten eine Schultüte von ihren Eltern bekommen. Das heißt, eigentlich hatte nur ich keine bekommen. Als dieser erste Tag vorbei war, und wir nach Hause gingen, hoffte ich, betete ich, wünschte ich mir von ganzem Herzen, dass ich zu Hause eine solche finden würde. Aber da war nichts. Athos war da und freute sich, dass ich nun wieder da war. Und ich habe ihm sicher erzählt, dass ich todtraurig bin. Jahre später habe ich mal gefragt, warum ich keine bekommen habe. Das war damals noch nicht so üblich, sagte Mutter. Und außerdem, war ich ohnehin immer zu dick, also was hätten sie den hineingeben sollen. Noch heute erzeugt der Anblick einer Schultüte Traurigkeit bei mir. Es gibt doch nur einen Tag im Leben, wo man sie bekommt.

Ich mochte diese Schule so ganz und gar nicht. Weder die Mädchen noch die Lehrerinnen. Es gab dort nämlich auch keine männlichen Pädagogen. Das Schulhaus selber war ein heller, freundlicher Neubau. Meine ersten Schreibversuche waren furchtbar. Ich bekam ständig Krämpfe in den Fingern. Es ging sehr schwer. In dieser Zeit redeten meine Eltern ständig davon, dass wir bald umziehen werden. Die Arbeit als Hausbesorgerin ist für Mama so anstrengend und von der Post (da gehörte das Telegrafenbauamt dazu) gäbe es sehr günstige Wohnungen. Einige gingen wir uns ansehen. Wir kletterten in Rohbauten herum, was eigentlich verboten war. Schließlich entschieden sie sich für eine Wohnung in Stadlau. Am Bahnhof war die Adresse. Das sorgte später öfters für Gelächter. Ich freute mich, da ich es mochte, wenn irgendwas passierte. Aber eines Tages eröffneten sie uns, dass Athos nicht mitziehen kann. Dort sind Hunde verboten. Fredi und ich sind verfallen. Wir liebten diesen Hund so sehr und er liebte uns. Zwei Jahre war er in etwa alt. Mein Vater verkaufte ihn an die Polizei. Er bekam viel Geld für Athos. Dieser wurde als Leichensuchhund eingestellt und kam in eine Polizistenfamilie mit Kindern. Ein einziges Mal durften wir ihn in Kaisersteinbruch besuchen. Aber nicht streicheln. Er hieß jetzt wieder Alf von der Ostbahn. Nächtelang habe ich geweint, es war furchtbar.

Mein Bruder hat mich vor kurzem gefragt, ob ich mich auch nur an eine einzige schöne Sache als Kind erinnern kann. Meine Antwort war, dass er Recht habe, mir fiele auch nichts ein. Aber jetzt denke ich, es war Athos. Er war das einzige schöne und erfreuliche, dass wir erlebten und besaßen. Nun war das auch vorbei. Die Eltern waren sehr mit Umzug und Arbeit wechseln beschäftigt. Mama hatte schon mit Heimarbeit begonnen, bevor wir in den 22. Bezirk übersiedelten. Hier wollte sie es als Hauptberuf machen. Sie hatte Weißnäherin gelernt, deshalb konnte sie gut mit der Nähmaschine umgehen. Und deswegen nähte sie zu Hause dann Anoraks für eine Firma in der Inneren Stadt. Ich musste klarerweise die Schule wechseln. Das freute mich ein wenig. Freundinnen hatte ich sowieso keine in meiner Klasse, also konnte es nicht schlimmer werden.

Das erste, dass wir sahen im neuen Wohnhaus war ein Dackel. Der musste von einem Besucher sein. Hunde durften hier nicht wohnen, ganz sicher. Da wir den Dackel täglich sahen, wussten wir bald, dass wir reingelegt worden waren. Die neue Wohnung wäre wohl von Athos schmutzig geworden, oder sie haben das Geld benötigt.

Die Wohnung selber war sehr groß. Gleich gegenüber der Eingangstüre befand sich das Klo. Dann links war die Küche. Nach der Küche kam ein Zimmer, dass vorerst das elterliche Schlafzimmer war, gegenüber war das Badezimmer, ohne Boiler. Dann kam das Wohnzimmer, riesengroß mit Balkon und dann das Kinderzimmer, ebenfalls mit Balkon. Allerdings herrschte da auch „Betreten verboten“. Eine weitere Tür führte dann in einen Schrankraum. Die Wohnung lag im dritten Stock und der Blick ging auf die Stadlauerstrasse. Und auf den Stadlauer Bahnhof. Sah man nach rechts war da ein Wachzimmer und gleich daneben ein Bauernhof. Mit Schweinen. Wo Schweine sind, sind Fliegen. Und Fliegen fliegen. Natürlich auch zu uns. Diese Gasse hieß Schickgasse. Auf der anderen Seite, also links, verlief die Gemeindeaugasse. Dort befand sich ein Friseur, die Kirche, einen Grünhändler („Greatandler“ = da gab es nur Obst und Gemüse)und die „Ruzicka“, ein Geschäft, wo man Schreibwaren, Schulsachen und Zuckerl kaufen konnte. Finster, mit Holzboden und nur so groß, wie ein Kabinett. Aber jeder liebte diesen Laden. Man bekam Stollwerkzuckerl einzeln um 10 Groschen das Stück zu kaufen.

 

Die Straßenbahn fuhr nur bis zur Kreuzung Stadlauerstraße und Erzherzog Karlstraße. Ab da musste man gehen. Wer weiter weg wohnte, konnte Bahn oder Bus nehmen. Alles was nach der Konstanziagasse kam, war mit Ausnahme einer sehr großen Gemeindebauanlage (Aribogasse) Kleingärten, Einfamilienhäuser, Gärtnereien, Felder, Bauernhöfe. Eigentlich sehr ländlich. Es gab noch kein Donauspital, keine Südosttangente und die Gewerbeparks waren noch Lichtjahre entfernt. Es war friedlich und die Lobau zum Greifen nahe. Eigentlich lebten wir fast am Lande. Der nächste Greißler (kleines Lebensmittelgeschäft) war nahe der Volksschule. Der Supermarkt Löwa war zu Fuß sehr weit weg. Bei diesem Greißler kauften sich die anderen Kinder morgens immer ihre Extrawurstsemmeln. Das durfte ich nie. Das kostet zu viel Geld, denn Mama verdiente in der Heimarbeit nicht so viel und Papa wollte ein neues Auto kaufen. An diese ersten Ferien scheitert mein Erinnerungsvermögen sehr. Wahrscheinlich war ich zu sehr mit trauern um Athos und umziehen und Oma wieder sehen dürfen beschäftigt. Die Albträume waren zu dieser Zeit fürs erste weg. Das Kopfweh leider nicht. Meine Migräneattacken steigerten sich bis zum Erbrechen. Gott sei Dank hörten sie nach einem tiefen Schlaf auf. Manche Menschen haben so etwas tagelang. Im September ging wieder die Schule los. Ein wenig Angst hatte ich, wegen der vielen neuen Kinder und dass sie mich vielleicht ausspotten könnten. Ich war etwas dicker als der Durchschnitt, mein schönes, langes Haar, dass noch in der ersten Klasse zu einem Pferdeschwanz gebunden war, war ganz kurz abgeschoren und ich hatte schiefe, lange Vorderzähne.

Meine Mutter hatte die neue Frisur gewählt, weil ich beim frisieren und Haare waschen immer geweint hatte. Kann es sein, sie war zu grob oder zu ungeduldig? Nein, ich war sicher wehleidig. Ebenso beim Friseur, wenn das Messer an den Haaren gerissen hat. Warum zum Teufel haben die Scheren erfunden? Nun gut, ich nahm es wie immer hin, da ich es doch nicht ändern konnte und es in unserer Familie ohnehin keinerlei Diskussionen gab. Was Vater sagte wurde gemacht und meine Mutter, die lebende Marionette, tanzte danach. Das mit der Marionette stammt von Fredi und ich hätte keinen besseren Vergleich finden können. So kam ich also in die zweite Klasse in der Konstanziagasse 24-26. Die Lehrerin war sehr alt, aber einfach sehr lieb. Sie war auch dick. Das war schön. Und es gab nicht nur Mädchen hier, sondern auch Buben. Und am besten gefiel mir, dass nicht alle schick angezogen waren, sondern ganz normal, so wie ich. Also nicht ganz so. Ich durfte seit ich zur Schule ging keine Hosen tragen, schon gar keine Jeans. Viel von meinem Gewand waren Teile meiner Mutter, die sie an der Nähmaschine geändert hatte. Ein Modefreak bin ich ja heute noch nicht und daher war das eher zweitrangig, noch. In der Schule war ich nicht so übel, ich tat mich zwar immer noch mit dem Schreiben schwer, aber ich konnte lesen. Und ich nutzte das aus und las alles, was mir in die Finger kam. Zum Vatertag in der zweiten Klasse verfasste ich mein erstes Gedicht. Zwar nur einen Vierzeiler, aber ganz alleine. Mein Bruder ging in die Hauptschule. Die ist ebenfalls in der Konstanziagasse und wenn ich mich nicht irre, auf Haus Nummer 50. Auch er fand Freunde und traf sich zum Murmel spielen auf der Wiese in der Aribogasse. Dahin nahm er mich mit. Sie gruben Löcher und jeder Bursch hatte ein Säckchen Glaskugeln dabei. Dann spielte man, wer als erstes in das Loch traf. Der Gewinner bekam die Glasmurmeln der anderen, die gerade im Spiel waren. Fredi war da sehr geschickt dabei. Mein Bruder ging auch Fußball spielen. Er trat einem Verein bei, dem ESV Stadlau. Der war und ist Ecke Wiedgasse und Stadlauerstrasse. Das ist ziemlich nahe unserer Wohnung gewesen. Wenn ein Match war, meistens Sonntag, dann gingen wir hin um zuzusehen. Also mein Vater sah zu und ich ging auf dem Fußballplatz herum und stellte mir vor, ich bin ein Indianer, der allerhand erlebt. Da ein Teil dieser Sportanlage Wildwuchs war, funktionierte das ausgesprochen gut. Mein Bruder war da schon vierzehn Jahre alt. Ich finde es heute noch toll, dass er mich so oft mitgenommen hat. Und das, obwohl er sich angeblich so oft für mich geniert hat. Ich war mit ihm auch Schwimmen in der alten Donau. Obwohl mir sehr vor dem Wasser grauste. Beim Hunderter waren wir da. So nennt sich eine Stiege, die ins Wasser führt. In diesem Wasser waren nicht nur Fische und Tang, sondern auch Steine und Schlamm. Sowas mochte ich nicht so gerne, weil ich doch das Laaerbergbad gewohnt war. Schwimmen konnte ich inzwischen, wie ein Fisch. Mein Bruder mochte meinen dicken Bauch nicht so, und ständig sollte ich dran denken, ihn einzuziehen. Ich war acht Jahre alt, da gibt es wichtigere Sachen. Alles war besser, als zu Hause sein, die Heimarbeit war für Mutter noch anstrengender, als der Hauswartposten. Ständige Schreierei und Ohrfeigen für Kleinigkeiten. Als mein Bruder einmal in der Badewanne saß, warf ich die Seife ins Wasser. Sie kam rein und fragte, wo die Seife sei. Fredi sagte, dass er sie grad suche und schon klebten ihre Finger an seiner Wange. Da schaute mein Bruder verdutzt und sagte, dass ich die Seife rein geschmissen hätte. Sie sagte knapp: „Entschuldigung!“ drehte sich um und knallte mir eine. Ja so Seifen sind sehr teuer, fast noch teurer, wie heißes Wasser zum Baden. Noch oft hörte ich sie bei Bekannten prahlen, dass sie sich bei ihren Kindern entschuldigt, wenn sie ungerecht war. So eine Kuh. Sie war ständig ungerecht und hätte eigentlich auf allen Vieren hinter uns her rutschen müssen. Ich begann sie zu hassen, aber nur ein bisschen, denn ich liebte sie auch, denn sie war meine Mutter. Wenn ich analysiere, was ich geliebt habe, dann fällt mir ein: Die Hoffnung darauf, einmal einfach geliebt zu werden, gedrückt zu werden und zu hören, dass es gut ist, so wie ich bin. Aber vielleicht wäre ich dann auch eine verwöhnte, aufgeblasene und schreckliche Zicke geworden, die ihr Leben nicht meistern und an ihren Schwächen scheitern. Ich hörte immer öfter, dass ich zu dick bin und dass sich das ändern muss. In diesem Jahr passierten die eigenartigsten Dinge. Wir durften niemals etwas aus dem Kühlschrank nehmen. Auch die anderen Lebensmittel waren tabu. Ich hielt mich da weitgehend daran, da ich nie alleine zu Hause war. Und nachts schlief ich. Mein Bruder aber, holte sich dann und wann ein paar Blätter Wurst von der Geschnittenen. Oder er schnitt sich eine Scheibe von der Stange runter. Wenn er Blätter nahm, drehte er ein paar von den verbliebenen ein, damit das Wurstpaket gleich groß aussah. Bei der Stange machte Vater vorne immer ein Kreuz in den Anschnitt, mein Bruder ebenfalls, nachdem er sich eine Scheibe genommen hatte. Wir bekamen selten Wurst. Beim Cola wurde der Stand an der Flasche mit Faserstift markiert, so konnten wir nicht davon trinken. Auch Fleisch fehlte oft. Das bekam Papa, der brauchte es dringend, weil er so schwer arbeiten musste. Er war Chauffeur beim Telegraf und wog damals 110 Kilo. Jedenfalls muss jemand gemerkt haben, dass trotz aller Maßnahmen Wurst verschwand. Eines Tages war die Küchentür verschlossen, der Schlüssel verschwunden und wenn wir Wasser trinken wollten, dann konnten wir ins Badezimmer gehen. Mein Bruder war ein Held. Ich hätte mich nie getraut, auch nur irgendetwas aus dem Kühlschrank zu nehmen. Ich hatte vor den Eltern solche Angst, dass kann man kaum beschreiben. Fredi ging es besser, der flüchtete an den Wochenenden zu seiner Oma. Da war ich dann alleine und ausgeliefert, durfte nirgends hingehen, denn es passte ja niemand auf mich auf. Wohin hätte ich auch gehen sollen, richtige Freunde hatte ich ja nicht. Manchmal sagten sie auch, dass er nicht zur Oma dürfe, quälten ihn, bis ihm Tränen des Zorns, in den Augen standen. Gefahren ist er schließlich immer, da hatten sie zu viel Angst, dass Fredis Vater einmal ausrastet. Manchmal gab es natürlich sehr wohl Fleisch auch für uns. Mit viel Fetträndern. Das mussten wir essen. Auch wenn man würgte. Ich würgte immer so leise, wie es nur ging. Das blöde Fett rutschte einfach nicht so leicht runter. Auch paniert, im Schnitzerl versteckt, das Fett war widerlich. Da liebte ich es bei meiner Oma zu essen. Die kochte super gut. Alt-wienerisch mit Schmalz, aber mit magerem Fleisch. Sogar der Schweinsbraten war mager. Die Rindsrouladen waren so lecker, und für mich machte sie immer Spagetti dazu. Wenn Mama Rindsrouladen machte, gab sie Suppengrün hinein, das nahm einen großen Teil der Lust am Essen. Bei uns gab es auch keine Naschlade. Wenn mal etwas da war. Dann wie durch Zauberhand.

Wenn wir schliefen, oder zu mindestens schlafen sollten, dann aßen die Eltern gemütlich zu Abend. Im Wohnzimmer kuschelnd vor dem Fernseher. Wurstaufschnitte, diverse Käsesorten, Weintrauben, Kaviar und noch viele andere Sachen. Ich war ja ein artiges Mädchen und schlief. Aber mein Bruder, der war sehr gescheit und hatte eine kleine Blase. Der musste oft auf die Toilette und somit durch das Wohnzimmer. In diesem Herbst passierte viel. Nicht nur, dass wir umzogen, Schule wechselten und unser Opa noch kränker wurde. Ich wurde auch mal zu einem Geburtstag eingeladen. Ein Günter, der hier im selben Bau wohnte und mit mir in dieselbe Klasse ging, lud mich ein. Erst sagte man natürlich nein. Mama sagte, ich soll Papa fragen, Papa sagte, wie immer natürlich wieder nein. Er sagte genau viermal nein. Dann plötzlich wurde es erlaubt. Jahre später habe ich erfahren, dass er Vater des Schulkollegen ein hoher Beamter bei der Post war und nachgefragt hatte, ob ich kommen werde. Welches Geschenk sie einpackten, weiß ich nicht mehr. Aber ich war sehr aufgeregt. Ich zitterte. Viele Menschen, viele Kinder, es war laut, es gab Torte und auch andere Dinge. Es wurde gespielt. Ich fühlte mich so fehl am Platz und glücklich gleichzeitig. So etwas kannte ich nicht. Geburtstagstorte mit Kerzen. Gratulanten, mit vielen kleinen Geschenken. Party. Spiele. Das war so schön. Nun, es war einer der wenigen Geburtstage, wo ich je hinging. Erst in der Hauptschule gelang es mir noch einmal. Vielleicht habe ich daheim zu viel geschwärmt, oder das Geschenk war zu teuer.

Der Herbst zog durchs Land, die Adventzeit kam. Durch die Schule und auch den Erstkommunionsunterricht kam ich in die Kirche und schnupperte in die Jungschargruppe hinein. Da gab es einen alten, großen, dicken Pfarrer, der hieß Pater Doppler und den hatte ich wahnsinnig gerne. Der nahm Schnupftabak. Das ließ er uns Kinder auch versuchen. Jesus, so genießt habe ich noch nie, wie nach dem schnupfen des Tabaks. Überhaupt gefiel es mir dort. Manchmal spielten sie einen Micky Maus Film. Auch zur Kirche ging ich. Ich redete ja auch daheim mit Gott über meine Sorgen. Mit wem sonst? Gott war wie Athos, der verriet mich nicht. Der Krampus war nicht mehr so gruselig in Stadlau, wie im Wienerfeld. Aber er brachte weiterhin hauptsächlich Früchtebrotzutaten und Hausschuhe. Welche Überraschung. Schokolade war wenig aber doch dabei. Die Zeit in der Schule gefiel mir. Ich konnte jetzt lesen. Da es hier keinen Bücherbus gab, las ich öfters die Zeitung. Später entdeckte meine Mutter eine Bibliothek, die in der Erzherzog Karl Straße war. In der Schule lasen wir Geschichten über Krampus und Weihnachten. Darin erfuhr man, das u diesen Festen immer die ganze Familie zusammenkam. Onkel und Tante und Kusinen und Großeltern. Nun hätt ich daheim fragen können, wo unsere Verwandten sind, aber ich ließ es bleiben. Kurz vor Weihnachten starb mein Opa. Wir spielten gerade, als mein Vater ins Kinderzimmer kam und es uns sagte. Ich habe keine Ahnung warum, aber ich musste leider grinsen. Nun – an den Rest kann ich mich nicht erinnern – ehrlich. Erst als mein Bruder dann fragte, warum ich gelacht hab, und das ich sagte, ich weiß es nicht. So sehr ich mich auch anstrenge, ich weiß nicht, ob ich eine Ohrfeige bekam, oder sonst eine Strafe. Ich habe es verdrängt. Meine Eltern gingen auf die Beerdigung, ob ich dabei war oder nicht, kann ich mich auch nicht erinnern, nur dass danach die Streiterei um das Grab anging, indem auch schon mein Onkel Herbert ruhte. Es war am Meidlinger Friedhof, am alten Teil. Ich hatte als ganz kleines Mädchen einmal einen Spielzeugrevolver in die Laterne getan, damit sich mein Onkel im Notfall verteidigen konnte. Ja, auch damals kannte ich schon die wirksamsten Verteidigungsmaßnahmen. Und zu Oma fuhren wir nun öfters. Papa musste ihr schließlich helfen. An Weihnachten war Oma bei uns. Papa fuhr sie holen, Mama keppelte herum. Ich bekam Kopfweh. Oma kam und es wurde gegessen. Es gab immer Suppe, gebackenen Karpfen, wo man wieder im Mund die Gräten suchte und der mir gar nicht schmeckte, dazu Kartoffelsalat. Alle zwei Minuten fragte jemand: „Hast eine Gräte??“ Oder stellte fest, er habe eine Gräte. Dann war Bescherung. Meine Oma gab mir eine nicht sehr hübsche Puppe, die Opa vor seinem Tod noch für mich besorgt hatte. Von Papa bekam ich, und das war ein Wahnsinn, eine Matchbox Superfast Autobahn! Unglaublich. Da freute ich mich. Nur ich hatte Kopfweh und legte mich ins Bett. Oma setzte sich zu mir und rieb meine Schläfen mit irgendeiner Creme ein, die nach Menthol roch. Sie massierte und massierte und hatte dabei eine Ausdauer, die phänomenal war. Tatsächlich hörte das Kopfweh auf. Gespielt habe ich am Hl. Abend nicht mehr, das taten mein Vater und mein Bruder. Ich war aber nicht böse deswegen. Papa fuhr Oma irgendwann wieder heim und der Abend endete relativ friedlich, soweit ich mich erinnern konnte.

Silvester lief ebenfalls immer ziemlich gleich ab. Es wurden Brötchen gemacht, und für Mitternacht eine Gulaschsuppe. Je nachdem ob Wochenende war, war mein Bruder dabei oder auch nicht. Dann wurde ferngesehen bis Mitternacht und beim Schlag der Pummerin, Punkt Zwölf, tanzen meine Eltern Walzer und Papa griff Mama an den Hintern. Die Pummerin ist die große Glocke im Stephansturm im Ersten Bezirk von Wien. Dann gab es so komische Biskottenfische, denen musste man den Schwanz abbeißen und Sekt dazu trinken. Ich mochte weder das eine noch das andere. Und Glücksbringer für die Geldtasche gab es auch. Vater und Fredi schossen Millionen Piraten vom Balkon und Mama schaute sich das Feuerwerk an. Dann wurde natürlich Oma angerufen, sonst niemand, man wünscht ja nur netten Menschen ein gutes Neujahr.

Die ganze Zeit über lebte ich mit Fredi zusammen und wusste aber, dass es da noch einen Bruder gab. Wenn Zeit war schaute ich mir die Fotoalben an und da waren Bilder drinnen, wo auch mein Bruder Peter abgebildet war. Als ich eineinhalb Jahre alt war, waren die Eltern mit uns dreien im Urlaub auf der Insel Brecko gewesen. Seither hatte ich diesen Bruder nicht gesehen. Meine Oma erzählte manchmal von ihm und was er gerade so macht. Sonst wurde kaum über ihn gesprochen. Es sollte noch eine Weile dauern, bis ich ihn „kennenlernte“. Nach dem Silvester kam immer erst Fredis Geburtstag und dann meiner. Was er bekam, weiß ich nicht, was ich bekam, auch nicht mehr, aber ich weiß, was ich nie bekam. Eine Familienfeier mit Kerzen und Freunden und vielen bunten Päckchen. Luftballone und Papierschlangen. Manchmal bekam ich eine Torte. Später sicher nicht mehr, weil eine Torte ist so groß und die kann man zu viert nicht aufessen und somit also nicht nötig. Ein Brotlaib mit Kerzen wäre schön gewesen. Einladen durfte ich ohnehin niemanden, niemals. Vater wollte kein fremdes Kind in der Wohnung, die machen Mist, oder etwas kaputt. Meine Mutter war, wie immer ferngesteuert (Der Ausdruck ist auch von Fredi) und voll seiner Meinung. Nun es tat nicht ganz so weh, weil ich es ja nicht anders kannte. Noch nicht. Nach meinem Geburtstag, den ich am 10. Jänner feiere, beginnt die Faschingszeit. Im Kirchenheim gab es eine Feier, wo wir verkleidet hingehen konnten. Ich hatte kein Kostüm. Ich wäre so gerne als Cowboy oder Indianer gegangen. Aber Mutter hatte von den Anoraks, die sie nähte, goldfarbigen Stoff über. Das wurde ein Prinzessinnenkleid, welche Schmach. Es hing lose an meinem Körper herunter, am Hals und an den langen Ärmeln waren Rüschen genäht. Am Kopf hatte ich eine Plastikkrone mit einem Gummiband. Da ich aber so gerne zu anderen Kindern gehören wollte, motzte ich nicht, sondern ging mit dieser Verkleidung hin. Da gab es natürlich noch andere Prinzessinnen, in Tüll und Taft und Rüschen und Schmuck. Ich wollte am liebsten in einem Loch in der Erde versinken, so sehr habe ich mich geschämt. Aber eines konnte ich ganz gut. Ich tat so, als würde mir mein Kleid gefallen und dass es meine Mutter nach meinen Anweisungen genäht hätte. Bis zum Schluss bleiben durfte ich auch nicht. Ich bekam immer unmögliche Zeiten zum Heimkommen vorgegeben. Und wehe – aber wirklich – es war nur eine Minute drüber. Welche Strafe es gab, dass konnte man nie wissen, aber dass es eine gab, war sicher. Es fing bei einer Ohrfeige an, ging über Fernsehverbot zu Hausarrest über. Manchmal schaffte man einen Triple. In der Schule beim Faschingsfest wiederholte sich die Schmach des Kleides. Es wurde Frühling und der Sommer nahte. Mein Bruder, inzwischen stolze 14 Jahre alt, spielte beim ESV Stadlau Fußball und war ein recht guter Spieler. Oder er sah den anderen Spielern zu. Irgendwann hat ihn mein Vater beim rauchen erwischt, als er auch auf den Fußballplatz ging. Nicht zufällig. Wir wurden kontrolliert. Es gab mächtig Zoff. Meine Schulnoten waren recht gut, besonders in Deutsch. In Betragen bekam ich eine zwei, die blieb mir bis zum 14. Lebensjahr.

