Veronika A. Grager
Liebe?
Nein danke!
3. Auflage
Roman
Blaue Reisen entlang der türkischen Küste gibt es tatsächlich. Sie können sie in fast jedem Reisebüro buchen. Die beschriebene Route wird auch befahren und die angeführten Sehenswürdigkeiten besucht. Ebenso existiert das Städtchen Berndorf, nahe Wien. Damit enden die Tatsachen.
Personen, Handlung, Schiff und Wohnorte sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Urlaub! Endlich Urlaub! Etwas, das ich in den letzten Jahren eher nur vom Hörensagen kannte. Ich war der Ansicht, dass ich ihn mir wirklich und ehrlich verdient hatte.
Alles fing damit an, dass unsere Firma von einem amerikanischen Konzern übernommen wurde. Mein Chef war einer der vorherigen Geschäftsführer und musste gehen. Sein Job wurde ersatzlos gestrichen. Eine verdiente Mitarbeiterin, die sich nahezu zwanzig Jahre im Konzern bewährt hat und davon achtzehn als Assistentin eines Geschäftsführers, setzte man nicht gleich auf die Straße. Das wäre jedoch fast erträglicher gewesen als das Leben als Wanderpokal von einer Abteilung zur anderen, wo immer man gerade jemanden für die Arbeiten brauchte, die nicht einmal die Lehrlinge verrichten wollten. Das hieß ablegen, kopieren, Kaffee kochen, den Kopierer reparieren, die Hausarbeiter organisieren, wenn das Klo verstopft war, Muster an Kunden versenden und ähnlich erfüllende Tätigkeiten. Zur Abwechslung durfte ich auch dringend kotzlangweilige Statistiken erstellen, die letztendlich niemand wirklich brauchte. Urlaub war bei meinem Zigeunerleben nicht drin. Sie wollen auf Urlaub gehen? Sie sind doch eben erst in die Abteilung gekommen! Das war ein Satz, den ich schon gar nicht mehr hören konnte. Kaum war ich irgendwo eingearbeitet, wurde die Abteilung wegrationalisiert. Und das Spielchen begann von vorne. Mittlerweile machten schon alle einen Bogen um mich, denn wenn ich in ihre Abteilung versetzt würde, machte die sicher auch demnächst dicht.
Drei Jahre zuvor hatte ich mich von meinem Freund getrennt, weil er einfach nicht treu sein konnte. Einige Zeit versuchte ich zu verdrängen, was ich bereits ahnte, aber schließlich wurden die Beweise erdrückend. Um mir den letzten Rest meiner Selbstachtung zu bewahren, zog ich einen Schlussstrich. Und fühlte mich dabei noch schuldig! Warum nur fühlen sich immer die betrogenen Frauen schuldig, warum nicht die verdammten Betrüger?
Der berufliche Fall in die absolute Bedeutungslosigkeit war durchsetzt mit einem kräftigen Schuss Angst vor der Zukunft, denn ich bin nicht mehr jung. Mein Gott, vierzig Jahre! Und wo bitte sind die geblieben? Ich fühle mich jung, schön und stark - an manchen Tagen. Aber die werden seltener. Ich habe Männern, die es nicht verdient haben, meine Jugend und Schönheit geschenkt, meiner Firma meine Kraft, meinen Ehrgeiz und jugendlichen Elan. Ich habe Heerscharen von jungen Mädchen für ihr zukünftiges Berufsleben ausgebildet und bei vielen erlebt, wie sie sich ganz toll entwickelt haben. Und ich? Nach all den Jahren ist mir nicht viel mehr geblieben als die Erinnerung an schönere Tage.
Ich dachte, schlimmer könnte es nicht kommen. Doch es gab noch eine Steigerungsstufe. Ich werde den 10. März mein Leben lang nicht vergessen. Es hatte den ganzen Tag wild geschneit. Ich musste Überstunden machen und kam spät nach Hause. Nach dem Abendessen läutete das Telefon, und als ich abhob, war die Lebensgefährtin meines Vaters dran und schluchzte in die Muschel. Es ist etwas Furchtbares passiert.
Mein Vater war alt und hatte im Jahr zuvor einen Schlaganfall gehabt, man hatte damit rechnen müssen. Aber es kam noch viel schlimmer. Nachdem Emily sich etwas gefasst hatte, brachte sie mir nicht eben schonend bei, dass mein Vater Selbstmord begangen hat, nachdem er ihr das Dach über dem Kopf angezündet hatte. Motiv: Eifersucht! Er fünfundsiebzig und sie knapp drei Jahre jünger! Ich wusste immer, dass mein Vater nicht ganz dicht war, aber für so verrückt hatte ich ihn doch nicht gehalten!
Die nächsten Tage, Wochen und Monate waren die Hölle. Zu meiner eigenen Überraschung machte mich der plötzliche Tod meines Vaters echt traurig. Wir hatten aus einer Reihe von Gründen zeitlebens kein besonders gutes Verhältnis zueinander. Das lag an vielerlei Kleinigkeiten, sicher auch daran, unter welchen unschönen Umständen die Ehe meiner Eltern geendet hatte. Ich war damals noch ein Kind, aber sogar mir war seit meinem sechsten Lebensjahr klar, dass mein Vater immer Freundinnen nebenbei hatte. Und dieser Mensch hat sich ohne Skrupel und mit einem guten Anwalt das gesamte Vermögen, das meine Mutter mit in die Ehe brachte, unter den Nagel gerissen. Weder sie noch ich sahen je einen Euro mehr, als er vom Gericht verpflichtet war, für meine Ausbildung zu bezahlen. Er selbst hat jegliche Verbindung zu uns abgebrochen. Erst als er alt und mit seiner Lebenssituation unzufrieden wurde, tauchte er bei mir aus der Versenkung auf. Und war höchst verwundert, dass ich ihm nicht die liebende Tochter sein wollte!
Und jetzt verursachte er mir ein schlechtes Gewissen. Wie einsam und verzweifelt muss ein Mensch sein, um so einen Schritt zu setzen! Einen derartigen Abgang wünscht man nicht einmal seinem schlimmsten Feind.
Alles, was dann folgte, war ein einziger Albtraum: die Behördenwege, das Begräbnis, die Abwicklung des Nachlass-Verfahrens. Und alle sahen in mir die Tochter des Schwerverbrechers. Ich habe Sippenhaftung immer abgelehnt, aber mich behandelte man mittlerweile wie einen leiblichen Nachfahren von Jack the Ripper.
Als ich nicht mehr wusste, wie das alles weitergehen sollte, habe ich mich ganz spontan zu dieser Reise entschlossen. Ich wollte mir endlich einmal selbst etwas Gutes tun. Weg von all den Menschen, die etwas von mir wollten, weg von Sippenhaft und Verpflichtungen, weg aus der Kälte! Ich ging ins Reisebüro und habe gebucht. Eine Blaue Reise in der Türkei. Von Marmaris nach Antalya auf einem kleinen Schifferl, auf dem maximal sechzehn Leute Platz haben, wo mich niemand kennt und zu dieser Jahreszeit höchstens Senioren, Hausfrauen oder Paare mit kleinen Kindern unterwegs sein würden. Das war jetzt der richtige Urlaub für mich. Einfach aussteigen, und wenn mich die anderen nervten, könnte ich mich immer noch in meine Kabine zurückziehen! Was für herrliche Aussichten. Gutes Futter, herrliches Blauwasser, Sonne, Seelenbaumeln. Das war’s!
AUF SEE
Und nun war es soweit. Ich war bereit abzuheben. Mein Schwung wurde allerdings erheblich gebremst durch die Tatsache, dass ich den im Prospekt angekündigten Dauerparkplatz nicht finden konnte. Es stellte sich heraus, dass der etwa fünf Kilometer zurück und somit ziemlich weit weg vom Flughafen lag. Nach zweimaligen erfolglosen Abbiegeversuchen stolperte ich durch Zufall über die richtige Abzweigung und war glücklich gelandet.
