Sie saß an einem Tisch, ein Buch vor sich aufgeschlagen und las mit ihrer sanften, zarten Stimme daraus vor. Er hatte nie etwas Schöneres gehört.
Erst nach und nach drangen die Worte in sein Gehirn. Sie waren klug, witzig und warmherzig und sprühten nur so vor Intelligenz. Seine nachdenklichen braunen Augen, die von einer tiefen Melancholie zeugten, ruhten auf ihr.
Als sie den Kopf hob und ihr Publikum anschaute, da trafen sich ihre Blicke. Im Laufe der Lesung verirrte sich ihr Blick immer wieder zu ihm, und er verlor sich in diesen ungewöhnlichen Augen, die mit ihrer Schönheit eine magische Faszination auf ihn ausübten. Sie hatten eine seltsame Farbe, um die Pupille herum waren sie braun, aber ein grüner Kranz umrandete das helle Braun noch. Ihr glänzendes rötlichbraunes Haar umschmeichelte ihre feinen Gesichtszüge, die einem Engel gleich waren. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen starrte er sie an. Was war an dieser Frau so besonders, dass sie eine so große Anziehungskraft auf ihn ausübte?
Als die Lesung zu Ende war, stellten sich die Zuhörer mit einem Buch bewaffnet in einer Schlange vor ihren Tisch an. Die Zuhörer der Lesung wollten sich ihre Exemplare signieren lassen. Sie nahm sich für jeden einzelnen ihrer Leser Zeit und hatte für jeden ein offenes Ohr.
Der Doctor wurde neugierig, nahm sich ein Buch von einem Stapel, setzte seine Brille auf und fing an zu lesen. Zuerst wunderte er sich sehr über die Hauptfigur, war es doch ein kleiner Außerirdischer namens Spocky, der auf Kometen von Planet zu Planet reiste. Er hatte sich als Untermieter bei einem Vater und dessen kleiner Tochter einquartiert.
Das Buch war herrlich illustriert mit den witzigsten Bildern. Spocky sah aus wie ein Gecko, ein kleiner Dinosaurier auf zwei Beinen, er hatte ein grünes reptilienhaftes Äußeres mit einem langen Schwanz, statt Krallen hatte er Finger an den Händen. Ein freundliches Gesicht, das eine Reihe kleiner scharfer Zähne zeigte, wenn er lachte, rundete das Erscheinungsbild ab. Das Outfit bestand aus einer kurzen Hose und ein Muskelshirt, denn Spocky fror niemals mit seinem schuppigen Panzer. Der Astronautenanzug durfte natürlich nicht fehlen, in den ihn aber niemand sah, da er immer bereits auf der Erde war, wenn er seine Geschichten erlebte. Stattdessen hing der Anzug an der Garderobe seiner Gastfamilie, der kleine Helm lag auf einer Ablage darüber.
Nach einer Weile löste der Doctor sich aus seiner Versunkenheit und schaute auf. Die Schlange war merklich kürzer geworden und die Verkäufer fingen schon an, aufzuräumen. Er stellte sich zu den letzten Wartenden. Immer wieder traf sein intensiver starrender Blick, der die meisten Lebewesen abschreckte, auf den ihren, der jedem Menschen offen begegnete.
Als er an der Reihe war, bekam er kein Wort heraus. Es war so völlig untypisch für diesen Mann, der immer einen Kommentar zu jeder Situation abgab, und der bereits alles gesehen hatte in seinem langen Leben. Und nun stand er hier vor dieser jungen Frau, war stumm wie ein Fisch und bewegte sich nicht. Auch dann nicht, als sie nach dem Buch greifen wollte.
»Wenn Sie mir das Buch geben, signiere ich es für Sie... Aber nur, wenn Sie es auch wirklich wollen.« Sie machte sich ein wenig lustig über ihn, amüsiert grinste sie ihn an. Wortlos reichte er ihr das Buch.
»Auf welchen Namen?« Sie ließ ihn nicht aus den Augen, und das verwirrte ihn noch mehr. Was war hier los? Hypnotisierte sie ihn etwa? Mit runden Augen starrte er sie weiterhin nur an.