Das kleine Lebensmittelgeschäft am Eck bei der Schule hieß Müllner. Dort kauften die Eltern immer die Delikatessen für ihre nächtlichen Diners ein. Mir gelang es nicht einmal, Geld für eine Extrawurstsemmel zusammenzukratzen. Meine Jausen waren meistens Butterbrot, Marmeladebrot oder das schlimmste war Sardellenpaste auf Butterbrot. Wir bekamen einen neuen Schüler – den Namen weiß ich nicht mehr. Er konnte kein Wort Deutsch. Er kam aus Jugoslawien, das Land gibt es heute so nicht mehr. Der bekam zur Jause eine drei Liter Plastikdose mit verschiedenen Wurststücken mit. Am liebsten hätte ich sie ihm geklaut. Oder Gabi W.s Pausenbrot, das so hauchzart geschnitten war, dass es schon lecker aussah. Drinnen ein paar Blätter Extrawurst und ein Gurkerl. Meine zwei Brotscheiben waren sehr dick, weil meine Mutter sie per Hand schnitt und stolz drauf war, dass sie gerade blieb beim Schneiden. Super, dafür war eine sicher zwei Zentimeter dick. Wie man sieht, war Nahrung, vor allem wohlschmeckende Nahrung immer schon sehr wichtig für mich.

Aber das Leben dreht sich nicht nur um Nahrung. Seit ich zur Schule ging, durfte ich keine Hosen mehr tragen. Schon gar keine Jeans. In der Volksschule war mir das ja noch relativ egal. Auch fielen meine Wollstrumpfhosen nicht sonderlich auf, nur die per Hand gestopften. Meistens an den Knien und farblich nicht ganz getroffen. Ich meine, Mutter stopfte blaue Strumpfhosen sehr wohl mit blauem Stopfgarn, aber das Blau war eben nicht das gleiche Blau. Sie selber trug Nylonstrümpfe. Die trug sie zum repassieren. Das kennt man heute gar nicht mehr. Da gab es Geschäfte, die Laufmaschen in Nylons tatsächlich reparierten und das nannte man repassieren. In der 2. Klasse und mit dieser alten Lehrerin ging es mir doch sehr gut. Die Erstkommunion nahte und ich freute mich darauf. Vorher mussten wir natürlich auch das erste Mal beichten. Das war mir mehr als unangenehm. Der Pfarrer, nicht mein Liebling, Pater Doppler, sondern ein anderer, der Pfarrer Stummer, wollte genau wissen, was ich denn böses gedacht habe und ob ich mir öfter wohin greife, wo man sich nicht angreifen darf. Boah, da musste ich lügen und ich habe ihm gesagt, nur beim Waschen. Jetzt hatte ich gleich doppelt schlechtes Gewissen. Aber ich weiß genau, der liebe Gott, hat diese Notlüge verstanden, denn der Pater Stummer war kein guter Mensch. In der Jungschargruppe bastelten wir sehr viel und das war eine nette Gemeinschaft. Bis sie einmal sahen, dass ich über der Wollstrumpfhose eine rosafarbene, dicke, Flanellunterhose trug, weil meine Mutter meinte, da verkühle ich mir die Blase sicher nicht. Oh das war peinlich. Danach zog ich sie im Stiegenhaus immer aus und beim heimkommen wieder an.

Dann gingen wir Kommunionskleid kaufen. Ich hegte kurz Hoffnung ein weißes, wallendes Kleid mit Spitzen zu bekommen. Es wurde ein schlichtes Kostüm in weiß, mit kurzem Rock, dazu Strumpfhosen und schwarze Lackschuhe. Schließlich macht so ein Kostüm schlank, denn ich bin ja schon sehr dick und das kann man auch öfter tragen, als so ein „Ballkleid“. Nun das Erstabendmahl ging vorüber, und die Kerze von meiner Oma war sehr schön, denn die hatte sie in Mariazell besorgt. Was wir danach taten, weiß ich nicht mehr. Vielleicht waren wir im Prater. Das weiße Kostüm habe ich nie mehr getragen, weil wir nirgendwo hingingen, wo es passend gewesen wäre. Kurz nach der Kommunion ging ich an einem Sonntag in die Kirche. Ich hatte kurze Hosen, weil wir danach ins Stadlauer Strandbad wollten. Als ich da saß und der Pfarrer predigte, hörte ich, wie er sagte: „Und es ist nicht gut mit kurzen Hosen in die Kirche zu gehen, das tut man nicht. Der liebe Gott will seine Kinder mit bedeckten Knien sehen.“ Da lief ich weinend heim, was meinen Vater dazu bewegte, eine furchtbare Schimpftirade loszulassen über alle Pfarrer dieser Welt und meine Mutter sagte, dann gehst halt nicht mehr hin. Fertig.

Leider sah ich diesen Pfarrer immer im Religionsunterricht. In die Kirche ging ich nur mehr unter der Woche. Und da auch nur, wenn sonst niemand da war. Meistens alleine, da saß ich dann in einer Bank und dachte nach, hielt quasi Zwiegespräche mit dem lieben Gott. Antworten bekam ich nie, aber es hörte mir zumindest wer zu. Manchmal nahm ich aber eine Schulkollegin mit. Auch an jenem verhängnisvollen Tag, an dem ich für Opa und Onkel Berti Kerzen anzünden wollte. Wir zündeten gemeinsam sehr viele Kerzen an. Ich habe keine Ahnung, wie viel so eine Kerze kostete, aber es war mir auch egal. Ich hatte sowieso kein Geld und ich war im Irrglauben, dass es gratis sei.

Ein paar Tage später hatten wir wieder Religion. Irgendwann während des Unterrichts sagte der Pfarrer: „Und Gott sprach zu mir, dass hier in dieser Klasse jemand ohne Bezahlung alle Kerzen in der Kirche angezündet hat. Der Herr wird böse strafen, wenn der Täter nicht sofort 50 Schilling in den Opferstock wirft.“ Dabei sah er mich ganz giftig an. Oh ich hatte Angst. Gott sprach mit ihm, Gott petzte, meine Eltern werden mich strafen, mehr als Gott es tun könnte. Mir wurde echt schlecht und mein kleines, achtjähriges Gehirn begann zu arbeiten. Ich zermarterte mir den Schädel. Was soll ich nur machen? Groß war die Angst vor Gott, noch größer die Angst vor Schlägen und Erniedrigungen. Da fiel mir etwas ein. Ein kleiner Lichtblick am Ende dieses schier endlos schwarzen Ganges: Fredis Münzsammlung. Ich weiß nicht, wieso er die hatte, von den Eltern bestimmt nicht. Aber er hatte zwei volle Alben mit 50er und 25er Silbermünzen. Das sammelte er genau so, wie Briefmarken. Ich ging also heim und sah mir sein Münzalbum an. Irgendwo in der Mitte entnahm ich die Münze und steckte sie ein. Sie brannte, wie Feuer in meiner kleinen, schmutzigen Hand. Nun hoffte ich natürlich, dass er mir nie draufkommen würde. Ich schlich mich in die Kirche und schloss mit Gott einen Pakt. Ich werde diese Münze nur dann einwerfen, wenn er nicht wieder dem Pfarrer petzte, dass ich nun auch noch gestohlen hatte.

Schweren Herzens warf ich sie ein und ging heim. Ich hatte wirklich ein sehr schlechtes Gewissen. Das ist bis heute so geblieben.

Ein paar Tage nach diesem Vorfall, sah sich Fredi wieder einmal seine Münzalben an. Er sah das leere Feld, blickte verwirrt in die Luft, sah wieder darauf und stellte das Album in das Regal zurück. Mein Herz klopfte wie verrückt, denn ich saß daneben und spielte. Kein Wort sagte er. Ich versuchte es zu vergessen.

Der Pfarrer erwähnte in Religion, dass der Kerzendieb nun Reue gezeigt hatte und dass die Welt wieder in Ordnung sei. Und Gott hielt auch seinen Teil des Paktes ein. Der Pfarrer erfuhr nie, dass ich meinen Bruder bestohlen hatte.

Als ich etwas älter geworden war, schnallte ich dann, dass das Mädchen, welches mit mir die Kerzen angezündet hatte, beichten gegangen war und alles erzählt hatte. Diese blöde Kuh. Bis heute tue ich mir sehr schwer jemanden zu vertrauen und bei wichtigen Dingen, bleib ich wohl immer ein Einzelgänger. Da ich aber auch so gut, wie nichts vergesse, nahm ich mir vor, mich irgendwann zu rächen. Natürlich ließ ich einige Zeit verstreichen.

Zu Hause war alles wie immer und wenn mein Bruder und ich alleine waren, spielte er immer so eigenartige Sachen mit mir. Finger hochhalten (ich) und mit einem Satz Spielkarten draufhauen (er). Oder einen Satz Spielkarten nehmen und von der Schulter bis zu den Fingern runterziehen. Er hielt die Karten. Natürlich ging dem immer eine Wette voraus, bei der ich verlor. Einmal kamen wir dermaßen in Streit, dass ich Nasenbluten bekam. Blut spritzte an die Wand. Da wurden wir beide blass. Wenn das die Eltern sahen, gab’s Probleme. Gemeinsam radierten wir und reinigten wir die Wand. Bis die Eltern kamen, sah man nichts mehr. Wir vertrugen uns wieder und niemand hat je etwas erfahren.

Die Küche war weiterhin versperrt, wenn wir alleine waren. Wenn sie offen war, weil der Eiskasten leer war, dann nahm ich mir Kakaopulver, verrührte es mit Zucker und Wasser und aß es genussvoll auf. Natürlich musste ich danach alles reinigen und wieder zurückstellen. Das Kakaopulver wurde Gottseidank nicht abgewogen.

Die Wochen zogen ins Land. Von Tante Anni, sowie Onkel Teddy und seiner Frau Binky, habe ich während meiner ganzen Kindheit und Jugend nichts mehr gehört. So als wenn sie niemals existiert hätten. Dabei hatte ich auch eine Kusine vom Onkel bekommen, aber das erfuhr ich erst Jahre später. Manchmal durfte ich alte Fotos angucken, die als ich noch ganz klein war. Wenn ich nach meinem Bruder Peter fragte, hieß es, der lebt halt bei seiner Mama und darf nicht zu uns. Welche Lüge. Peter ist sogar einmal zu Hause ausgerissen und stand vor unserer Tür. Er wollte zu seinem Vater. Der hat ihm aber eine Ohrfeige gegeben und wieder heim geschickt. Aber auch das wusste ich damals nicht. Ich lebte ja sehr abgeschottet, und außer den Eltern hatte ich in der Freizeit nichts und niemanden. Selbst eine eigene Meinungsbildung war nicht möglich. So plapperte ich alles nach, was ich von ihnen hörte. Es war immer Papas Meinung, denn Mama hatte keine eigene. Mit Oma wurde zurzeit wenig gestritten. Schließlich war sie jetzt Witwe und dachte daran aus dem Fliederhof in Favoriten wegzuziehen. Hauptsächlich deswegen, weil Papa nicht so oft kommen konnte, der Weg war zu weit. Südosttangente gab es noch keine. Zu uns kam sie selten, manchmal aber doch. Ich kann nicht sagen, dass ich eine besonders innige Beziehung zu ihr hatte, aber sie war eine Abwechslung. Keine Schmuseoma. Es ist schon eigenartig, mit wie wenig Streicheleinheiten der Mensch auskommt. Aber ein kluger Kopf hat einmal gesagt, was Du nicht kennst, das fehlt Dir nicht.

An einem Sonntag kam mein Bruder einmal vom Wochenende bei seiner Oma heim. Er erzählte, dass er im Kino gewesen war. Dann wollte er sich ins Wohnzimmer setzen. Da stand unser einziger Fernseher. Und Sonntagabend war immer Sport. Fredi war ein Sportfreak. Nur war unser Vater anderer Meinung. Nachdem er sowieso im Kino gewesen war, wäre es zu viel für ihn, nun auch noch fern zu sehen. Fredi ging ins Zimmer. Ich nehme an, er erinnert sich heute noch daran.

Seit wir in Stadlau wohnten, waren wir Stammgäste im Stadlauer Strandbad. Obwohl es wildes Wasser war, gefiel es mir ganz gut dort. Man konnte die Fantasie spielen lassen. Und Fantasie war für mich sehr wichtig. Da lebte ich mein „richtiges“ Leben. Meistens in der Nacht im Bett. Das Bett war ein Flugzeug. Oder ein Fesselballon. Ich war nie alleine. Es waren Freunde an Bord, die mit mir um die ganze Welt reisten.

Im Strandbad also waren viele Bäume, Sträucher und Verstecke. Wenn man ans andere Ufer schwamm war man außer Sichtweite. Dort drüben gab es Frösche. Mit denen spielte ich immer. Es waren sehr kleine Frösche. Ungefähr sieben bis zehn Zentimeter lang. Ich setzte sie mir auf den Kopf, auf die Schultern, in die Hand. Die waren total zutraulich. Ich mochte diese Tiere sehr gerne. Einmal nahm ich drei davon mit. Ich setzte sie auf meinen Kopf und schwamm ins Strandbad zurück. Dort ging ich in die Kantine, wo meine Eltern immer saßen. Papa schnapste und Mama sah zu. Sie kann nicht schnapsen, auch nicht tarockieren oder sonst was. Jolly kann sie. Ich tat die drei Frösche in ein Glas und zeigte sie meinen Eltern. Sie nickten und meinten, dass die Frösche nett seien. Da riss mir ein anderer Badegast das Glas aus der Hand, schüttete meine Frösche auf den Boden und trat drauf. Ich sah den Matsch, die Innereien, das tote Gewebe. Ich war erst starr und dann habe ich nur mehr geschrien. Ich bin gelaufen und gelaufen und in das Wasser gesprungen und weg geschwommen. Ich habe geweint, bis ich nicht mehr konnte. Wieder war etwas weg, dass mir etwas bedeutet hatte, dass für mich einzigartig war. Diesen Menschen hasse ich bis heute. Ich habe nie mehr Frösche gesammelt, denn ich gab mir die Schuld an ihrem sterben. Und die Eltern sprachen weiter mit diesem Mörder.

Dieser Sommer war gelaufen, dieses Jahr noch nicht. Wir bekamen Räder. Also meine Eltern bekamen schöne, große Räder, und ich bekam ein Klapprad. Gewünscht hatte ich mir eines mit Bananensitz und Hochlenker. Keine Ahnung, wie die hießen, aber sicher nicht Klapprad.

Ich durfte auch nicht alleine fahren. Nur mit den Eltern. Natürlich machten wir Radtouren in die Lobau. Bei einer der ersten Ausfahrten war es vom Regen noch nass und matschig. Meine Mutter, das sportliche Antitalent flog in einer Lache um. Vater rannte zu ihrem Rad und sah sich den eventuellen Schaden an. Sie saß in der Pfütze und sah ihm zu. Das hat sie ihm dann vorgehalten. Aber groß bedauert hat er es nicht, schließlich ist so ein Rad ja teuer.

Weil ich ja nur fahren durfte, wenn meine Eltern mit waren, war ich sehr froh, dass ich ein uraltes, rostiges Rad fand. Es lehnte Mutterseelenalleine in der Schickgasse an einem Laternenpfahl. Ich sah es und ich sah eine Problemlösung. Wenn ich nämlich mal wegdurfte, dann musste ich jede Stunde kommen und mich melden. Da kam ich nicht sehr weit. Also mit dem Rad, wäre ich da sicher schneller. Also nahm ich es immer am Nachmittag und beim Heimgehen stellte ich es wieder dort ab. Leider hat es mir dann irgendwer gestohlen. Vielleicht hat es auch sein rechtmäßiger Besitzer wieder genommen. Das war traurig. Aber ich war nicht so oft draußen. Kam ich beim Melden oder abends zu spät, gab es pro Minute einen Tag Hausarrest. Nun, meine Uhr schien nie richtig zu gehen.

Nach diesem Sommer begann die vierte Volksschulklasse und mein Bruder begann eine Bäckerlehre gleich neben unserem Haus. Da musste er jeden Tag um zwei Uhr früh aufstehen. Aber er verdiente gutes Geld und konnte sich ein Schleckerlager anlegen. Manchmal bekam ich einen.

Meine Mutter hatte die Heimarbeit aufgegeben und arbeitete jetzt in einer Boutique. Ein ganz kleines Geschäft in der Gemeindeaugasse. Munk hieß es. Da hatte sie auch Kolleginnen und war weniger hysterisch. Einmal in der Woche gingen sie gemeinsam in eine kleine Konditorei in der Erzherzog Karlstrasse. Manchmal durfte ich mit.

Außerdem mussten mein Bruder und ich ins kleinere Zimmer übersiedeln, das Schlafzimmer war jetzt ganz hinten, wegen dem Abstellraum, wo ihr Gewand drinnen war. Für meine Autobahn, Mensch-ärgere-Dich Manderl und Matchboxautos war das Zimmer groß genug.

Ich las sehr viel. Die Bücher holte ich aus der Bibliothek im Franz Novy Heim. Dort ist sie heute noch. Am liebsten Gruselgeschichten und Kinderkrimis. Die drei Fragezeichen von Alfred Hitchcock waren meine absoluten Superhelden.

Irgendwann in diesem ersten Lehrjahr meines Bruders, und ich verstehe ihn so gut, zog er zu seiner Großmutter. Das war sehr bitter. Ich fragte die Eltern, warum er gehen will und sie sagten, weil ich so garstig zu ihm bin. Ich war todunglücklich. Auf meiner Feier zu meinem 40er hab ich ihn gefragt, ob das stimmt. Er hat mich gestreichelt und gesagt, dass er traurig war, mich zurück zu lassen, denn er wusste, dass er es besser hat. Aber mitnehmen konnte er mich nicht und da ich ja kein anderes Leben gewohnt war, würde es mir nicht so auffallen. Ja da hatte er recht. Nun war ich also ganz alleine. Ein Einzelkind. Manchmal kam Fredi auf Besuch. Einmal brachte er mir einen Bananensitz für das Klapprad mit. War ich glücklich. Und er montierte ihn mir auch. Leider ging dann immer die Kette raus, weil der Sitz die Nabe nach vorne drückte. Aber ich war so stolz auf das Ding. Er kam allerdings sehr selten.

Zu der Zeit in etwa schrieb ich einem Mädchen einen Drohbrief. Irgendetwas von umbringen und zerstückeln oder so. Den Inhalt weiß ich nicht mehr, aber das Mädchen war jenes, dass mich beim Pfarrer verpfiffen hatte, wegen der Kerzen. Wie auch immer, ihre Mutter sagte es meiner Mutter und die fragte mich, ich log natürlich. Dann kam Vaters Verhör und ich gestand. Meine Güte, das war ein Brief und sonst nichts. Ich fing eine ab und Mutter meinte, dass ich noch nie so schön geschrieben hätte. Anscheinend bemühe ich mich in der Schule zu wenig. Ich hatte einen Triple gezogen. Alles verboten, auf ziemlich lange Zeit.

Ich war eine gute Schülerin, obwohl ich nicht sehr viel lernte. Meine Schrift war etwas hässlich. Ich wollte gerne aufs Gymnasium. Meine Eltern waren auch in der Schule, um zu erfragen, wie es weitergehen soll. Nun, ich wurde für den A-Zug in der Hauptschule oder Gymnasium vorgeschlagen. Mein Vater sagte zu mir, dass ich gerne aufs Gymnasium gehen könne, allerdings muss ich dann weiter Mamas geänderte Kleider tragen und er könne mir auch kein Taschengeld geben. Also verzichtete ich auf das Gymnasium.

Ich trug ja immer noch Wollstrumpfhosen zu Röcken, auch wenn die Knie gestopft waren und leider hatte ich schon Mamas Schuhgröße, denn ihre Schuhe musste ich tragen, aber die, die sie nicht mehr mochte. Ein paar eigene hatte ich auch. Das Kleid vom Klassenfoto aus der 4. Volksschule trug ich bis zur zweiten Haupt. Da war es dann schon sehr kurz. Im Winter musste ich immer eine Mütze tragen, auch wenn es zehn Grad plus hatte, denn es war Winter. Und erst wenn es morgens plus fünfzehn Grad hatte, durfte ich Kniestrümpfe anziehen. Sie sah immer um sechs aufs Thermometer. Die Volksschulzeit war bald aus. Ein paar Namen sind in Erinnerung geblieben. Da war der Gerhard Plojhar, auch ein dicker Kerl, so arm, wie ich. Ein Einzelgänger. Der hat mir mal einen Kuss raufgedrückt und ist dann davon gelaufen. Wollte ihm zum Dank die Aufgabe bringen, als er mal krank war. Leider war er nicht daheim, nur seine Mutter, er war schwänzen. Das hat mir sehr leid getan. Entschuldigen kann ich mich nicht mehr, er ist vor ein paar Jahren gestorben. Im Zuge seiner Tätigkeit als Bombenentschärfer beim Innenministerium. Ich habe es in der Zeitung gelesen und war traurig. Oder der Karl Kemedinger, der war immer besonders armselig angezogen – ich habe ihn nie mehr gesehen.

Ein paar aus der Volksschule gingen mit mir auch zur Hauptschule.

In Stadlau gab es damals sehr viele Gärtnereien. Mehr noch als heute. Und man konnte günstig Gemüse kaufen. Als mein Bruder noch zu Hause wohnte, wurden wir oft losgeschickt um Tomaten und Paprika zu holen. Säckeweise. Und diese wurden auf Vorrat eingefroren. Oder Fisolen. Wir mussten dann etliche Kilo Fisolen putzen und schneiden. Wenn ich mit Fredi zwischen den Gärten unterwegs war, dann kam es vor, dass da mal Früchte über einen Zaun hingen, oder zumindest so knapp, dass man sie erreichen konnte. Einmal als ich mir eine Kirsche stahl, wurde ich erwischt und der Besitzer wollte mich nicht gehen lassen, aber mein Bruder hat mich mit seinem Leben verteidigt und ihn abgelenkt. So konnte ich ausbüchsen.

Jetzt wo er weg war, durfte ich nicht mehr so viel raus. Nur bis zur Bibliothek, Mamas Bücher zurück bringen. Oder in die Apotheke um destilliertes Wasser für das Bügeleisen.

Fad war mir nie, denn ich konnte mich immer schon sehr gut alleine beschäftigen. Wäre ich eines dieser Kinder gewesen, die keine Fantasie haben, ständig Animation brauchen, so wäre ich wohl entweder verrückt geworden, oder total apathisch.

Nun war ich also viel daheim und auch allein. Finsteres, fensterloses Vorzimmer, kein Geräusch. Es fing auch untertags an. Ich hörte diese Stimmen. Monoton, beängstigend. Was sie sagten,weiß ich nicht, ich denke, dass ich es auch damals nicht wusste. Aber sie machten mir solche Angst. Manchmal rief ich meine Mutter in der Arbeit an, und fragte, wie es ihr geht. Oder Oma. Oder die Zeitansage. Das half. Die andere Stimme übertönte diesen monotonen Singsang. Dann hörte es eine Zeitlang auf. Auch der Radio half. Bis auf einmal, da rief ich wieder einmal das Zeitansagetonband an und sogar aus dem Hörer kam jetzt diese Stimme, ich wurde panisch, bekam keine Luft. Ich riss ein Fenster auf, schaute verzweifelt hinunter, ob jemand da ist, den ich kenne. Dann zum Radio und aufgedreht. Der Nachrichtensprecher war fort, die Stimme war da. Ich glaube, an diesem Tag wäre ich vor Angst gestorben, wenn nicht mein Vater gekommen wäre. Da ging es mir wieder gut. Aber erzählt habe ich nichts. Diese Angst war noch größer. Man hätte mich sicher für verrückt erklärt. Ich behandelte mich selbst, indem ich mir immer und immer wieder sagte, dass es nur in meinem Kopf existiert und dass mir nichts geschehen kann. Was genau ich bekämpfte, wusste ich nicht, aber es gelang mir zumindest am Tage damit zu leben.

Heute denke ich, dass es Panikattacken waren. Irgendwann in der Pubertät verschwand es für immer. Niemand wusste, dass ich sie hatte und keiner war da, mich zu trösten. Das war das furchtbarste.