Und jetzt? Die dächten doch wohl nicht, dass ich Autostopp zum Terminal fahre? Ganz so schlimm war es nicht. Es gibt einen Shuttledienst. Also warf ich meine überdimensionale Reisetasche unter Aufbietung all meiner Kräfte in den Bus, küsste meinen Audi zum Abschied zärtlich auf die Dachreling und flüsterte ihm zu, er solle mir treu bleiben und nicht mit fremden Männern mitgehen. Und dann entleerte ich den Inhalt meiner Handtasche auf den Boden des Shuttlebusses. Verdammte Scheiße!
Zum Glück war es dämmrig und der Bus fast leer, sodass ich meine wichtigsten Reiseutensilien relativ unbeobachtet einsammeln konnte. Einzig mein Lippenstift war in irgendein Nirvana gerollt. Ich würde es vermutlich auch ohne ihn schaffen.
Jetzt sollte es also wirklich losgehen! Beim Einchecken musterte ich verstohlen meine Mitreisenden. Wer wohl mit mir auf das gleiche Boot ging? Hoffentlich nicht die laute Herrengesellschaft, von denen die Hälfte schon vor dem Abflug illuminiert war. Die nahmen den Titel der Veranstaltung wohl wörtlich: Blaue Reise!
Oder das Ehepaar mit den drei lärmenden Rangen? Na hoffentlich nicht. Zu laut, obwohl sympathisch. Allein Reisende gab es jedenfalls nicht viele. Zwei ältere Damen, die sich sofort anfreundeten, indem sie über ihre Enkel zu plaudern anfingen. Und ein ziemlich grünes Bürschchen, Marke Muttersöhnchen. Vermutlich ein Reiseleiter oder etwas Ähnliches. Sonst nur Paare. Na was hatte ich denn sonst erwartet? Ich hätte ja auch einen Singleurlaub buchen können! Aber ich wollte nur abschalten und Kraft schöpfen.
Leider saß im Flugzeug neben mir einer der angeheiterten Spätpubertierenden, was sich auf meine Stimmung nicht gerade aufhellend auswirkte. Zum Glück war er nur die erste halbe Stunde laut und schnarchte sich dann ins Reich der schottischen Malzträume. Die nächsten Stunden verbrachte ich in der Angst, mit den angegrauten Rowdys auf dem gleichen Schiff zu landen, bis einer der nicht ganz so Besoffenen mir erzählte, dass sie diese Reise jedes Jahr machten.
„Da nehmen wir uns ein Schiff nur für uns Männer allein.“ Mir fielen etwa hundert Tonnen Fels vom Herzen! „Die Weiber bleiben zu Haus und müssen arbeiten, hahaha hohoho!“
Wenn ich so ein beklagenswertes Weib wäre, könnte er jedes Jahr zwölfeinhalb Monate wegbleiben und er würde mir nicht abgehen!
Nach der Ankunft wollte ich mein Gepäck auf einen Caddy laden, nur - es war keiner da. Zum Schleppen war mein riesiger Seesack eindeutig zu schwer. Also zog ich ihn missmutig hinter mir her.
Den richtigen Bus zu finden war reine Glücksache, denn die örtlichen Reiseleiter waren ebenso wie die Buschauffeure absolut uneins, wer wohin fahren sollte. Nach etwa einstündigem Palaver in türkisch, mehrmaligem Gepäckumladen und Ein- und Aussteigen, war es endlich soweit, dass die, die in die gleiche Richtung mussten, im gleichen Bus saßen. Milchgesicht war mit von der Partie. Er hatte mir sogar meine Reisetasche mehrmals umgeladen.
„Du meine Güte, in welchen Exklusivclub fahren Sie denn mit so viel Garderobe“, hatte er unter der Last meiner Jeans, T-Shirts, Tauchausrüstung und sonstigen Kleinigkeiten geächzt. Ich dankte artig für seine Hilfe, enthielt mich aber sonst jeden Kommentars. Er war hilfsbereit, wie Mutti es ihm beigebracht hatte, also warum auch dieses Exemplar mit meinem Zynismus verschrecken? Man musste doch froh sein, dass nicht alle so waren wie die Schluckspechte mit den Arbeitsbienen zu Hause. Außerdem würden sich in einer Stunde unsere Wege ohnehin trennen.
Die Autobusfahrt zeichnete sich besonders dadurch aus, dass selbst der müdeste Mitreisende vor Schreck die Augen nicht mehr zubekam, weil der Chauffeur bei gut hundert Sachen auf einer engen Bergstraße ununterbrochen, ungeachtet aller Sperrlinien und Überholverbote, die wildesten Überholmanöver fuhr und dabei noch alle zehn Sekunden einnickte! Das war Abenteuerurlaub pur! An so viel Action hatte wohl niemand bei der Buchung gedacht. Bleich, übernächtig und mit zittrigen Knien kletterten wir bei Sonnenaufgang aus dem Bus auf eine menschenleere Piazza, die hier sicher anders hieß. Unser Reiseleiter wies mehreren Leuten mit einer vagen Handbewegung die Richtung, in der sie ihr Schiff finden konnten. Übrig blieben das Ehepaar mit den drei Kindern, Milchgesicht und ich. Na das konnte ja heiter werden! Wo waren die anderen Passagiere?
Wir trotteten zu einem ziemlich ramponierten Kahn namens Toros, der sich von den schönen anderen Schiffen schon aufgrund seines Alters und vernachlässigten Äußeren merklich abhob. Von Besatzung war weit und breit nichts zu sehen, nur eine zerknautschte NATO-Jacke lag in einer Ecke. Nachdem der Reiseleiter einige Male laut etwas Unverständliches gerufen hatte, entfaltete sich die Jacke, stand auf und entpuppte sich als männliches Schmuddelwesen mit Fußpilz an den nackten Sohlen. Es stellte sich heraus, dass dies der Kapitän des Kahnes war. Na super! Der Urlaub fing gut an: in toller Gesellschaft und mit absolut garantierten Spätfolgen, nämlich Fußpilz als Souvenir!
Als Milchgesicht meine Tasche an Bord hievte, lag ein ziemlich doofes Grinsen auf seinem Gesicht. Ich war zu müde, um irgendwas zu sagen, schnappte mir die sauberste Kabine und warf mich aufs Ohr. Wir würden erst mittags auslaufen, wir warteten noch auf jemanden. Na fein. Während dieser Zeit konnte ich auch schlafen. Das Meer wiegte mich in seinen freundlichen Armen, der leichte Modergeruch - Markenzeichen aller Salzwasserschiffe - strich mir sanft um die Nase, trotzdem konnte ich nicht einschlafen. Nach etwa einer Stunde gab ich resignierend auf und ging nach oben.
Am großen Tisch am Heck des Schiffes war der Rest der Meute versammelt, der, ebenso wie ich, hundemüde aber ziemlich überdreht war. Die Kinder, zwei Mädchen von etwa vierzehn und acht Jahren und ein süßer Junge von etwa drei Jahren, drängten die Eltern zur Eile, denn sie wollten an Land.
„Wir sind so lang gesessen, ich muss laufen!“, meinte Miss Internat, die älteste Tochter, und bedachte Milchgesicht mit einem schmachtenden Blick. Der grinste sie breit an, und fragte mich dann, ob ich meinen Schrankkoffer schon ausgepackt hätte. Miss Internat, die Melanie hieß, ignorierte mich, rekelte kess ihren süßen kleinen Busen, und schmachtete unter ihren langen dunklen Haaren nach Bubi. Der aber lehnte sich vor und bot mir Zucker für den Kaffee.
„Danke, ich trinke ihn ohne.“
„Igitt“, schüttelte er sich, „welche dunklen Geheimnisse mögen Sie noch haben? Sie küssen ein unschuldiges Auto zum Abschied, werfen Ihre Handtasche weg, reisen mit Schrankkoffer und trinken Kaffee ohne Zucker!“
Oh Gott, er hatte mich auf dem Parkplatz beobachtet. „Meine dunklen Geheimnisse nehme ich mit ins Grab“, sagte ich mit so düsterer und melodramatischer Stimme, dass Melanie eine Gänsehaut bekam.
