»Hallo? Ist da jemand?«
Warum rief man eigentlich, wenn man doch auf diese Frage sicherlich keine Antwort haben wollte, wenn man als Single definitiv wusste, alleine in der Wohnung zu sein? All diese dämlichen Dinge schossen Maxi durch den Kopf, als sie durch die dunkle Wohnung tapste und dem Geräusch aus ihrem Wohnzimmer nachging.
»Hallo?«, wiederholte sie und umklammerte den Besenstiel in ihrer Hand fester. Hallo…Hallo was?! Ach Hallo, ich bin‘s, dein Einbrecher von nebenan, schönen, lauen Sommerabend haben wir, da lässt man schon mal das Fenster gekippt, nicht wahr? Was zum Teufel erwartete sie denn auf ihr zaghaft, gehauchtes Hallo. Sie biss sich auf die Unterlippe, als sie schon wieder in die Dunkelheit die unsinnigste Frage aller Zeiten stellen wollte, und unterdrückte sie.
Kracks. Schon wieder, da war es, ganz deutlich, das schleifene, knackende Geräusch, welches sie aus dem Schlaf hochgeschreckt hatte. Ihre verschwitzten Hände rutschten an dem Stiel hoch und runter, ein fester Griff war kaum möglich, zudem hatte sie weder einen Besen-Selbstverteidigungskurs besucht noch im Handbuch „Erfolgreich zuschlagen mit dem Besen“ gelesen. Ein Fehler.
Ganz langsam näherte sie sich der Tür, die einen spaltbreit offenstand. Mit jedem Schritt, dem sie dem Geräusch näherkam, absolvierte ihr Herz einen Marathon. Inzwischen war sie mindestens 20 Kilometer gerannt, jedenfalls ihrer Herzfrequenz nach. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz so laut in ihrem Brustkorb wummerte, dass es ein potentieller Einbrecher eher als ihr Rufen hören musste.
Sehr leise, jedenfalls so leise, wie es die alten Holzdielen möglich machten – und sie machten es Maxi verdammt unmöglich – tapste sie näher.
Luft holen, nicht atmen vergessen, ermahnte sie sich. Wieso lag ihr verfluchtes Handy genau auf der Couch im Wohnzimmer? Was machte es denn da? Äußerst bequem und sinnlos herumliegen. Und wieso hatte sie eine Schlauchwohnung, sodass sie nicht in den Hausflur gelangen konnte, ohne das besagte Wohnzimmer durchqueren zu müssen? Nach dieser Nacht musste sie unbedingt ihre Ansprüche an ihren Wohnraum modifizieren. Sackgassenwohnungen waren ab jetzt tabu.
»Komm rein.«
Ihr Herz blieb stehen. Eine Stimme – und das war nicht ihre gewesen. Natürlich blieb die Hoffnung auf eine Störung auf eine multiple Persönlichkeit und es doch ihre eigene war – und nichts wäre ihr im Moment lieber gewesen, als an einer psychotischen Erkrankung zu leiden, aber da schwang schon die Tür auf. Keine Chance sich weiter einzubilden, sie sei allein und ihre Sinne einfach überreizt.
Ein großer Mann mit Maske stand vor ihr. Seine braunen Augen musterten sie interessiert, aber auf eine Art und Weise die Maxi nicht gefiel.
»Komm«, sagte er rau und machte eine einladende Geste. Er zeigte auf das Sofa.
Sie hielt wie versteinert den Besen in ihrer Hand umklammert.
»Kehrwoche?«
»Wa…s?«, flüsterte sie.
Er griff nach dem Stiel. »Hast du Kehrwoche, oder warum rennst du mit dem Ding rum?«
»Nein…« Ihr blieb vor Aufregung nur wenig Sauerstoff zum Sprechen. Ihre Artikulation befand sich auf dem Niveau einer Grundschülerin, wahrscheinlich sogar noch deutlich darunter. Kleinkind. Ja, Kleinkind war zutreffend. »Das ist eine Waffe.«
Sein Schmunzeln verriet ihr, was er von ihrer besagten Waffe hielt. Ihn mit einer Eiswaffel zu bedrohen, wäre wahrscheinlich genauso effektiv und furchteinflößend gewesen.
»Oh«, meinte er und Maxi sah ihm deutlich an, wie er sich ein lautes Lachen verkneifen musste. »Sind das die besagten Waffen einer Frau?«
Okay, der Einbrecher war ein Macho. Scheißkerl.
»Nein, ich haue dich damit.« Hatte sie gerade wirklich hauen gesagt? Wie peinlich. Sie musste dringend ihr rhetorisches Talent wiederfinden.
»Bei einer solchen…äh…Waffe«, seine dunklen Augen blitzten amüsiert, »solltest du unbedingt das Überraschungsmoment berücksichtigen und dein Erscheinen nicht mit lautem Schreien ankündigen.«
Sie hatte es geahnt, es war keine gute Idee gewesen, Hallo zu rufen. Naja, am Ende war man immer klüger. Sie trat einen Schritt zurück, richtete das Ende des Besens auf seine Brust.
»Was wollen Sie?«
»Wonach sieht es denn aus?«
»Geld?«
Wieder ein scharfkantiges Lächeln. »Ich meine, was will ich jetzt? Was habe ich dir vorher befohlen?!«
Befohlen? Sie spürte Hitze in ihren Adern aufwallen. Was bildete er sich eigentlich ein? »Mir befiehlt man nichts«, krächzte sie in einer Tonlage, die sie als miserable Schauspielerin entlarvte, sie hatte furchtbare Angst und ihr Versuch, es mit Gehässigkeit zu überspielen war damit gescheitert. Sie war eine geeignete Kandidatin für die goldene Himbeere.