»Erde an seltsamen Mann. Wie heißen Sie?«
»What?«
»Das heißt "Wie bitte".«
»What?«, wiederholte er nur. Mit leicht geöffnetem Mund stand er vor ihr, das verlieh ihm den Ausdruck eines staunenden Jungen.
»Ich habe Sie nach Ihrem Namen gefragt. Sie haben doch sicherlich einen?«
»Doctor.«
»Ah, nur der Doctor? Wie geheimnisvoll. Also gut, dann für meinen geheimnisvollen Doctor.« Sie schrieb etwas mit ihrem Füllfederhalter, und endlich fand er seine Stimme wieder.
»Und wie ist ihr Name?«
Sie klappte das Buch zu und hielt es hoch. Ein feingliedriger Finger strich den Namen entlang, der in großen Buchstaben auf dem Cover prangte: Amelia Parrish.
»Weeeeellll!« Er legte den Kopf leicht in den Nacken und schaute sie schief von oben herab an. Er fletschte leicht die Zähne und schnalzte mit der Zunge. Nach so einem langgezogenem "Well" gab er meist nur widerwillig etwas zu. »Ich meinte Ihren richtigen Namen. Den Namen, den Ihre Eltern Ihnen gegeben haben.«
»Sie werden es nicht glauben, aber auch dieser ist Amelia Parrish. Mögen Sie ihn nicht?«
»Amelia Parrish.« Er wiederholte ihn übertrieben deutlich und ließ ihn auf der Zunge zergehen wie ein köstliches Mahl. »Amelia Parrish. Er ist einfach nur wundervoll, wie geschaffen für große Werke und... für Abenteuer, die zu erleben sind.«
»Mögen Sie die Abenteuer meiner Figur, Doctor?«
»Ich liebe sie. So etwas Witziges und gleichzeitig Warmherziges habe ich noch nie gelesen. Über das sexistische Outfit der Kröte kann man zwar streiten, aber nun ja.«
»Es ist keine Kröte, sondern ein Gecko. Haben Sie keine Augen im Kopf, Sie Banause?«
»Möchten Sie eigene Abenteuer erleben, Amelia Parrish? Sind Sie dazu bereit?« Der Doctor streckte ihr eine Hand entgegen. »Möchten Sie mit mir gehen?«
Vielleicht wäre sie tatsächlich mit diesem seltsamen Mann gegangen, doch - sie konnte nicht. Amelia legte beide Hände auf die Räder ihres Rollstuhles und fuhr vom Tisch weg.
»Meine Abenteuer finden in meinem Kopf statt. Ich habe keine andere Möglichkeit.« Ein Schatten legte sich über ihre schönen braungrünen Augen. Jedoch nur kurz, dann war er auch schon wieder verschwunden. Aber er ließ eine distanzierte Amelia zurück.
»Sie entschuldigen mich, ich habe jetzt Feierabend, Doctor.« Sie benutzte die Anrede so selbstverständlich, als hätte sie diese schon immer ausgesprochen, und als wäre es das normalste auf der Welt.
Traurig schaute er auf sie herab, aber im nächsten Moment erhellten sich seine Gesichtszüge auch schon wieder. Der Doctor strahlte sie an, ein begeistertes Leuchten in den lebhaften Augen.
»Wollen wir doch einmal sehen, was wir da machen können.«
Fast schon hüpfend, verließ er den Laden und ging zu seiner Tardis zurück.
Als er die Tardis erreichte, setzte er sich erst einmal und starrte vor sich hin. Dann nahm er ihr Buch aus seiner Manteltasche und las die Widmung:
„Für den Doctor, der niemals einfach „nur“ ist. Viel Glück auf all deinen Reisen.“
Eine lange Zeit studierte er das Buch von vorne bis hinten. Manchmal lachte er laut auf und manchmal schaute er mit diesem Blick, der so viel schon gesehen hatte, einfach nur in die Luft. Wieder etwas, was absolut nicht zu ihm passte. Konnte er doch nie lange ruhig auf einem Platz verweilen, so viel Energie hatte er in sich, die ihn immer weiter voran trieb, von einem Abenteuer zum nächsten, durch Raum und Zeit. Diesmal hatte ihn das Schicksal wieder einmal nach London geführt. Sollte er Amelia finden und wenn ja, weshalb?