Bubi lachte herzhaft. „Sie sind eine Type! Wo ist Ihr Mann?“
„Sitzt zu Hause und füttert die Kinder!“
„Mädel, Sie gefallen mir!“
Nana, jetzt wurde er aber plump vertraulich. Wollte der Pimpf mit mir anbandeln? Der könnte ja glatt mein Sohn sein! Und außerdem, nach dieser Nacht musste ich sowieso aussehen wie meine eigene Großmutter!
Nach dem Frühstück entschloss ich mich, auch noch ein paar Schritte zu laufen und das Städtchen, in dem unser Schiff vor Anker lag, zu erkunden. Als ich mich über die schwankende Pasarella kämpfte, war Bubi, der den stolzen Namen Erich trug, knapp hinter mir. Während ich wie ein Trampeltier über das schwankende Brett stapfte, schwebte er mit schwingenden Hüften einher. Er brauchte sich nicht festzuhalten. Das Leben ist ungerecht. Er war nicht nur jung und unverschämt hübsch, er bewegte sich wie ein Tänzer. Und ich war eine alternde, zynische Exsekretärin mit einem Selbstmörder und Brandstifter als Vater. Gut, dass mir das noch rechtzeitig eingefallen war. Ich legte einen Zahn zu und war in das nächste verwinkelte Gässchen verschwunden, bevor Bubi einen Zeh an Land gesetzt hatte.
Ich tauchte ein in das pulsierende Leben der kleinen Hafenstadt. Die Sonne brannte auf mich nieder und schön langsam glättete sich mein gesträubtes Gefieder. Es war doch egal, wer mit mir auf dem Boot war. Ich wollte nichts wie ausspannen und jetzt war ich auf dem besten Weg dazu. Meine Seele öffnete sich ganz langsam, Friede zog in mein Gemüt. Ich wechselte Geld in einer Wechselstube und setzte mich faul in ein kleines Café. Ich sah Bubi vorbeistromern, der mich nicht wahrnahm, weil mich eine Hecke gut verbarg, und hinter ihm eine missmutige Melanie, die versuchte ihm zu folgen und daran von ihrem quengeligen kleinen Bruder erfolgreich gehindert wurde. Die Reise fing an mich zu amüsieren. Ich habe einen ausgeprägten Sinn für Situationskomik. Und dass sich hier Unheil anbahnte, das roch man zehn Meilen gegen den Wind.
Als ich zurück zum Schiff kam, war kein einziger Passagier zu sehen. Ich nahm an, dass sie alle ein Nickerchen machten, und beschloss, dasselbe zu tun.
Ich erwachte durch das gleichmäßige Schaukeln von guter Dünung sowie dem Dröhnen der Motoren und mit einem mordsmäßigen Hunger. Lieber Himmel, draußen ging die Sonne unter! Ich hatte das Mittagessen versäumt und wir fuhren wer weiß wie lange schon auf dem Meer! In Windeseile packte ich meine umfangreiche Reisetasche aus und stellte fest, dass ich vermutlich mehr als die Hälfte nicht brauchen würde.
Ich schlüpfte in meine rote Lieblingshose, ein rotes T-Shirt mit weißen Blümchen und eine dünne weiße Leinenjacke und war dann bereit, mich ins Gewühl zu stürzen.
Als ich mich an Deck hievte, liefen wir gerade, mit der untergehenden Sonne im Rücken, in eine traumhaft romantische Bucht ein. Weit und breit keine Spuren der Zivilisation, nur Meer, Sandstrand und ein paar Bäume. Dahinter, ziemlich weit weg, sah man ein paar Berggipfel, von einigen Wölkchen umspielt, und dort war der Himmel schon recht dunkel. Hinter uns sank die Sonne blutrot ins Meer. Ich nahm mir vor, später in der Kajüte nachzulesen, was ich heute versäumt hatte und schoss noch ein paar Fotos, von denen ich annahm, dass sie atemberaubend kitschig werden würden. Die Bucht im Sonnenuntergang mit einem Stückchen Reling oder Achtersteven dazu, das war schon was.
Meine Reisegefährten hatten sich ein wenig vermehrt. Der Reiseleiter war dazu gekommen. Er stellte sich als Jam vor - manche Leute tragen wirklich seltsame Namen. Wer würde sein Kind schon Marmelade taufen? Jam sprach akzentfreies Deutsch. Seine Eltern hatten mit ihm viele Jahre in Deutschland verbracht und er fühlte sich diesem Kulturkreis fast mehr zugehörig als dem türkischen. Er stammte aus Izmir und studierte in Istanbul und im Sommer jobbte er für ein Reisebüro, um sein Studium zu finanzieren. Er war ein erfrischender junger Bursche mit goldblondem Haar und hellem Teint, der absolut nicht wie ein Einheimischer aussah, was uns in der Folge noch recht lustige Erlebnisse bescherte, denn jeder Teppichhändler sprach Jam auf Deutsch an! Und Erich hielten sie für unseren türkischen Reiseleiter. Er wäre wohl ein wenig groß für einen Einheimischen, aber er hatte dichtes schwarzes Haar und olivfarbene Haut, die von Tag zu Tag noch dunkler wurde. Übrigens hieß Jam in Wirklichkeit Gem - aber es klang immer noch wie englische Marmelade.
Melanie schien hin und her gerissen zwischen den beiden Männern, dem sonnigen Typen Gem und dem geheimnisvollen Erich. Im Zweifel schenkte sie ihnen beiden bedeutungsvolle Augenaufschläge von hinreißender Intensität, wofür sie ihre Mutter mit Blicken bedachte, die auf der Stelle töten könnten. Aber Melanie zeigte sich davon völlig ungerührt. Ansonsten stellte ich fest, dass die Familie drei ausgesprochen artige und gut erzogene Kinder hatte, was heutzutage eine absolute Ausnahme ist. Dieser erste Abend sollte unter anderem auch dazu dienen, die Mitreisenden, die Mannschaft und den Reiseplan kennenzulernen.
Sobald der Anker im Wasser war, stellte uns der Kaptan - so heißt Kapitän auf Türkisch - die Mannschaft vor. Da waren noch Artur, der Koch und Kerim, der Schiffsjunge. Sie waren beide ganz junge Burschen, fast noch Kinder, und von absolut fröhlichem Naturell. Sobald wir sicher lagen, hüpften die beiden in die Küche und zauberten ein köstliches Nachtmahl aus einer Art Pizzaboden mit Sugo drauf, dazu köstlichen, knackig frischen Salat und Bier oder Wein aus kalt angelaufenen Gläsern. Wir langten alle herzhaft zu, nur Melanie stocherte ein wenig lustlos in ihrem Essen, was ihr wieder einen lanzenscharfen Blick ihrer Mutter eintrug.
Nach dem Essen ging es ans allgemeine Beschnuppern. Gem legte die Spielregeln fest: An Bord sollten wir alle per du sein. Später könnten wir das handhaben, wie wir wollten, aber hier sollten wir eine homogene Einheit sein. Mir war’s einerlei.
Melanies Familie waren ein österreichischer Kaufmann namens Raimund, seine Frau, eine geborene Französin namens Minou mit einem entzückenden Akzent, von den Kindern Maman genannt. Die zwei Mädchen besuchten die internationale Schule in Wien und alle sprachen fließend mehrere Sprachen und wechselten in ihrer Unterhaltung unvermittelt vom Deutschen ins Englische und weiter ins Französische, ohne mit der Wimper zu zucken.