»Nennen wir es nicht befehlen, sondern empfehlen. Es ist ein unverbindlicher Gesundheitshinweis.« Er machte wieder die Geste zum Sofa hin, worauf sie sich seiner Meinung nach setzen sollte. »Weißt du, wir wollen doch beide Komplikationen und Nebenwirkungen vermeiden, oder?«
Sie nickte.
»Dann auf die Couch mit dir, mein Hausmädchen.« Er spielte auf ihre lächerliche Besenwaffe an, was sie irgendwie kränkte. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass man ihr in der Schule nie beigebracht hatte, wie sie sich im Fall eines Einbruchs verhalten sollte. Er nahm ihr den Besen ohne großes Theater ab, sie war auch nicht auf einen Kampf mit ihm erpicht, daher hatte sie ihn auch rasch losgelassen.
Langsam schlich sie an ihm vorbei, immer in größter Sorge er würde plötzlich eine Pistole oder ein Messer ziehen und sie von hinten ermorden. Aber bis jetzt konnte sie keine sichtbare Waffe in seinen Händen erkennen. Mit Herzrasen und leichter Übelkeit nahm sie auf dem Sofa Platz. Leider hatte er ihr Handy anscheinend weggeräumt, denn es lag nicht mehr auf dem Polster, lediglich das Ladekabel war noch da. Das hatte sie nun davon, dass sie auf ihre Mutter gehört hatte und das Telefon mit seinen schädlichen Strahlen nicht ins Schlafzimmer genommen hatte. Kind, das endet irgendwann tödlich, wenn du das Teil immer neben deinem Kopf liegen hast. Tja, jetzt endete der Lagerort ihres Telefons vielleicht auch tödlich. Danke Mama.
»Name?«
Der Einbrecher schien es nicht für nötig zu halten, die Konversation mit unnötigen Füllwörtern zu verlängern.
»Maxi.«
»Ist das nicht ein Jungenname?«
»Ist das nicht egal?«, knurrte sie.
Seine Kinnpartie spannte sich an, sie sah die Bewegung deutlich unter der Sturmmaske. »Ist es dir denn egal, was mit dir passiert?«
Fangfragen konnte er gut stellen. »Nein.«
»Gut, dann kooperiere.«
Für einen Einbrecher, der nur an Wertsachen interessiert war und wahrscheinlich aus der Unterschicht kam, verwendete er erstaunlich komplexe Wörter. Ob er auch an ihrer exklusiven Literatursammlung interessiert war? Sie war so in ihren abstrusen Überlegungen versunken, dass erst sein ungeduldiges Räuspern sie zurück in die beängstigende Gegenwart katapultierte.
»Ja.«
»Ja, was?!«
»Ja, ich kooperiere.« Was für ein seltsamer Satz. Als würde sie einem Ermittler gegenüberstehen und keinem banalen Verbrecher.
»Also wie lautet dein voller Name?«
»Maxine.«
Er stemmte seine Hände in die Hüfte. »Wenn du nicht Maxine Maxine heißt, würde ich an deiner Stelle ganz schnell noch deinen Nachnamen erwähnen. Ansonsten könnte ein eigentlich gut gelaunter Einbrecher ziemlich schlechte Laune bekommen.«
Was sollte das werden? Wollte er ein Formular mit ihrem Namen ausfüllen? Konnte er nicht einfach den Fernseher und ihren Pc mitnehmen. Im Besitz ihres Handys war er ja schon. Und mehr gab es hier eh nicht zu klauen.
»Maxine Bogen.«
Sein Blick glitt über ihr Gesicht. Unwohl krallte sie ihre Hände in das Sofapolster. »Aha.«
Aha? Was sollte das jetzt heißen? Aha, gut. Aha, das glaube ich dir nicht? Ihre Unsicherheit wuchs und wuchs. Schließlich kam sie auf die glorreiche Idee, ihm einen Vorschlag zu machen. »Wie wäre es, wenn Sie einfach alles nehmen, was Sie wollen und dann verschwinden. Ich bin sicherlich ganz kooperativ und gebe Ihnen wirklich alles, was sie wollen.« Sein Lieblingswort hatte sie ganz besonders intensiv betont. Er sollte sich ja freuen.
»Da haben wir ein Problem, Maxine«, sagte er leise und lehnte seinen Körper gegen die rettende Haustür.
»Sicher nicht. Ich helfe Ihnen wirklich.«
»Das Einzige von Wert in dieser Wohnung«, sagte er und ließ seinen Blick gelangweilt, fast angewidert durch ihr schlichtes Zimmer schweifen, »bist du.« Wieder dieses diabolische Lachen. »Also, wirst du kooperieren und in meinen Sack hüpfen?«
Er war ein Scherzbold. Haha. Sie verstand. »Schon klar. Sie wollen meine PIN-Nummer für mein Konto. Ich gebe sie Ihnen, dann müssen wir nicht gemeinsam zur Bank fahren.«
»Ach, ja?«, er schüttelte seinen Kopf, »und während ich das tue, rufst du dann die Polizei. Tja, Mäuschen, das funktioniert so nicht.«
Sie rollte innerlich mit ihren Augen. Wenn er doch eine gewisse Grundintelligenz besaß, warum brach er dann in ihre Habenichts-Wohnung ein? Vorausschauend war er nicht gerade.