Ich kam also in eine neue Schule. Hauptschule Konstanziagasse 50, Klasse 1 c. Mein Klassenvorstand hieß Peter Günther und war ein großer, mächtiger Mann. Er war gerecht und streng, wir alle respektierten ihn. Angst hatte ich keine vor ihm. Er lobte auch, wenn man etwas gut machte. Wir waren 36 Kinder, soweit ich mich erinnere. Heute unvorstellbar. Es ist ganz anders als früher. Es gab viele Lehrer und viele Gegenstände. Wir waren das erste Jahr in Containern im Hof untergebracht. Auch das fand ich super, da hatte man es nicht weit bei der Hofpause. Die Mädchen waren fast alle sehr schlank. Bis auf mich und Eva. Sie trugen Jeans und T-Shirts und sahen sehr flott aus. Wenn wir Handarbeiten, Turnen oder Physik hatten, mussten wir ins große Gebäude gehen. Da sah ich dann die älteren Schülerinnen. Ich weiß noch, wie ich mir dachte, vielleicht sehe ich mit vierzehn auch so aus. Oder, dass ich gerne wie die eine oder andere aussehen würde. Einschneidend war mein Erlebnis dann in einer der ersten Geographiestunden. Der Lehrer erzählte irgendetwas über eine Wasserscheide. Alle kicherten. Ich lächelte etwas verlegen, damit alle glauben, ich wüsste Bescheid. Keinen Tau hatte ich. Eine hat es gemerkt, und zog mich in der Pause in die Garderobe. Das war Gabi W., die mit den dünnen Wurstbroten in der Volksschule. „Weißt Du nicht, was eine Scheide ist?“ Nö, woher denn. Gabi danke, dass Du mich nicht gefragt hast, wie ich unseren Geschlechtsteil nannte. Aber Gabi erklärte mir das in aller Ruhe. Maria, die wusste aber viel. Irgendwie kam mir die Geschichte mit dem Zucker und dem Mohn jetzt sehr seltsam vor.

Sie hat mich nie ausgelacht. Das war schön. Turnunterricht war für mich sehr schlimm. Nicht das Turnen, das ausziehen. Ich genierte mich so sehr. Ich hatte weder BHs, noch hübsche Unterwäsche. Die rosa Flanellerne ließ ich immer rechtzeitig verschwinden. Im Völkerball war ich gar nicht so schlecht, beim Zirkeltraining auch nicht. Nur die Taue hinauf kam ich keinen Zentimeter. Das war peinlich.

Daheim fragte ich mal vorsichtig nach, ob ich nicht einen BH haben könnte? Wozu, meinte meine Mutter, der Busen ist so klein, dass ich keinen brauche und außerdem würden sonst die Brustmuskeln erschlaffen. Ich trage erst seit ein paar Jahren regelmäßig BHs. Was sich einem so ins Gehirn frisst. Bei der Frage nach Nylonstrümpfen, war die Antwort, dass sie zu teuer sind. Nur bei Jeans konnte ich mich durchsetzen. Aber da musste ich natürlich mit zwei im Jahr auskommen, denn wir waren arm. Ich weiß jetzt nicht genau, welches Auto wir in der ersten Klasse Haupt hatten, aber dass wir ständig ein anderes hatten, weiß ich. Auch dass meine Eltern sich oft neue Kleidung leisteten. Oder Schmuck zu Anlässen kauften.

Noch war ich ein zufriedenes, kleines Mädchen, das nicht aufmuckte und sämtliche Dinge ihres Lebens als selbstverständlich und gegeben hinnahm. Zudem hatte ich das Problem, dass ich nachts nicht alleine blieb. Bisher. Ich war es ganz einfach nicht gewohnt. Die Umstellung zur Hauptschule bereitete mir Probleme. Besonders in Mathematik. Auch der Lehrer, der diesen Gegenstand unterrichtete, war nicht gerade ein Charmebolzen. Er war mir schlichtweg unsympathisch. So kam es, dass ich natürlich schlechte Noten bekam und weil ich immer ein paar Scherze trieb oder auch manchmal tratschte, Strafen erhielt. Das ging über Abschreiben von zehn Seiten im Physikbuch, über vorne stehen mit ausgestreckten Armen und Büchern darauf, bis auf die Klasse verlassen. Probleme ergaben sich erst, als es hieß „nachsitzen“. Da begann die Panik. Ich durfte ja nicht zu spät heimkommen, dann gab’s Ärger, konnte aber nicht weg, denn da gab’s doppelt Ärger. Natürlich schaffte ich es, dass ich so richtig Zoff bekam. Selbst, wenn ich daheim beteuerte, dass wir alle kollektiv nachsitzen mussten, meinten die Eltern, der Lehrer hat immer recht. Und dann wusste ich, dass ich länger daheim sitzen würde, als alle anderen. Ich versuchte öfter meine Eltern als Fürsprecher zu gewinnen. Denn damals waren die Lehrer wirklich oft ungerecht, aber niemals bekam ich auch nur irgendeine Rückenstärkung von daheim. Bis ich gänzlich resignierte.

Mein Vater war als allereinziger nicht im Elternverein, was ich auch zu spüren bekam. Ich bekam das Kuvert erst gar nicht mit heim. Ein paar Kinder in der Klasse mochte ich sehr gerne und traf mich mit ihnen nach der Schule, wenn ich gerade keinen Hausarrest hatte. Ich genoss es, wenn ich kurz zu ihnen in die Wohnung durfte. Zu mir durfte ja niemand kommen, auch nicht abholen. Im ersten Schuljahr war das aber noch nicht so ausgeprägt. Aber es gab eine Schülerin, deren Eltern hatten ein Lebensmittelgeschäft in der Gasse, die zur Bibliothek führte. Sie hatte immer die leckersten Semmeln mit. Und ich immer noch mein dickes Butterbrot mit Sardellenpaste. Manchmal tauschte sie mit mir. Das war dann ein Feiertag für mich. Dieses Mädchen hatte auch einen Rottweiler. Der war hinter einer dicken Eisentür neben dem Geschäft. Wenn ich vorbei ging, habe ich mich vor diese Eisentür gesetzt und sein schnüffeln und atmen gehört. Dann habe ich mit ihm gesprochen und ihm von Athos erzählt. Meistens musste ich dann weinen und fragte mich selber leise, warum sie uns den Hund weg genommen hatten. Ich entwickelte so die ersten Hassgefühle, die ein Kind bekommen kann. Gegen meine Eltern. Hatte aber gleichzeitig Angst davor, dass jemand erfährt, dass ich sie hasse und es ihnen erzählt. Deshalb sagte ich dann meistens halblaut zu mir, dass ich sie nur ein bisschen hasse.

In der ersten Hauptschulklasse oder der vierten Volksschulklasse haben wir mit Hilfe des Roten Kreuzes einen Schwimmkurs belegt. Ich war echt gut im Schwimmen und Tauchen. Das ganze wurde im alten Dianabad in Leopoldstadt veranstaltet. Wäre nicht mein unmöglicher Bikini gewesen, der auch noch durchsichtig war, es wäre ein super Tag gewesen. Und ich bin zum ersten Mal in meinem Leben von einem 5 Meter Brett gesprungen. Nun freiwillig ja, aber nur weil ich mich genierte wieder zurück zu klettern. Aber die Anerkennung der anderen Mitschüler war mir sicher.

Am Ende des Kurses zahlte ein jeder ungefähr vier Schilling und bekam einen Ausweis, einen Aufnäher und eine Anstecknadel für den Freischwimmer. Mein Vater hatte mir nichts mit gegeben, weil er es für unnötig hielt. Ich hatte also keine vier Schilling und sah dem Rot Kreuz Mann nur zu. Der sah mich an und fragte, ob ich kein Abzeichen wolle. Doch, sagte ich, mit traurigem Gesicht, aber ich habe leider kein Geld. Da hat er mir die Dinger geschenkt und gemeint, irgendwann spendest du mal was fürs Rote Kreuz. Dieses Versprechen an das Rote Kreuz habe ich schon oft eingelöst, obwohl ich selbst beim Arbeitersamariterbund ehrenamtlich tätig bin. Noch heute möchte ich diesen Menschen dafür umarmen.

Der Sommer des Jahres 1973 war in vielerlei Hinsicht sehr erlebnisreich. Mein Bruder tauchte eines Tages mit einem roten Moped auf. Eine Puch MC. Wow. Er fuhr sogar eine Runde mit mir durch die Gegend. Stolz war ich. Ich hatte für mich beschlossen, dass ich auch einmal Moped fahren würde. So wie ich beschlossen hatte, dass ich einmal einen Hund haben würde, den ich niemals hergeben würde. Fredi kam leider immer seltener auf Besuch.

Ihm ging es sehr gut, sowohl in der Lehre, als auch bei seiner Großmutter.

Mit 11 Jahren bekam ich auch meine Tage. Das war sehr zeitig. Und man machte mir damit das Leben schwer. Das einzige, das mir meine Mutter gab, waren riesige Watteballen. Die konnte man sehr schwer verstecken, wenn man in der Schule zur Toilette ging. Gabi erzählte mir von Tampons und wie man sie benützt, aber meine Mutter wollte davon nichts hören und meinte, ich soll froh sein über die Watte, sie hätte Stofffetzen bekommen. Mir ging es sowohl physisch sehr schlecht, wenn ich meine Tage hatte, also auch psychisch, weil ich mich so furchtbar schämte. Es blutete öfters durch und ich hatte Krämpfe und Kopfschmerzen.

Meine Mutter wollte wieder Arbeit wechseln. Diesmal zur Post. Das Postamt, wo sie hinwollte, war genau in unserem Wohnhaus und zwar im Erdgeschoss und im ersten Stock. Mein Vater kannte eine Menge Leute bei Post und Telegrafenbauamt, und so kam es, dass sie tatsächlich genommen wurde. Was das für mich bedeutete, erfuhr ich allerdings erst nach den Ferien. Dieses Jahr fuhren wir nach Ungarn an den Plattensee. Und zwar mit einer zweiten Familie, einer Arbeitskollegin von Mama aus der Boutique. Der Ort, wo wir hinfuhren hieß Siofok. Ungarn war damals Ostblock und so lernte ich Stacheldrahtzäune und Aufsichtstürme kennen. Natürlich fragte ich bei der Reise, was das sei und erfuhr, dass diese Menschen hier nicht machen dürfen, was sie wollen, ständig überwacht werden und unter einem strengen Regime leben. Schon damals kam mir die Ähnlichkeit zu meinem Leben frappant vor. Selbstverständlich sagte ich es nicht. Die Wartezeit an der Grenze war sehr lange, aber das störte mich nicht, denn ob ich mich daheim alleine beschäftigte, oder im Auto am Rücksitz, das war egal. Am Ziel unserer Reise angekommen, waren es Essensbons, die mich total faszinierten. Da musste man einen Zettel abgeben, bei der Mahlzeit. Es gab nicht mehr als man Bons hatte. In diesem Urlaub wurde ich krank, Brechdurchfall. Und da geschah es, dass ich zu meinen Eltern sagte, dass sie beruhigt weggehen können, wenn sie möchten. Ich hätte keine Angst. Sie waren mächtig erstaunt, ich aber selbst noch mehr. Ich fühlte mich witziger weise dort sehr wohl und geborgen. Wir waren in einem sehr großen Hotel, wo ständig Leute herum liefen und immer etwas zu hören war. Da meine Erkrankung, dank Medikamenten am Abklingen war, besorgten sie mir Weißbrot und Schinken als Diätnahrung und gingen weg. Das war sehr schön. Ich aß und las und spielte und einmal ging ich im Nachthemd sogar auf den Gang, und besah mir die Menschen. Ich fand es so toll, dass ich noch zwei Tage krank spielte, dann war der Urlaub vorbei.

Und auch daheim hatte ich keine Probleme mehr mit dem Alleinsein in der Nacht. Die Stimmen kamen nie wieder, denn ich stellte mir immer vor, dass Menschen da sind, und hatte viele imaginäre Freunde. Ich spielte Schallplatten von den Eltern, sang dazu und tanzte. Und rundherum waren Freunde. Das waren meine Partys. Gutes Essen, wenn sie abends ausgehen wollten, behielten sie bei, fragten sogar, was ich gerne hätte.

Untertags blieb das Dilemma mit Essen, was auf den Tisch kommt. Aufessen, egal wie viel und was. Es gibt nicht sehr viele Speisen, die ich gar nicht mag, aber Krautfleckerl gehören unbedingt dazu. Ich saß vor meinem Teller und löffelte sie lustlos und langsam in mich hinein. Vater daneben. Er sah mir zu und sagt von Zeit zu Zeit einfach nur; „Iss!“ Dann reckte es mich und einige der Fleckerl kamen retour auf den Teller. Da zuckte er aus und meinte, wenn der Teller nicht gleich leer ist, dann wird’s ernst. Marlene hat alle Krautfleckerl rasch gegessen, auch die recycelten. Marlene wird in ihrem Leben keine Krautfleckerl mehr essen, so wie mein Bruder keine Paradeissosse.

Nun, nach ein paar Tagen im Strandbad Stadlau, waren die Ferien zu Ende. Kurz vor Schulbeginn zur zweiten Klasse Hauptschule erfuhr ich, dass ich einen Hort besuchen würde, da ich in der Schule so schlecht bin in Mathematik und Mama ja jetzt bei der Post arbeiten würde. Ich verfiel. Ich war mein Leben lang in keinem Kindergarten und keinem Hort gewesen. Ich hatte Angst. Ich weinte und flehte und fragte, was ich tun muss, damit ich nicht in den Hort gehen muss. Nichts half. Wir fuhren hin und ich schaute mir alles an und sah andere Kinder dort. Es war ein finsteres Haus in der Erzherzog Karlstrasse. Ein alter Gemeindebau. Gleich hinter der Konditorei, wo meine Mutter manchmal hingegangen war. Da musste ich mit der Straßenbahn hinfahren. Mir wurden die Regeln erklärt. Nach der Schule wird gegessen, dann Aufgabe vorgeschrieben, dann schön geschrieben, dann war Freizeit. Oje! Mein Leben hatte ich mir noch nie was vorgeschrieben, hatten die keine Ahnung, wie viel wir auf hatten??? Ich sah mich um. Fremde Burschen starrten mich an und tuschelten und kicherten. Mir war übel. Es kam mir vor, als käme ich in ein Heim. Gleichzeitig bekamen wir in Mathematik einen neuen Lehrer, einen lustigen Kerl, dessen Namen ich vergessen habe. Ich gab zu Hause nicht auf mit den Eltern über den Hort zu verhandeln, bis mein Vater den Deal einging, dass ich mich in Mathematik um eine Note verbessern muss, dann könne ich ab nächstem Jahr daheim bleiben. Nun gut, das war zu schaffen. So begann das zweite Hauptschuljahr. Die Schule wurde meine zweite Heimat. Ich war glücklich in dieser Klasse, sie war meine eigentliche Familie. Und das obwohl ich nicht wirklich Freunde hatte. Außer Silvia F. Silvia ging es daheim auch nicht sehr gut. Sie wurde von ihrer Oma beaufsichtigt, zu der sie Rauch sagte. Die alte Dame hieß tatsächlich so. Sie wohnte in der Wurmbrandgasse.

Meine Eltern warnten mich immer vor dem Rauchen und sagten, dass einem schlecht davon wird. Irgendwann, als ich alleine zu Hause war, nahm ich eine Zigarette aus Mamas Packung. Sie rauchte „Hobby“. Ich stellte mich auf den Balkon und rauchte sie bis ans Ende. Da war ich elf Jahre alt. Da mir nach der ersten Zigarette nicht schlecht geworden war, wiederholte ich das am selben Tag noch drei Mal. Nichts geschah. Seit damals bin ich nikotinabhängig.

Die meisten in der Klasse rauchten. So war es nicht schwer an Zigaretten zu kommen. Oder ich kratzte ein paar Schillinge zusammen und kaufte mir eine Packung Nil. Da waren zehn Stück drinnen und sie waren billig. Geld war immer ein großes Problem für mich, da ich fast nichts bekam. Ich glaube es waren 10 Schilling im Monat. Dabei erwartete man aber zu den Anlässen Geschenke von mir. Ein Paar gute Socken kosteten aber fast 30 Schilling. Manchmal bekam ich von Oma Geld. Und mein Bruder steckte mir auch welches zu, wenn er auf Besuch kam. Das Essen im Hort war schrecklich. Obwohl ich dort soviel essen hätte können, wie ich wollte, mochte ich es nicht besonders. Vielleicht lag es auch an den Plastiktellern. Widerlich. Da ich die Aufgabe nicht doppelt schreiben wollte, sagte ich meistens, dass ich nichts aufhabe. Das funktionierte ganz gut, denn die Erzieherinnen waren froh, wenn sie keine Arbeit hatten. Nur in Mathematik nutzte ich die Gelegenheit, gelegentlich einen Profi zu fragen. Ferner besuchte ich im Hort einen Kochkurs, der hieß: „Ich koche, wenn Mama krank ist“ Da bekam ich dann eine Urkunde dafür. Die habe ich noch immer. In diesen ersten zwei Jahren der Hauptschule ist sehr viel passiert, ich kann es jetzt aber nicht genau einem Datum zuordnen, deshalb werde ich es einfach in Episoden erzählen. Oma ist zum Beispiel in den 21. Bezirk gezogen. In die Brünnerstrasse 108. Ein Hochhaus nähe Siemensstrasse. Ein Einzelraum mit Miniküche und Bad mit Klo in einem. Winzig. Sechster Stock, zwar mit Lift, aber der war sehr oft kaputt. Das Wohnzimmerfenster ging bis auf den Boden und davor war ein Geländer. Faszinierend. Zuvor hatten wir uns Wohnungen im 22. Bezirk angesehen, aber davon hat ihr keine gefallen. Oma hatte einen Wellensittich, einen zahmen. Bis sie ihn einmal ihrer Nachbarin zum Aufpassen gegeben hat, als sie zur Kur fuhr. Danach hatte er keine Schwungfedern mehr und war sehr scheu. Oma fuhr immer nach Bad Tatsmannsdorf zur Kur. Wenn sie zu Hause war, war Mittwoch jetzt immer Besuchstag. Da fuhren wir, meine Eltern und ich, gemeinsam nach Floridsdorf. Wir aßen super Gerichte. Oma machte nur für mich immer noch Rindsrouladen mit Spaghetti, für Papa Schnitzel, viele Salate und andere Dinge. Wenn wir mit dem Essen fertig waren, hat sie jedes Mal gemeint, ein bisserl dick sei ich aber schon. In der Küche warteten schon volle Lebensmittelsäcke auf meine Eltern. Oma kaufte alles was in Aktion war zusammen und gab es uns mit. Mein Vater bekam meistens ein Kuvert mit Scheinen. An irgendeinem Muttertag eskaliert die Situation einmal wieder. Ich war wie immer in Gedanken versunken, in meiner fiktiven Welt. Als ich durch den Streit aufsah. Meine Mutter und meine Oma beschimpften sich. Ich bekam Herzklopfen. Irgendwann erreichte der Streit den Höhepunkt und Mama sagt zu Oma, dass sie ein roter Kuckuck sei. Oma hatte rote Haare. Worauf Oma den Radio vom Tisch nahm und Mama erschlagen wollte. Papa konnte das verhindern, nahm Oma das Radio weg und scheuchte uns, Mama immer noch schimpfend, mich eher ängstlich blickend, zur Tür hinaus. Keinen Tau worum es ging, aber eines wusste ich genau, Oma sah ich nun eine Weile nicht mehr. Schade, ich hatte meine erste Barbie von ihr bekommen und wünschte mir noch eine dazu.

Im Strandbad Stadlau hatte ich ein paar Jugendliche kennengelernt, die ich total lässig fand. Erstens hatten sie einen tragbaren Plattenspieler dabei, zweitens gab’s da schon Liebespärchen. Ich war zwar mit Abstand die Jüngste, aber sie akzeptierten mich. Ein Bursch gefiel mir besonders gut, der hieß im Familiennamen Blümel und war in etwa 15 Jahre alt. Ein anderer aus der Clique war etwas zurück geblieben und wirkte eher wie ein Affe, als wie ein Mensch, aber er gehörte eben dazu. An dessen Name kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber an ein für mich fatales Erlebnis. Dieser Typ dürfte sich in mich verknallt haben. Und er wusste, wo ich wohnte. Ich durfte ja ab 17 Uhr nicht mehr weg, also stellte sich die ganze Clique vor mein Fenster und er pfiff und rief ständig meinen Namen. Weil ich nicht raus zu sehen wagte, bliebe ich mit Herzklopfen am Bett sitzen. Ich ahnte, was kommen würde. Vater war wütend, stürmte ins Zimmer, schimpfte mich „Flitschen“ (Hure, Flittchen) Er wollte eine Stellungnahme. Ich versuchte ihm zu erklären, dass da nichts ist, nichts war, dass der Junge verknallt ist und ich da nichts machen kann. Dann machte dieser Kerl noch etwas. Er schrieb mit Kreide in Riesenlettern „Ich liebe Madlen!“ unter mein Fenster auf den Gehsteig. Jetzt bekam ich Schläge, viele Schläge und Hausarrest und Fernsehverbot. Ich war so fertig, habe natürlich nur geweint, hab nicht verstanden, warum ich da geschlagen werde und bestraft werde. Ich hatte doch gar nichts getan. Nachts öffnete ich mein Fenster, weinte in die dunkle Nacht hinaus und wollte so gerne springen. Ich war zu feige. Ich wollte fort gehen und wusste nicht, wohin, ich wollte jemanden weh tun und wusste nicht wem. Ich weinte und flüsterte, dass meine Eltern sterben sollen, dass ich sie hasse, dann wieder sagte ich dazu, nein nicht sterben, nur schwer verletzen, dass sie auch Schmerzen haben. Ich liebte sie immer noch, trotz allem. Aber ein Teil von mir hatte auch Angst, dass sie hörten, wie ich sie sterben lassen wollte und dass ich dann in ein Heim kam, mit dem sie mir ständig drohten. Ich hatte große Angst vor Heimen, denn die waren damals sicher kein Zuckerschlecken. Heute denke ich, dass es mir nicht schlechter hätte gehen können, da ich eigentlich ein Mensch bin, der sich recht gut einfügen kann. Und ich weiß, dass sie mich aus Gründen der Kinderbeihilfe ohnehin nie weggegeben hätten.

Da ich damals in Ungarn alleine geblieben war, gingen meine Eltern abends mal öfter weg. Unter anderem in einen gemischten Turnverein. Sie wollten abnehmen. Diätessen musste ich natürlich auch. Ich hasste das immer schon. Da gab es ein winziges Stück Fleisch und sauren, grünen Blattsalat. Ganze Blätter. Ich hatte gleich nach dem Essen immer Hunger. Aber wenn sie weg gingen, dann gab’s ein Stück von der Kranzextra und Oliven und Käse und Brot. Und ich stellte mir den Plattenspieler auf, den ich zu einem Geburtstag bekommen hatte und spielte die Platten der Eltern. Eigene hatte ich nur fünf oder sechs zu der Zeit. Deshalb kann ich auch die meisten Oldies auswendig. Conny Francis, Peter Alexander, Ted Herold und viele mehr. Dazu tanzte ich und sang ich und stellte mir vor, dass ich Freunde da hätte. Manchmal auch in Mamas Garderobe, denn die war dafür sehr geeignet, meine weniger. Ja da war ich dann ein kleiner Star. Einmal kam ich auf die fatale Idee, mit Mamas Wickelbluse bis zur Kirche und zurück zu gehen. Nur um einmal abends gegen 20 Uhr auf der Straße zu sein. Fehler. Großer Fehler. Eine Arbeitskollegin meiner Mutter hatte mich gesehen und sie am nächsten Tag gefragt, ob sie mir die Bluse geliehen hat. Mehr hat es nicht gebraucht. Meine Beteuerung, dass ich nur kurz zur Kirche und retour gegangen war, hörte sie schon nicht mehr und meine Sprechversuche gingen in einem verzweifelten Weinen unter. Ich sagte eigentlich immer die Wahrheit und nie hat mir einer der zwei geglaubt. Niemals für mich Partei ergriffen oder mich zu sich genommen und mich getröstet. Es war alles so egal und aussichtslos. Ich wollte weg, ich wollte sterben, aber ich war so feige, so verdammt feige. Wem liegt etwas an mir? Vielleicht heult ihr, wenn ich tot bin? Vielleicht auch nicht. Nein ich tu Euch den Gefallen nicht, ich halte durch. Und ich habe ja auch einen Bruder. Und Oma. Manchmal hatte ich Oma.

Irgendwann bekam ich einen Nymphensittich namens Charly. Diesen Namen hatte ich ihm gegeben, dann merkte ich erst, dass es ein Weibchen war, weil sie so dann und wann ein Ei legte. Mein Bruder konnte es gar nicht fassen, dass ich ein Tier bekam. Voraussetzung war, dass ich mich alleine darum kümmere. Das tat ich auch. So kam ich raus. Erstens in die Tierhandlung in der Langobardenstrasse und dann in die Bibliothek in der Erzherzog Karlstrasse. Der kleine Sittich wurde sehr zahm bei mir. Ging auf den Finger. Nymphensittiche sind etwas größer als Wellensittiche, graues Gefieder mit roten Backen und gelbem Kamm. Er pfiff alles nach, was ich vor pfiff und flog oft frei herum. Natürlich schrie er auch viel, das tun alle Sittiche. Das ist ihre Art der Kommunikation. Mich störte das nicht. Es war Leben. Ich hörte keine komischen Stimmen mehr, träumte fast keine schlimmen Dinge mehr. Es war jemand da. Dann bekam ich Röteln. Mit hohem Fieber. Während des Fiebers fragte mich meine Mutter, ob sie Charly raus geben soll. Ich sagte ja. Sie verkauften ihn einer Arbeitskollegin. Angeblich wollte ich das so. Nun war es wieder still in meinem Zimmer.