Minou stellte sofort fest, dass die Tischkultur unseres Kochs zu wünschen übrig ließ und kümmerte sich fortan um einen ordentlich gedeckten Tisch, saubere Gläser, gutes Essen und pünktliche Essenszeiten. Melanie war etwas älter als vermutet. Sie ging bereits in die siebente Klasse und würde im nächsten Jahr maturieren, ihre Schwester Christine, Kiki genannt, war zehn und ging bereits in die erste Klasse Mittelschule. Die Mädchen hatten auf Verlangen ihrer Eltern von der Schule Dispens für diesen Urlaub bekommen, weil es ihrem Vater aus beruflichen Gründen nicht möglich war, während der Schulferien mit der Familie auf Urlaub zu fahren. Der entzückende Patrick war der Dritte im Bunde. Ein pausbäckiger Sonnenschein mit entzückenden Grübchen, wenn er lachte, und er lachte gern und viel. Jeder mochte den kleinen Racker, der sich selbst Baba nannte. Die ganze Familie hatte Klasse und strahlte die ruhige Überlegenheit aus, die einem das Vorhandensein von genug Geld und Prestige verleiht. Auch die Mädchen hatten bereits ein gut entwickeltes Selbstbewusstsein, um das ich sie beneidete. Ich hatte meines in mühevollen Lehrjahren selbst entwickeln müssen.
Die Reisegefährten, auf die wir einen halben Tag gewartet hatten, waren nicht gekommen. Gem teilte uns mit, dass sie bei unserem nächsten Halt zusteigen würden. Ein türkischer Reiseveranstalter mit Gattin. Ich war ja hier in eine erlauchte Runde geraten!
Als Nächster war Erich dran, sich vorzustellen. Er war Architekt (dürfen das Kinder bei uns schon werden?) und wollte neben Urlaub machen auch die alten Steinhaufen vom architektonischen Standpunkt begutachten. Melanie fragte ihn, unter Missachtung aller mütterlichen Schwertblicke, wie alt er sei und warum er allein reise.
„Ich bin neunundzwanzig und eigentlich hätte meine Freundin mitkommen sollen.“
„Was ist passiert?“ fragte ich. Weniger aus Neugierde, sondern um Melanie einen weiteren Verweis ihrer Mutter zu ersparen. Denn so hätte vermutlich ihre nächste Frage gelautet.
„Ich war wohl nicht der Richtige für sie.“
Erich stockte und sprach dann leise weiter, wie zu sich. „Sie hat mich vor einem Monat verlassen. Einfach so - und tschüss. Gestern hat sie geheiratet. Ich habe nicht einmal richtig bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung gewesen wäre mit uns. Und plötzlich war sie weg. Dabei habe ich ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen.“
Nun, vielleicht wollte sie nicht auf Schritt und Tritt bemuttert werden, dachte ich bei mir. Trotzdem - die Erinnerung schien Bubi zuzusetzen, also wollte ich ihn aufmuntern.
„Sie muss eine blöde Gans sein, sonst hätte sie so etwas nicht laufen lassen!“, tröstete ich Bubi.
Er blickte mich sonderbar an und schenkte mir dann ein absolut aufregendes Lächeln. Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint, stotterte mein Innerstes, und ich fürchte, ich wurde sogar ein wenig rot, was man bei der zunehmenden Dunkelheit hoffentlich nicht sehen konnte.
Dann stellte ich mich vor.
„Ich heiße Claudia, bin kaufmännische Angestellte, lebe allein mit meinen drei Siamkatzen.“
„Siam“, quietschte Kiki „was für entzückende Kätzchen! Hast Du ein Foto dabei?“
Hatte ich natürlich nicht. Wer nimmt schon ein Foto seiner Katzen in den Urlaub mit? Kiki war enttäuscht. „Wie heißen deine Katzen?“
Damit konnte ich schon eher dienen. “Sylvester, Aequinox und Kallisto.“
„Bist du g‘scheit, wie kann man denn das rufen?“, fragte Kiki.
„Gar nicht“, antwortete ich grinsend, „denn ich rufe sie Sipsi, Noxi und Puppi.“
„Warst Du jemals verheiratet?“, fragte Melanie.
„Ach weißt du, ich habe es einmal probiert und dann festgestellt, dass ich für die Ehe nicht tauglich bin“, antwortete ich trocken.
Bubi blickte ein wenig schockiert drein, aber keiner fragte mehr etwas. Nicht einmal nach meinem Alter, Gott sei Dank. Also verschanzte ich mich wieder hinter meinem Bacardi-Cola, das mir Artur mit unglaublichen Mengen Alkohol zubereitet hatte. Langsam spürte ich die Wirkung. Ich machte mich in meiner Ecke klein und meine Gedanken entfernten sich Richtung All. Ich musste die Sterne sehen. Ich stand auf und ging nach vorne aufs Deck. In der lauen Dunkelheit setzte ich mich vor den Mast und lehnte mich zurück. Über mir glänzten Tausende Sterne. Der große Wagen und Cassiopeia begrüßten mich mit aufgeregtem Blinken. Ja, hier konnte ich dem Alltag entfliehen. Gestern war unendlich weit weg und morgen war noch kein Thema. Im Hintergrund hörte ich das Gemurmel der anderen, die sich angeregt unterhielten.
Plötzlich merkte ich, dass die Geräuschkulisse verschwunden war. Ich stand auf und streckte meine steifen Beine. Höchste Zeit sich in die Falle zu hauen. Bubi und Gem lehnten noch an der Heckreling und philosophierten über Gott und die Welt und die Maikäfer. Ich wünschte eine gute Nacht und verschwand in die Tiefe. Ich fühlte förmlich Bubis Blicke in meinem Rücken. Mädel, dreh jetzt nicht durch, schalt ich mich selber. Bleib auf dem Boden der Realität. Was sollte ein Neunundzwanzigjähriger von dir alter Schachtel wollen? Ohne mich umzudrehen, verschwand ich in meine Kabine. Ich verschob die kulturelle Arbeit des Nachlesens und Niederschreibens auf den nächsten Tag und sobald mein Kopf den Polster berührte, fiel ich in traumlosen Schlaf.
Ich erwachte herrlich erfrischt und fühlte mich zehn Jahre jünger. Ein Blick auf die Uhr trieb mich ins Bad. Es war fast neun! Mein Gott, seit Monaten hatte ich nicht richtig geschlafen und nun schlief ich an die zehn Stunden, tief und fest, gewiegt von der schwachen Dünung, eingelullt vom Knarren der Takelage und des Schiffskörpers aus Holz.
Am Frühstückstisch traf ich meine Mitreisenden und alle schienen merkwürdig verändert. Lag es am knallblauen Himmel und am Sonnenschein? Oder an meiner fröhlichen Ruhe? So wie sie da saßen, waren sie alle einfach zum Fressen liebenswert.
„Hey Melly, wirf mir bitte den Zucker rüber!“
Oho, Bubi war also schon bei Melly angelangt. Das Spiel machte rasante Fortschritte. Melly erglühte hold und reichte Erich die Zuckerdose so, dass sich ihre Fingerspitzen für einen Sekundenbruchteil berührten. Mellys zartes Holdrosa vertiefte sich zu einem schlimmen Tiefdunkelrot. Aber außer mir schien das niemand zu bemerken. Nun, mich störte es ja wohl am allerwenigsten, oder?
Ich frühstückte, als hätte ich seit Tagen nichts zu essen bekommen. Mein Appetit war ja auch normalerweise nicht gerade schlecht. Also musste ich aufpassen, dass ich nicht noch ein paar Pfunde an den Stellen zulegte, wo ohnehin schon zu viel saß. Nach dem Frühstück beschloss ich, die Wassertemperatur zu prüfen. Melanie und ihre Mutter plantschten schon in der Nähe des Schiffes im glasklaren Wasser. Ach dieser herrlich schlanke, biegsame Mädchenkörper! Ich hatte auch einmal so ausgesehen, und das war noch gar nicht mal so lang her. Ich hatte viele Jahre lang Untergewicht, echt schöne fünfundvierzig Kilo. Aber irgendwann jenseits der fünfunddreißig legte ich plötzlich im Weihnachtsurlaub fünf Kilo zu. Und die blieben! Und seither bringe ich jedes Jahr annähernd zwei Kilo mehr auf die Waage. Mittlerweile nähere ich mich den sechzig und habe mir fest vorgenommen, diese magische Grenze unter keinen Umständen mehr zu überschreiten.