»Zwei Stockwerke über mir wohnt ein reicheres Pärchen, wie wär‘s damit, hm? Sind nicht mal viele Treppen, braucht also kein sportliches Talent.« Es war sicherlich unfair, die Ferimos in ihr Dilemma zu involvieren, aber so schlug sie eventuell zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie würde ihren unerwünschten Gast und die Dauerficker los werden, die ihre Stöhnorgien über Stunden bevorzugterweise mitten in der Nacht zelebrierten. Dann herrschte Ruhe im Haus.
»Danke. Ich bin fit genug, ich brauche kein zusätzliches Training«, meinte er lakonisch und stieß sich vom Türrahmen ab, um auf Maxi zuzukommen, die instinktiv zurückwich. Sie war zwar Single, aber so überstürzt wollte sie nun doch keinem Mann nahkommen.
»Halt«, schrie sie leise, »keinen Schritt weiter.«
»Sonst was?« Häme spiegelte sich in seinen Augen wider, »schlägst du mich mit dem Zierkissen nieder?«
Erstaunt blickte sie auf ihre Hände, die tatsächlich das rosa Kissen mit der goldenen Inschrift „Tussy“ umklammert hielten. Peinlich berührt ließ sie das Kissen los. Ihre Waffenwahl war wirklich desolat.
»Ich gebe Ihnen meinen Pin und mein Ehrenwort mindestens 10 Minuten zu warten.«
»Du willst verhandeln?«
Wollen war eine komplette Untertreibung ihrer Gefühlslage. Sie flehte innerlich fast darum. »Ja, bitte«, hauchte sie.
Er stoppte kurz vor ihren Beinen, die sie fest gegen die Soferkante drückte, um ihre Nervosität im Zaum halten zu können. Er war nur noch eine Handbreit von ihr entfernt. Sie meinte sogar durch den Stoff seiner Hose seine Körperwärme auf ihrer nackten Haut spüren zu können. Das nächste Mal kein Nachthemd mehr. Nur noch Schlafanzüge. Es störte sie, wie er unverhohlen auf ihre nackten Schenkel starrte.
»Dann lass uns verhandeln…« Er beugte seinen Oberkörper leicht nach vorne und zu ihr hin. Seine Lippen streiften ihre Ohrmuschel, als er flüsterte: »Mit Gewalt oder ohne...das ist mein Angebot. Darüber bin ich bereit, zu verhandeln.«
Sie erstarrte, während er sich von ihr zurückzog und abwartend vor ihr stand.
»Aber ich dachte, es geht um Geld?« Sie schluchzte.
»Geht es auch, um viel Geld sogar. Aber jetzt lenk nicht ab, wirst du freiwillig mitkommen oder muss ich dich zwingen?«
Sie überflog seine Erscheinung. Kräftig. Stark. Sie hingegen war eine faule Nudel, die immer wieder den Gewichthebekurs geschwänzt hatte. Ein Pluspunkt für ihn. Dann suchten ihre Augen eine Waffe an seinem Körper, die er dazu benutzen konnte, sie in Schach zu halten. Und schlussendlich wanderte ihr Blick zu der Eingangstür. Sie konnte schreien und ihn zur Seite schubsen. Vielleicht wurden Nachbarn aufmerksam, vielleicht schaffte sie es zur Tür.
»Tue das nicht«, warnte er sie seufzend, »tue das bitte nicht. Glaub mir, Nachbarn sind erschreckend gleichgültig und ich im Gegenzug erschreckend schnell.«
Fuck, der Macho war Gedankenleser. Oder einfach routiniert und erfahren – und das war eine wirklich schlimme Vermutung.
»Ich hatte nichts vor«, log sie und bemerkte, wie sie rot wurde. Super, selbst ihr eigener Körper war zu ihrem Gegner mutiert. Verbündete fanden sich ja manchmal. Vielleicht sollte sie die zwei Mal vorstellen, wenn sie doch beide so vorzüglich gegen sie arbeiteten: Körper – Einbrecher; Einbrecher – Körper.
»Genau«, kommentierte er ihre Ausrede trocken, »du bist ja ein braves Hausmädchen.«
»Niemand wird Lösegeld für mich zahlen«, nahm sie ihm lieber sofort die Illusion. Vielleicht war er einem Irrtum aufgesessen, besser sie berichtigte ihn sofort. Einbrecher mochten es bestimmt, auf ihre Fehler hingewiesen zu werden. »Ich komme aus keiner reichen Familie. Es ist ein Fehler.«
»Ich weiß.« Er klang inzwischen leicht genervt. »Ich bin ein Profi. Ich mache keine Fehler und wenn, dann bereue ich sie nicht.«
Profi…in welchem Bereich? Profikiller etwa?! Wieder setzte Maxis Herz aus, um dann sofort dreifach so schnell zu schlagen. Das war bestimmt nicht gesund.
»Profi«, säuselte sie wiederholend und ihre Gedanken überschlugen sich. Doch bevor sie in haltlose Grübeleien verfallen konnte, ermahnte er sie: »Du musst noch über mein Angebot entscheiden. Es gilt nicht unbegrenzt. Ich gebe dir noch…« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die an einem leicht beharrten, kräftigen Gelenk hing, »genau noch eine Minute, dann ist meine Geduld erschöpft.«
»Ohne Gewalt bedeutet was…?«
»Ich verstehe, du willst die ganzen Vertragsoptionen wissen, bevor du unterschreibst«, sagte er in einem indifferenten Tonfall, der nicht deutbar und damit für Maxi furchteinflößend war. »Nun denn, es bedeutet, dass du von mir etwas zu trinken bekommst, dann gehen wir zu meinem Auto, wir steigen ein, unterhalten uns nett und dann…« Er zeigte eine Reihe weißer, gerade Zähne, »führe ich meinen Auftrag aus.«
»Und die andere Option?« Maix war sich inzwischen sicher, nicht kampflos aufzugeben. Sie war doch nicht genauso irre wie er. Niemals würde sie sich ihm ausliefern.