Mein Zimmer, war eigentlich nicht mein Zimmer. Denn als mein Bruder weggegangen war, hatten sie aus dem Raum eine Bauernstube gemacht. Zum Essen und für Besuch, der selten, aber doch kam. Ich hatte hinter der Tür ein Bett mit Bücherregal und neben dem großen Esstisch einen Schreibtisch mit drei Laden in Astkiefer, im Stil der Eckbank. Meine ganzen Schätze inklusive Schulsachen hatten hier Platz. Und es war jetzt nicht gerade überfüllt, wie man vielleicht vermuten möchte. Ich hatte drei Barbies und eine Tutti (das war Barbies Tochter) mit etwas Gewand. Viele Bücher, ein Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel, Matchbox Autos, Briefpapier, den alten, großen Teddy und die Schlummerle. Sie redeten sich ja immer darauf aus, dass sie mich gefragt hätten, ob es mich stört, dass ich kein eigenes Zimmer hätte. Natürlich habe ich nicht gesagt, dass es mich stört, was hätte es denn genützt?

Manchmal spielten wir auf dem großen Tisch Jolly. Das einzige Spiel, das meine Mutter konnte. Da kam Papa mit einer Riesentafel Milka herbei, von der ich eine Rippe und vielleicht noch eine halbe abbekam. Den Rest aß er. Ich war trotzdem immer zu fett. Das sagten sie mir sehr oft. Manchmal hatte ich so Anwandlungen, dass ich fragte, warum er andere Mädchen mehr anlacht oder freundlicher zu ihnen ist und er war ein direkter und ehrlicher Mensch beim Antworten. Die sind hübscher und schlanker und gefallen ihm halt besser. Sowas tut schon sehr weh. Deshalb sagte er es auch. Das gehörte für ihn einfach dazu. Ich kränkte mich und das einzige, das ich als Kind und Jugendliche nicht hatte, war Selbstbewusstsein. Ich war fett und ich war hässlich und ich konnte rein gar nichts. Beim kleinsten Fehler titulierte er mich als Trottel oder Idiot und Mutters Kommentar war: “Geh Kurti, wenn das die Leute hören.“ Ihm war es egal und ihr ja letztendlich auch. Ich sehnte mich so sehr nach Liebe, Bestätigung und Streicheleinheiten, dass ich fast wahnsinnig wurde. Und wenn immer sich jemand mit mir beschäftigte, dachte ich wirklich gleich, der mag mich.

Eine Zeitlang hatte mein Vater einen Freund namens Olbort. Der hatte eine Frau und zwei Söhne. Mit dieser Familie machten wir eine Zeit lang Wanderausflüge. Die Olbort´s hatten einen VW Bus, der auf Camping umgebaut war. Dort übernachteten sie, wenn der Ausflug zwei Tage dauerte. Wir schliefen in einer Pension. Aber nur einmal. Der Olbort, seinen Vornamen weiß ich nicht mehr, war ein sehr lustiger, nicht sehr hübscher Kerl. Herzensgut. Er spielte Klarinette. Das war eindrucksvoll. Er hatte lange, glatte, schwarze Haare, wirkte wie Otto Waalkes. Genau so lustig war er auch. Wir wanderten sehr steile Strecken auf den Schneeberg, die Rax, den Unterberg. Ich hörte einmal dass mein Vater zu meiner Mutter sagte, dass Olbort so viele Schulden hatte, dass er am ersten jedes Monats immer drei Erlagscheine aus einem Sack zog und die wurden bezahlt, die anderen Gläubiger hatten zu warten. Das fand ich lustig. Ein einziges Mal waren wir auch bei ihnen zu Hause. Da zeigte mir seine Frau eine Igelfamilie im Hof und erzählte mir, dass sie sie füttere. Das war dann aber auch irgendwann aus und von Olbort habe ich nie mehr etwas gehört.

Wenn ich vom Hort heim ging, dann benutzte ich manchmal eine Abkürzung über verwildertes Bahngelände. Vorbei bei der Ovomaltinefabrik in der Smolagasse. Ich war auch in der Fabrik drinnen, weil ich für meine Mutter dort was holen musste, aber die näheren Umstände dazu sind mir entfallen. Eines Tages – eben auf diesem Treppelweg, sah ich drei Burschen stehen. Vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Sie sprachen mich an und wurden sehr zudringlich. Einen kannte ich vom sehen, die anderen zwei gar nicht. Nun sie waren sehr gemein und grob und schubsten mich. Plötzlich zogen sie mich vom Weg ins Gebüsch und zwangen mich, einem nach dem anderen, ihren Geschlechtsteil in den Mund zu nehmen. Das war widerlich und ich hatte große Angst. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Es dauerte vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten, aber mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Dann lachten sie und ließen mich gehen. Ich lief so rasch ich konnte heim. Zupfte an meinen Kleidern das Gras ab, während ich lief. Daheim sagte ich dann kein Wort und wartete mit den Tränen bis ich am Abend im Bett lag.

Ich traute mir nichts zu sagen, denn ich wusste, dass mir keiner glauben würde. Ich hatte Schuld an dieser Situation und sonst keiner. Kurz danach begann ich es zu vergessen aber diesen Weg habe ich nie mehr benutzt.

Manchmal überraschte mich mein Vater mit Dingen, die eigenartig waren. Eines Tages nämlich fuhren wir mit dem Auto an die Alte Donau. Bevor wir ausstiegen sagte er zu mir, dass ich den Segelschein machen würde. Ein anderes Mädchen, die Tochter von Mamas Arbeitskollegin aus der Boutique mache ihn auch. Bumm. Ich sagte, dass das schön ist, aber ich hatte von Segeln keine Ahnung. Was er wohl gemacht hätte, wenn ich Angst gehabt hätte? Das Mädchen hieß Sabine. Sie war ein bisschen ein Weichei. Aber ich denke, dass alle Mädchen Weicheier sind, die zu Hause verhätschelt werden.

Wir kamen also in die Segelschule Hofbauer und wir sahen uns dort alles an. Der Kurs würde in den Ferien sein und eine Woche dauern. Täglich von neuen Uhr bis um siebzehn Uhr am –Abend. Die Abschlussprüfung war am Samstag und zwei Wochen später die erste Regatta. Okay, kein Problem für mich. Wenigstens nicht daheim. Ich träumte mal wieder so in den Tag hinein, dass ich Segelprofi bin und alle Schwierigkeiten meistern kann. Wir gingen bis zum Kursbeginn öfter hin, um Leute kennen zu lernen. Meine Eltern freundeten sich mit den Pächtern der Kantine an. Die mochte ich auch gerne. Ihr Sohn, so alt wie ich, war erst vor kurzem gestorben, im Spital. Nicht an seiner Blindarmoperation, sondern an einem blankem Kabel seiner Nachttischlampe. Diese Frau hatte viel Liebe zu geben, dass spürte ich.

Ein Junge von dort, lud mich zu einer Fahrt mit dem Elektroboot ein. Ich hatte ein viel zu kurzes Kleid an. Aber das sah mal daheim wieder keiner ein. Ich durfte mitfahren. Mitten auf der Alten Donau, wollte der Kerl meine Schenkel streicheln. Im Hinterkopf doch noch mein Erlebnis nach der Schokoladenfabrik, bekam ich Panik und Herzklopfen. Ich sagte mehrfach, dass er aufhören soll und ich Angst habe. Dann begann ich laut zu schreien und zu weinen. Er brachte mich an Land, ich hüpfte auf den Steg und rannte zu meinen Eltern und erzählte schluchzend, was geschehen war. Papa griff nach seinem Holzschuh und rannte dem Jungen hinterher, erwischte ihn aber nicht mehr. Irgendwer hat mich getröstet. Es war nicht meine Mutter. Die hat sich nur aufgeregt, dass der Typ eine Frechheit hatte.

Der Segelkurs selbst war eine feine Sache. Ich lernte sehr viel. Knoten und die Segelsprache. Die Praxis war das schönst. Ich konnte echt gut segeln für einen Frischling, so gut, dass sich die Tochter des Hauses Hofbauer sogar mit mir anfreundete. Die war sehr nett.

In einen der Jungs, die dort waren habe ich mich total verliebt. Der hieß Walter Mauser. Das weiß ich noch. Er war viel älter aber total lustig. Wenn wir Fisch aßen, sagte er immer, ein Fisch muss schwimmen und trank sein Glas Apfelsaft leer. Es war eine erste Schwärmerei.

Natürlich bestand ich die Segelprüfung. Danach kam die Regatta. Meine Partnerin kam nicht, also sprang mein Bruder ein. Er hatte vom Segeln zwar überhaupt keine Ahnung, aber ich erklärte ihm alles während der Fahrt. Ich saß am Ruder und er vorne beim kleinen Segel (Fock). Das war insofern sehr einfach, weil totale Flaute herrschte. Des Seglers Tod. Es war eine gemischte Regatta, das heißt Erwachsene und Kinder nahmen teil. Ein paar gaben in der ersten Stunde auf. Mein Vater gehörte dazu. Ich blieb sitzen und wir schlichen übers Wasser. Langsamer, wie ein Seestern. Zeit mit meinem Bruder zu quatschen. Dann wurde es etwas windig und wir steigerten die Geschwindigkeit. Und der Wind nahm zu. Ein richtiger Sturm wurde daraus, mit Gewitter. Es donnerte und es blitzte. Ich sah kaum etwas, aber das machte nichts. Ich fühlte mich wohl und ich hatte absolut keine Angst. Meinem Bruder sagte ich an, was zu tun sei. Bei der Wendeboje prasselte mir bereits der Regen ins Gesicht. Den Kontrolleuren ebenfalls. Deshalb sahen sie nicht, dass ich die Boje beim Wenden um Haaresbreite verfehlte. Retour im Höllentempo. Das hat uns Spaß gemacht, mir sicher, Fredi eventuell. Selbst das Anlegen gegen den Wind klappte, wie am Schnürchen. Patschnass gingen wir ins Vereinslokal und warteten auf die anderen. Siegerehrung. Von 75 Teilnehmern, alles Erwachsene, erreichten wir den achten Platz. Da ging ich vor zum Preisrichter und flüsterte ihm ins Ohr, dass ich die Wendeboje verfehlt hatte. Er flüsterte zurück, dass es keiner gesehen hat und deshalb nicht zählt. Stolz ging ich mit meiner Urkunde zurück. Stolz auf meine Leistung und über meinen Sieg gegenüber meinem Vater.

 

Ein paar Mal waren wir dann noch in der Segelschule und einmal durfte ich bei der Kantinenbesitzerin schlafen. Keine Ahnung, weshalb. Ich weiß, dass sie mir ein Beiried in Butter heraus briet. Dazu gab es Kartoffeln. Und sie hat an meinem Bett gesessen und geduldig meine Fragen über ihren Sohn beantwortet. Wenn ich nur wüsste, wer sie war.

Diese Frau sah ich dann auch nie wieder. Sie wurde Geschichte, wie Olbort.

 

Meine Eltern kauften Wein und Fleisch direkt vom Bauern. So kamen wir auf einige Bauernhöfe. Meine Eltern verkosteten immer Wein. Das bedeutet, und das wurde mir erst später bewusst, dass mein Vater immer alkoholisiert Auto fuhr. Bei einer dieser Weinkaufaktionen trafen sie sich mit Bekannten in einer Sporthalle in Prottes. Das ist in Niederösterreich. Da fand gerade ein Damenfußballturnier statt. Prottes gegen SV Kagran. Die Bekannten meinten, dass ich sicher geeignet sei für Fußball und mein Vater meldete mich an. Es machte Spaß. Ich ging ein Jahr hin. Im Sommer auf den Platz, dreimal die Woche Training und sonntags ein Match. Im Winter nach Floridsdorf in eine Turnhalle. Dann durfte ich nicht mehr. Angeblich waren meine Waden so dick geworden. Ich glaube, es lag daran, dass ich nach Stuttgart hätte mitfahren sollen. Ich will mich ja nicht ständig wiederholen, aber ich war sehr unglücklich. Obwohl ich mich durch mein vermindertes Selbstwertgefühl beim Duschen furchtbar genierte, habe ich es gemacht um dazu zu gehören und so eigentlich einen kleinen Sieg über mich selbst errungen.

Manchmal gaben sie mir etwas, dass sie mir dann wieder nahmen, und das war grausam. Egal ob es unser Hund war, das Segeln, der Fußball oder der Sittich. Oder diese einmalige Übernachtung meiner Freundin. So konnte man Abhängige wunderbar tyrannisieren und quälen und sie total unglücklich, unsicher und labil machen. Ich glaube, ich hatte quasi das Stockholm Syndrom.

 

Durch ihre Vorliebe zu Wein kam es wohl auch dazu, dass sie öfters beim Weinlesen halfen. Und ich musste mit. Nicht nur mit hin, sondern auch mitarbeiten. Den ganzen Tag im Weingarten stehen und mit einer Zange Trauben schneiden und in die Butte werfen. Die schönen wurden gesammelt, um sie ganz zu verzehren. Ich tratschte beim Lesen immer mit irgendwelchen alten Damen, die mir gegenüber Trauben schnitten. Kinder gab es ja außer mir keine und so verging die Zeit rasch. Ich weiß nicht, ob sie Geld dafür bekamen. Naturalien auf jeden Fall. Wein und Trauben und Fleisch. Ich hasse diese Weintrauben aus unserer Heimat. Da denke ich an meine klammen Finger. Die Jause zu Mittag war okay. Die Eltern tranken da schon Wein und Schnaps und waren dann sehr lustig. Abends saß man dann in der Stube des Bauern zusammen und man bekam warmes Essen. Und Wein und Schnaps. Und dann fuhren wir mit dem Auto heim.

 

Eine sehr tiefgehende Episode ereignete sich im bereits öfters erwähnten Stadlauer Strandbad. Eine junge Dame mit großem Busen und von der Figur wie Marilyn Monroe gesellte sich zu den Freunden meiner Eltern und suchte dort offensichtlich Kontakt. Ich mochte sie nicht, aber ich war ohnehin in einem anderen Teil des Bades unterwegs. Ich ignorierte sie solange, bis meine Freunde mich darauf aufmerksam machten, dass ich doch mal schauen solle, was dies junge Dame am anderen Ufer des Bades mit meinem Vater so macht. Naiv, wie ich nun einmal war, schwamm ich hinüber. An einer Boje sah ich vorbei und konnte es kaum glauben. Mein Vater schmuste mit dieser Schlampe. Er hatte mich nicht gesehen, dazu war er zu beschäftigt. Ich schwamm zurück und ging zu den Umkleidekabinen heulen. Ich war ganz kopflos, sonst wäre das folgende nicht passiert. Als er mir in Folge im Bad entgegenkam, schrie ich ihn an, warum er das getan habe, warum dieses Weib ihn so fasziniere. Was genau ich schrie, kann ich heute nicht mehr sagen, aber alle Leute haben es gehört, auch meine Mutter. Jetzt war er ein wenig in Stress, er musste meine Mutter irgendwie besänftigen. Sicher hat er ihr Scheiße erzählt. Aber ihre Freunde dürften dann auch geplaudert haben, denn sie wusste einiges mehr. Im Zuge dieses ganzen Debakels habe ich erfahren, dass diese „Frau“ in die vierte Klasse meiner Schule ging, also höchstens 15 Jahre alt war. Welche Schmach, welche Schande. Da ist dem Papa ganz schön die Lade heruntergefallen, als er ihr Alter erfuhr. Und dann genügte eine Kleinigkeit, dass er mir gegenüber ausrastete. Ich kann mich an diesen Auslöser nicht erinnern, aber sehr wohl an die Folgen. Er schlug mich zu Boden, zwischen den Pritschen im Bad und schrie immerzu, dass ich mich wehren solle, endlich zurückschlagen solle. Und ich brüllte, nein, das tue ich nicht, denn du bist mein Vater. Das Ganze dauerte ziemlich lange, und ich schaffte es das erste Mal nicht zu weinen. Wenn jetzt wer glaubt, dass mir wer zu Hilfe eilte, oder dass ich meine Mama irgendwo sah, der täuscht sich. Als er mit mir fertig war und ich mühevoll auf die Beine kam, ging ich sie suchen. Sie lag auf einer Pritsche und heulte sich ihren Liebeskummer raus. Irgendwo hoffte ich, dass sie sich scheiden lassen würden. Aber das spielte es nicht. Meine Mutter war Vater irgendwie hörig. Sie sagte immer, dass er der erste Mensch gewesen sei, der gut zu ihr war. Zu Freunden sagte sie öfter, dass es jetzt anders sei mit ihm, weil die Beziehung einen Knacks habe. Sie meinte sicher im Bett. Das hielt aber nicht lang und bald hing Sonntag nach dem Mittagessen wieder seine Unterhose über der Schlafzimmerschnalle. Das tat er immer, damit keiner durch das Schlüsselloch gucken kann. Irgendwann habe ich das getan, da war die Hose verrutscht. Mir ist übel geworden und ich habe dieses Erlebnis, wie viele andere alleine verarbeitet und dann vergessen. Das hat aber gedauert.

Das Strandbad hat mir einige Erlebnisse beschert. Auch den ersten Kuss. Unter einer Trauerweide. Der Kerl war nur ein Freund und ich wollte es so gerne einmal probieren. Es war schön. Aber das war es auch schon.

Weiters kostete mich das Bad ein Stück meines vorderen, schiefen Schneidezahnes. Ich tauchte so gerne. Im trüben Wasser sah ich aber fast gar nichts, auch nicht die fette Boje, die mir beim auftauchen im Weg war. So schlug ich ihn mir aus. Jahrelang lief ich mit schiefen, halben Zähnen herum, weil ich angeblich keine Zahnspange wollte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich dazu befragt worden bin, denn ein nein hätte mein Vater niemals akzeptiert, außer es war eine Kostenersparnis.

Der Ausrutscher meines Vaters ging in meine Schule und ich sorgte dafür, dass alle dort erfuhren, was sie für eine war. Natürlich sagte ich ihr das auch des Öfteren ins Gesicht, wann immer ich ihr begegnete. Und das war sehr oft.

Durch den Froschkiller fuhr mein Vater öfters auf den Sportplatz nach Aspern um bei einem Fußballspiel zuzusehen. Dort hatte ich dann Gelegenheit mit anderen in meinem Alter Kontakt aufzunehmen. Ich lernte Wolfgang K. kennen. Ein kleiner schmächtiger Kerl mit längeren Haaren, total cool und locker. Ich verliebte mich in ihn und es gelang mir doch ihn öfters zu sehen. Es war ein kindliches miteinander gehen, schmusen und ein paar Handgreiflichkeiten, mehr war da nicht. Aber es gab eben körperliche Nähe. Seine Familie war für mich ein Wahnsinn. Erstens hatte er sehr viele Geschwister. Sein Vater war wirklich uralt. Sie lebten in einem Reihenhaus der Gemeinde Wien. Mit den Eltern führten sie einen ganz argen Spruch, was aber keinen störte. Mitnehmen durften sie, wem immer sie wollten. Es war sehr ungepflegt dort, aber hauptsächlich, weil alles alt und reparaturbedürftig war. Und trotzdem fühlte ich mich wohl und glücklich. Ich wurde dort akzeptiert, keiner sagte etwas über meine Figur, keiner belehrte oder bestrafte mich. Wolfgang war ein krimineller Junge. Was genau er anstellte, weiß ich natürlich nicht, denn er tat das, wenn ich nicht da war. Aber er wurde vom Jugendamt ins Erziehungsheim Eggenburg gesteckt. Am Wochenende durfte er manchmal heim. Ich schrieb ihm viele Briefe. Durfte aber keine bekommen, so ließ ich sie an eine Klassenkameradin schicken, die sie mir dann gab. Das funktionierte wunderbar.

Einmal an einem Sonntagvormittag kam ich mit einem Knutschfleck heim. Meine Oma war wieder einmal auf Besuch da. Als meine Eltern diesen sahen, war das der Beginn eines Verhöres. Wer war das, wo war das. Machst sonst noch irgendwelche Sachen? Willst in ein Heim? Oma dazwischen immer, sag, es ist vom Pfarrer. Ich war fertig, aber keiner wusste dann, wer es gewesen war. War eigentlich sowieso egal – Hausarrest.

Kurz darauf besichtigten wir einen Campingplatz. Meine Eltern kannten dort jemanden. Es war ein schöner Platz in Pulkau im Weinviertel. Dort standen Mobilheime und Wohnwagen in kleinen eingezäunten Gärten. Rundherum Wälder und ein Waldbad. Ein kleiner Weg entlang der Pulkau führte zu einem Kreuzweg, welcher seinerseits zu einer Waldkapelle führte. Traumhaft. Traumhaft für dreizehnjährige Mädchen. Papa beschloss ein Mobilheim zu kaufen.

Der Hort war nun auch Vergangenheit, denn zum Erstaunen aller hatte ich mich im Zeugnis innerhalb eines Jahres von einem Genügend auf ein Sehr gut herunter gearbeitet. Die dritte Klasse begann also echt gut. Es gab viele Gegenstände in der Schule, die mich interessierten. Geografie und Biologie waren zum Beispiel meine Favoriten. Einmal haben wir in Biologie ein Kuhauge seziert, damit wir uns den Glaskörper im Auge genau ansehen konnten. Horst, mit dem ich öfters Blödsinn trieb, fiel in Ohnmacht dabei, das fand ich noch besser, als das sezieren an sich. Ich hatte jetzt auch Freundinnen in der Klasse und am Nachmittag traf ich mich mit ihnen, wenn ich nicht gerade Hausarrest hatte. Die Wochenenden verbrachte ich in Pulkau, wo ich ebenfalls, allerdings ganz langsam, begann einen Freundeskreis aufzubauen.

Eine meiner besonderen Schulfreundinnen war eben Silvia F. Sie war auch ein unglücklicher Vogel. Eine andere war Gabi K. und manchmal Ingrid W. Aber am liebsten war ich mit Burschen zusammen. Fredy F. und Fredi V. Oder auch Franz K., der leider schon verstorben ist.

Am meisten war ich aber praktischerweise mit Silvia zusammen. Sie fuhr manchmal mit anderen in den 6. Bezirk und ging durch den „Herzmansky“. Das war ein riesengroßes Kaufhaus, in dem es einfach alles gab, was das Herz begehrte. An einem Tag sollte ich mitfahren, aber ich sagte ihr, dass es nicht geht, da es sich mit der Zeit nicht ausginge. Das war ein Problem bei mir. Länger als 2 Stunden konnte ich selten weg und wenn man dann die Fahrzeit berechnete, blieb kaum Raum für Aktivitäten. Das war aber mein großes Glück damals. Just an diesem Tag erwischten sie Silvia und zwei andere Mädchen beim Ladendiebstahl. Das gab Zoff. Sie tat mir leid. Alleine der Gedanke, wenn ich dabei gewesen wäre und meine Eltern zur Polizei hätten kommen müssen. Ich will es gar nicht wissen. Auch Silvia hatte Schläge bekommen.

Da ich daheim sehr kurz gehalten wurde, hatte auch ich eine Zeitlang den Hang zum Diebstahl. Ich präparierte mir eine Jacke, indem ich das Innenfutter aufschlitzte und so Stauraum für Güter erhielt. Dahin verschwand dann Schokolade, Käse, Dauerwurst und für Mama zu Weihnachten auch Schminkzeug. Das ging so leicht, dass es fast schon fad war. Die Lebensmittel versteckte ich in meinem Zimmer und holte sie nachts hervor um sie zu genießen. Niemals wurde etwas kaputt. Als sie Videoüberwachung einführten, hörte ich damit auf. Man weiß ja nicht. Ich machte das immer alleine, denn aus dem Fall mit den Kerzen in der Kirche hatte ich gelernt.

Silvia wollte sich einmal das Leben nehmen, weil sie auch so unglücklich war. Sie rief mich an, dass es ihr schlecht geht und, dass ich kommen soll. Sie sagte mir, dass sie etwa 20 Gewadaltabletten geschluckt hätte und dazu habe sie Rotwein getrunken. Dauernd jammerte sie herum und ich sagte ihr, dass sie wahrscheinlich nicht sterben würde, denn sonst wäre sie schon tot und wenn sie will, soll sie aus dem Fenster hupfen. Das hatte ich im Fernsehen gesehen. Das wollte Silvia aber auch nicht, nachdem ich ihr erzählt hatte, was alles gebrochen sein könnte und dass sie eventuell im Rollstuhl weiterleben würde. Sie kotzte die Tabletten schließlich raus und lebte weiter. Allerdings fuhr sie immer öfter in den 6. Bezirk. Nicht mehr zum Herzmansky um Stofftiere zu klauen, sondern zur Kamera. Einem einschlägigen Lokal, dass es immer schon gab und noch immer gibt, wo Razzien an der Tagesordnung sind und sich trotzdem punkto Rauschgift nichts ändert.