Ich war höchst froh, dass ich keinen Bikini, sondern den Einteiler mit der sanften Bauchpresse und dem leichten Busenhub gewählt hatte. Damit ging meine Figur gerade noch als halbwegs jugendlich durch. Ich schritt die Bootstreppe so majestätisch wie möglich hinunter, was wohl hieß, ich klammerte mich krampfhaft an das Halteseil, um nicht gleich von oben auf die schwankende Badeplattform zu purzeln. Als meine Beine ins Wasser kamen, schnappte ich erschreckt nach Luft.
„Huchentier ist das kalt!“, entfuhr es mir.
„Ha, unsere geheimnisvolle Schöne liebt es wohl wärmer!“, meldete sich Bubi kaum eine Tempolänge von der Plattform entfernt.
Na freilich, der hatte mir noch gefehlt. Ich ließ mich elegant und viel zu schnell ins eisige Wasser gleiten. Hoffentlich kriege ich keinen Krampf! Aber nach einigen Tempi war es wunderbar. Durchsichtige Fontänen spritzten um mich. Ich hielt auf die nahe Landzunge zu. Bubi kraulte langsam an meiner Backbordseite in die gleiche Richtung. Ich suchte mir einen sonnigen Stein hoch oben aus und kletterte rauf. Zum Glück kann ich das rasch und mühelos. Oben angekommen ließ ich mich elegant hinsinken und hielt nach Bubi Ausschau. Er kämpfte sich durch die leichte Brandung auf den untersten Felsen. Na wenigstens etwas, wo ich besser war. Der Rundblick war himmlisch. Eine Reihe kleiner Inselchen, durchzogen von Meeresarmen, bildeten die Umrahmung des winzigen Eilandes, an dem die Toros festgemacht hatte. Ein paar weiß-grüne Tupfen im tiefen Blau des Meeres. Die Sonne stand schon recht hoch und wärmte meine kalten Arme und Beine. Bubi kämpfte sich noch immer nach oben. Ich ließ mich zurückfallen und genoss die Sonne.
„Darf ich dir Gesellschaft leisten?“
Na also, er hatte es doch noch geschafft. „Was machst du, wenn ich Nein sage?“
„Ich stürze mich in die Tiefe!“
„Ach bitte nicht, ich kann kein Blut sehen!“
„Gut so“, schnurrte Bubi und ließ sich neben mich auf den Stein gleiten. Weiter unten paddelten Maman und Melanie durch die gläserne Bläue. Bubis Blick ruhte wohlgefällig auf ihr. Also deshalb hat er sich so raufgequält! Und ich hatte ganz andere Schlüsse gezogen. Als hätte er meine Gedanken gelesen, drehte mir Bubi sein Gesicht zu. Er ließ seinen Blick (wohlgefällig?) über mich gleiten.
„Beim Klettern hast du mich ganz schön alt aussehen lassen.“
„Ich war im früheren Leben eine Bergziege.“ Und heute bin ich ein Schaf.
Bubi lachte. „Du bist wirklich eine ulkige Person. Bist du je um eine Antwort verlegen?“
„Selten, aber ich lasse es dich wissen, wenn es soweit ist.“
Bubi lächelte weiter und statt zu antworten, ließ er sich der Länge nach neben mich plumpsen. Ganz zufällig lag dabei sein Arm auf meinem. Ich überlegte kurz, ob ich wegrücken sollte, dann erschien es mir aber doch zu spießig. Wenn er Körperkontakt brauchte, sollte er ihn haben. Mir war’s egal.
Augenblicke später erwachte ich, weil etwas über mein Gesicht krabbelte. Das Etwas entpuppte sich als Grashalm in Erichs Hand.
„Aufwachen, schöne blonde Maid. Eigentlich wollte ich dich dornröschenmäßig wach küssen. Aber ich war mir nicht sicher, ob du mich dann nicht vom Felsen wirfst.“ Bubi schmunzelte.
„Probier’s lieber nicht aus“, knurrte ich mit der Böse-Mädi-Stimme.
„Komm hoch, unser Kaptan hat schon den Motor angeworfen. Und wenn wir mitwollen, sollten wir zurückschwimmen.“
Tatsächlich. Unser vergammelter Kahn tuckerte im Leerlauf.
„Na dann los! Ich gebe dir zehn Meter Vorsprung“, munterte ich Bubi auf.
„Nicht nötig“, wehrte er großzügig ab. „Was du schneller kletterst, hole ich beim Schwimmen mit links auf.“
Kann ich mir vorstellen. Ich schwimme wie eine Bleiente und habe so meine Bedenken zu der Theorie, dass Fett leichter sei als Wasser. Tatsächlich war Bubi kurz vor mir an der Plattform und Melanie musste mit feuchten Äuglein zusehen, wie er mir die Hand reichte, um mich aus dem Wasser zu ziehen. Gleich drauf klappte unser Kapitän die Badeleiter ein und wir fuhren ab.
„Komm mit.“ Bubi zog mich an der Hand weiter aufs Vordeck. Na was macht er denn jetzt? Er würde doch wohl irgendwann meine Hand wieder loslassen, oder?
„Hier gibt es eine Süßwasserdusche!“
Er hielt mir einfach den Schlauch über den Kopf.
„He, sachte, ersäufe mich nicht gleich in deiner Begeisterung.“
Bubi ließ den Schlauch nun über seinem Haupt kreisen.
„Und jetzt in die Sonne mit dir. Du bist ganz blau.“
„Ja Papi! Aber zuerst werde ich mich umziehen“, und damit verschwand ich nach unten. Melly warf mir einen giftigen Blick zu. Sie hatte dafür auch eine ausgezeichnete Lehrmeisterin in Maman.
In meiner Kajüte angekommen, stellte ich mich erst mal genussvoll unter die heiße Dusche. Dann frottierte ich mich ab und warf mich nackt, wie Gott mich schuf, aufs Bett, um endlich nachzulesen, dass das gestrige Hafenstädtchen Kordon Carddesi war und wir uns in einem der schönsten Ankergebiete des Mittelmeeres befanden. Ich spürte, dass der Seegang stärker wurde. Wir kamen also aus der Bucht raus aufs offene Meer. Ich musste nach oben.
Oben empfingen mich eine steife Brise und ein erstaunlich heftiger Seegang. Maman und Melanie klammerten sich an den Esstisch und beobachteten ein Backgammon-Match zwischen Gem und Kiki. Kiki quietschte vor Aufregung, weil sie im Gewinnen war, und hatte wohl keine Probleme mit dem Seegang. Maman hatte eine etwas blässliche Nase und auch Melanie ließ ihren üblichen Scharm vermissen.
Ich kämpfte mich schwankend zum Vordeck. Plötzlich kam ein Arm aus dem Nichts über mir.
„Gib mir die Hand. Es wackelt ganz schön.“
„Danke für den Hinweis, wär mir glatt entgangen.“
Trotzdem ergriff ich Milchgesichts Arm und ließ mich nach oben ziehen. Kraft hat er auch noch der Kerl. Schade, dass du zu jung für mich bist, Kleiner! Du wärst schon eine Sünde wert. Irgendwo in meinem Inneren meldete sich eine leise Stimme, dass für Sünden das Alter absolut nicht ausschlaggebend sei. Bevor ich noch dazu kam, meine inneren Stimmen zur Ordnung zu rufen, ging ein lautes Tuten und Gerenne los.
Ein Küstenwachboot stoppte uns, als wir eben das offene Meer erreichten. Kontrolle der Papiere. Jeder Kapitän muss das einmal pro Saison über sich ergehen lassen. Da es ohne Fahrt ganz schön schaukelte, war es gar nicht so einfach, längsseits des Zollbootes zu gehen und dann noch rüberzuklettern. Unser dicker kleiner Kapitän schaffte das mit bemerkenswertem Geschick.