»Oh, warum fragen immer alle nach dieser unschönen Art?« Er zuckte mit seinen Schultern. »Überall trifft man auf verrückte Masochisten, wie es aussieht.«
Die Empörung in Maxi siegte kurz über ihre Todesangst. Seine Unterstellung war wirklich frech. »Sorry, aber ich habe das Gefühl, du hast eher eine Schraube locker.«
»Dann ist es noch dümmer, wenn du dich mit mir anlegen willst, wenn du vermutest, ich sei verrückt. Und seit wann habe ich dir erlaubt, mich zu dutzen?«
»Höflichkeit gegenüber Verbrechern ist noch nicht im Anstandsbuch vermerkt.« Sie funkelte ihn an.
Seine Hand schnellte nach vorne, packte sie an der Kehle. »Theorie oder Praxis? Was ist dir lieber? Wie soll ich dir Option 2 verständlich machen?«
Scheiße, wo war sie denn da reingeraten und warum eigentlich sie? Hätte sie sonntags doch in die Kirche gehen sollen?
»Theorie«, hauchte Maxi und merkte, wie ihr Hals schon empfindlich zu brennen begann. Normalerweise war sie eher der praktische Typ – Gebrauchsanweisungen hielt sie grundsätzlich für überflüssig, lernen durch Erfahrung, das war ihr Credo – aber bei ihm wurde sie liebend gern zum Streber. »Bitte, Theorie reicht völlig aus.«
Er lockerte seinen stahlharten Klammergriff um ihre Kehle. »Die unschöne Variante ist, dass ich dich in einem Teppich eingerollt in mein Auto schleppe, wo du dann im Kofferraum landest.«
Die Art, sie zu transportieren, war sicherlich unschön, aber noch beunruhigender erschien Maxi, dass er dabei offenließ, ob er sie lebend oder tot aus der Wohnung schaffen wollte. Irgendwie verschwieg er immer wichtige Details. Frechheit, in jedem James Bond Film quatschte der Bösewicht sich selbst zu Tode, indem er seine Pläne haarklein schilderte. Nur ihr verbrecherisches, persönliches Exemplar gab sich wortkarg.
»Was ist denn dein…Auftrag?« Sie hatte kurz nach der passenden Wortwahl gesucht. Auftrag erschien ihr so verdammt seriös für einen Einbrecher, dem sie wahrscheinlich lediglich zufällig über den Weg gelaufen war.
»Dich zu holen und abzuliefern.«
»Ich bin keine Pizza Margaritha«, murrte sie, wobei sie unter seinem tadelnden Blick schnell wieder brav wurde.
»Du wirst aber gleich ein Wrap«, sagte er und zeigte als Erinnerung auf ihren Flokatiteppich. Obwohl der Kerl eine finstere Miene zog, lächelte er. Ihm schien sein Wortspiel zu gefallen. Wenigstens einer, der in dieser abwegigen Situation Freude empfinden konnte. Maxi war eher zum Heulen zu mute. Wie sollte sie dem grenzdebilen Typen klarmachen, dass er in der falschen Wohnung war? Sie hatte bei keiner Menschenseele eine Rechnung offen – außer bei ihrem Handytarifanbieter, aber der würde hoffentlich nicht zu solchen Methoden der Geldbeschaffung greifen. Obwohl? Ein wenig habgierig und mafiös erschien ihr der Anbieter schon.
»Entschuldigung. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wer oder was mich gerne geliefert hätte. Es muss eine Verwechslung sein!«
»Wenn du es öfters betonst, wird es nicht wahrer. Ich bin in der richtigen Wohnung und beschäftigte mich auch mit der richtigen Person.« Er sah auf sie hinab. »Punkt.«
»Okay. Wer soll an mir ein Interesse haben, hm?« Wenn er ihr diese Frage wenigstens beantworten würde, dann könnte sie vielleicht mehr Verständnis für ihr Schicksal, das sie im Moment ziemlich unfair fand, aufbringen. Sie war jederzeit die brave, angepasste, junge Frau gewesen, warum sollte ihr nun so etwas Ungerechtes widerfahren?
»Ich spreche nicht über meine Auftraggeber, denn das unterliegt der Geheimhaltungsklausel.«
Geheimhaltungsklausel. Seine Worte wurden immer ausgefallener und länger. Ohne zu stottern. Vermutlich doch keine Unterschicht.
»Anwalt?«
Verdattert schaute er aus der Wäsche. »Wie?«
»Du sprichst wie ein Anwalt. Bist du zufällig einer?«
»Ah«, er grinste von einem Ohr zum anderen, »nein. Aber ich beuge genauso gerne das Recht.«
Durch die Unterhaltung, die auf einem skurrilen Niveau recht freundlich und bedacht ablief, ließ Maxis Anspannung etwas nach. Vielleicht gelang es ihr ja doch, ihn davon zu überzeugen, einem Missverständnis aufzusitzen. Sie war jedenfalls felsenfest von seinem Irrtum überzeugt.
