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Jessica Ravenwood

 

 

Die Kinder des Drachenkreuzes

 

 

Man sagt, dass der Menschen Schicksal von Geburt an vorbestimmt sei.

Meine Eltern haben mich vor den Toren eines Klosters zurückgelassen. Alles, was die Nonnen bei mir fanden, war eine Kette mit einem Drachenkreuz und ein Brief. Das Drachenkreuz bestand aus einem rubinbesetzten Kreuz, um das sich ein Drache wand. In dem Brief stand, dass ich Liv hieß, in einer Oktobernacht zur Welt gekommen war und die Nonnen mich nach der christlichen Lehre erziehen sollten.

Ich wuchs im Kloster auf und ging in die angrenzende Klosterschule. In meiner Freizeit verbrachte ich jede freie Minute in der alten Bibliothek unseres Klosters. Schon als Kind liebte ich alte Bücher. Die Zeit im Kloster war nicht leicht für mich. Ich konnte mich nie an das strenge Zeremoniell gewöhnen. In der Pubertät war es besonders schlimm. Ich war kein Kind von Traurigkeit, und gegen Regeln zu verstoßen, war schon fast mein Hobby.

Ich entschloss mich, Literaturwissenschaften zu studieren. Nach meinem Studium arbeitete ich anfänglich in unserer Klosterbibliothek, bis ich mir meinen Kindheitstraum erfüllte und eine Stelle als Archivarin in einem historischen Archiv bekam.

Ich war mit meinen vierundzwanzig Jahren die jüngste Spezialistin für mittelalterliche Literatur. Natürlich interessierte ich mich hauptsächlich für die alten, verbotenen Bücher. Ich versuchte, Geheimnisse zu lüften, und lernte fleißig alte Sprachen. Ich hatte meine Leidenschaft für alte Bücher zum Beruf gemacht und versuchte vor allem, mein eigenes Geheimnis zu lüften.

Man sagt, dass der Menschen Schicksal von Geburt an vorbestimmt sei. Und mein Schicksal war es offenbar gewesen, ohne Eltern aufzuwachsen, ohne zu wissen, wer ich war und woher ich kam.

Das wollte ich nun ändern.

Nur die Kette mit dem Drachenkreuz ließ auf meine Herkunft schließen. In alten tschechischen und rumänischen Aufzeichnungen hatte ich ähnliche Darstellungen von Drachenkreuzen gefunden, die allesamt auf verschiedene Familienwappen hinzudeuten schienen. Ich fand Parallelen zu einem Geheimbund, der sich „Die Kinder des Drachenkreuzes“ nannte. Die Motive dieses Geheimbundes waren nicht näher auszumachen. Die wenigen ungenauen Hinweise begannen im 15. Jahrhundert und reichten bis in unserer Zeit.

Ich ging jeder erdenklichen Spur nach, doch viele verliefen im Sand. Natürlich studierte ich auch die geheimen Schriften der Kabbala, was überhaupt nicht konform mit meiner christlichen Erziehung war.

Doch durch meine strenge Erziehung wurde ich vom Nichtchristlichen geradezu angezogen. Schon immer hatte ich eine starke, mediale Kraft in mir gefühlt. Ich war feinfühlig, hatte eine besonders helle Haut, feuerrotes Haar und grüne Augen. Ich litt unter Albträumen und Visionen. Meine Vorliebe für die schwarze Szene verlieh mir den Ruf einer Hexe. Da kam mir meine neue Stelle in der Stadt gerade recht. Hier fiel ich nicht weiter auf. Menschen, die sich mit alten Büchern befassten, waren meist Einzelgänger. Mittlerweile bekam ich sogar Aufträge von privaten Kunden und konnte meine Job im Archiv auf eine Teilzeitstelle begrenzen. So konnte ich mich jede freie Minute mit meinen privaten Forschungen befassen.