Er erhob sich, steckte das Buch in seine Manteltasche, als ob er es nie mehr hergeben wolle und trat zu dem Bildschirm der Tardis.
Wie immer sprach er zu ihr: »Was mache ich hier?« Und wie immer gab sie ihm keine Antwort, doch auf dem Bildschirm tauchte das Gesicht von Amelia auf und ihr Lebenslauf wurde abgespielt.
Bei der Geburt der jungen Frau starb ihre Mutter. Aber nicht nur das, bei der komplizierten Entbindung quetschte der Arzt die Wirbelsäule des Neugeborenen so stark, dass es gelähmt wurde. Der Doctor schaute sich die Krankenakte an und bemerkte sofort, dass es sich nur um einen Ärztefehler handeln konnte. Amelias Mutter hätte niemals schwanger werden dürfen, sie hatte eine angeborene Gebärmutterverengung. Der Arzt hatte das Leben von Martha Parrish auf dem Gewissen und hatte Amelia zu einem Leben im Rollstuhl verdammt, weil er bei der Entbindung gefuscht hatte.
Trotz ihres Kummers, die Mutter nie gekannt zu haben und ihres Leidens, schrieb sie so wundervolle Geschichten. Wozu wäre sie in der Lage, wenn sie ihre Kindheit als gesundes Kind hätte führen können? Seine schönen warmen Augen starrten nachdenklich ins Nichts. Plötzlich sprang er auf und sein Gesicht leuchtete, als er über das ganze Gesicht strahlte.
»Ich werde ihr ein Leben im Rollstuhl ersparen. Wozu habe ich eine Zeitmaschine? In dieser Zeit habe ich noch keinen Einfluss auf ihr Leben genommen, also...«, er klatschte in die Hände wie ein glückliches Kind, »...kann ich ihre Vergangenheit ändern. Allons-y!«
Wie ein Wirbelwind fuhrwerkelte er an den Schaltkreisen der Tardis herum, lief im Kreis um sie herum, drückte hier und da Knöpfe, und los ging es.
Der Arzt war auf dem Weg ins Krankenhaus zu einem Notfall, als er den Mann wie aus dem Nichts vor seinem Auto auftauchen sah. Potter konnte ihm gerade noch ausweichen und den Wagen nur Zentimeter vor einer seltsamen blauen Box stoppen.
Aufgebracht sprang er aus dem Wagen und schrie den Mann an: »Sind Sie wahnsinnig? Sie können sich doch nicht mitten auf die Straße stellen. Ich hätte Sie fasst überfahren.«
»Naaaa!« Der Doctor winkte lapidar ab. »Hätten Sie niemals.«
»Was ist los? Hatten Sie einen Unfall? Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus und kann Sie mitnehmen.«
Der Doctor roch die Alkoholfahne des Arztes, selbst die Pfefferminzpastillen konnten den penetranten Geruch nicht überdecken, und er sah das Zittern seiner Hände.
»No, no, no, no. Sie werden nirgendwohin fahren.« Er nahm seinen Schallschraubenzieher aus der Innentasche seines langen Mantels und zielte damit auf die Motorhaube. Es zischte vernehmlich und das war es dann, das Auto würde keinen Zentimeter mehr fahren.
»Was haben Sie getan? Wie haben Sie das getan? Eine Patientin braucht meine Hilfe.« Die rauchige Stimme Potters klang verzweifelt. Wie sollte er jetzt ins Krankenhaus kommen? Egal wie vernebelt sein Gehirn vom Alkohol auch war, er war Arzt und er wollte seine Patientin nicht im Stich lassen. Genau da lag das Problem.
»Dr. Potter, Sie haben ein Problem, und das wissen Sie zu genau.« Der Blick des Doctors, wenn er sein Gegenüber so durchdringend ansah wie jetzt gerade, konnte sehr unangenehm werden. Erst starrte Potter verbissen zurück, aber er konnte dem Blick nicht lange standhalten.