»Wenn du ein Dienstleister bist, dreht sich bei dir alles ums Geld, nicht wahr? Wie viel Kohle muss ich aufbringen, um dich auszubezahlen? Wie lautet dein Preis?«
Er stand immer noch direkt vor ihr, sein Oberkörper wippte leicht nach vorne, als er schneidend und unmissverständlich knurrte: »Beleidige meine Professionalität nicht. Ich bin nicht korrupt.«
Super. Ein Verbrecher mit Ehre. Das konnte auch nur Maxi passieren. Konnte der Scheißkerl sich nicht wie ein normaler Einbrecher verhalten und sich vom Geld überzeugen lassen. Langsam kam sie am Ende ihres Lateins an – und in dem Fach war sie eigentlich Klassenbeste gewesen.
»Du«, sie brach den Satz schon bei den ersten Silben ab. Doch er wartete geduldig, lächelte ihr aufmunternd zu, dann sagte er schließlich: »Trau dich.«
Sie schielte zu dem Kerl, der gerade den Motivationscoach mimte, hoch. »Wirst du mir wehtun?« Sie war in einen kindlichen Tonfall zurückgefallen, aber ihre Nervosität war, seit sie bemerkt hatte, dass es keinen Kompromiss zwischen ihm und ihr gab, erneut gestiegen. Ihre Angst fraß dabei ihre Selbstachtung einfach auf und spie ein kleines, verängstigtes Kind aus. Wenn es nach Maxi ging, wäre sie auch lieber Superwoman gewesen, aber die Realität ließ keinen Platz für Filmhelden.
»Nein«, meinte er ruhig und sie war schon im Begriff, erleichtert aufzuatmen, bis er die Bedingung hierfür kundtat: »Wenn du mir gehorchst und artig bist, dann nicht.«
Er bückte sich und zum ersten Mal nahm sie die Tasche wahr, die zu seinen Füßen abgestellt stand. In ihrer Todesangst hatte sie ihren Blick immer nur auf seine Hände und Körper gerichtet, dass er vielleicht hier die Pistole mit Schalldämpfer verbarg und gar nicht unbewaffnet war, kam ihr erst jetzt in den Sinn.
»Nicht«, keuchte sie, »nicht erschießen!«
Pikiert hielt er inne, warf ihr ein fragendes Stirnrunzeln zu. »Möchtest du deinen Besen wiederhaben, dann können wir uns ja duellieren?« Dann lachte er leise. »Bleib cool, Hausmädchen, ich habe zwar Waffen dabei, aber ich werde sie nicht benutzen – noch nicht.«
Den Zusatz hätte er sich sparen können, denn jetzt hoppelte ihr Herz wie ein Duracellhäschen.
»So, kommen wir zurück zu unserer Verhandlung«, entschied der Einbrecher. »Du kennst jetzt beide Versionen. Du darfst dich jetzt entscheiden.« Wieder erfolgte ein Blick auf seine goldene, teure Armbanduhr mit dem hellbraunen Lederband. Maxi war nicht Marken bewandert, aber das allseits bekannte Logo der Uhr war sogar ihr geläufig. Man musste als Verbrecher eindeutig mehr Kohle verdienen als ein unbescholtener Mittelklassebürger. Ob sie ihn danach fragen sollte, bei ihm einsteigen zu dürfen? Die Jobbeschreibung hörte sich in ihren Ohren vortrefflich an. Lukrative Arbeitsstelle mit hohen Gewinnchancen, abwechslungsreich, spannenden und mit viel Kontakt zu Menschen.
»Maxine?«, ein warnendes Knurren verließ seine Kehle, »lass mich nicht warten.«
Die Uhr verschwand unter seinem Ärmelsaum und sie musste sich der Realität stellen. Igitt. Aber da sie keine andere Wahl hatte, gab sie ihren Standpunkt Preis, in dem Wissen darum, dass er ihre Entscheidung sicherlich nicht entzückend fand.
»Ich gehe nicht freiwillig mit. Ich schreie das ganze Haus zusammen, wenn du mich anfasst. Ich schwöre es!«
»Sicher?« Er zog abwartend seine Augenbraue hoch.
»Sicher! Ich bin doch nicht blöd.«
»Anscheinend doch«, sagte er seufzend und seine Augenbraue rutschte in ihre ursprüngliche Position zurück. »Aber ich sagte ja: Überall sind Masochisten unterwegs.«
»Ich bin keine Maso…«
Weiter kam sie nicht, denn er hatte sie blitzschnell gepackt und vom Sofa auf den Boden gezogen. Jetzt thronte er in aller Seelenruhe auf ihrem Rücken und verdrehte ihr schmerzhaft die Arme auf den Rücken, was ihm allein mit einer Hand gelang, während er mit seiner linken ihren Mund zuhielt. »Mach nie Versprechungen, die du nicht einhalten kannst«, raunte er belustigt und seine Finger umspannten ihren Kiefer noch fester, sodass Maxi dachte, er würde ihn ihr brechen.
»Willst du immer noch schreien?«
In Ermangelung ihrer Sprechfähigkeit, die er ihr gekonnt raubte, schüttelte sie den Kopf und er zog seine Hand von ihren Lippen. Sie schnappte nach Luft. »Au«, jammerte sie und stemmte ihre Arme gegen seinen unerbittlichen Druck, der ihr fast die Schultern auskugelte.