An den Wochenenden waren wir also jetzt immer in Pulkau. Wir hatten erst einen Wohnwagen und dann ein Mobilheim. Das Ding war ganz praktisch, denn es hatte alles drinnen, was man zum Leben brauchte. Essecke, Küche, Elternschlafzimmer, Kinderzimmer, Wohnbereich und Heizung. Auch ein Klo war da. Samt Dusche. Wir hatten Nachbarn, die nett waren und diese Nachbarn hatten Hunde, die ich streicheln konnte. Ich bevorzugte es in den Wald zu gehen. Da gab es Pilze und ich schnitt sie ab und brachte sie heim. Ein Kenner von Pilzen vom Campingplatz, meinte, dass kein einziger Genießbarer dabei sei. Oje. Ich besorgte mir in der Bibliothek ein Buch über Pilze und machte mich schlau, lernte die Unterschiede kennen und wurde mit meinen jungen Jahren ein echter Pilzkenner. Meine Mutter vertraute mir dahingehend so sehr, dass sie alle Pilze kochte, die ich brachte. Niemals habe ich mich geirrt. Blautäubling, Grüntäubling, Bärentatze, sie alle habe ich geerntet. Das trauen sich die Sonntagssammler nicht. Auch meine Oma nahm sich einen kleinen Wohnwagen in Pulkau. Ich sah sie nun öfters. Die Parzellen hatten 100 Quadratmeter, also wirklich nicht viel. In unsere Wiese durfte man nicht rein steigen, es war unkrautfreier, englischer Rasen. Wenn es möglich war, war ich ohnehin nicht viel auf dem Platz. Meistens war ich im Wald oder im Waldbad. Das war nur unwesentlich weit weg. Zwei bis drei Gehminuten. Da lernte ich die Dorfjugend kennen. Witziger weise hießen meine drei besten Freunde alle Herbert. Aber es gibt ja Spitznamen. Wie Holzi, Futzi und Haupti und so gab es kein Problem. Mein erster Freund aber war der Fritzl. Ein Pferd. Es gehörte einem Bauern und hatte eine Freilaufkoppel gleich an der Straße. Mit dem Pferd bin ich öfters um die Wette gelaufen. Wenn ich rasch wendete, tat es das auch und überholte mich natürlich jedesmal dabei. Wir hatten beide eine Menge Spaß. Papa nahm unsere Räder nach Pulkau mit. Hier durfte ich endlich ohne Aufsicht herum fahren. Das war für mich etwas ganz Neues. So wie damals, am Wienerfeld. Ich musste mich zwar alle ein bis zwei Stunden melden kommen und abends war um halb sieben bis spätestens sieben Uhr Schluss mit lustig, aber ich genoss die Wochenenden schon sehr. Der direkte Nachbar links neben uns hatte einen Pudel. Ein Rüde namens Ati. Er war ein ganz lieber und freute sich immer, wenn ich zu ihm kam. Ich spielte wirklich sehr oft mit ihm. Ich ging mit ihm auch Gassi. Den Bach entlang. Bis hinauf zur Quelle. Als ich ihn noch nicht so gut kannte, biss er im Spiel einmal ganz fest zu, so dass ich blutete. Es tat sehr weh. Sein Besitzer machte etwas ganz tolles. Er schlug ihn nicht, sondern sagte ganz streng, dass das ganz böse war und dass er schauen soll, was er da getan hat. Ati schnupperte an meiner blutenden Hand und schaute mich furchtbar dämlich an. Ich konnte nicht anders, als ihn mit Tränen in den Augen zu umarmen und zu streicheln. Fortan waren wir die besten Freunde. Das allein war schon ein Grund sich auf das Wochenende zu freuen. Wohin ich auch ging, ich nahm Ati mit, sofern der Besitzer nichts dagegen hatte. Hinter uns wohnte die sogenannte „Steinfelder Oma“. Die hatte einen Mann und zwei Pudel. Einen großen Schwarzen und einen kleineren Braunen. Der Braune hieß Bandit. Beide waren total lieb und brav und trugen abends Schlafanzüge. Bevor sie die angezogen bekamen, wurden sie gebürstet, gestriegelt und hübsch gemacht. Mit denen durfte ich nicht fortgehen, aber jederzeit spielen kommen. Die Steinfelder Oma war eine ganz liebe Person, soweit ich mich erinnere. Einmal waren wir auch bei ihr daheim in Wien auf Besuch. Sie wohnte im 16. Bezirk. In der Kirchstetterngasse. Mein Bruder kam so dann und wann vorbei, sowohl in Pulkau als auch in Wien. Er arbeitete, wie ein Wilder. Die Bäckerlehre war abgeschlossen, das Bundesheer hinter ihm. Was genau er tat, wusste ich nicht, aber er verdiente gutes Geld, welches er brav sparte. Natürlich kamen so hin und wieder die elterlichen Vorwürfe an mich gerichtet, wie stolz sie nicht auf Fredi wären, weil er so fleißig sei. Das ging meistens an mir vorüber und in meiner Traumwelt war ich ohnehin erfolgreich und geliebt. Auch bei meinen Freunden fühlte ich mich wohl. Sie sponserten mir Zigaretten, denn ich konnte mir im Monat nur zwei Päckchen kaufen. Für mehr reichte das Taschengeld nicht aus. Man sprach über Gott und die Welt und lernte sich kennen. Auch meine Freunde und Klassenkameraden in Wien waren für mich sehr wichtig. Obwohl sie sich darüber sicher nicht bewusst waren. Und obwohl ich anfing, schwächere zu terrorisieren. Verzeiht mir bitte.

 

Natürlich hatte ich auch noch spärlich brieflichen Kontakt zu meiner platonischen Jugendliebe Wolfgang K. Er saß in der Erziehungsanstalt Eggenburg. Ich sah mir das Ganze in meinem Schulatlas an. Ich überlegte, ob es in zwei Stunden mit dem Fahrrad zu schaffen sei. Und zwar hin und zurück. Mehr Zeit hatte ich nicht, denn ich durfte selten länger als 2 Stunden weg. Eingerechnet ein Eingang-Klapprad, sowie Steigungen im Weinviertel, die nicht zu unterschätzen sind. Etwas Zeit zum Plaudern, wäre auch nicht schlecht. Da ich immer schon ein spontanes Kerlchen war, das hier und da auch etwas riskierte, wagte ich es eines Sonntags. Kurz vor 10 Uhr am Vormittag fuhr ich los. Mutter rief mir, wie immer nach, dass pünktlich um 12 das Essen auf dem Tisch stehe. Es war ein schöner, warmer Tag. Ich hatte 10 Kilometer vor mir und ich hatte Freude. Freude, Wolfgang zu sehen und Freude, dass ich etwas tat, was ich gar nicht tun dürfte. Freude, dass die Sonne schien und dass ich meinen Schutzengel sicher auf meiner Seite hatte. Ich schaffte diese Strecke in knapp 45 Minuten, ohne mich auch nur einmal zu verfahren. Ich passte auch beim Autofahren immer gut auf, da es mich interessierte. Es gab kein Verkehrszeichen, das ich nicht kannte. Das Erziehungsheim lag gleich am Anfang der Ortschaft, wenn man von Pulkau kam. Vor dem Schloss, in dem es untergebracht war, war eine Wiese, wo Kinder spielten. Auf der anderen Straßenseite war ein Anger, auf dem Enten schwammen. Im ersten Moment war ich etwas ratlos. Was weiter? Schließlich sprach ich die Kinder an und fragte nach meinem Freund. Zu meiner Freude holten sie ihn aus dem Heim. Er war ziemlich überrascht mich zu sehen, vor allem, als er die Geschichte dazu hörte. Wir saßen eine Weile in der Wiese und quatschten. Dann musste ich den Heimweg antreten. Mühevoll aber rascher als geplant ging es Richtung Pulkau. Pünktlich, wie immer erschien ich am Campingplatz. Verschwitzt. Aber glücklich. Eine Ausrede, über meinen Aufenthaltsort hatte ich mir auch zu Recht gelegt. Somit war alles geritzt. Komischerweise fragte mich keiner irgendwas. Ein zweites Mal wagte ich dieses Abenteuer nicht mehr, und Wolfgang K. habe ich seither nur mehr einmal gesehen. Und zwar als ich meine älteste Tochter Daniela im zarten Alter von 2 Jahren aus dem Kindergarten in der Emichgasse in Hirschstetten abholte. Er hatte sich kaum verändert, bis auf die Körpergröße und hatte ebenfalls Familie.

Obwohl meine Oma ebenfalls am selben Platz, wie wir einen Wohnwagen hatte, sah ich sie sehr selten. Sie las meistens Romane oder löste Kreuzworträtsel auf. Hier und da steckte sie mir etwas Geld. Das war sehr praktisch, da konnte ich mich bei meinen Freunden mit den Zigaretten revanchieren. Manchmal fuhr ich mit dem Rad auch in die Ortschaft hinein. Da gab es einen Weg, der durch eine Mühle führte und den fast alle benutzen, weil die Straße sehr gefährlich war. Hier rasten die Jüngeren mit ihren aufgemotzten Wägen nur so dahin. Warum ich dieses eine Mal diesen Weg fuhr, weiß ich nicht mehr. Möglicherweise sollte ich Besorgungen machen, oder ich wollte mich mit einem Mädchen treffen, dass ich kurz zuvor im Bad kennengelernt hatte und die mir sehr sympathisch war. Ich fuhr also diesen Weg entlang, wie schon so oft. In der Mühle parkte ein Wagen. Ich fuhr daran vorbei und just in diesem Moment öffnete die Fahrerin die Türe. Ich flog ziemlich weit und blieb mit dem Kopf einen halben Zentimeter neben dem Felsen liegen, der auf einen Berg führte. Nach kurzer Bewusstlosigkeit, sah ich die Fahrerin über mich gebeugt und sie fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich sagte, dass ich das schon glaube, aber ich wisse es nicht genau. Dann verschwand sie in ihrem Haus. Mein Rad war kaputt. Mein Bein sah komisch aus. Ich hockte mich auf den Boden und bewegte meinen Wadenmuskel. Er ließ sich schmerzfrei um das Schienbein wickeln. Obwohl ich von Anatomie und Erster Hilfe noch gar keine Ahnung hatte, wusste ich, dass das nicht ganz normal war und so humpelte ich heim. Das Fahrrad neben mir herschiebend. Als ich beim Fritzl vorbeikam, flüsterte ich ihm zu, dass es mir jetzt gleich ganz schlecht gehen würde. Aber meine Eltern schafften es doch zeitweilig mich zu überraschen. Ich musste den Unfall ganz genau schildern und mein Vater regte sich furchtbar auf, weil diese Frau mich gehen habe lassen. Er sah, und das war wirklich das erste Mal, die Schuld nicht bei mir. Großes Erstaunen. Dann zeigte ich ihnen meinen Wadenmuskel, was meiner Mutter etwas Übelkeit verursachte. Sie fuhren mit mir ins Spital nach Horn. Dort stellte man einen Muskelriss fest und verordnete mir Ruhigstellung und Bandagen. Dann begann es weh zu tun. Der Schock ließ nach. Das Rad wurde repariert, es war nur eine Kleinigkeit kaputt. Ich verbrachte einige Zeit sitzend. Nein es ist mir nicht abgegangen, dass mich keiner tröstete und zu sich drückte, dieses Thema hatte ich damals bereits abgehakt, als nicht existent. Meine Freunde fehlten mir. Aber Oma kam manchmal zu mir, oder ich humpelte rüber und suchte sie nach Zecken ab. Einen habe ich ihr einmal so schlecht rausgenommen, dass der Kopf im Fleisch stecken blieb. Ich traute es aber keinem sagen und hoffte, dass sie nicht sterben würde. Sehen konnte sie es nicht, denn es war im Nackenbereich. Oh Du meine Güte, was schwitzte ich da Nächtelang, bis ich mir sicher war, dass sie überleben würde.

Pulkau war landschaftlich gesehen, der schönste Ort, wo wir uns je aufhielten. Auch von den Leuten her, war es hier sehr harmonisch. Für mich. Wir bekamen neue Nachbarn. Ein großer, dicker Mann, mit einer großen, nicht ganz so dicken Frau, einem Sohn, jünger als ich und einer Tochter, die bereits siebzehn Jahre alt war. Ihr Name war Brutenic oder so ähnlich. Der Mann hatte eine Goldwing. Das ist ein Motorrad und zwar ein ganz großes, schweres. Mein Vater freundete sich mit ihm an und bald saßen die Erwachsenen ständig beieinander. Vorteil für mich, man ließ mich mit der Tochter herumziehen, da sie ja schon älter war und schwörte, auf mich aufzupassen. Da durfte ich ein einziges Mal bis 22 Uhr weg. Da war beim Bad ein Feuerwehrfest mit Autodrom und Schießbuden und so weiter. Das war lustig. Im Autodrom spielte es ununterbrochen „Meine kleine Welt“ von Waterloo und Robinson. Leider kam die große Tochter sehr selten mit an den Wochenenden.

 

Daheim lief alles seinen Trott. Ich hütete mich irgendetwas zu tun oder mich bei irgendwas erwischen zu lassen, dass meinen Vater zu harten Erziehungsmaßnahmen greifen ließ oder meine Mutter zu Handgreiflichkeiten ermunterte. Das war allerdings wirklich sehr schwer, denn ich wollte meine Freunde so gerne treffen. Das ist ja nur natürlich. Einmal durfte ich zu den Prennerbrüdern auf eine Party gehen. Wer der beiden Geburtstag hatte, weiß ich nicht mehr. Aber mir gefiel es dort. Ein weiteres Mal war ich lernen dort. Sie hatten damals schon Rittersportschokolade daheim. Ich durfte kosten und fortan schwärmte ich davon. Die Brüder waren sicher nicht die bravsten, aber sie wurden von ihren Eltern sehr geliebt. Das spürte man. Die Mutter war eine hübsche, gepflegte Frau und der Vater wirkte wie ein stattlicher Geschäftsmann. Die Wohnung war geschmackvoll und gepflegt und sie hatten ein Jugendzimmer. Das hätte ich auch gerne gehabt. Ich erzählte daheim nichts von alledem. In der Schule stritt ich öfters mit dem Horsti, weil er einfach nie wusste, wann es reichte. Trotzdem wollte ich ihn nie missen. Mit Gabi W. traf ich mich selten. Sie lebte mit Mutter und älterer Schwester in einer Wohnung in der Stadlauerstrasse. Der Vater war entweder kurz vorher verstorben, oder sehr krank. Mein Erinnerungsvermögen weist leider Lücken auf. Gabi bewunderte ich für ihr Aussehen, wofür sie natürlich selbst nicht viel beigetragen hatte, denn heute weiß ich, dass es Gottgegeben ist, aber damals war sie wie eine Göttin für mich. Natürlich war sie auch sehr klug und hatte eine tolle Ausstrahlung. Sie schrieb Pornografische Aufsätze, die schon sehr die Fantasie ankurbelten. In den Hofpausen las sie uns diese dann vor und ich war dann immer etwas durch den Wind, brauchte eine Weile, bis ich mich für den Unterricht wieder gesammelt hatte. Natürlich erzählte ich das keinem. Erstens kannte ich mich nicht so gut mit Sexualität und dem ganzen drum und dran aus und zweitens wusste ich meine seelische Aufgewühltheit damals nicht richtig einzuordnen. Diese Aufsätze führten aber dazu, dass ich von Gabi träumte und auch davon, was wir miteinander machen. Da ich auch hin und wieder Bravo las, glaubte ich eine schreckliche Zeitlang, dass ich lesbisch bin. Nicht dass ich diese Minderheit verurteile, nein sicher nicht, aber mein Vater wäre wohl total ausgezuckt. Irgendwann begriff ich, dass es sich um ganz normale Pubertätsträume handelt, die jeder auf die eine oder andere Weise einmal hat. Mir fehlte total jemand zum Ausreden. Gerade bei diesem Thema.

In Wien hing ich jetzt mehr mit Silvia herum und schaffte es sogar, dass ich einmal mit ihr nach Hadersdorf am Kamp mitfahren durfte. Sie im Gegenzug mit mir nach Pulkau. Auch wieder so eine Einzelgenehmigung meines Vaters, die nicht in das Bild passte.

In Hadersdorf hatte Silvia ein Minihaus. Als ihre Eltern schliefen, stiegen wir durchs Fenster aus und schwärmten durch die Nacht. Allerdings nur kurz, da wir niemanden fanden, mit dem wir etwas unternehmen konnten. Aber es war spannend. Am Tag versuchten wir den Kamp zu durchqueren. Ich fiel hin und wurde mitgerissen, konnte mich gerade noch an einem Ast festhalten, der vom Ufer ins Wasser hing, sonst wäre ich ertrunken. Aber ich bin ja stark genug gewesen. Das Wochenende in Pulkau verlief ebenso ereignislos. Nur Silvia hatte sich in Holzi verknallt und ging jetzt mit ihm. Bisserl fad, wenn man immer beim Schmusen zusehen muss.

Zu Hause in Wien durfte Silvia nie zu uns. Keiner durfte das. Also hingen wir meistens bei ihr herum oder auf der Straße. Nur wenn ich mir sicher war, dass niemand kommen würde, ließ ich Silvia herein. Es ging fast immer gut. Fast.

Diesen einen Nachmittag werde ich nie vergessen. Es muss ein Sommertag gewesen sein. Denn sonst hätte sie mehr angehabt und das Gewand wäre herum gelegen. Wir waren gerade im Gespräch als ich den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür hörte. Mir wurde heiß und kalt und schlecht. Ich öffnete meine Bettzeuglade und sie sprang hinein. Ich setzte mich aufs Bett und tat als würde ich lesen. Als mein Vater reinkam, begann ich zu reden und hoffte und betete, dass Silvia nicht nießen musste oder husten oder gar erstickte. Er nahm sich etwas zu essen und setzte sich in mein Zimmer, dass ja auch Speisezimmer war. Es kam mir schier endlos vor, bis er meinte, so jetzt müsse er zur Firma Adametz. Dort ging er einer zweiten Beschäftigung nach. Kaum war er mit dem Hintern aus der Wohnung befreite ich Silvia aus ihrem Gefängnis. Sie war froh, denn da unten hatte sie wenig Luft bekommen. Aber auch sie hatte Angst vor meinem Vater und deshalb durchgehalten. Später lachten wir noch sehr oft darüber. Diese Szene habe ich Gott sei Dank nicht in mein Tagebuch geschrieben. Denn kurze Zeit später bekam ich wieder einmal unvorhergesehene Ohrfeigen und dann fragte man mich Dinge, die man nicht wissen konnte, außer man hatte jemandes Tagebuch gelesen. Oh weh. Es war erniedrigend und eine Schmach. Sowohl die Tatsache, dass meine Eltern in meinen Dingen herum suchten, als auch die Ohrfeigen. Nachdem mir das zwei Mal passiert war, hörte ich auf zu schreiben. Dann fand er allerdings Briefe in der Schultasche, die ich mit Silvia schrieb. Wieder Ohrfeigen. Diesmal inklusive Hausarrest. Ich hatte geschrieben, dass mir mein Alter am Arsch geht. Die Ohrfeigen und der Rest änderten nichts an dieser Tatsache. Wie leicht wird Gehorsam mit Angst verwechselt? Und wie leicht wird jemand zum Mittäter, nur weil er nichts sagt oder unternimmt? Damals hatte ich schon ein wesentliches Ziel, nämlich ganz rasch von zu Hause weg, sobald dies auf legalem Wege möglich ist. Aber das würde noch dauern und ein harter Weg werden.

Als ich ungefähr 11 Jahre alt war, dachte meine Mutter, dass sie schwanger sei. Nach einem Arztbesuch stellte sich allerdings heraus, dass sie irgendetwas auf der Gebärmutter hatte und operiert werden musste. Sie kam in ein Spital in Klosterneuburg. Während dieser paar Tage kümmerte sich mein Vater um uns. Das waren komischerweise echt ruhige Tage. Und wir gingen jeden Tag essen, da er absolut nicht kochen konnte. Er war ganz anders in dieser Zeit. Nicht liebevoller oder besorgter, aber auch nicht gereizter oder bösartiger. Meine Mutter fehlte mir nicht. Und falls doch, dann habe ich es vergessen.

 

Eines Tages eröffnete mir mein Vater, dass mein Bruder mit seiner Freundin kommen würde. Und zwar mein älterer Bruder, der den ich nicht kenne. Peter. Ich war sehr aufgeregt und freute mich darauf. Natürlich würde sich für mich nichts ändern, aber ein weiterer Bruder wäre schon cool. Als es dann soweit war, saß ich nur da und starrte ihn an. Er sah meinem Vater sehr ähnlich, nur dass er furchtbar mager war, ebenso wie seine Freundin Romana, Romy genannt. Sie hatte sehr lange, schwarze Haare und eine Strähne davon zog sich mein Bruder ständig durch den Mund. Das wurde natürlich beredet, als sie gegangen waren. Und auch mit Oma an den Besuchstagen. Mittwochs. Ansonsten entwickelte sich eine Beziehung in der Familie und gemeinsame Aktivitäten wurden gesetzt. Sie schliefen schon mal bei uns und zwar in meinem Bett, da wurde ich auf die Wohnzimmercouch verlagert. Mir war es egal. Es war etwas Neues und es war Abwechslung. Sie hatten auch eine Wohnung und zwar in Simmering. Inzwischen waren sie aber verheiratet. Romy war dort Hausbesorgerin. Ich durfte einmal bei ihnen übernachten und sie nahmen mich mit zu ihren Freunden. Erst trafen sie sich auf einer Tankstelle. Das war sowas von super. Man nahm mich doch glatt für voll. Ich rauchte. Man unterhielt sich mit mir. Nach der Tankstelle fuhren wir ins Hochhaus. Das war am Margareten Gürtel. Ganz oben am Dach war ein Lokal. Es war eines meiner eindrucksvollsten Erlebnisse dieser Zeit. Es gefiel mir und ich wollte so werden, wie die zwei. Aus irgendeinem Grund war auch das ein Einmalerlebnis. Vielleicht hatte ich zu viel erzählt, zu viel Freude ausgestrahlt. Vielleicht wirkte ich glücklich. Nun, das Leben ging auch so weiter und man vergisst viel und schnell. Wahrscheinlich habe ich es deshalb geschafft, einigermaßen fröhlich zu bestehen, mir vieles nur kurz zu Herzen zu nehmen. Ich habe meine Eltern so sehr geliebt. Mir so sehr gewünscht, ebenso geliebt zu werden. Immer gehofft, dass ein Wunder passiert. Dazu kam es aber nie. Trotzdem ist man traurig, wen sie dann für immer weg sind, denn dann ist auch die letzte Chance gegangen. Einen Vorteil hat man allerdings. Ich kenne diesen unsagbaren Trennungsschmerz nicht. Wenn mir Bekannte vom Tod ihrer Eltern berichten und wie leer alles ist und wie schlecht es ihnen geht, kann ich nur ungefähr nachvollziehen, wie das ist. Ich litt als meine Tiere starben. Da war immer eine sehr enge Beziehung vorhanden. Als mein Vater starb, war ich sehr traurig darüber, dass ich nun die Gelegenheit verpasst hatte, von ihm zu hören, dass er mich so liebt, wie ich bin und dass es ihm leid tut, was er uns angetan hat. Ich hatte mich bald an ein Leben ohne Kontrolle gewöhnt und ich vermisse ihn eigentlich nicht. Aber ich hätte doch gerne einen Vater, trotz meiner bald vollendeten 50 Jahre, der so ist, wie ich mir einen Papa vorstelle.

Ich muss während des Tippens und des Korrigierens meines Buches über mein Leben immer öfter Pausen einlegen, manchmal dauern diese Pausen Tage. Dann schießen mir die Tränen in die Augen oder der Zorn auf meine Mutter wird so groß, dass ich Angst habe, ihr die Meinung zu sagen, wenn sie vorbei kommt. Seit Papa tot ist, ist sie so anhänglich wie ein Floh im Hundefell. Furchtbar. Ich habe sie einmal gefragt, als ich schon ausgezogen war, warum sie denn immer Papas Meinung vertritt, nie für uns nie verteidigt, selbst wenn sie von unserer Unschuld weiß. Ihre Antwort werde ich nie vergessen, sie hat sich mir eingebrannt und nur zu gerne würde ich sie ihr einmal entgegen schreien. „Mit dem Papa werde ich alt, ihr Kinder geht weg von daheim!“ So kann man sich täuschen. Die einzige, die übrig ist, bin ich. Meinen Bruder Fredi sieht sie drei Mal im Jahr, Peter gar nicht mehr, außer er ist gerade zufällig bei mir auf Besuch, wenn sie auch vorbei kommt. Ich leide da manchmal darunter, dass ich kein Weihnachten und keinen Muttertag für mich und meine Familie alleine habe, aber es gibt im Moment keine Lösung. Zu mindestens fehlt mir diese Herzenskälte meiner Eltern dafür.

Am 1. August 1976 ist die Reichsbrücke eingestürzt, irgendwann um 4 Uhr früh. Zu diesem Zeitpunkt waren wir gerade in Pulkau und glaubten an einen Aprilscherz, als wir die Nachrichten hörten. Da wir in Stadlau wohnten, benutzen wir sie natürlich regelmäßig, um über die Donau in den Rest von Wien zu kommen. Seit wir einen sogenannten Zweitwohnsitz hatten, war meine Jugend ebenfalls zwei geteilt. Meine Schulkameraden in Wien. Meine Freunde in Pulkau. Das ergab, dass man keine Freundschaft wirklich intensivieren konnte. Ich war viel alleine unterwegs oder zu Hause beschäftigt. Aus dieser Zeit gibt es einige Fotos von mir und ich habe neulich festgestellt, dass ich gar nicht unhübsch war und auch nicht so extrem fett, wie ich immer geglaubt hatte, weil man es mir ständig vorgehalten hatte. Ich hatte damals minimales Übergewicht, aber keinen Fettbauch oder ähnliches. Ich hatte nur eines, absolut kein Selbstwertgefühl und auch kein Selbstvertrauen.