Versuchte irgendjemand den Doctor zu täuschen, dann starrte dieser denjenigen einfach solange an, bis er einbrach und sich nicht mehr zu verteidigen wusste. Die Augen des Time Lords brachten selbst so erfahrene Ärzte wie Potter aus dem Konzept.
Beschämt senkte der Arzt seinen Kopf. Er war nicht fähig, ihm weiterhin in die Augen zu schauen. »Was reden Sie da? Ich muss ins Krankenhaus, eine Frau bekommt ein Kind. Ich muss ihr doch helfen«, stammelte Potter verzweifelt vor sich hin.
»Oh, Sie meinen sicherlich Martha Parrish, die niemals hätte schwanger werden dürfen. Die wegen Ihnen ihr Leben heute Nacht verlieren wird, und wenn Amelia Pech hat und es ist kein fähigerer Arzt anwesend als sie es sind, dann wird sie für den Rest ihres Lebens gelähmt sein. Wollen Sie das?« Seine Augenbrauchen zogen sich düster zusammen. Wenn der Doctor wütend war, dann war er eine Naturgewalt, die niemand aufhalten konnte. Und jetzt war er wütend, denn es ging um ein Menschenleben und das nahm er immer sehr persönlich.
»Woher kennen Sie den Namen und die Diagnose dieser Frau? Ich habe selbst erst gerade von den Komplikationen erfahren. Was soll ich denn tun? Ich muss zu ihr ins Krankenhaus.«
»Ich sage Ihnen, was Sie tun werden. Sie werden jetzt die paar Kilometer zu ihrem Haus zurücklaufen, den Telefonhörer in Ihre zittrige Hand nehmen und sich in eine Entzugsklinik einweisen lassen.« Nun wurde der Blick des Doctors hart und unerbittlich. »Ansonsten werde ich Sie vernichten. Und glauben Sie mir, ich habe schon größere Männer vernichtet, als Sie es je sein werden.« Er sprach die Drohung knallhart aus, und es bestand keinerlei Zweifel daran, dass er sie ausführen würde.
Ohne ein weiteres Wort drehte sich Potter um und lief resigniert zu seinem Haus zurück. Ohne seinen Mantel auszuziehen, nahm er den Hörer von der Gabel und wählte die Nummer der Klinik, die er schon so oft gewählt hatte. Doch diesmal legte er nicht im letzten Moment auf.
Der Doctor stieg in seine Tardis und reiste voraus in die Zeit der erwachsenen Amelia. Aber er konnte sie nicht finden, es gab keine neueren Daten aus den letzten Jahren. Er stieß auf eine Schlagzeile aus dem Jahr 1989. Ein achtjähriges Mädchen und ihr Vater wurden von einem drogensüchtigen jungen Mann bei einem Raubüberfall auf ein Lebensmittelgeschäft ermordet. Vorher hatte er das wunderhübsche kleine Mädchen vergewaltigt. Der Verbrecher wurde bereits wegen diverser Überfälle auf kleinere Läden gesucht.
»No, no, no, no, no. Das kann ich nicht zulassen.«
Und wieder ging der Tanz um das Schaltpult der Tardis los. Er flog zu dem schicksalsträchtigen Datum, dem Todestag von Amelia Parrish.
Der Abend draußen vor dem Lebensmittelladen an diesem 19. September des Jahres 1989, war schwarz, so schwarz hatte Peter Parrish es noch nie erlebt. Während Mike, der Ladenbesitzer, die Lebensmittel in einen Beutel packte, schaute er aus dem riesigen Schaufenster. Da, schon wieder sah man einen grellen Blitz, der Donner folgte sofort. Amelia drückte sich fest an sein Bein. Sie war nie ein besonders furchtsames Kind, aber das laute Grollen eines Donners ließ sie immer etwas frösteln. Er legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und drückte sie beruhigend an sich. Lächelnd schaute sie zu ihm auf.