»Du wolltest, dass ich Gewalt anwende, also bist du masochistisch«, belehrte er sie über diesen absolut falschen Tatbestand. »Wenn du dich kooperativ zeigst, bin ich sanfter.«
Da war es wieder, sein verfluchtes Lieblingswort. Falls sie das irgendwo in einem Text jemals wieder lesen oder von einer Person hören sollte, würde sie durchdrehen. »Ich bin kooperativ«, nuschelte sie und rang ihre Tränen nieder, die in ihren Augen aufstiegen.
»Ganz sicher?«
Verdammt, nein! Aber sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Wohl kaum. »Ja.«
Er krabbelte von ihrem pochenden Rückgrat, dass unter seinem Gewicht ordentlich zusammengedrückt worden war. Es war eine wirkliche Befreiung. Der Einbrecher zog sie am Oberarm nach oben und schubste sie auf die Couch zurück, wo sie unbeholfen auf dem Bauch landete, ehe sie sich schnell herumdrehte und die Knie beschützend hochzog. Aber es erfolgte keine weitere Attacke von ihm.
Der Typ musterte ihre geröteten Augen. »Kein Grund zum Heulen, Hausmädchen«, sagte er lapidar, als wäre es das normalste auf der Welt von einem Kerl in seiner eigenen Wohnung bedroht zu werden.
»Hab was im Auge.«
Ihre trotzige Antwort amüsierte ihn. Er lächelte. Und dieses Mal war es ein aufrichtiges, authentisches Lächeln.
»Soll ich dir helfen?«
»Du hast mir schon genug geholfen«, fauchte sie und robbte in die Ecke des Sofas.
»Oh, das Hausmädchen kann bockig sein.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber denk an unsere Abmachung. Sonst landest du wieder auf dem Boden und kannst die Flusen zählen.«
»Hab gekehrt, da sind keine Staubkörner.«
»Wollen wir nachschauen, wie fleißig und gründlich du warst?«, hakte er gefährlich liebenswürdig nach und Maxi verstummte augenblicklich in ihrer Gehässigkeit, denn sie hatte die Vermutung sonst gleich mit ihrer Fresse auf dem Boden zu landen.
»Nein«, meinte sie daher friedfertiger als wenige Sekunden zuvor.
Er fixierte sie mit seinen braunen Augen, schätzte wohl ab, wie kooperativ sie tatsächlich war, dann ging er in die Hocke und holte eine Wasserflasche und eine kleine Glasampulle raus. »Gewicht?«, fragte er emotionslos.
Gewicht? Hä?! »Sind wir hier beim Modelcasting, oder was?«
»Sag mir dein verdammtes Gewicht oder ich schlepp dich an den Haaren zur Badezimmerwaage.«
Da hatte er leider Pech. Maxi besaß keine Waage, sie hielt es für unnötig, sich mit irgendwelchen Zahlen zu beschäftigen, die doch keinen Einfluss – und wenn dann nur einen negativen – auf ihr Leben hatten.
»Wenn du eine findest, sag mir Bescheid. Oder du gehst zu meinen Nachbarn und fragst, ob du dir eine ausleihen kannst. Auf diese lustige Konversation freue ich mich.«
Er verdrehte die Augen. »Du hast keine Waage?«
»Nein.«
Ein kritisches Naserümpfen seinerseits. »Was bist du denn für eine Frau, hm?«
»Eine relativ entspannte, bevor du in mein Leben getreten bist.«
»Okay, dann muss ich es schätzen. Steh auf, dreh dich, dann setz dich wieder.«
Das war die absurdeste Situation, die man sich vorstellen konnte. Sie sollte vor einem Einbrecher posieren, damit er ihr Gewicht einschätzen konnte. Was um Himmels Willen war mit der heutigen Generation von Einbrechern los?! Hatten die alle kein Geld oder keine Zeit in eine Schwanenseevorführung zu gehen, sodass sie es sich privat besorgen mussten?
Da er sie äußerst ernst und entschlossen anschaute, tat sie ihm aber schließlich den Gefallen, seine kleine Prima Ballerina zu sein. Wie eine eingerostete Tänzerin drehte sie ihren Körper um die eigene Achse.
»Hm, 172 cm, 60 Kilo. Was meinst du, kommt das ungefähr hin?«
»Wahrscheinlich.« Wieso war sie eigentlich beleidigt, dass er so exakt war? Er hätte sie ruhig etwas unrealistischer niedriger einschätzen können, das wäre höflicher gewesen. Naja, sie war wohl doch eine typische Frau. Selbst vom Kriminellen wollte sie doch bitte bewundert und hofiert werden. Und natürlich war es ihr unangenehm als Lügnerin entlarvt zu werden: Ja. Sie war eine Scheinheilige, die auf eine Waage verzichtete, nur um sich dann beim Sportverein auf genau diese zu stellen. 60,8 Kg. Die 800 Gramm verschwieg sie ihm aber gerne.
Sie setzte sich wieder, um auch den letzten Teil seines Befehls auszuführen. Mit angespannten Nerven, verfolgte sie mit, wie er die Wasserflasche öffnete und eine farblose Flüssigkeit hineintropfte. Dabei zählte er genau mit.
»Hier«, er reichte ihr die Flasche, »trink.«
Das war nicht sein ernst, oder? Er tat vor ihren Augen etwas ins Wasser und erwartete dann, dass sie es trank? So irre konnte nicht mal er sein – und er war ziemlich geisteskrank, denn er behauptete schließlich, er habe einen Auftrag. Na, hoffentlich hatte er den nicht von den Stimmen in seinem Kopf bekommen.