Während auf dem Küstenwachschiff das türkische Amtskappel waltete, plötzlich die Rufe: „big fish, big fish!“ Und wir sahen mächtige Flossen ganz in der Nähe. Sowohl die Größenschätzungen wie auch die Meinung, welcher Fisch das hätte sein können, gingen weit auseinander. Vom Riesenhai bis zum Mini-Wal war alles vorhanden.
Nach der Kontrolle erzählte uns unser Kapitän, der nur Englisch spricht - neben Türkisch selbstverständlich - dass die Mannschaft auf dem Küstenwachboot seine ehemaligen Kollegen aus der Marine waren, die ihm aufgelauert haben, weil sie aus dem Funkverkehr wussten, dass er heute ausläuft. Und da wollten sie ihn überraschen ...
Nach all den Aufregungen fuhren wir nun bei ordentlichem Seegang und flottem Wind Richtung Kaunos. Die Toros war ein Holzschiff, eigentlich ein Zweimastsegler, gut dreißig Meter lang und an der breitesten Stelle etwa acht Meter breit. Sie hat eine Deckskajüte, deren vorderer Teil der Platz des Kapitäns und Steuermannes mit all seinen Instrumenten ist. Dahinter kann man im Freien sitzen, ohne nass zu werden, wenn das Wetter nicht so toll ist wie heute, oder wenn es hohen Wellengang gibt, sodass Wasser von der Bugwelle zerstäubt. Dahinter im Heck ist eine gemütliche Sitzecke mit einem riesengroßen Tisch, an dem alle Passagiere und die Mannschaft zum Essen Platz finden. Bei voller Belegung der acht Doppelkabinen sind das mit den drei Besatzungsmitgliedern und dem Reiseführer doch zwanzig Personen. Die Bänke im Heck sind alles Backkisten, in denen jede Menge Vorräte gestaut sind, auch Getränke und – zur Kühlung – Eisblöcke.
An der Heckreling hochgeklappt ist die Pasarella, das ist eine schmale Holzbrücke - bei vornehmen Schiffen auch mit Handlauf - die vom Schiff ans Land gelegt wird, wenn dieses mit dem Heck zum Land ankert, damit die Passagiere bequem aus- und einsteigen können. Bei kleinen Schiffen muss man da schon springen. Auf der linken Seite ist eine kleine Treppe, die auf die Badeplattform führt. Und von dieser kann man über eine ausklappbare Leiter langsam ins Meer steigen – sportlichere Typen springen vom Deck oder von der Badeplattform.
Vor der Deckskajüte war eine große, fast ebene Fläche. Dort sind Matratzen zum Sonnenbaden aufgelegt. Ist das Wetter schön, kann man hier auch unter Sternen schlafen. Ein überwältigendes Erlebnis, wenn man da den Sonnenaufgang erlebt!
Das Schiff besaß zwei Masten, einen höheren vorne, der auch richtig dick war, und einen zarteren für das zweite Segel. Die beiden Bäume, das waren die waagrechten Holzstangen, an denen die Segel geführt wurden, waren in der Mitte des Decks festgezurrt, damit sie keinen Passagier verletzen konnten, wenn das Boot schwankte. Ich hätte das Schiff gerne mal unter Segel gesehen. Bei seiner Größe und der Höhe der Masten musste das eine beeindruckende Segelfläche ergeben. Wir würden den Kapitän bitten, einmal unter Segeln zu fahren. Das hätte auch den Vorteil, dass dann kurzzeitig der wummernde Dieselmotor schwieg. Man hörte nur das Schiff in den Wellen dahinrauschen, hin und wieder knarrte die Takelage oder irgendwo knackte ein Holzteil und es knatterten die Segel munter im Wind. Wenn man mit genug achterlichem Wind und Schmetterlingssegel unterwegs war, begann das Schiff zu surfen. Das hieß, es tauchte nicht mehr bei jeder Welle ganz ein, sondern es hob sich vorne wie ein Motorboot aus der Welle raus und flitzte mit Macht darüber hin. Noch dazu herrschte bei Wind von hinten auf dem Boot praktisch Windstille, da das Schiff ja fast so schnell wie die Windgeschwindigkeit war. Wer das noch nie erlebt hatte, konnte sich gar nicht vorstellen, wie schön das war. Leider stellte sich später heraus, dass das Boot gar keine Segel mitführte.
Nach etwa zwei Stunden Fahrt warf unser Kaptan Anker. Von hier wurden wir von einem kleinen Boot geholt und machten einen Ausflug ins Dalyan Delta. Es war kurz vor Mittag und die Sonne knallte auf unsere Köpfe. Außerdem war der Wellengang ganz schön hart in diesem kleinen Boot. Zum Glück mag ich das. Gem und Bubi hatten wohl auch keine Probleme. Aber die Familie Kaufmann wirkte schon nach kurzer Zeit ziemlich mitgenommen. Nach etwa einer halben Stunde Fahrt wurde es ruhiger. Wir fuhren jetzt vorbei an der Insel Delikada. Sie ist eigentlich nur ein lang gezogener Sandhaufen im Meer. Viel Vegetation gibt es nicht. Hier ist einer der letzten Brutplätze der Karrettschildkröten. Wenn man den Trubel am Strand sieht, kann man sich das schwer vorstellen. Aber Gem erzählte uns, dass nachts der Strand gesperrt ist, und Mitarbeiter von Greenpeace darauf achten, dass wirklich niemand die Insel betritt und die Schildkröten in Ruhe ihre Eier im Sand absetzen können.
Danach tuckerten wir durch den Schilfgürtel des Dalyan. Hier roch es ganz typisch nach Brackwasser. Das kann man sich so vorstellen: eine Handvoll Schlamm aus dem Neusiedler See und dazu ein bisserl Salzwasserbrise. Der Schilfgürtel ist endlos breit und man fährt ewig lange an grünen Wänden entlang. Ohne ortskundigen Führer ist man hier sicher verloren. Dies ist eines der fischreichsten Gewässer der Gegend. Seebarben und Meeräschen, die sowohl im Süß- als auch im Seewasser leben können, laichen im flussaufwärts gelegenen Köycegiz See und werden auf dem Rückweg zum Meer gefangen. Hier merkte man nichts mehr vom Seegang und die Kaufmanns erholten sich zusehends.
Die feuchte Hitze war unangenehm und Insekten umsurrten uns. Gem verteilte irgendeine Tinktur gegen Mückenstiche. Ich verzichtete dankend und nahm lieber das sauteure und allergiegetestete Superspezialmittel für Allergiker, das ich mir aus Österreich mitgebracht hatte. Mit dem Erfolg, dass mich am Abend ein netter Ausschlag zierte, während alle Anderen, die sich mit Gems Rabiatlösung eingerieben hatten, von keinerlei Beschwerden gequält wurden. Wahrscheinlich stand bei mir irgendwo im Kleingedruckten, dass man damit nicht in die Sonne gehen durfte.
Wir legten bei einem Flussrestaurant an und kamen endlich in den Schatten. Das Restaurant entpuppte sich als ziemlich großes Gebäude, mit einem riesigen Garten mit Tischen und Bänken, wie man es ähnlich bei uns bei Großheurigen findet. Dazwischen spendeten ausladende alte Bäume Schatten und ein Teil der Tische stand unter einem lichtdurchlässigen Plastikdach. Es gab eiskalte Getränke! Und die herrlichsten Fischgerichte. Vergessen waren alle Vorsätze bezüglich weniger essen. Ich machte mal wieder die Morgendiät. Morgen fange ich an. Aber es war einfach köstlich. Sogar Melanie mampfte mit vollen Backen. Kiki und Baba erheitern uns mit ihrem kindischen Gebrabbel und Gem, der Abtrünnige, speiste überhaupt an einem anderen Tisch mit einem sehr eleganten Paar. Wie wir später feststellen konnten, waren das unsere Reisegefährten, auf die wir gestern vergebens gewartet hatten.