»Da sieh mal«, rief er plötzlich aufgeregt. Er zeigte mit einem seiner langen Finger in den Himmel. »Ein Komet. Ich habe ihn ganz deutlich gesehen.«
Seine kleine Tochter schaute an Peters Finger entlang, konnte aber nichts Ungewöhnliches erkennen. »Ich sehe aber nichts, Papa. Wo ist dieser Gormet?« Sie wollte natürlich nicht zugeben, dass sie keine Ahnung hatte, worüber ihr Vater sprach.
»Schätzchen, ich meine einen Kometen. Das sind die Flugobjekte, mit denen Außerirdische zur Erde fliegen. Gerade heute haben wir einen Untermieter bekommen, der vom Planeten Krax stammt.« Er sprach so ernst mit seiner Tochter, dass diese ihn erstaunt ansah, den Mund weit offen.
Mit kindlicher Neugierde wollte sie wissen: »Wo soll denn dieser Außerirdische schlafen, und wie heißt er überhaupt?«
»Sein Name ist Spocky und ich habe ihn in das Gästezimmer direkt neben deines einquartiert. Er hofft, dass du nicht allzu laut schnarchst.«
»Aber ich schnarche doch gar nicht.«
»Na, da wird er aber froh sein, das zu hören.«
Erbost schaute sie ihren Vater an, für einen Augenblick hatte sie ihre Angst vor dem Gewitter vergessen. Sie hatte tausend Fragen über ihren neuen Untermieter und bombardierte ihn damit.
Der Doctor stand an einem der hinteren Regale und hörte der Unterhaltung amüsiert zu. Jetzt wusste er, woher sie die erzählerische Ader hatte und woher die Idee zu dem kleinen Außerirdischen namens Spocky stammte.
Durch das Gewitter verschluckt, hörten die Menschen in dem Laden die Sirenen der Streifenwagen nicht, die in diesem Moment unweit von ihnen, einen jungen Mann umstellten, der mit einem Gewehr unterwegs war. In der Zeitung stand später, dass die Polizei den Mann nur aufgrund eines anonymen Tipps festnehmen konnte. Ein aufmerksamer Bürger hatte ihnen genau den Zeitpunkt und den Ort genannt, an dem er sich aufhielt. Sie nahmen ihn fest, während in einem kleinen Lebensmittelladen ein liebevoller Vater seiner Tochter, die auf ihren gesunden Beinen neben ihm stand, Geschichten von einem Außerirdischen erzählte, der auf Kometen von Planet zu Planet reiste.
Bevor der Doctor den Laden verließ, lächelte und zwinkerte er ihr noch zu. Ein leises »Halt die Ohren steif, Amelia« gab er ihr noch mit auf ihren Lebensweg. Ein strahlendes von Herzen kommendes Lächeln war für ihn Belohnung genug.
Ein Jahr später in ihrem Leben, konnte der Doctor Amelias Vater nicht retten, genauso wenig wie er ihre Mutter hatte retten können. Denn der Tod der Beiden waren Fixpunkte in der Geschichte, die nicht rückgängig zu machen waren. Das Gesetz von Raum und Zeit verbat es ihm, einzugreifen. Auch wenn er mit der Tardis eine mächtige Waffe an der Hand hatte, so hatte er sie niemals missbraucht und auch jetzt war er dazu nicht bereit. Doch er wollte in dieser schweren Stunde bei ihr sein, also verbarg er sich auf dem Friedhof hinter einem Baum und beobachtete sie. Seine großen ausdrucksstarken Augen waren dunkel vor Kummer, er fühlte mit ihr.
Als alles vorbei war, blieb Amelia alleine am Grab ihres Vaters stehen. Plötzlich drehte sie sich zu ihm um und schaute ihn direkt an.
Ein Erkennen blitzte in ihren Augen auf, sie ging zu ihm hinüber und sprach ihn an: »Sie sind der Mann aus Mikes Laden, habe ich Recht?«
Er nickte bestätigend.