Meine gespaltene Jugend führte dazu, dass ich meine Aggressionen gegenüber meinen Eltern, gegen andere Menschen auslebte. Das tut mir sehr leid. Da gab es in meiner Klasse Gabi K. Sie war eines jener Mädchen, der es daheim auch nicht so rosig ging und die manchmal mit mir herum hing. Als sie einmal an unserer Wohnungstür läutete, schaute mein Vater durch den Türspion und sagte dann ganz laut: „Die hat ja Eiterpickel, die braucht gar nicht anläuten!“ Natürlich hat sie es gehört. Ich habe mich am nächsten Tag in der Schule für ihn entschuldigt und am selben Abend in mein Kopfkissen geheult. Warum war er nur immer so gemein? Aber kurz danach begann ich Gabi K. zu schlagen. Jeden Tag vor der Schule bekam sie eine Ohrfeige von mir. Eine ganze Zeit lang. Sie hat sich nicht und es tut mir so sehr leid. Ich bin ein absolut friedlicher Mensch. Vielleicht wollte ich aufzeigen, dass bei uns irgendetwas nicht stimmt. Vielleicht wollte ich in ein Erziehungsheim. Keine Ahnung. Ich war in dieser Zeit abgrundtief böse. Das zweite Mädchen, bei dem ich handgreiflich wurde, war Silvia, meine beste Freundin in Wien. Die, bei der ich einmal schlafen durfte. Ich habe ihr eine dermaßen Feste geknallt, dass sie auf der Stelle zu Boden ging und einen Latz in der Kopfhaut hatte. Auch sie hat mich nie verraten und gesagt, dass sie von zwei jugoslawischen Gastarbeitern überfallen worden war. Danke, Silvia. Mit ihr war ich nach dem Vorfall wieder befreundet. Inzwischen habe ich sie leider aus den Augen verloren. Die anderen Mädchen aus meiner Klasse habe ich auch nicht sehr nett behandelt. Ich habe mich wohl aufgespielt, wie eine Amazone. Sie gestanden mir beim letzten Klassentreffen, dass sie alle Angst vor mir hatten. Auch das tut mir heute natürlich leid. Ich suchte wohl ein Ventil, das die aufgestauten Ungerechtigkeiten mir gegenüber kompensierte. Nur gefunden habe ich es so nicht, denn es gab mir absolut keine Befriedigung. Es tut mir auch leid, dass ich Eva G. in die Nase gebissen habe. Ich weiß nur nicht mehr, warum ich es getan habe, denn sie hatte mir immer ihre guten Semmeln überlassen.

An den Wochenenden war ich etwas verträglicher. Die paar Stunden, an denen ich immer weg durfte, machte ich mir so gemütlich und schön, wie es nur ging. Gedanken daran, wie gut es andere Kinder hatten verdrängte ich erfolgreich, denn es hätte mir nichts gebracht, daran zu zerbrechen. Ich zählte lediglich die Jahre bis zu meiner Volljährigkeit und hoffte, dass sie rasch vergehen würden.

Wenn mein Bruder kam, inzwischen schon mit Sabine, seiner späteren Frau, dann steckte er mir immer Geld und Zigaretten. Ich versteckte beides gut. Im Keller unseres Wohnhauses lief an der Wand ein Abwasserrohr. Bei den Halterungen war ein kleiner Spalt, wo ich meine Zigaretten deponierte. Oder meine Winterhaube, die ich bis in den April hinein tragen musste, oder auch die rosafarbige, Flanellerne. Ich durfte nur nicht vergessen, sie wieder anzuziehen, bevor ich heimging.

Das Tagebuch schrieb ich inzwischen in Stenographie, das konnten meine Eltern nicht lesen. Ich hatte eine Eins in Stenografie. In Englisch ebenfalls. Auch da verstanden meine Eltern rein gar nichts. Das war meine Stärke. Die Schule und meine Lernfähigkeit. Da war ich ihnen wirklich um etliches voraus. Nach wie vor, kontrollierte Vater meine Sachen. Ich wurde behandelt, wie ein ‚Gefängnisinsasse. Und auch so verhört.

Ein Mädchen kannte ich dann noch aus dem Kirchenheim. Gabi T. Wir waren nur ein paar Mal zusammen, aber verstanden uns echt gut. Sie war, wie ich Steinbock und hatte lauter Blödsinn im Kopf. Auch sie wurde strenger gehalten. Leider erinnere ich mich nur an eine Episode. Sie hatte mich und ein paar Jungs zu sich eingeladen, weil ihre Eltern nicht zu Hause waren. Wir haben da auf einem großen Bett gesessen und geknutscht. Plötzlich hörte sie den Wagen ihres Vaters. Alle sind aufgesprungen und weggelaufen. Teilweise haben sich die Mädchen und Burschen im Laufen angezogen. Das war lustig und ist gut ausgegangen. Gabi habe ich alle paar Jahre mal wieder getroffen. Hoffentlich geht es ihr gut. Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne.

Die Hauptschule neigte sich dem Ende und ich wollte so gerne weiter zur Schule gehen. Ich hatte auch keine Ahnung, was für einen Beruf ich erlernen sollte und keiner sprach mit mir darüber. Das letzte Jahr war ich echt gut gewesen. Ich wusste absolut nicht, wofür ich geeignet war, beziehungsweise dass ich überhaupt für etwas geeignet war. Mein Vater las in der Zeitung etwas über die „Einjährige Sparkassenschule der Ersten Österreichischen Sparkasse“. Wenn man die Aufnahmeprüfungen schaffte und dieses eine Schuljahr, welches den Stoff von drei Jahren Handelsschule beinhaltete, dann wurde man bei der Erstebank (so heißt sie heute) fix angestellt und konnte dann nach drei Jahren die staatliche Bankprüfung ablegen. Nun, mir war es egal, dass er mich anmeldete. Mein kurzes Veto, das ich gerne Automechanikerin werden würde, wurde sofort belächelt. Ich war in handwerklichen Dingen, gar nicht so schlecht, nur in der Feinmotorik haperte es. Meine Babydecke, welche ich in der Schule stricken musste, wurde nur so groß, wie ein Topflappen. Meine Mutter strickte zwar für Papa Pullover, aber bei der Decke half sie mir nicht, sah mir nur zu, wie ich mich quälte und schwitzte und mir die Wolle das Blut an den Fingern abschnürte. Irgendetwas machte ich da falsch.

Ich ging zur ersten von drei Prüfungen zur Bank. 4000 Bewerber aus ganz Österreich hatten sich gemeldet. Die Tests beinhalteten Allgemeinbildung, Mathematik, Deutsch, Englisch und Intelligenz. Ich schaffte sie genauso, wie die zwei folgenden. 36 kamen durch. Die 36 besten von 4000. Daheim hörte ich zu diesem Thema, so wie bei meinen Schularbeitsnoten und Zeugnissen, dass man sich nichts anderes erwartet hätte. Kein Feiern, keine Freude, kein Lob, kein Extra. Ich lerne für mich und nicht für andere. Meine Eltern nahmen alles das als selbstverständlich hin. Meine Schwägerin hat mir bei einem kürzlich stattgefundenen Treffen erzählt, dass ich väterlicherseits kein Wunschkind war und dass sich meine Mutter mich eingebildet hatte. Vielleichte wollte sie ihn damit fester an sich binden. Sie ist ein Mensch, der absolut nicht allein sein kann und sich auf längere Sicht auch nichts mit sich anzufangen weiß. Natürlich rückte diese Tatsache meines Vaters Verhalten in ein ganz anderes Licht. Ich habe seit ich denken kann, nach Beweisen gesucht, dass ich adoptiert worden bin, in der Hoffnung irgendwo andere Eltern zu haben. Traurig, oder? Leider habe ich nichts gefunden, dass auch nur im entferntesten darauf hindeutete. Ich fand Mutters Abschlusszeugnis. Nur schlechte Noten, ausgenommen in Handarbeiten. Mein Vater hatte seine Zeugnisse nicht mehr. Ich fand einen kleinen weißen Plastikbären und das Foto eines Babies, dass von einem größeren Kind gehalten wird. Das Baby war Karli. Mutters erstes Kind. Er ist im Alter von drei Monaten an einer Lungenentzündung gestorben. Der Junge war Franzi ein Cousin von Bruder Fredi väterlicherseits. Ich habe ihn nie kennengelernt. Ich fragte meine Mutter, wo denn Karlis Grab wäre. Sie sagte, er liege bei einem zur gleichen Zeit verstorbenen erwachsenen Mann drinnen. Sie wüsste aber nicht wo. Ich fand das schon als Kind furchtbar. Und jetzt, wo ich es niederschreibe ebenso. Dann erwähnte ich noch, dass es schön wäre, wenn Karli erwachsen geworden wäre und auch bei uns sein würde. Da meinte sie ganz trocken, dass es dann keinen Fredi geben würde. Auch das hat mir innerlich einen Stich versetzt. Einmal verriet sie mir, dass sie an die viermal bei einer Engelmacherin war, als sie jung war. Engelmacherin nannte man jene Frauen, die in einem Hinterzimmer illegale und unsterile Abtreibungen vornahmen. Manchmal in späteren Jahren versuchte ich herauszubekommen, warum meine Eltern anders waren. Mir gegenüber. Denn zu fremden Kindern und Menschen waren sie ja nicht so. Vater kuschelte oft mit bekannten Frauen oder nahm fremde Kinder auf den Schoß. Mama nie. Mama sagte dann immer, dass sie von ihrer Mutter weggegeben worden sei und in einem Heim und bei bösen Pflegeeltern aufgewachsen sei. Sie hätte so richtige Liebe nie kennen gelernt, vielleicht kann sie deshalb nicht so sein. Der einzige der je gut zu ihr war, sei mein Vater gewesen und darum liebe sie ihn so sehr. Sie war ihm echt hörig und ich glaube, wenn er verlangt hätte, dass sie mich weggibt, sie hätte es getan. Warum konnte sie ihn so sehr lieben, ihn streicheln und küssen? Wieso bin ich fähig, Liebe zu geben? Habe meine Kinder getröstet, gestreichelt, beschützt und wäre für sie gestorben und würde es immer noch tun? Ich habe auch nie wahre Liebe erfahren, aber ich spürte, was zu tun ist und was die Zwerge brauchen. Vielleicht habe ich zu wenig gefordert. Ich nahm dankbar, was ich kriegen konnte und sagte nichts und litt, wenn ich nichts bekam. Egal ob es nun um Zuneigung, Geschenke, Schokolade oder sonstwas ging. Ganz selten bettelte ich um etwas. Niemals forderte ich etwas. Ich habe heute auch Probleme in Beziehungen. Ich werde mit Einengung nicht fertig. Ich brauche Freiraum, Luft zum atmen. Ich würde es nicht ertragen, wenn ich einen Partner hätte, der mich ständig im Arm halten möchte und dauernd küssen will. Ich könnte nicht leben, wenn ich keinen Schritt alleine machen dürfte, keine Entscheidung alleine treffen könnte. Ich bin keine Frau für eine intensive Zweierbeziehung, wo es kein Leben außerhalb gibt.

Mit Oma hatten wir die ganze Zeit wieder Kontakt. Von ihr bekam ich für die vielen guten Noten immer Geld, leider nicht so heimlich wie von Fredi. Sie sagte auch offen, dass sie stolz auf mich ist.

Dass wir Geburtstage und andere Feste nicht so toll feierten, wie die meisten Familien die ich kannte und dass die Geschenke meist Dinge des täglichen Bedarfs waren, bis auf wenige Ausnahmen, hat mich immer traurig gemacht. Ich habe das für mich natürlich geändert und schaue noch heute darauf Freude zu schenken und keine Gebrauchsgegenstände. Ich finde, Rituale und Gebräuche sehr wichtig und auch dass man sich über eine Person Gedanken macht.

Auch dass wir keine richtige Familie waren, weil wir keine Verwandten hatten, beziehungsweise wir keinen Kontakt mit ihnen pflegten, machte mich traurig. Vielleicht hätte ich, wenn es anders gewesen wäre eine Person meines Vertrauens gefunden. Jemand der immer für mich da gewesen wäre, dem ich alles erzählen konnte. Viele Menschen sind in mein Leben getreten, als ich ein Kind war, viele mochte ich wahnsinnig gerne, aber keiner ist mir geblieben. Vergessen habe ich sie alle nicht.

Geld verdienen war für mich und meinen Zigarettenkonsum überlebenswichtig. Mein Vater zahlte mir fürs Felgen putzen an seinem Opel Manta 20 Schilling. Pro Felge 5 Schilling. Leute, wer jemals Alufelgen besaß und mit den Händen die Rückstände der Scheibenbremsen entfernt hat, der weiß, wie ich für das bisschen Geld schuften musste. Zwischen vier und sechs Stunden habe ich am Boden kauernd gerieben, geputzt und gewienert. Ich habe auch auf einer Tankstelle, wo er einen Zweitjob hatte, die Scheiben der Autos gereinigt, die gerade betankt wurden. Manchmal bekam ich von den Besitzern ein paar Groschen dafür.

Im selben Jahr, wie die Aufnahmeprüfungen und das Ende der Hauptschule, war auch meine Firmung. Damals war ich noch römisch katholisch. Meine Eltern aber nicht. Das war ein Desaster. Ich musste meine Schwägerin Romy als Firmpate angeben, denn sie war auch römisch katholisch. Meine Oma kaufte mir eine Uhr, kam aber nicht zum Staphansdom, wo das ganze stattfand. Stattdessen stand meine Mutter hinter mir, als ich den heiligen Geist empfing. Bis zum Schluss hoffte ich inständig, dass wir vielleicht doch in den Prater gehen würden. Vater hatte mich zwar gefragt, ob es mir nichts ausmachen würde, wenn wir gleich nach der Firmung nach Pulkau fahren. Und klarerweise hatte ich zugestimmt. Aber ich wäre so gerne in den Prater gefahren, wie alle anderen auch. Und essen in ein tolles Lokal. Einmal mit allem fahren im Prater, was Spaß macht und vielleicht ein echter Gasballon. Ich weiß, dass der teuer ist, aber man wird ja nur einmal im Leben gefirmt. Nun gut, auf der Korneuburger Autobahn merkte ich, dass es keine Überraschung geben würde und somit war es erledigt. Da sie ohnehin ständig miteinander quatschten, merkten sie auch nie, wenn ich Tränen in den Augen hatte. Meistens gelang es mir, bis zum Einparken normale Augen zu haben, wenn nicht, dann sagte ich meistens, dass ich geschlafen hätte. Ich wollte mir die Häme eines „Lach endlich“ ersparen. Ich lachte ohnehin sehr viel, sonst wäre ich als Kind verkommen. Oft habe ich an Selbstmord gedacht, aber früh erkannt, dass das für mich nichts ändern würde. Dass ich nur durchhalten müsste, damit ich leben kann. Ichredete oft halblaut mit mir selbst, wenn ich Probleme wälzte. Natürlich nur, wenn ich sicher war, dass mich keiner hörte. Da sagte ich dann oft, dass ich ihnen diese Freude nicht machen würde, einfach abzutreten, denn sie würden ihr Leben ja weiterleben.

Wenn ich versuche einzelne Situationen hervor zu kramen, aus den hintersten Winkeln meines Unterbewusstseins, so gelingt mir das nicht wirklich. Ich weiß nur, dass es immer da war. Die Angst, das Gefühl unnötig, unnütz, dumm und hässlich zu sein. Und wieder die Angst. Angst vor Strafen, Erniedrigungen und auch körperlichen Züchtigungen. Psychoväter sind klug. Sie vermitteln das Gefühl, dass man allem selber Schuld trägt. Das man trotz jeder Sanktion, sei sie noch so unfair gewesen, den Drang verspürt sich zu entschuldigen. Verzeih mir, dass Du mich schlagen musstest. Er schlug ja selten zu. Mama öfters. Dafür gab es da kein Gefühl. Sie tat es einfach. Ohne jede Vorwarnung. Gründe fand sie genügend. Wenn ich mich nur einmal getraut hätte, mich zu wehren, sie hätte mich wohl nie mehr angegriffen. Sie ist feig. Stattdessen habe ich mich nur zusammengerollt und versucht mein kleines Gesicht zu schützen. Und keiner da, der dich dann tröstet. Außer vielleicht einem Teddybär, oder Deine Scheinwelt, in der Du nachts lebst. Oder am Tag, wenn Du alleine bist.

Nun in Pulkau am Platz passierte dieses Wochenende nichts an das ich mich erinnern könnte. Erst die Heimfahrt wurde zum einschneidenden Erlebnis. Wohl fragten mich die Leute, warum ich so schick sei und als ich antwortete, dass ich von der Firmung käme, sagten sie entweder nichts oder wunderten sich, dass ich nicht im Prater sei. Ich erklärte natürlich allen, dass ich viel lieber in Pulkau wäre, als im Prater. Es gab ja den Weg neben dem Bach, wo man sich dann alleine hinsetzen und träumen konnte. Und in eine andere Welt einsteigen.

So dann und wann kamen meine Freunde vorbei, die wussten, wie schwer ich es hatte. Mich wundert, dass sie meine Freunde blieben, da ich ja wirklich nicht viel Freizeit hatte und mich nicht weit weg bewegen konnte.Alles erzählte ich ihnen natürlich nicht, aber vieles.

Das Firmungswochenende war im Juni.

Es waren ein oder zwei Wochen bis zum Abschlusszeugnis der Hauptschule. Wir fuhren, wie immer, Sonntag am Nachmittag Richtung Wien. Erst Bundesstraßen, dann die Stockerauer Autobahn. In Höhe Abfahrt Korneuburg, die Autobahn endete damals dort, bemerkte ich schon, dass mein Vater öfter Gas gab und wieder nachließ. Ich vertiefte mich am Rücksitz aber in meinen Gedanken, bewunderte die schöne Uhr von Oma und achtete nicht weiter auf den Straßenverkehr. Auf der langen Geraden vor Langenzersdorf passierte es. Die Bremsen kreischten, es gab einen ohrenbetäubenden Knall, ich wurde etwas nach vor geschleudert. Mein Kopf krachte gegen den Vordersitz meiner Mutter. Ich schrie.

Der andere Wagen hatte meinen Vater geschnitten und dann sofort wegen einer roten Ampel abgebremst. Mein Vater war ihm mit ungefähr 50 Stundenkilometer hinten hinein gefahren. Meine Eltern waren unverletzt. Was dann genau weiter passierte, weiß ich nicht mehr genau. An die Fahrt ins Spital erinnere ich mich. Blaulicht, Folgetonhorn. Wer sonst mit war, weiß ich auch nicht mehr. Mir tat eigentlich nichts mehr weh. Ich fühlte nur eine Beule.

Im Korneuburger Krankenhaus kam ich in ein Zimmer, wo Erwachsene ebenso lagen, wie größere Kinder. Es war ein Vierbettzimmer. Sicher hat man mich geröntgt. Ich bekam den Kopfteil des Bettes höher gestellt und die Anweisung keines Falls aufzustehen. So. Ich verstand die Aufregung so überhaupt nicht. Natürlich war ich am nächsten Tag sofort nach dem Aufstehen im Zimmer unterwegs. Eine Schwester hat mich abgefangen und mich sofort wieder ins Bett verfrachtet. Sie sagte mir, dass ich liegen bleiben solle, bis sie wiederkommt, sie werde mir etwas zeigen. Sie kam sehr rasch wieder. Ein Buch in der Hand. In dem Buch waren Bilder von Köpfen, deren Stirn stark ausgebeult war. Die Menschen dazu waren teils debil. Sie erklärte mir, dass ich am Stirnbein einen Sprung habe. Durch diesen Sprung kann Gehirnflüssigkeit austreten und mich quasi blöde machen. Oder behindert. Das machte Eindruck. Von da an blieb ich im Bett. Im Spital wurde ich regelrecht verwöhnt. Wenn mir etwas schmeckte, bekam ich nach. Bücher wurden mir gebracht. Ich las sehr viel. Meine Oma kam und brachte mir Grillhendl und tratschte mit mir oder wir spielten Jolly. Sie hatte einen sehr weiten Weg und war schon alt. Aber sie kam jeden zweiten Tag. Meine
Eltern kamen so alle vier bis fünf Tage und brachten zwei Liter Apfelsaft mit. Den trank ich sehr gerne. Auf die Frage, warum sie nicht öfters kamen, meinten sie, dass es ohne Auto sehr schwer sei, da es weit wäre. Wie machte Oma das nur ….. Nun gut, sie fehlten mir nicht wirklich. Nur zu den Besuchszeiten, wo keiner da war, zog ich mir die Decke über den Kopf und weinte. Ich sah die Patienten kommen und gehen. Sie blieben alle nicht sehr lange. Und ich bekam einen Eindruck vom Spitalsleben. Da war die Dame mit der Gallenoperation. Sie hatte die Operation bereits hinter sich und zwei Schläuche kamen aus ihrem Körper. Beide Schläuche endeten in gläsernen Auffanggefäßen. In einem war Blut, im anderen Gallensekret. Diese Dame hatte eindeutig Probleme mit dem Stuhlgang nach der Operation. Da kam eine tschechische Schwester mit einem Einlauf. Ein zwei Liter Gefäß mit Schlauch. Die Frau musste sich zur Seite drehen, der Schlauch kam in den Hintern und dann wurde Wasser, oder was auch immer, in den Darm gelassen. Schon bald stöhnte die Patientin und meinte, dass sie nicht mehr kann. Da sagte die Schwester ganz trocken: „Schmerz muss gehen bis in Hirn, dann gut!“ Also danach hatte die Frau keine Stuhlprobleme mehr und ich liebte meine Schädelfissur. Ein Mädchen mit Blinddarmdurchbruch war da und eines mit Leistenbruch. Die waren total nett. Aber sie blieben alle nicht sehr lange. Ich durfte 4 ganze Wochen im Korneuburger Spital verbringen. Aber ich kann nur das allerbeste Zeugnis abgeben für das Personal und die Betreuung.

Mein Alter war auf der Tafel schlampig geschrieben. Es sah aus wie 19, sollte aber 14 heißen. Das führte zu sehr unerfreulichen Missverständnissen mit einem Pfleger. Untertags hatte ich mit ihm gescherzt und gelacht. Abends holte er mich aus dem Zimmer. Da durfte ich bereits aufstehen. Er meinte, er wolle mir etwas zeigen. Er führte mich durch diverse Kellergänge in einen Raum, der wie eine Garderobe aussah. Angst hatte ich nicht. Wohl war mir mulmig. Aber es war anders, als damals in Stadlau. Ich saß da so auf seinem Schoß, er streichelte meinen Busen und er küsste mich. Er wurde echt heiß. Mir war klar, dass ich jetzt irgendetwas machen musste. Entweder machte ich mit und verlor in einem Keller meine Unschuld oder ich schrie oder weinte. Stattdessen sagte ich nur, dass wir das nicht tun sollten. Er meinte keuchend, warum nicht, es sähe ja keiner. Da sagte ich ihm, dass ich vierzehn bin und es vielleicht nicht gut ist, das zu tun. Oja, der war schnell wieder abgekühlt und hatte seine Kleidung in Ordnung gebracht. Er brachte mich zurück aufs Zimmer und sah ihn nur mehr selten. Wenn ich ihn sah, grinste ich, er nicht.

Es kam die Zeit, da durfte ich, mit Kopfbedeckung, in den Park des Korneuburger Krankenhauses. Der war sehr schön. Da sah ich ihn. Wow. Er sah aus wie ein Indianer. Lange, dunkle Haare, Stirnband, durchtrainierter Oberkörper, muskulöse Beine, braungebrannt, etwa 25 Jahre alt. Ich verknallte mich. So jung und unerfahren ich war, ich schaffte es, seine Aufmerksamkeit zu erregen und schon bald saßen wir gemeinsam auf einer Bank und rauchten. Die Zigaretten besorgte mir Oma, oder sie gab mir Geld und die Putzfrau war so nett, mir welche zu holen. Irgendwann hielten wir auch Händchen und küssten uns. Keine Ahnung, wie er hieß und weswegen er im Spital war. Jedenfalls hätte ich ihm nie gesagt, wie alt ich bin. Er hat es selber herausgefunden. Allerdings hat er sehr darunter gelitten, denn auch er dürfte sich verliebt haben.

Eigentlich gefallen mir ja nur brünette Männer, aber ich glaube, bei im lag es daran, dass er aussah, wie ein Indianer. Ich nannte ihn heimlich Chingachgook, den letzten Mohikaner. Aber auch er wurde aus dem Spital entlassen und zurück blieben meine Träume.

Ich muss gestehen, ich habe diese Zärtlichkeiten beider Männer sehr genossen und mir gedacht, dass ich so etwas irgendwann immer haben werde. Dass man mich lieben wird und es mir auch an nichts fehlen wird. Dass es keine Kontrolle und keine Angst mehr geben wird. Ich dachte, wenn ich erwachsen bin, dann wird mein Leben nur mehr von Liebe begleitet sein. Gut ich war ja erst vierzehn. Und ich begann Sex und Leidenschaft mit Liebe und Zuneigung zu verwechseln.