Nach dem Essen holte uns unser Boot und wir fuhren zur antiken karischen Stadt Kaunos, von der heute nur noch Ruinen zu sehen sind. Ihr Niedergang begann mit der Verschlammung des Hafens und einer Malaria-Epidemie. Zu sehen gibt es hier die Reste eines Amphitheater, einen Akropolishügel und am gegenüberliegenden Ufer lykische Felsengräber. Außerdem hatten wir einen atemberaubenden Ausblick über das ganze schilfbewachsene Delta des Dalyan. Unser Schiff konnten wir allerdings nirgends sehen. Es lag wohl um die Ecke.
Jetzt war Erich in seinem Element. Er erklärte uns die Steinformationen im Amphitheater. Die Stufen sind oben nach innen gekrümmt, um die Akustik zu verbessern. Durch diese einzigartige Bauweise werden Geräusche unter fünfhundert Hertz weitgehend unterdrückt. Dadurch hört man nicht die Nachbarn tratschen, sondern rein und klar, was sich auf der Bühne ereignet. Außerdem hat jede Stufenreihe hinten eine Rinne, durch die das Regenwasser abgeleitet wird. Leider sind diese technischen Erkenntnisse der Antike heute schon lange in Vergessenheit geraten. Die modernen Amphitheater, wie Seebühnen oder für Sommerspiele umgebaute Steinbrüche haben glatte Betonstufen oder Plastiksessel. Und was an Bauakustik fehlt, wird durch moderne Beschallungstechnik ersetzt.
„Und seht ihr dort den herrlichen Bogen?“ Eine detaillierte Beschreibung folgte. Ich stellte fest, dass sogar die getreue Melanie Abstand hielt. Von so viel Kultur auf einmal war sie nicht so begeistert. Letztendlich kletterte ich mit Bubi allein durch die Trümmer vergangener Jahrhunderte. Er merkte gar nicht, dass die anderen schon alle weg waren.
„Erich, ich glaube, wir sollten uns auf den Rückweg machen, sonst können wir nicht mehr zu den lykischen ...“
„Ach du meine Güte, ich langweile dich hier mit meinen alten Steinbrocken! Kannst du mir das jemals verzeihen?“
„War nicht so schlimm. Ich hätte ja jederzeit flüchten können, Du hast vergessen mich vorher zu fesseln.“
„Werde ich mir für später merken“, lächelte Bubi süffisant und dann trotteten wir Richtung Anlegeplatz.
Die anderen saßen im Boot und nuckelten kaltes Cola. Uns betrachteten sie mit dem verstohlenen Interesse, das man angehenden Liebenden entgegenbringt. Betont lässig warf ich mich ans andere Ende des Kahns. Baba hielt sein Mittagsschläfchen mit offenem Mündchen und sabberte. Er war einfach zum Anbeißen.
Weiter ging es nun noch zu den Felsengräbern. Hier mache ich mich selbstständig und klettere so hoch wie möglich. Aus einer gewissen Distanz sind alle Menschen winzig und sympathisch.
Auf der Rückfahrt hatten wir Gelegenheit, im Schlamm badend zehn Jahre jünger zu werden. Ich verzichtete dankend darauf in die Schlammpfützen zu steigen, obwohl ich es wohl am ehesten gebraucht hätte. Aber Familie Kaufmann wühlte sich in den Dreck. Baba und Kiki sahen aus wie Trüffelschweine. Als alle wieder gesäubert waren, ging es zurück durch das Schilflabyrinth zu unserer Toros. Der Seegang war ruhiger und die Heimfahrt verlief sehr friedlich. Alle Krieger waren müde. Irgendwie war es Bubi gelungen, doch wieder den Platz neben mir zu ergattern. Sein Kopf sackte immer tiefer und landete schließlich auf meiner Schulter, wo er selig schlummerte. Ich hatte nicht das Herz, ihn zu wecken. Also beließ ich es dabei und kam mir sehr mütterlich vor.
Zurück an Bord merkten wir, dass Gems Essenspartner bereits angekommen waren. Es waren Erdül und Mirelle, die türkischen Reiseveranstalter. Erdül hatte selbst einige Schiffe in dieser Gegend. Er wollte das Angenehme mit dem Nützlichen vereinen und ein wenig Ferien mit seiner reizenden französischen Frau machen und gleichzeitig seine Schiffe ein wenig kontrollieren. Minou war ganz außer sich vor Entzücken. Die beiden Damen waren in Sekundenbruchteilen in fröhliches französisches Geschnatter vertieft, an dem sich die beiden Mädchen lebhaft beteiligten. Der Rest war einfach abgemeldet.
Ich alberte ein wenig mit Gem und den Küchenjungen rum, dann beschloss ich, mich zurückzuziehen. Mit einer Mineralwasserflasche unter dem Arm versuchte ich mich in meine Kabine zu verdrücken, als mir genau im engen Gang vor den Kabinen Bubi begegnete.
„Na wohin, schöne Frau?“
„Ins Heiabettchen.“
„Aber doch nicht alleine?“ Na, warte du Kerl!
„Nein, ich nehme ein gutes Buch mit.“
„Du solltest kein gutes Buch, sondern einen kräftigen Kerl mitnehmen“, und dabei reckte er sich zu voller Größe.
„Ach weißt du, in meinem Alter braucht man seinen Schönheitsschlaf!“
„In welchem Alter?“
Die Frage hatte ich verdient, ich hatte sie ja sogar provoziert. Bubis Arm versperrte mir den Weg in Augenhöhe. Wenn er schon so neugierig war, sollte er jetzt den Schock fürs Leben haben.
„Ich bin vierzig.“
Bubis Arm sank herab.
„Was willst du sein?“
„Es ist nicht so, dass ich es unbedingt will, aber es ist trotzdem so, ich bin vierzig.“
Bubi sah angeschlagen aus.
„Du nimmst mich auf den Arm!“
„Willst du meinen Pass sehen?“
Mittlerweile fand ich dieses Thema gar nicht mehr amüsant. Bubi auch nicht.
„Nein, nicht wirklich.“
Aber er zeigte Haltung.
„Welches gute Buch darf denn das Bett mit dir teilen?“
„Nun, ich dachte, da es hier ziemlich heiß ist, lese ich einen Bericht über eine Nordpolexpedition. Das kühlt unheimlich wirksam ab.“
„Vielleicht solltest du mir das Buch mal borgen.“
Bubi grinste schon wieder. Er hatte immerhin Steherqualitäten. Ich schickte ihm ein Kusshändchen und zog mich endgültig in die Geborgenheit meiner Kajüte zurück.
Einerseits bedauerte ich, dass ich unser Geplänkel mit dem Geständnis meines Alters so abrupt beendet hatte. Denn nun würde er sicherlich nicht mehr mit mir flirten. Und ich musste zugeben, dass er nicht nur amüsant war, sondern dass es mir auch geschmeichelt hatte, als ernsthafte Konkurrenz für Melanie eingestuft zu werden. Andererseits waren die Fronten jetzt abgesteckt und ich musste nicht auf jugendlich-naiv tun, sondern konnte sein, wer und wie ich war. Und das war wichtig, wenn ich mich wirklich erholen wollte.
Es war klar, dass jetzt Bubis Interesse andere Wege gehen würde. Das war gut so. Ich konnte ihn in meinem Leben ohnehin nicht brauchen. Und wenn es die große Liebe wäre? Die, die einem nur einmal im Leben begegnet? Nein, danke. Mein Leben war auch so schon kompliziert und aufreibend genug. Und wenn er zehn Jahre älter wäre? Was war los mit mir? Die Hätt-i-war-i Phase dachte ich schon seit mindestens zehn Jahren überwunden zu haben!
Ich beschloss, Erich als lieben Reisegefährten sächlichen Geschlechts zu sehen. Das würde unseren weiteren Kontakt vereinfachen. Trotzdem, meldete sich meine freche innere Zwillingsschwester, eine Sünde wäre er wert gewesen. Kusch, wer hat dich gefragt!