»Sind Sie ein Freund meines Vaters?«
»Nein, Amelia Parrish, aber ich hoffe, dass wir beide einmal Freunde werden. Später, der Zeitpunkt liegt noch weit in der Zukunft.«
Verwundert schaute sie ihn an. »Sie sind ein seltsamer Mann. Wie ist Ihr Name?«
»Doctor.«
»Ah, nur der Doctor? Wie geheimnisvoll.«
»Wegen deines Vaters tut es mir sehr leid.« Er schaute ihr mit einem unendlich traurigen Blick in die Augen. Ein wenig resigniert, doch seine linke Augenbraue war leicht hochgezogen. Diese Geste gab seinem Gesicht etwas Überhebliches, sie besagte, wenn er nichts tun konnte, hätte niemand etwas tun können, um es zu verhindern.
»Amelia!« Eine hohe durchdringende Stimme rief nach ihr und sie drehte sich um und antwortete, dass sie gleich komme.
Als sie sich dem Doctor wieder zuwenden wollte, war er verschwunden. Ein Umschlag hing an einem kleinen Ast am Baum. Sie nahm ihn an sich und öffnete ihn.
„Meine kleine Amelia Parrish. Die nächsten Jahre im Heim werden hart für dich werden, aber du bist stark und du wirst es schaffen, davon bin ich überzeugt. Und denke immer daran „Halte die Ohren steif". Wir werden uns wiedersehen. In freudiger Erwartung, dein Doctor.“
Als er in der Tür seiner Tardis stand, drehte sich der Doctor noch einmal zu dem traurigen kleinen Mädchen um und sah ihr hinterher, als sie zu der Frau ging, die ihren Namen gerufen hatte. Das war der Doctor, eine unendliche Seele aus Emotionen in einem Gesicht von unglaublicher innerer und äußerer Schönheit. Doch im nächsten Moment war sein melancholischer Blick auch schon wieder verschwunden.
»Well...«, er schnalzte mit der Zunge und lachte auch schon wieder über das ganze Gesicht. »Allons-y!« So ist das Leben nun mal und man kann nur versuchen, etwas Gutes daraus zu machen, also packte er es an.
Wieder in der Zukunft, suchte er in der Datenbank nach ihrem Buch. Doch er fand es nirgends, es war niemals geschrieben worden, auch fand er kein anderes Werk von Amelia Parrish. Was war geschehen? Der Doctor hatte doch alle Hindernisse beseitigt.
Er suchte nach ihr und fand sie als Patientin in einer Nervenheilanstalt. Sie hatte mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen. Er hackte sich in die Datenbank der Anstalt und erfuhr, dass sie mit zwölf Jahren von einem Erzieher vergewaltigt worden war.
Der Doctor konnte es nicht glauben, dieses Mädchen zog das Unglück nur so an. Durch sein Eingreifen war sie zu einer gesunden Schönheit geworden. Schön war sie auch im Rollstuhl gewesen, nur hatte dieser sie vor den Übergriffen der Männer geschützt, da ihre Behinderung die kriminellen Gemüter abschreckte. Aber als gesundes junges Mädchen mit ihrer schlanken zierlichen Figur und den glänzenden rotbraunen Haaren, das ihre feinen Gesichtszüge umrahmte, strahlte sie schon in jungen Jahren eine unschuldige Sinnlichkeit aus, die den Männern jeglichen Verstand raubte. Sobald sie Amelia sahen, hatten sie nur noch den Wunsch, sie zu besitzen.
Die einzigen Menschen, die ihr Halt gaben, waren die Schwestern Mona und Nina Braun. Als die beiden bei einem Brand im Kinderheim starben, verlor sie jeglichen Halt im Leben. Auch ihre herausragende Intelligenz und der Lebensmut, den sie selbst nach dem Verlust ihres Vaters und nach der Vergewaltigung nicht verloren hatte, retteten sie nicht vor dem tiefen Loch, in das sie nach dem Tod der geliebten Freundinnen, die wie Schwestern für sie waren, fiel. Noch mehr Leid hatte ihre kleine zarte Seele nicht ausgehalten. Auch gegen den Tod der beiden Schwestern konnte der Doctor nichts unternehmen, aber verdammt sollte er sein, wenn er Amelia nicht vor dem Erzieher beschützen würde.