 

Was mich besonders freute war, dass mich mein Klassenvorstand besuchen kam. Er brachte mir mein Abschlusszeugnis und eine Karte meiner Klassenkameraden mit, auf der alle unterschrieben hatten und mir baldige Besserung wünschten. Obwohl ich nicht sehr pflegeleicht war, hatten sie mich nicht vergessen. Das war schön. Ich wunderte mich eigentlich, woher er so viel über den Unfall wusste. Es stellte sich heraus, dass es genau vor dem Gartentor seiner Kollegin passiert war, die die andere vierte Klasse unterrichtete. Es gibt schon eigenartige Zufälle. Ich bin Herrn Peter G. noch heute dankbar für seinen Besuch und habe es ihm am Klassentreffen auch gesagt. So etwas ist nicht selbstverständlich und damals war es das schon gar nicht.

 

Nach endlosen vier Wochen und Schlussuntersuchungen wurde ich entlassen. Ich durfte nur mit Strohhut in die Sonne, keinen Alkohol trinken und nichts rauchen. Naja, das nahm ich weniger Ernst. Ferner sollte ich nach einem Jahr unbedingt eine weitere, neurologische Untersuchung machen. Am letzten Tag verabschiedete ich mich von allen, die mich so um hegt hatten und weinte. Ich hatte überhaupt keine Lust auf daheim. Mutter holte mich ab und wir fuhren mit dem Zug nach Hause. Schon die Fahrt kam mir so unwirklich vor. Das Zimmer daheim, das ja nicht wirklich vor persönlichen Utensilien strotzte, außer den Postern über meinem Bett, wirkte kalt und leer. Es ist zwar eigenartig und unglaubwürdig, aber ich vermisste das Spital und die Menschen darin. Ich weiß noch, dass ich die erste Nacht letztendlich auf dem Boden schlief, weil mir das Bett zu weich war.

Langsam gewöhnte ich mich wieder an daheim und den normalen Lebensrhythmus. Es waren Ferien. Das Auto wurde repariert, es gab Gerichtsverhandlungen die aber immer wieder vertagt wurden. Im Endeffekt dauerte der Fall bis zum Abschluss zweieinhalb Jahre.

 

Aus irgendeinem Grund suchte mein Vater ein neues Wochenenddomizil. Wir sahen uns verschiedene Campingplätze an. Einer davon war im Waldviertel. In Drosendorf. Ein idyllisches Städtchen mit einem Schloss und einer Altstadt. Es gab ein Strandbad, ein Freibad und eine Discothek mit Kino. Da wollten sie hin.

Wieder brach für mich eine Welt zusammen. Wie sollte ich meine Freunde sehen, was wird aus Ati, dem Pudel. Ich mochte nicht weg. Bitte nicht schon wieder. Keiner fragte danach.

Meine drei Herbert Freunde blieben meine Freunde. Wir haben uns bis ich ungefähr 22 Jahre alt war nicht aus den Augen verloren. Damals schrieb man sich auch noch Briefe. Über Haupti habe ich dann in der Zeitung weniger schöne Dinge gelesen. Futzi wohnte eine Zeitlang gegenüber meiner Eltern, als diese nach Simmering gezogen war und Holzi sah ich das letzte Mal, als er Gerüstbauer war und in der Freizeit Darttourniere spielte.

Was sie wohl heute machen? Den Pudel Ati habe ich nie mehr gesehen. Aber auch nie vergessen.

 

Der Campingplatz Drosendorf lag sehr schön am Ufer der Thaya in einer Schlucht. Es gab dort einen Platzwart, vielmehr ein Ehepaar namens Jelinek, das sich um die Ordnung des Platzes kümmerte. Ich lernte viele neue Menschen kennen. Sowohl vom Platz, als auch vom Ort. Der Besitzer des Platzes hatte selber ein Mobilheim dort. Seine Verwandten kamen aus Drosendorf. Er war Unternehmer. Er hatte drei Kinder. Ein Mädchen namens Edith, in meinem Alter und zwei Söhne. Wolfgang und Franz. Franz war irgendwie sehr konservativ, aber Wolfgang gefiel mir. Er wirkte lässig und hatte strahlend blaue Augen. Er war damals ungefähr sechzehn. Ihre Mutter war eine zierliche, kränkliche Frau. Mit diesen Geschwistern freundete ich mich an, so lernte ich auch die Dorfjugend kennen und war flugs in einer Clique drinnen. Auch die Eltern versuchten sich in neuen Freundschaften. Sie waren sehr eng mit Familie Dostal befreundet. Zusätzlich lernte ich noch ein Mädchen kennen, welches ebenfalls in Stadlau daheim war und so hatte ich eine Freundin, die sowohl am Wochenende als auch unter der Woche greifbar war. Wir waren uns sehr ähnlich, allerdings war sie um einiges mutiger als ich. Der Umzug spielte sich noch in diesen Ferien ab und die neue Schule war auch nicht mehr fern. Vieles kam auf mich zu, von dem ich Gottseidank noch keine Ahnung hatte.

 

Die neue Schule in der Wipplingerstrasse war toll. Fast eine Wohnung. Es gab ja auch nur eine Klasse und Büros. Ferner gab es einen Veranstaltungsraum. Die Jugendlichen meiner Klasse waren zwischen vierzehn und achtzehn Jahre alt. Und der Großteil von ihnen stammte aus besserem und vor allem reicherem Haus. Das merkte man sofort, wenn man seinen Blick streifen ließ. Sie hatten jede Menge Taschengeld, tolle Klamotten, Zigaretten, Mopeds und auch Autos. Na toll. Ich tat mir sehr schwer. Zum Essen gingen wir in das Hauptgebäude in der Neutorgasse. Dort gab es eine Betriebsküche. Es gab irgendwas mit Kirschenkompott am ersten Tag. Da ich nicht wusste, was feine Menschen mit den Kernen machen, schluckte ich sie einfach, was mir am Nachmittag Bauchschmerzen bereitete. Die anderen fanden das sehr witzig und gaben mir den Spitznamen „Kirschkern“. Der blieb mir das ganze Jahr und ich hatte die Barriere fürs erste geschafft. Man mochte mich.

Der Stoff in der Schule war zwar schwer und viel, aber für mich nicht unmöglich. Schließlich mussten wir drei Jahre in einem Jahr schaffen. Die anderen trafen sich öfter in Lokalen am Ring. Ich sagte immer ab, denn für Kaffee oder Cola reichten meine 40 Schilling Taschengeld nicht aus. Aber ich verdiente mir bei den Kollegen Geld dazu. Ich machte Botengänge. Ich besorgte Verhütungsmittel, weil sie selber sich genierten. Ich erledigte Aufgaben. So ging es einigermaßen. Besonders befreundet war ich mit zwei Burschen, die ebenfalls aus ärmeren Verhältnissen kamen. (Bei mir traf das ja nicht zu, denn wir hätten sicher genug Geld gehabt)

Mit denen zweien heckte ich allerhand Streiche aus. So ging ich in ein Geschäft und fragte, ob Herr Mayer etwas für mich abgegeben hätte. Das gleiche machte der zweite Bursche. Wir waren da sehr beharrlich und taten so, als verstünden wir die Welt nicht mehr. Am Schluss ging der Dritte rein und sagte, dass er Herr Mayer ist und ob jemand nach ihm gefragt hätte. Ja der musste dann schnell laufen können. Was aus dem einen wurde, weiß ich nicht, der andere hat es sehr weit gebracht und ist heute Chef in einem großen Betrieb. Das waren die Vergnügungen der Armen. Ich stand auch sehr oft Schmiere im Park, wenn sich zwei meiner Schulkollegen ein Schäferstündchen gaben. Oder Uschi B. mit dem Turnlehrer herumtat.

In Drosendorf ging es mir relativ gut. Da ich mit der Tochter des Platzbesitzers unterwegs war, blieben mir die vielen Visiten erspart. Nur abends musste ich um neun Uhr daheim sein. Trotzdem es Herbst war fuhren wir weiter regelmäßig ins Mobilheim. Wir hatten Heizung.

 

Ich genoss es, einer Clique anzugehören und dennoch fühlte ich mich auch sehr fremd bei ihnen. Sie durften alle länger raus, sie waren alle chic angezogen und sie hatten viel mehr Geld zur Verfügung. Natürlich überspielt man das alles. Tut so, als wisse man selber nicht, dass man ein etwas eigenartiges Wesen ist. Ich muss sagen, sie ließen es mich nicht spüren. Mal gab es die eine oder andere Zigarette geschnorrt, dann wieder ging das Cola auf den einen oder anderen aus unserer Gruppe. Natürlich revanchierte ich mich, so oft es mir auch nur irgendwie möglich war. Sie ließen es mir auch nicht so merken, dass ich dick war. Oder ich war es vielleicht gar nicht. Keine Ahnung.

Die älteren Jungs hatten bereits Autos und die Jüngeren fuhren Moped. In meiner Zeit in Drosendorf habe ich beides gelernt. Autofahren und Moped fahren. Mit sechzehn Jahren beherrschte ich dann beide Fahrzeuge wirklich gut. Dank der Jungs, welche absolut nichts Anormales darin sahen, ein Kind auf der Straße fahren zu lassen. Der Verkehr damals war allerdings lange noch nicht so stark, wie heute und die Gendarmerie (so hießen die Polizisten vom Land damals) sah weg oder war gar nicht da. Vorerst fuhr ich aber meistens mit meinem Klapprad. Das erregte Aufsehen. Natürlich. Die anderen hatten hat richtige Räder.

 

In Wien kam ich in der Schule ganz gut voran. Ich strengte mich allerdings nicht sehr an, gebe ich zu. Es war echt leicht, mit dem im Unterricht gehörten, bei Prüfungen positiv abzuschneiden. Wir bereiteten eine Theatervorstellung vor. Ich durfte eine komische Alte spielen. Das machte Spaß. Eine kleine Rolle, aber wirklich lustig. Ich bat meine Eltern natürlich auch zu kommen, so wie die anderen Eltern. Der Tag rückte näher. Ich war gut vorbereitet, erinnerte die Eltern an den Fotoapparat und klarerweise war ich auch nervös. Lampenfieber.

Am Tag der Aufführung, haben wir Schüler alles hergerichtet. Publikumsplätze, die Bühne, das Buffet. Es wurde Abend und die ersten Eltern trafen ein. Ich renkte mir den Hals aus, denn ich wusste, dass mein Vater immer um sechzehn Uhr aus hatte, also Zeit genug, um herzukommen. Sie kamen, als das Stück angefangen hatte und ich auf die Bühne musste. Aber sie haben mich zumindest noch gesehen. In der Pause ging ich sie begrüßen und natürlich fragte ich ihn, wie viel Fotos er gemacht habe. Keines, meinte er, er glaubte, dass ich noch einmal auf die Bühne käme. Ich war sehr traurig. Nun hatte ich keine Erinnerung an diesen tollen Auftritt, den das Publikum mit lautem Lachen und Zwischenapplaus honoriert hatte. Man überlebt alles, man übersteht alles. Der Tag war vorüber, ein neuer Tag würde kommen und neue Enttäuschungen sicher auch.

Ich traf mich auch in Wien mit Wolfgang, so dann und wann, wenn es die Zeit zuließ. Ich wusste, dass er mein „Erster“ werden würde. Die Pille nahm ich ja bereits seit einem halben Jahr auf Grund starker Krämpfe und ebensolchen Blutungen.

Da fällt mir ein, dass ich einmal ein Patentex oval aus reinem Spaß und Neugier ausprobiert habe, als ich alleine daheim war. Das ist ein Scheidenzäpfchen, welches einen spermaabtötenden Schaum erzeugt. Oh mein Gott. Das schäumte und schäumte und ich wusste schon nicht mehr, was ich machen sollte.

Warum ich unbedingt Sex haben wollte, weiß ich nicht mehr so genau. Vielleicht um mitreden zu können, vielleicht auch aus Neugier. Da wir fallweise auch im Winter nach Drosendorf fuhren, meinte mein Freund, dass es dort wohl am besten sei, es zu machen. Man sprach es ja nicht direkt aus. In meiner Vorstellung dachte ich dabei aber selbstverständlich an ein Bett in einem Zimmer und weniger an einen Fernsehkarton auf Schneeboden in einer zugigen Baracke. Woran ich mich ganz genau erinner, war meine Angst, mein Zittern, mein Verkrampfen und die Enttäuschung, dass es nur wehtat und absolut keinen Spaß machte. Gut, es war auch sein erstes Mal, aber er hätte sich doch besser informieren können. Ich war leider genau so erregt, wie eine Palme am Nordpol.

Ich glaube auch nicht, ob es so wirklich funktioniert hat, aber er war doch sehr selig danach.

Nun war ich eine Frau und konnte mitreden, er war mein fixer Freund und es würde sehr schön sein und ewig so weiter gehen, dachte ich. Da gleich neben dem Campingplatz das alte Strandbad war, haben wir es in einer leeren Kabine noch zwei Mal probiert. Gleicher Mist und gleiches Ergebnis.

Dort haben wir auch öfters Flaschendrehen gespielt oder geraucht. Das fanden wir echt cool damals. Heute lächle ich drüber.

 

Ich brauchte natürlich einen Wintermantel und ich hatte noch kein eigenes Geld. Dufflecoats waren sehr modern. Das sind so lange Jacken mit Kapuzen und die Knöpfe, die auch länglich sind, fädelt man in eine Schlaufe. Meiner war giftgrün. Oja. Auffälliger als mein Klapprad. Ich tat so, als hätte ich mir partout diese Farbe selbst gewählt. Was sonst hätte ich sagen sollen?

 

Das nächste, an das ich mich erinnere, war der Drosendorfer Faschingsumzug nach dem Eisstoss. Eisstoss sagt man, wenn das gefrorene Wasser des Flusses, in diesem Fall die Thaya, sich auszudehnen beginnt, zerbricht und große Schollen an Land kommen. Na da hat es ausgesehen. Der Platz war eine Fantasielandschaft. Einigen hatten die Schollen das Mobilheim zerstört. Waren einfach durchgefahren, wie das Messer durch die Butter. Danach begann es zu tauen und zu regnen, das Wasser stieg und der Platz war überschwemmt. Und lehmig. Sehr lehmig. Auch in den Mobilheimen war es nass und lehmig. Just an diesem Tag war Faschingsumzug. Ich durfte hin, da es untertags war. Bislang hatte ich keine wirklichen Alkoholerfahrungen gemacht. Ich glaube, ich war verkleidet. Aber das weiß ich nicht mehr so genau. Na jedenfalls fuhren ein paar aufgeputzte Traktoren und dazwischen gingen die Leute und es wurde in jedes Haus eingekehrt und jeder musste ein Stamperl Schnaps trinken. Es gab sehr viele Häuser am Weg des Umzuges, unglaublich viele. Deshalb weiß ich auch nicht mehr genau, wer da eigentlich mit mir mit war, ob überhaupt jemand dabei war. Und auch nicht, wieso ich letztendlich rücklings gegen die Fahrtrichtung auf einer Traktorschnauze saß.

Weich wie noch nie. Mein Pech war, dass die letzte Station der Campingplatz war, und meine Eltern mir keinen Schnaps geben wollten, sondern mir nach einer ordentlichen Backpfeife die Zigaretten aus der Tasche fielen, die ich Mutter am Morgen gestohlen hatte.

Ja das war´s dann fürs erste mit Fortgehen und Spaß. Erbrochen habe ich auch ein paar Mal. Aber ich kam drauf, dass Schläge nicht weh tun, nach Alkoholgenuss. Wieder etwas fürs Leben gelernt und dafür auch gleich Lehrgeld bezahlt.

 

Es dauerte eine Weile bis das Mobilheim und der ganze Campingplatz wieder sauber waren und die Wogen glätteten sich. Das Frühjahr war in Sicht und das freute mich sehr. Ich mag den Winter und die Kälte bis heute nicht, weiß nicht, was man dem abgewinnen kann.

 

Ich fuhr das erste Mal in meinem Leben auf Schikurs. Das war Pflicht in der Schule der Ersten. Glaube ich halt. Warum hätten sie mich sonst fahren lassen? Allerdings fuhr ich nicht mit Schi sondern ging mit drei anderen und einem Lehrer ins Hallenbad. Das gefiel mir ganz gut. Null Heimweh, trotz miesem Essen. Wahnsinn war, dass wir dort bis zehn raus durften. Fand ich witzig.

Leider war es nach einer Woche vorbei, aber ich war glücklich. Obwohl ich nicht wirklich eine echte Freundin hatte, fehlte mir nichts. Echte Freunde sind sehr dünn gesät und auch heute habe ich vielleicht eine Handvoll.

 

Mein Freund hatte mich angerufen, als ich wieder daheim war. Er machte Schluss. Am Telefon. Es war schlimm. Was er sagte? Ich würde mich nicht richtig kleiden. Das tat sehr weh. Ich heulte natürlich. Mutter meinte nur, es gäbe genug andere Jungs. Na toll. Heute bin ich froh, hab ein Foto von ihm in Facebook gesehen. Nichts bleibt geheim. Damals zog es mir die Beine weg. Aber ich schwor mir, dass kein einziger mich mehr verlassen würde, niemals mehr. Das ist bis heute so geblieben und war vielleicht auch der Grund, dass die eine oder andere Beziehung in Brüche ging, bevor sie sich festigen konnte.

 

Nun war ich also wieder alleine, blieb in Drosendorf aber in meiner Clique, egal ob ich Wolfgang sah oder nicht. Es passierte gerade damals, dass ich die Mandeln operiert bekam. Das war auch so ein einschneidendes Erlebnis. Bevor ich ins Spital ging, sagte meine Oma, dass ich aufpassen soll, bei einigen kommt es nach der Operation zu einem Blutsturz und daran kann man sterben. Ja meine Oma arbeitete früher in der Wäscherei im Triesterspital (KFJ). Heute heißt es Sozialmedizinisches Zentrum Wien-Süd. Nun der Tag kam, ich wurde operiert und als ich munter wurde, öffnete ich den Mund, um meiner Nachbarin was zu sagen. Statt Worten kam ein Blutschwall heraus, der unvergleichlich war und ich wurde sofort bewusstlos. Das Mädchen gegenüber rettete mein Leben, da sie auf der Stelle die Notglocke läutete und schrie. Wir waren allein im Raum. Als die Schwestern kamen, weckten sie mich und ich hörte: "Sofort zurück in den OP!!" "Narkose verabreichen!!" Dann wurde es schwarz um mich herum. Beim zweiten aufwachen, hielt ich die Klappe. Meine Eltern waren da, etwas bleich. Ich freute mich. Deutete dass ich schreiben möchte. Das klappte. Wir unterhielten uns am Papier. Ich sprach erst zwei Tage später wieder und ernährte mich 14 Tage von Knackwürsten. Das einzige, dass nicht schmerzte beim Schlucken. Ich nahm fast 10 kg ab. Ich war schlank. Das war echt schön. Aber alles normalisierte sich natürlich wieder. Am Ende des Schuljahres 1978 ging ich mit Heinz B. aus Drosendorf, aber nicht lange. Er war schon 24 Jahre alt und total vom alkoholkranken Vater unterjocht. Wenn ich schon daheim Diktatur hatte, dann brauchte ich keinen Freund, der genauso lebte und sich trotz, dass er erwachsen war, nicht durchsetzen konnte.

Ein besonderes und prägendes Erlebnis war es auch, als unsere Clique am Moldauer Graben zu einem Unfall kam. Einer hat den Lenker eines Autos aus der Thaya gezogen. Er war tot. Wahrscheinlich schon vom Unfall. Er war ein Bekannter von ihnen. Es hat mich interessiert aber weder geekelt noch abgestoßen.

Das ganze hatte ein Ende, nachdem aus irgendwelchen Gründen, mein Vater vom Campingplatz vertrieben wurde. Eine Meute Menschen stand eines Tages vor unserem Mobilheim und schrie nach ihm. Er versteckte sich mit Mutter und einer weiteren Familie, auf die sich ebenfalls die Wut der Leute erstreckte in unserem Mobilheim. Warum die Menschen so aufgebracht waren, weiß ich leider nicht mehr, aber es muss schon etwas Schlimmes gewesen sein. Mit uns betroffen waren die Familie Jelinek und meine Oma. Für kurze Zeit hatten wir eine Wohnung in der Altstadt von Drosendorf. Das war echt nett dort. Aber leider auch nicht von Dauer, da wir schon bald ins Weinviertel übersiedelten. Nach Seefeld-Großkadolz.

Allerdings hatte ich im Waldviertel sehr viel gelernt. Ich konnte Moped fahren, ich konnte Auto fahren und ich wusste, dass ich, egal wie alt ich sein würde, niemals von meinen Eltern als Erwachsene akzeptiert werden würde. Und, obwohl sie mich so sehr quälten, blamierten, straften und endlos herunter machten, liebte ich sie immer noch. Ich wusste es ja nicht anders, kannte nichts anderes, hatte keinen Vergleich, wie es anders sein könnte.

Ich schaffte die Schule positiv - von einst 4000 Bewerbern waren 36 in die Schule gekommen und 18 hatten den Abschluss geschafft. Ich war dabei und fing in der Filiale Taborstraße an. Eine andere Welt tat sich auf, eine Welt, in der ich mich absolut nicht wohl fühlte. Einen feinen Umgang und eine gute Aussprache hatte ich nie gelernt. Ich versuchte mich natürlich zu integrieren, aber ich spürte, dass ich hier fehl am Platz war. Ich war aber sehr fleißig. Man bekam Punkte, wenn man Sparbücher, Bausparer oder ähnliches verkaufte. Ich drehte einer sehr alten Dame einen Bausparvertrag über sechs Jahre an und kam mir dabei echt schlecht vor. Ich kaufte mir Buisnesskleidung und fühlte mich schlecht darin. Zumal ich mir immer alles zu eng nahm, damit meine Eltern zufrieden waren. Nachdem sich ein Kunde über mich beschwert hatte, weil ich "Sehr geehrter Herr" zu ihm gesagt hatte, wurde ich in die Zentrale versetzt, in die Kontierung. (ich hatte keine Ahnung, dass man das nicht sagt) Das war dann echt gut. Die Leute, die dort arbeiteten waren echt normal, die Arbeit anspruchslos, nicht für alle, aber für mich durchaus. Ich hatte immer das Gefühl, dass mich ein Schimpanse locker vertreten könnte. Gleitzeit gab es auch. Bis zur Staatsprüfung würde ich hier tätig sein. Hier begann ich auch mit dem Kartenlegen. Echt rein zufällig und aus Spaß.

Ich kaufte mir Zigeuner Wahrsage Karten in der Trafik. Und eine Freundin und Kollegin in der Bank fragte ich, ob ich sie ihr legen soll. Christine F. sagte sofort zu. Ihr Lebensgefährte war gerade auf Geschäftsreise. Was ich genau alles sagte, weiß ich nicht mehr so genau, aber ein Satz ist mir in Erinnerung geblieben. Dein Freund betrügt Dich gerade mit einer Brünetten.

Eigentlich wusste ich damals genau so wenig wie heute, woher ich so viele Sachen aus den Karten heraus lesen kann, aber es funktioniert. Oder ich sehe gar nichts, dann erfinde ich aber auch nichts.

Nun jedenfalls ging Christine heim und als ihr Mann die Tür abends aufsperrt, fauchte sie ihn sofort an und sagte ihm auf den Kopf einen Seitensprung mit einer Brünetten zu. Er hätte es locker abstreiten können. Aber er war so perplex, dass er nur fragte, woher sie das wisse, dass sei eigentlich unmöglich. Tja, so begann ich öfter mal Karten zu legen und war immer mehr verwundert, was alles ans Licht kam, von dem ich wirklich nichts wissen konnte, weil ich viele Menschen gar nicht kannte. Geld nahm ich nie, nur Spenden. Hatte mal gelesen, dass wahre Hexen kein Geld verlangen dürfen, da sie sonst die Gabe verlieren. Daran habe ich mich gehalten, obwohl ich mir sicher bin, dass ich keine Hexe bin, höchstens sehr feinfühlig. Christine blieb bis zu meinem Ausscheiden aus der Bank meine Freundin, mit allen Höhen und Tiefen, auch hat sie mir viele Fehler verziehen, die ich heute nicht mehr machen würde, und die ich meiner Jugend und der Unerfahrenheit zuschrieb. Sie selbst war ja schon erwachsen, hatte eine Scheidung hinter ihr und eine kleine Tochter. Aber sie war eine gute Freundin.

Während ich in Wien unter der Woche arbeiten ging, war ich an den Wochenenden im Weinviertel. Dort lernte ich meine wirklich erste große Liebe kennen. Aber es war schwierig – und es war sehr schwer. Und das in jeder Beziehung. Aber von Anfang an, sonst wird’s mit dem Verständnis schwer.

Ich beginne mit dem Tag des Umzugs, als mein Vater Möbel auf einen Anhänger verfrachtete und mir sagte, ich solle mit dem Mofa hinten nach fahren, er fahre auch nicht schneller, als ich könne. Schließlich musste ich ja das Mofa auch übersiedeln. Diesen Tag werde ich niemals vergessen. Niemals, egal wie alt ich werde.