Mit dem Lesen würde es wohl heute nichts mehr werden, also löschte ich das Licht und ließ mich von der leichten Dünung in den Schlaf wiegen.
Erich warf sich in seiner Kabine aufs Bett.
Eigentlich wollte er die Reise stornieren, als ihn seine Freundin Knall und Fall verließ. Sein Bruder Mark, der meist ohnehin nur an das Eine dachte, wollte ihn unbedingt in einen Singleklub verfrachten. Damit er sich leichter tröstete. Aber ihm war nicht nach dieser Art Trost. Was ihm am meisten zu schaffen machte, war die Art und Weise, wie er hintergangen worden war. Dass Isi einen Anderen heiratete – was soll’s. War wahrscheinlich besser so. Sie war viel zu sehr auf materielle Dinge fixiert. Aber die Gewissheit, dass sie den Kerl schon eine ganze Weile näher gekannt haben musste, als sie noch zusammen waren, ohne dass er etwas davon gemerkt hatte, war niederschmetternd.
Mittlerweile fand er es auf diesem Schiffchen ganz lustig. Die Mitreisenden waren eine durchaus angenehme Gesellschaft. Melly ein entzückendes Wesen, gerade irgendwo zwischen Kind und Frau. Raffiniert und unschuldig zugleich. Eine verlockende Mischung. Und Claudia? Sie war etwas ganz Besonderes. Ihr Alter hatte ihn zwar bestürzt. Aber weder sah man es ihr an, noch gab sie sich wie eine Frau von vierzig Jahren. Und damit war es eigentlich ziemlich egal, wie alt sie laut Taufschein war. Sie hatte etwas an sich, das er nicht beschreiben konnte. Sie zog ihn unwiderstehlich an. Die blitzenden blauen Augen unter dem halblangen blonden Haar, das meist ungebändigt im Wind flatterte. Ihr zynischer, trockener Humor konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ein warmherziges Wesen war. Vermutlich hat ihr jemand einmal ziemlich weh getan, dass sie sich die Menschen durch Wortgewalt vom Leibe hielt.
Er erwartete nichts und sah sich von Verlockung umgeben. Wenn Mark das wüsste!
Am nächsten Morgen präsentierte sich die Welt unverändert. Herrlicher Sonnenschein, glasklares Wasser, in dem man jede Menge kleine Fischchen um die Toros kreisen sah. Ich warf ein paar Bröselchen des Frühstücksbrötchens außerbords, worauf das Wasser plötzlich zu kochen schien, so balgten sich die kleinen Fische um das Brot. An Bord herrschte eine sehr gute und friedliche Stimmung. Jeder begann sich ans Nichtstun zu gewöhnen. Heute war Reisetag und daher suchte sich jeder ein Sonnenplätzchen an Deck. Dort konnte man in der Sonne schmoren und wurde vom Fahrtwind gut gekühlt. Ich suchte mir einen Platz möglichst weit weg von Bubi. Das hatte zwar den Nachteil, dass nun der Kapitän ungehinderten Einblick in meinen Ausschnitt hatte. Aber das war noch das geringere Übel.
Die nächsten sechs Stunden liefen wir an dicht bewaldeten, ziemlich zerklüfteten und völlig menschenleeren Klippen vorbei. Unsere Toros machte etwa neun Knoten. Diese Weisheit verdankten wir der Schätzung des Kaptans, denn bei einem Blick in seinen Kommandostand stellte ich mit etwas Ziehen in der Magengrube fest, dass von den zehn dort angebrachten Anzeigen nur eine einzige funktionierte, nämlich der Kompass. Alle anderen Instrumente waren einfach tot. Außerdem fuhr unser Kapitän weit angelegte Schlangenlinien, was ihm von Kiki den Spitznamen Kapitän Zickzack eintrug, wodurch wir vermutlich doppelt so viele Seemeilen als nötig zurücklegten. Erst vermutete ich, er sei sturzbetrunken. Aber um zehn Uhr morgens? Dann dachte ich, er kann vielleicht nicht steuern. Aber später hat er noch bei ganz komplizierten Anlegemanövern bewiesen, dass er ein ganz passabler Seemann war. Doch all die Probleme, mit denen das Schiff behaftet war, machten ihm die Erfüllung seines Jobs nicht leicht. Glücklicherweise funktionierte das Funkgerät wenigstens. Wenn wir in Seenot gerieten, würde man uns vielleicht retten kommen.
In der Nähe des Leuchtfeuers Kurtoglu tuckerten wir in eine natürliche Bucht mit vorgelagerten Inseln. Wie fast überall, wo wir während dieser Reise hinkamen, war der Strand gesäumt von Felsen und dahinter Buschwerk oder Wald. Unser Kapitän suchte einen schönen Ankerplatz, gut geeignet zum Schnorcheln. Ich war überwältigt, denn ich hatte meine Schnorchelausrüstung dabei.
Leider musste das Vergnügen noch warten. Obwohl wir weit und breit das einzige Schiff waren, brauchten wir fast eine Stunde, bis wir richtig ankerten. Wie mit vielen Dingen an Bord gab es große Probleme beim Ankern. Da die Ankerkette nicht gehoben werden konnte, weil die Ankerwinsch gebrochen war, und so die Kettenglieder immer wieder aus der Führung sprangen, hatten der Schiffsjunge und der Koch am Abend zuvor die Kette durch ein Seil ersetzt. Leider ist bei großen Schiffen eine Kette wesentlich besser zum Ankern. Durch ihr Gewicht zieht sie den Anker nach unten und bei Belastung rutscht er in die Position, dass sich seine Schaufeln gut eingraben. Ein Seil schwimmt auf dem Wasser und zieht den Anker nicht nach unten, sondern eher nach oben. Dadurch kann es vorkommen, dass sich der Anker verkehrt rum hinlegt und das Schiff beim kleinsten Windhauch abgetrieben wird. Daher muss man sorgfältig darauf achten, dass der Anker richtig liegt und hält. Artur musste mit Taucherbrille runter und nachsehen, ob der Anker halten würde.
Endlich lagen wir sicher. Ich stülpte mir meine Tauchermaske über den Kopf, der Schnorchel baumelte neckisch neben meinem rechten Ohr, nahm meine Flossen und kletterte runter zur Plattform. Unter den neiderfüllten Blicken meiner Mitreisenden schlüpfte ich in die Flossen und schwupp - rauschte ich ab wie ein Torpedo.
Für mich war es das reine Wunder. Ohne Schnorchelausrüstung schwamm ich wirklich schlecht. Aber kaum sah ich, was unter mir war und konnte dazu noch mit den Flossen kräftig anschieben, verwandelte ich mich in eine wendige Nixe. So machte mir das Schwimmen wirklich Spaß. Ich bedauerte, dass ich erst im Alter von etwa dreißig Jahren entdeckt hatte, wie schön es im Wasser sein konnte.
Während die Anderen rund ums Schiff und den winzigen Strand dahinter paddelten, zog ich aus, die Bucht zu erkunden. Wie ein Torpedo schoss ich voran und merkte bald, dass ich mir doch neue Flossen hätte kaufen sollen. Sie waren mir ganz einfach zu klein geworden. Ich würde eine Blase bekommen!
Aber für den Moment war das alles egal. Ich schwebte über bunten Fischen, Korallen und Seegurken, und freute mich, dass es wenigstens hier noch all das gab, was früher im ganzen Mittelmeer selbstverständlich war. Weniger schön waren die über Bord geworfenen Flaschen und sonstiger Unrat wie ein Fender und ein Autoreifen. Wie um alles in der Welt kam der hierher? Es gab weit und breit keine Straßen. Das verstehe, wer wolle. Segler und Schiffstouristen überhaupt fuhren in entlegene Buchten, weil dort die Landschaft unberührt und das Wasser noch sauber war. Und trotzdem gab es immer wieder Schweine, die dann ihren Müll gedankenlos einfach über Bord kippten. Jedem Skipper musste doch bewusst
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 24.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5854-1
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