Er war jetzt sehr zornig, auch auf sich selbst. Als er Amelia das erste Mal gesehen hatte, hatte sie zwar ein schweres Leben im Rollstuhl hinter sich, aber sie war glücklich und voller Lebensfreude gewesen, die ihn so faszinierte. Ohne sie zu fragen, wollte er ihr ein besseres Leben schenken und machte dadurch alles viel schlimmer für sie.
Hatte er vielleicht ein wenig eigennützig gehandelt? Er wollte, dass sie mit ihm kam, er wollte sie für sich. Für ihn war alles nur ein Spiel, ein Spiel zu seinem Amüsement. Natürlich, er liebte die Menschen. Aber warum half er ihnen immer und immer wieder, obwohl sie nicht nach seiner Hilfe verlangten?
Er tat es, weil er es konnte, und er wurde von dem Gefühl angetrieben, etwas gut machen zu müssen. Immer und immer wieder bis in alle Ewigkeit, die ihm zur Verfügung stand. Auch jetzt musste er wieder zurechtbiegen, was er ihr in seinem arroganten Großmut und seiner Unbesonnenheit angetan hatte.
Mit dem Erzieher ging er nicht so gnädig um, wie mit dem Arzt. Potter hatte vor dem Verlust seiner Frau ein gutes Leben geführt und vielen Frauen geholfen. Er war ein hervorragender Arzt gewesen, den der Tod seiner geliebten Frau aus der Bahn geworfen hatte. Aber Karl Banger war eine verachtenswürdige Kreatur, die der Doctor aus dem Verkehr ziehen musste, und das tat er auch, unerbittlich. Bevor Banger Amelia etwas antun konnte, übergab ihn der Time Lord gnadenlos der galaktischen Polizei, die sein verdorbenes Gehirn scanten und ihn direkt ins Gefängnis warfen. Hier musste er ein Programm zur Rehabilitation durchlaufen. Ein Mal im Jahr führten sie einen Scan durch, um zu sehen, ob Besserung eingetreten war.
In den nächsten Jahrzehnten war der Doctor immer zugegen und machte seine Aussage gegen den potenziellen Vergewaltiger und Mörder. In den ersten Jahren wollte Karl Banger wissen, wo er war und warum er dort war, er hatte doch gar nichts getan. In all den Jahren gab ihm niemand eine Auskunft. Er saß sein Leben lang im größten Gefängnis des Universums nur aufgrund eines möglichen Verbrechens, das er eventuell begangen hätte und nur aufgrund der Tatsache, dass der Doctor es so für richtig hielt, und Banger hatte absolut keine Ahnung von alledem. Im Laufe der Jahre zerbrach er, und er stellte noch nicht einmal mehr die Frage nach dem Warum.
Nachdem Karl Banger keine Gefahr mehr für Amelia war und es auch keinen Brand im Heim gegeben hatte, da dieser von Banger gelegt worden war, trat endlich Ruhe in Amelias Leben ein. Die drei verwandten Seelen gaben sich gegenseitig Halt im oft grausamen Spiel des Lebens, das hart und unfair, aber auch eine große Herausforderung war.
Amelia entwickelte sich zu der Frau, in der sich der Doctor, wie er sich heimlich eingestehen musste, verliebt hatte. Sie schrieb große Werke und ihre Bücher wurden allesamt Bestseller, aber ihr erstes Buch war „Die Kurzgeschichten des Außerirdischen Spocky“ geblieben, das von ihrer Liebe zu ihrem Vater zeugte.
Als der Doctor ihr jetzt in dem Buchladen die Hand reichte und ihr sein Angebot unterbreitete, stand sie schwungvoll auf und ergriff diese mit Freuden. Für lange Zeit wurde sie die Begleiterin des Doctors und noch mehr, sie wurde zu seiner Gefährtin.
Ihr letztes Buch trug den Titel: „Eine Wanderung durch Raum und Zeit“.
- The End -
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Diese Geschichte ist für einen der zwei besten Doctoren aller Zeiten.