»Ich habe selbst Wasser im Kühlschrank, ich nehme lieber das. Wir können aber gerne auf deine erfolgreiche Karriere anstoßen. Du hast ja jetzt schon etwas in der Hand.«
»Sarkasmus, mein Hausmädchen, ist ein kompliziertes Ding«, belehrte er sie, »es gibt Menschen, die könnten ihn missverstehen. Zum Beispiel als Zeichen von Respektlosigkeit.«
»Dann ist dir die direkte Art lieber? Okay. Ich trinke das nicht, du verrücktes Schwein.«
»Oh«, säuselte er, »dann lass ich jetzt die Floskeln auch sein. Pass auf, du trinkst das jetzt oder ich ziehe Saiten auf, die nicht zu einer Gitarre gehören.«
»Was passiert, wenn ich es trinke? Sterbe ich dann?«
Er klatschte sich mit seiner Hand an die Stirn. »Ja, genau, warum einfach, wenn es auch kompliziert geht.«
Den Standpunkt hatte sie noch nicht in ihre Bewertung miteinbezogen. Wie auch? Sie war heillos mit der Situation überfordert und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
»Dann, wenn du mich nicht vergiftest…was passiert dann?«
»Du wirst dich relativ betrunken fühlen. Es ist nicht unangenehm. Eher als hättest du einen ordentlichen Schwips.«
»Das könnten wir auch anders lösen. Gehen wir doch in eine Bar, wenn du auf betrunkene Frauen stehst. Ich empfehle Scotch.«
»Maxine«, er sprach langsam und betonte jede Silbe, »was habe ich dir über den Sarkasmus gesagt?«
»Dass er respektlos ist.«
»Gut, an Amnesie scheinst du nicht zu leiden.« Er deutete auf die Wasserflasche, »tu uns beiden den Gefallen. Ich bin zu müde, für eine Rangelei und du zu schwach. Am Ende werden wir nur beide über den Ausgang deprimiert sein.«
Maxi war schon deprimiert, nämlich über die unerwartete Wendung ihres Lebens. Schlimmer konnte es nicht werden, aber da sie keine Lust verspürte, erneut den Boden zu küssen, führte sie die Flasche an ihre Lippen.
Er nickte wohlwollend.
Langsam hob sie den Flaschenboden an, er beobachtete sie zufrieden. Die Flüssigkeit schwappte in den Flaschenhals und berührte schon ihre Lippen, die aber noch geschlossen waren. Er wirkte erwartungsvoll, sie auch, aber auf eine ganz andere Art und Weise. Dann traf sie einen Entschluss, den ihm seine Freude aus dem Gesicht radieren würde. Sie packte die Flasche und schmiss sie meterweit weg und sprang gleichzeitig auf. Sie hechtete zur Tür, dabei brüllte sie laut um Hilfe, ehe ihr die Beine durch einen Tritt in die Kniekehlen weggezogen wurden und sie bäuchlings auf dem Holzboden aufschlug. Ihr Kinn brannte, wahrscheinlich hatte sie eine Platzwunde davongetragen.
Er kniete auf ihr. Seine Hand presste ihren Mund zu und erstickte jeden weiteren Schrei.
»Nachbarn sind gleichgültig«, murrte er, »ich bin es aber nicht.« Das war eine eindeutige Drohung. Maxi hätte sich gerne entschuldigt, aber seine Hand quetschte ihre Lippen zusammen.
Ihre Hände wurden auf dem Rücken gefesselt. Kabelbinder, vermutete sie. Nicht, dass sie auf dem kriminellen Gebiet der Fesseltechniken eine Expertin war, aber in Büchern hatte sie davon gelesen und es fühlte sich auf ihrer Haut jetzt genauso an. Dann entfernte er gnädigerweise seine Hand von ihrem Mund, was sich aber als Falle herausstellte, denn als sie aufatmete, hatte sie plötzlich einen Knebel in ihrem Rachen. Diese vielen Utensilien waren alle in seiner harmlosen Tasche gewesen? Die bot ja mehr Platz als eine Frauenhandtasche.
»Mhmm«, presste sie hervor, als sie bemerkte, wie sie von ihm hochgehoben und zum Sofa getragen wurde. Er ließ sie kurz über der Polsterfläche schweben, dann öffnete er seinen Griff und sie fiel rücklinks auf die Sitzfläche.
»So, du hast also Option 2 gewählt«, sagte er monoton. »Ich hätte dich für klüger gehalten.«
»Mhmm.«
»Ganz deiner Meinung, war ne dumme Idee.«
»Mmmmm.«
»Was, ich soll dich später als Wiedergutmachung dafür bestrafen? Na gut, wenn du das so willst.«
Gna. Wie konnte er ihr Gemurmel so fies interpretieren.
Sie rollte mit ihren Augen, signalisierte ihm deutlich, was sie von seinem Spiel hielt, was ihn nur noch mehr amüsierte. Dann tat er eine Sache, die sie mehr ängstigte, als alles zuvor, obwohl es nur ein simpler, schlichter Handgriff von ihm war: Er zog die Maske aus. Zwar hatte die schlechtsitzende Sturmhaube mit den großen, ausgefransten Öffnungen grundsätzlich wenig zu seiner Anonymität beigetragen, aber dass er jetzt aktiv diesen Schritt der Enthüllung ging, führte bei ihr zu Herzrasen. Beklommen verfolgte sie mit, wie er den Stoff über seinen Kopf zerrte. Rasch kniff sie ihre Augen zusammen. Sie wollte ihn nicht identifizieren können, denn sie wusste eine Sache aus Krimi-Büchern genau: Opfer, die die Täter identifizieren konnten, überlebten nie – oder nur durch Zufall. Sie war kein Fan von Zufällen.