Wir waren erst ein paar Ortschaften gefahren, als mein Mofa unter der Fahrt abstarb. Es war voll betankt und auch sonst hatte es keine Mängel. Nie zuvor war es abgestorben. Nun ich bog in einen Feldweg ein, um mir das Problem näher anzusehen. Nach etwa einer Minute sprang die Puch wieder an. Ich rollte vom Feldweg auf die Straße und nach ein paar Metern sah ich auf der Fahrbahn Holzteile liegen. Ziemlich verstreut. Große und kleine Trümmer. Mein Vater war gerade am Einsammeln der Teile. Ich bekam große Augen und erklärte ihm,, dass das Moped abgestorben war. Ich weiß nicht, ob er mir zuhörte, aber er nahm es nicht wirklich wahr, was da eben Wunderbares geschehen war. Seither glaube ich ganz fest an eine höhere Macht, an Gott und an Schutzengel. Mein Mofa ist danach nie mehr grundlos abgestorben.

Solche Begegnungen mit Unerklärlichem hatte ich bisher in meinem Leben noch ein paar. Sie waren für mich ein Zeichen, dass es irgendwas oder irgendwem gibt, der auf mich aufpasst. Wo immer und wer immer dieser jemand auch ist.

Mittlerweile glaube ich auch, dass diese lieblose Erziehung für mich von Vorteil war, denn ich habe bisher außer bei meinen Tieren, als sie starben keine lange Trauer erlebt. Auch keine, wo man glaubt, dass es einem das Herz heraus reißt und es keine Zukunft gibt. Nicht, dass ich kaltherzig oder herzlos wäre. Ich kann nur leider oder gottlob nicht nachvollziehen, wie es jemanden geht, dessen Vater stirbt, den er heiß geliebt hat. Allerdings kam ich zu dieser Erkenntnis erst Jahre später.

Einige Menschen traf ich in Seefeld wieder, viele neue Menschen lernte ich kennen. Es war ein nicht sehr glücklicher Abschnitt meines jungen Lebens und trotzdem gehört er zu mir und hat mich geprägt. Aus Drosendorf waren wieder Familie D. da und mein Bruder mit Frau und Sohn Mario. Meine Oma bekam auch ein Mobilheim und Vater begann seine hundert Quadratmeter Grünfläche zu pflegen. Da durfte man nicht reinsteigen. Auch nicht als er fertig war, der englische Rasen. Viele Pächter hatten Hunde. Das war schön. Gleich beim Eingang des Campingplatzes rechts rauf waren Weinkeller und nach ein paar hundert Metern die Grenze zu Tschechien. Damals noch ein Land mit der Slowakei und Ostblock, Also Stacheldrahtzaun, Gewehre und Wachen. Links runter waren ein paar Einfamilienhäuser, dann begann die Ortschaft mit dem Schloss Hardegg. Das Schloss war immer noch von den Herrschaften bewohnt. In der Ortschaft gab es einen Minigolfplatz und ein Sommerbad und ein paar Gaststätten.

Es dauerte nicht lange bis ich Anschluss zur Dorfjugend bekam. Irgendwie ging das immer. Ich war inzwischen 17 Jahre jung und immer für Tollheiten zu haben. Meine Pubertät machte mir auch zu schaffen und keiner da, der mir irgendwie helfen konnte. Mit dem Sohn der Familie D machte ich ziemlich schlimme Streiche, welche uns zu einem Treffen mit dem Bürgermeister brachten. Da war einmal eine Osterprozession. Durch den ganzen Ort. Ich war mit meiner Puch Maxi unterwegs und H. saß auf dem Gepäckträger. Als ich die Prozession querte, was man ja an und für sich schon nicht darf, hob H. die Hand zum Himmel und schrie sehr laut: „Ich bin Jesus von Nazareth!!!!“ Ojegale, das gab Zoff und Geldstrafe.

Ein anders Mal, als die Eltern ein Fest feierten oder in einem Weinkeller saßen, wollten wir ein Lagerfeuer machen und holten uns dazu Strohballen von einem Feld. Leider sah man die Spuren des verlorenen Strohs am Boden und wir wurden wieder gestellt. Das machte natürlich keinen Spaß. Besonders meinen Eltern nicht.

Wieder ein anderes Mal bin ich mit Freunden die Schlossauffahrt rauf und runter gefahren. Jeder mit seinem Moped. Da hat uns der Schlossherr gestellt. Als ich den Helm abnahm, sagte er entsetzt: „Jessas a Weiberleit is a dabei!!“ Er hat uns aber nicht angezeigt. Das war echt nett.

Abgesehen von den Streichen, lernte ich O. besser kennen und auch lieben. Sein Vater hatte einst Suizid begangen und seither war seine Mama mit ihm allein. Die große Schwester war bereits verheiratet und hatte selber Kinder. Der Mann war Landwirt. O hatte viele nette Seiten, aber ich kam mit einigen Dingen nicht klar. Erstens flirtete er mit allem das Weiblich war. Er schmuste sogar vor meinen Augen herum. Vielleicht um mich zu ärgern. Vielleicht weil er Spaß daran hatte. Nett war, dass er ein Falkenbaby groß zog. Dazu mussten wir tote Wildtiere suchen gehen, sie häuten und stückeln. Dann wurden die Stücke in kreisenden Bewegungen dem Falkenjungen zum Maul gebracht und er schluckte es. Die Wildtiere fanden wir auf der Landstraße – nachts – nachdem Betrunkene sie zu Tode gefahren hatten. O war aber schon ein Urgestein von einem Niederösterreicher. Er fand nichts dabei, und das versteh ich bis heute nicht, Katzenbabys zu töten. Er stopfte sie in einen Sack und schlug sie gegen die Wand. Das war in etwa das kaltblütigste, dass ich je ansehen musste. Da war die Leiche in Drosendorf fast schön dagegen. Er sprach auch davon, es seinem Vater irgendwann gleich zu tun, aber was ich gehört habe, lebt er immer noch und hat Familie. Katzen wird er wohl keine haben, aber vielleicht einen Hund. Den hatte er damals auch. Einen Schäferhund. Der mochte mich total gerne. Und als einmal seine Kusine zu Besuch war, die bei ihm angeblich im Bett schlief und ihm nicht abgeneigt war, da schaute ich wie sehr mich der Schäferhund mochte. Die Kusine fuhr Rad und hatte den Hund an der Leine dabei. Als ich das sah, konnte ich mir nicht verkneifen, den Namen des Hundes zu rufen. Da er mich mochte, startete er auf mich zu und die liebe Kusine knallte auf den Asphalt. Ach tat mir das Leid und ich habe mich auch entschuldigt…….

 

In der Liebe passte es gut mit O. Er hatte viele verrückte Ideen und so gingen wir im Winter nachts total nackt auf den Feldern spazieren. Das war echt romantisch und es war auch nicht kalt. Zu mindestens spürten wir das nicht. Für zwei siebzehnjährige Teenager war das was sich bei uns zum Thema Sex abspielte total in Ordnung. Aber es fehlte mir was. Beziehungsweise zernagte mich die Eifersucht. Trotzdem waren wir sehr lange zusammen und ich hatte sowohl denselben Helm, als auch die gleiche Jacke wie O. Ich fuhr gerne auf seinem Sozius mit. Nach einem Jahr endete es, weil wieder einmal böse Menschen meinen Vater verärgerten. Danach war alles anders.

 

Irgendwann dazwischen wurde ich von der Krankenkasse aus in ein Abnehmlager nach Aflenz in der Steiermark geschickt. Das war sehr schön dort. Es waren zwar keine wirklichen Abenteuer zu erleben, aber ich war nicht daheim. Bei einem Spaß Turnier mit einem Burschenlager in Moosham lernte ich Robert kennen, der dann später in meinem Leben eine Rolle spielen sollte.

 

Nachdem mein Vater es immer wieder schaffte, sich Feinde zu machen, gelang es ihm auch in Kadolz. Auch mit seinem Sohn Peter und dessen Familie stritt er auf Teufel komm raus. Die waren jetzt, ein Jahr danach alle böse. Mit O. kam es zum Bruch, als ich wieder nur mehr in Wien war. Es tat weh aber mit seiner psychopathischen Art wäre ich auf Dauer ohnehin nicht zurechtgekommen. Im Hintergrund die Boshaftigkeiten meines Vaters, wie Beispielsweise laut vor ihm zu sagen, ich bekäme bei der Weinlese von O´s Familie schlechtes Essen. Und vieles Mehr. Bevor wir alles aufgaben, führte ich mich da draußen noch so richtig auf. Dabei habe ich mindestens fünf Menschen gekränkt weil ich vor Selbstmitleid und gekränktem Stolz sehr gemein war. Heute sehe ich alles sehr nüchtern und bin natürlich froh, dass es nicht so abgelaufen ist, wie ich es einst erhofft habe. Ich war sowas von unreif und kindisch und wirklich devot erzogen, dass ich echt froh bin, dass aus mir was geworden ist. Trotz allem.

Die Zeit ohne meinen Freund war sehr öd. Auch die Tatsache, dass ich nun den Führerschein und ein Auto hatte, konnte mich nicht erheitern. Da fällt mir ein, dass ich auch meinen ersten Vollrausch in Kadolz hatte, als ich auf die Vergangenheit trank. Da war mit O. bereits Schluss und meine Freundin Tina hatte auch mit einem aus derselben Ortschaft Schluss gemacht. Ich traf mich mit ihm beim Heurigen und ein paar andere Jungs waren auch noch dabei. Wir tranken auf den Kummer. Immer ein Cola Rot und einen Kokoslikör. Irgendwann ging ich ins Freie. Ich sah einen Sandhaufen und sprang kopfüber hinein und machte Schwimmbewegungen. Ich dachte, ich sei im Bad. Ja und da haben sie mich heimgebracht. Auch mein Auto stand vorm Campingplatz am nächsten Tag. Ich habe in der Nacht sehr oft gebrochen und meine Mutter hat mich geschimpft und geschlagen. Immer wieder. Wenn man derart betrunken ist, spürt man keinen Schmerz. Das ist voll super. Die Übelkeit war furchtbar schlimm. Ich habe nie mehr so viel getrunken und habe es zu keinem Rausch mehr gebracht. Was sich auch noch ereignete, bevor alles anders wurde, war folgendes. An einem dieser Tage wollten meine Eltern wieder Jolly spielen. Ich machte mit, weil es ohnehin selten war, dass sie etwas mit mir machten. Auf einmal ohne Vorwarnung schrie mich mein Vater an, dass ich schummle. Ich sagte natürlich, dass dies nicht so sei. Ich hatte es echt nicht getan. Bis heute kann ich weder schummeln noch lügen. Ich begeistere eher durch meine offene, direkte und beleidigende Art. Er stand auf und ohrfeigte mich durch das Mobilheim. Mit dem Rücken an der Wand, fing ich noch ein paar ab und rutschte dann kraftlos die Wand hinunter. Leider stand da ein Nagel heraus. Es tat weh, brachte mich aber wieder soweit in die Realität zurück, dass ich die Tür aufriss und aufs öffentliche Klo des Platzes flüchtete. Dort heulte ich und jammerte ich, dass ich tot sein möchte und dass ich meine Eltern hasse. Sie hatte kein Wort verloren, keine Aktion der Verteidigung gesetzt. Nichts. Sie gingen zu Tagesordnung über.

Ich wusste, dass es sich nur mehr um ein Jahr handeln würde. Dann war ich volljährig. Ich gab dann sogar eine Annonce im Wiener Wochenblatt auf, auf die sich ganz viele Männer meldeten. Ich war sehr einsam, aber nicht so, dass ich mich für einen dieser sonderbaren Kerle entscheiden konnte. Aber es war eine nette Abwechslung mit ihnen auszugehen und es kostete mich nichts. Einmal probierte ich abzuhauen, packte alle Sachen und fuhr nach München. Ich schlief dort eine Nacht im Splendid Hotel und kaufte Migräne Tabletten in einer Apotheke. Mein Teddy war auch dabei. Eigentlich lächerlich. Nachdem ich niemanden abging, rief ich mal zu Hause an. Mutter war nicht aufgefallen, dass ich den Kasten geleert hatte und meinte lapidar, dass ich besser heim komm, wenn ich Kopfweh hab ….

Das tat ich dann auch, denn das Hotel war sehr teuer. Meine kurze Flucht verursachte genau nichts. Es war, als wäre sie nie geschehen. Ich machte meine Staatsprüfung in der Bank, war dann staatlich geprüft und lernte leider in der Diskothek jemand kennen, der mich faszinierte. Dieser wohnte mit seinen zwei Brüdern im 12. Bezirk im Fuchsenfeldhof. Er war auch erst 20 Jahre alt, die Brüder jünger. Ich zog von einem Tag zum anderen aus. Quasi in diese Wohngemeinschaft. Ich wollte einfach nur weg und dachte wirklich, ich sei frei. Endlich frei. Nun da diese Wohnung bereits überbelegt war, beantragte ich einen Personalkredit und bekam einhundertfünfzigtausend Schilling. Schöner Patzen Geld. Den Betrag sperrte ich in eine Handkasse und studierte Annoncen. Ich fand eine, wie ich meinte nette Wohnung in der Ottakringerstrasse. Zimmer, Küche, Kabinett, Kaltwasser, Ölheizung, 1. Stock. Ich nahm mein Geld aus der Kasse, um zu dem Makler zu fahren und erstarrte, es fehlten zwanzigtausend Schilling. Man hatte mich bestohlen. Entweder er oder einer seiner Brüder. Es war natürlich niemand. Dieses Phänomen habe ich später noch mal beobachtet, als mir aus der Hausmeisterkasse immer wieder Geld fehlte. Die drei Ältesten waren es auch nie. Nun gut, das Geld reichte dann gerade noch aus und ich bekam diese Wohnung. Zuerst kam sie mir vor, wie ein Königreich. Kurze Zeit später merkte ich, dass man ohne Warmwasser sehr arm dran ist. Ich wusch meine Haare kalt. Ich konnte nicht kochen, weil es mir nie wer gezeigt hat. Und irgendwie kam ich mit dem Geld nicht aus, also suchte ich mir einen zweiten Job. Als Kellnerin in Stadlau. Quasi back to my Roots. Das Kellnerieren machte Spaß. Leider hatte der Wirt nicht immer viel zu tun und einmal schickte er mich wieder weg. Große Augen bekam ich als ich die Tür aufsperrte. Da waren nackte Mädels in meiner Wohnung!! Und der sogenannte „Freund“ war auch da. Zum ersten Mal in meinem Leben schrie ich jemand so an und ich schmiss sie alle raus. Für immer und ewig. Sein Gerümpel gleich hinterher. Natürlich erst nachdem ich alles begutachtet hatte. Er gab Annoncen auf. SM Annoncen. Ich war entsetzt. Ich hatte keine Ahnung von so etwas. Es war widerlich. Es würgte und es ekelte mich. Ich war auch traurig und weil diese Übelkeit nicht aufhören wollte, ging ich zum Arzt. Der stellte zwei Dinge fest. Ich war schwanger und ich hatte Tripper. Der Tripper war eigentlich das kleinere Problem von dem ganzen Schlamassel. Ein paar Spritzen vom Arzt und weg war er wieder. Mit der Schwangerschaft war das nun nicht so leicht. Mein heutiges Wissen und mein damaliger Zustand hätten sehr viel geändert. Ich war wirklich sehr naiv und dumm und unerfahren. Ängstlich und unterjocht kamen noch dazu.

Nun, wieder einmal wandte ich mich an meine Eltern, in der Hoffnung Hilfe zu erfahren. Ich muss dazu sagen, ich war bereits im 4. Monat. Über die Mutter von meines Bruders Frau Sabine, kam ich ins Kaiser Franz Josef Spital. Diese Mutter war dort Krankenschwester. Ich bekam weder eine Beratung, was zu der Zeit eigentlich noch üblich war, noch irgendeinen psychischen Beistand. Ich wurde aufgerufen und kam in ein Zimmer mit Gynäkologischen Stuhl. Dann bekam ich eine Kurznarkose. Als ich munter wurde, sagte irgendeine Schwester, dass mein Kind ein Mädchen gewesen war. Sie wäre 1981 geboren worden. Wie ich dann nach Hause kam, weiß ich nicht mehr. Ich fühlte mich wirklich schlecht und mies. Leer. Traurig. Allein.

Ich kam in dieser Zeit der Depressionen und der Trauer mit Robert T. wieder in Kontakt. Jener junge Mann, den ich beim Abnehmen kennen gelernt hatte. Er ging ein paar Mal mit mir aus, eislaufen, spazieren und fotografierte viel. Er war Heeresfotograf geworden. Ich schilderte ihm mein Leid. und auch, dass ich mehr oder weniger auf der Straße stand, denn die Wohnung in Ottakring wollte und konnte ich nicht mehr halten. Mir war alles über den Kopf gewachsen und zeitweise hatte ich nicht mal Geld für eine Semmel. Ich wollte auch nicht mehr bei meinen Eltern schlafen. Zu tief war die Kluft geworden. Ich zog zu ihm und seinen Eltern in den 15. Bezirk, Nähe Schmelz. Robert war wirklich ein sehr lieber Mensch. Leider unterjocht von seinem Vater, einen Arzt. Seine Mutter war sehr nett und konnte gut schneidern. Ich war sicher nicht das, was sie sich als Schwiegertochter gewünscht hatten, aber seine Mutter bemühte sich trotzdem sehr. Irgendwann konnten wir auch das Sommerhaus in der Hietzinger Cottage benutzen, dort hatten wir Ruhe, aber leider war das sehr selten. Wenn wir in Fünfhaus nächtigten, klopfte ständig sein Vater an die Tür, um uns an Kultursendungen zu erinnern. Wir suchten krampfhaft eine Wohnung und wir wollten heiraten. Dass das mit dem Sex nicht oft passierte, schob ich darauf, dass wir bei seinen Eltern wohnten. Dass er sehr viele Freunde in der homosexuellen Szene hatte, störte mich noch weniger, denn diese Menschen liebte ich sehr. Es war auch normal für mich, dass ihm einer als Trauzeuge ging. Das Kleid nähte seine Mama und alles war okay. Unsere „Tafel“ bestand aus 6 Personen. Ich war nicht glücklich und immer wieder dachte ich an mein ungeborenes, totes Kind. Meine Eltern boten uns an, dass wir gemeinsam auf Urlaub fuhren. Etwas günstiger, da mein Vater nebenbei in einem Reisebüro jobte. Wir nahmen das Angebot an und flogen nach Sizilien. Das war ein sehr schöner Urlaub. Bis mich meine Mutter schlug, weil ich sie durch mein rasches herankommen erschreckt hatte. Sie knallte mir, 20 Jahre alt, verheiratet vor allem Menschen dort eine mitten ins Gesicht. Ich drehte mich auf der Stelle um und sprang ins Wasser. Wie sehr ich weinte, als ich weit genug weg war, kann man sich nicht wirklich vorstellen, wie sehr ich weine, während ich dieses Buch hier schreibe, kann man sich noch viel weniger vorstellen. Ich habe mit dem Schreiben vor etwa dreieinhalb Jahren kurz aufgehört, weil meine Mutter die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs mit Leberkarzinomen bekam. Ich dachte, sie würde bald sterben und damit ich seelisch frei bin, hab ich die Erinnerungen wieder weg gesperrt. Aber sie lebt bis heute schmerzfrei, symptomfrei. Ich glaube, es liegt daran, dass sie nicht weiß, was sie hat. Nun ich habe mit dem Schreiben wieder angefangen, denn ich möchte das alles auf diese Weise verarbeiten. Es ist wohl leichter geworden, aber es tut unendlich weh, wenn man sich weiß, dass man nicht geliebt wurde, dass man einer schönen Kindheit beraubt wurde.

Nun jedenfalls flogen wir ja nach einer Woche wieder heim und wir bekamen, ebenfalls in Fünfhaus eine kleine Wohnung. Dann ging es Schlag auf Schlag. Ich glaube, ich hatte eine Art psychischen Notfall und alles ging mir auf die Nerven, heute sagt man Burnout dazu. Mir wurde zunehmend bewusst, dass sich mein Ehemann körperlich nicht gerade nach mir verzehrte. Ich hatte ein Kind verloren, das ich mit Hilfe des Staates locker hätte großziehen können. Ich erfuhr, dass es Kinderbeihilfe und vieles mehr gab, dass es Menschen und Institutionen gab, die einem halfen. Ich nahm die erste beste Gelegenheit war, die sich mir bot und meldete mich auf der Arbeit krank, setzte mich zu einem Bekannten in den Wagen und fuhr mit ihm über Jugoslawien (das hieß damals echt so) nach Griechenland. Es war schön. Wirklich schön. Ich sah die Akropolis in Athen und ich aß an einem Straßenstand Fleischspieße. Ich ging ins Meer. Als kein Geld mehr aus dem Automaten kam, fuhren wir heim. Schlechtes Gewissen? Nein, nur ein wenig Angst. Meinen „Ehemann“ hatte ich kurz informiert.

Wieder zu Hause, nahm ich mal einen blauen Brief meiner Firma entgegen. Es war meine Kündigung, weil Robert nach meiner Abreise in meine Arbeit gefahren war und mich verpetzt hatte. Alles andere wurde dann in Ruhe geregelt. Er bekam die Wohnung, ich eine kleine Abfindung für von mir gestelltes Inventar und ich durfte in der Wohnung bleiben, bis ich was anderes gefunden hatte. Ich hatte immer Kontakt zur Szene der Homosexuellen gehalten, weil ich sie einfach mochte und durch sie, bekam ich einen Job bei einem Würstelstand. Das war okay. Mein Leben war zwar voll mies und nichts war besser geworden, seit ich sozusagen erwachsen war, aber genau genommen, war ich auch nicht auf ein Leben vorbereitet worden. Ich wurde als Idiot groß gezogen, jeder Chance beraubt, aus dem Leben etwas zu machen. Aber unsereiner geht nicht unter und niemals habe ich je wieder daran gedacht, meinem Leben ein Ende zu setzen. Niemals. Denn die schlimmste Zeit war wahrlich vorbei. Irgendwann erfuhr ich, dass mein Kind auf Grund der Geschlechtskrankheit, die ich zusätzlich hatte, möglicherweise behindert gewesen wäre. Mit diesem Wissen tröstete ich mich über den „Mord“ hinweg.

Bis zu einem wirklich normalen Leben mit Familie sollte es noch Jahre dauern. Jahre in denen ich auch sehr viel erleiden musste, welches ich aber aus Rücksicht auf meine Familie nicht niederschreiben möchte. Es handelt sich nicht wirklich um Kleinigkeiten. Ich wurde fälschlicher Weise sogar kurz festgenommen, nach 48 Stunden aber wieder entlassen. Ich schlief als Unterstandslose ein paar Nächte in einem PKW, musste für ganz viele Menschen zahlen, weil ich zu gutgläubig war. Ich bekam einen Mann ab, der mich in der Ehe schlug, betrog, vergewaltigte und mit Schulden zumüllte, dass mir übel wurde. Immer wieder kam ich nach oben und irgendwann bin ich auch oben geblieben. Aber ich habe die wenigen Menschen nicht vergessen, die für mich da waren, als es mir ganz dreckig ging. Allen voran, der Mann vom Roten Kreuz.

Vier Töchter habe ich geboren, und ich habe gelernt zu lieben. Ich habe auch um meine Kinder gekämpft, wie ein Löwe. Man wollte sie mir nehmen. Der Ex wollte sie mir nehmen. Das Jugendamt hat ihm verboten sie zu sehen, Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Er hat vorm Jugendamt nicht abgestritten, dass er vor den Kindern mit der Neuen Sex hatte.

Ich habe versucht eine gute Mutter zu sein und alles richtig zu machen. Alle haben eine Ausbildung und eine Wohnung. Alle arbeiten inzwischen brav. Alle leben ihr leben, so oder so.

Vater ist 1993 gestorben. Da wollte meine Mutter sich irgendwie anbiedern und hat mich einmal beim Einkaufen von hinten umarmt. Ich wurde stocksteif und bekam Gänsehaut. Ich habe mit solcher Nähe wirklich ein Problem. Sie hat sich bald wem neuen gefunden, mit dem sie immer noch zusammen ist. Ich besuche sie oder rufe sie an, weil man das halt so tut. Ich bin dem lieben Gott aber unendlich dankbar, dass er mich niemals diesen Schmerz fühlen ließ, den man spürt, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Sie wird bald sterben, denn die Krankheit fordert ihr Tribut. Sie hat in kurzer Zeit stark abgenommen, Depressionen bekommen und die Schmerzen beginnen. Sie hat starke Demenz und ein normales Gespräch ist kaum möglich. Ich trauere um die Zeit, wo eine Änderung möglich gewesen wäre, aber um sie als Mensch trauere ich nicht.

Manchmal weine ich, wenn ich lese, wie glücklich so manche Kindheit gewesen ist, oder die Geburtstagsfeiern auf denen andere waren. Egal. Es ist so. Es wird einen Grund haben. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich ein glückliches Mädchen gewesen wäre.

 

 

 

 

 

 

  • - Ende -

 

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.06.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich danke allen Menschen, die mir in meinem Leben begegnet sind und durch deren Hilfe (oft nur Gesten, Worte oder andere Kleinigkeiten) ich es geschafft habe, ein Leben zu führen, das lebenswert ist.

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