Alles begann, als ich den Auftrag erhielt, nach Prag zu reisen und ein altes Buch auf seine Echtheit hin zu überprüfen. Natürlich nahm ich diesen Auftrag mit Freuden an, hatte ich doch endlich die Möglichkeit, vor Ort zu forschen. Paul Havel, mein Auftraggeber war einer meiner Stammkunden. Bis jetzt hatten wir noch nicht die Gelegenheit gehabt, uns persönlich kennenzulernen. Ich freute mich, ihn endlich persönlich zu treffen. Er wusste von meinen Forschungen zu den Kindern des Drachenkreuzes und hatte mich immer wieder mit Informationen versorgt.

 

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Ich flog einen Tag früher, denn ich wollte mir auf jeden Fall noch Prag ansehen. Diese Chance wollte ich mir nicht entgehen lassen. Paul hatte es bereits ein Hotel für mich gebucht.

Gegen Mittag kam ich im Hotel an. Da wir uns erst für den nächsten Tag verabredet hatten, wollte ich die Zeit für einen Stadtbummel nutzen.

Es gab einen ganz bestimmten Ort, den ich zuerst aufsuchen wollte, die Alchemistengasse. Hier sollte im Mittelalter künstlich Gold oder der Stein der Weisen hergestellt worden sein.

Ich interessierte mich hauptsächlich für Bücher, aber die Szeneläden zogen mich gleichermaßen an. Ich stöberte in alten wie neuen Büchern, sah mir Schmuck an und kaufte mir eine schöne schwarze Bluse für wenig Geld. Nach meinem Einkaufsbummel setzte ich mich in ein Straßencafé, blätterte in einem alten Buch, das ich für Paul besorgt hatte.

Zwei Frauen weckten mein Interesse, die sich direkt an den Tisch vor mir gesetzt hatten. An ihrer Aufmachung erkannte ich, dass sie ebenfalls der Gothicszene angehörten. Eine der beiden Frauen beobachte mich und ließ mich seit ihrer Ankunft nicht mehr aus den Augen.

Sie hatte langes schwarzes Haar, war sehr blass und hatte ausdrucksstarke blaue Augen. Irgendetwas Mystisches ging von ihr aus. Schließlich stand sie auf, lächelte mich an und kam zu mir an den Tisch.

„Hallo, ich bin Seraphine und das ist Andrea, dürfen wir uns zu dir setzen?“, fragte sie.

„Ja gerne, nehmt Platz. Ich bin Liv“, sagte ich.

Seraphines Interesse fiel auf mein Buch. „Wow, ist das ein ‘Paedagogus Graecus Latinae Juventutis‘?“, fragte sie.

„Ja, eine Originalausgabe aus den Jahr 1762. Es ist Geschenk für einen Kunden besorgt“, sagte ich, zog meine Handschuhe aus und packte das Buch wieder in eine schützende Hülle.

„Du machst das beruflich? Wohnst du in Prag?“, fragte Seraphine.

„Ich komme aus Deutschland und bin nur beruflich in Prag. Aber ich habe Literaturwissenschaft studiert und arbeite als Archivarin für ein historisches Archiv“, sagte ich.

„Das ist ja toll. Ich interessiere mich auch für alte Schriften. Leider bin ich nicht so ein Profi wie du“, sagte Seraphine.

„Bist du auch vom Fach?“, fragte ich sie und zog meine Jacke aus, da mir zu warm wurde.

Seraphines Blick fiel auf meine Kette. Überrascht blickte sie mich an, nahm die Kette in die Hand, gerade so als würde sie sie begutachten.

„Nein, ich interessiere mich nur privat für alte Literatur“, sagte sie etwas Gedankenverloren. Seraphine griff in ihre Tasche, zog Papier und Stift heraus, notierte etwas und schob mir den Zettel zu.

Sie hatte eine Adresse aufgeschrieben.

„Komm bitte heute Abend gegen zweiundzwanzig Uhr in diesen Gothicklub. Ich muss etwas mit mir besprechen, dass

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 02.03.2021
ISBN: 978-3-7487-7631-4

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