Er musste ihr infantiles Ansinnen erraten haben, denn er stupste sie an der Schulter an. »Du könntest mich bereits an meiner Stimme wiedererkennen«, lachte er melodisch und bohrte seinen Daumen tiefer in ihr Schulterblatt. »Also ich habe keinen Bock mehr, das kratzige Teil zu tragen.« Ihre Überlebenschancen sanken Dank seiner Bequemlichkeit gerade gegen Null. Der Typ sollte gefälligst unter der Maske weiter schwitzen. Verdammt, was konnte an einem bisschen Jucken so schlimm sein, dass man dafür seine Identität preisgab? Ein Memmen-Einbrecher.
Sie spürte wie er ihren Knebel löste. »So, jetzt darfst du es dir auch gemütlich machen. Ist doch besser, oder?«
Sie presste ihre Lider fest aufeinander, nickte aber dankbar, schließlich wollte sie die Autonomie über ihre Kieferknochen behalten.
»Maxine, bist du nicht neugierig, wie ich aussehe? Ich hatte mir von dir mehr Enthusiasmus erwartet, deinen Einbrecher persönlich kennenlernen zu dürfen.«
»Meine Wissbegierde für heute, nein, für mein ganzes Leben ist gestillt. Ich habe heute genug eindrückliche Erfahrungen in der Thematik „Dein Einbrecher und Du“ gemacht. Ich verzichte.«
Seine sonore, samtige Stimme erhob sich mit einem amüsierten Unterton. »Und dein Erfahrungsschatz wird sich noch erweitern.« Er räusperte sich laut. »Also, stell dich deinem Lehrmeister. Schau mich an. Wie schon gesagt, du könntest mich inzwischen sowieso identifizieren. Du kennst meinen Körperbau, meine Augenfarbe, meine Form der Mundpartie und meine Stimme. In Kombination dieser Merkmale bin ich einmalig.«
»Nein, nein. Ich würde dich nicht identifizieren können«, beharrte Maxi und presste ihre Augenlider fest aufeinander. »Ganz sicher nicht. Ich habe das Erinnerungsvermögen eines Goldfisches.«
»Mir wurscht, du kannst deine Augen gerne zu behalten, wenn dir das dabei Hilft mit der Situation besser umzugehen.« Sie hörte, wie er leise und ruhig atmete, dann berührte seine Hand erneut ihre Haut. »Aber, wenn du genug blinde Kuh gespielt hast, würde ich mich freuen, wenn wir kurz auf Augenhöhe miteinander kommunizieren könnten.«
Auf Augenhöhe? Er stand auf dem Mount Everest, sie auf einem Maulwurfshügel. Das war der verdammte Höhenunterschied zwischen ihnen beiden.
»Dann machst du meine Fesseln wieder ab?«
»Später.«
»Das ist nicht früh genug.«
»Kaum kann das Hausmädchen wieder sprechen, nutzt es ihr Mundwerk falsch.«
Maxi hatte schon immer in den unpassendsten Situationen, die dümmsten Dinge gesagt. Sie hatte darin ein ordentliches, solides Talent. Ihrer letzten Chefin hatte sie zur erfolgreichen Schwangerschaft gratuliert, leider stellte sich dabei nur heraus, dass Baby-Doll Schnitte der Frau einfach nicht standen. Zwei Monate später war ihr betriebsbedingt gekündigt worden. Naja, seither war Maxi arbeitslos – und alleinstehend. Dumm gelaufen. Aber nichts lief so schief, wie ihre aktuelle Lage.
»Gut«, sie öffnete blinzelnd ihre Augen und schaute in ein recht sympathisches Gesicht. Und schon wieder musste Maxine ein liebgewonnenes Klischee des hässlichen Verbrechers begraben, statt einer kriminellen Visage blickte sie das Modell „netter Nachbar“ an. Attraktiv, aber nicht klassisch hübsch. Nett, aber nicht freundlich. Ernst, aber nicht bösartig.
Sie starrte ihn sprachlos an, nicht einmal an die einfachsten Grundsätze hielt sich der Typ, es war wirklich zum aus der Haut fahren, wieso sah er derart ungefährlich aus? Woran sollte man sich als Frau orientieren, wenn selbst diese Maßstäbe nicht mehr galten? Kriminelle hatten dumm oder wahlweise hässlich auszusehen.
»Gefällt dir, was du siehst?«
Er schien von seinem durchschnittlichen, aber durchaus männlichem Aussehen auch noch überzeugt zu sein. Arrogantes Arschloch. »Dich von hinten, ganz weit weg am Horizont zu sehen, das würde mir gefallen.«
»Du wirst mich leider nicht so schnell los«, meinte er mit einem tiefen Seufzen aus voller Brust, »obwohl wir beide den gleichen Wunsch haben.«
»Dann geh doch.«
»Sei nicht so rüde.«
»Dann sei du nicht so einnehmend.«
Jetzt lachte er doch aufgrund ihres Wortgefechts. »Findest du mich etwa fesselnd?«
»Bedrängend trifft es eher. Du bist nicht mein Typ. Von mir aus, bleib so wie du bist, aber bleib mir bitte fern! Die Kategorie von Mann ist bei mir abgehakt.«
Er kicherte, wobei es ein tiefes, grollendes Kichern war. »Ich habe mir eine Maxine Bogen auch anders vorgestellt, dein Profil war ziemlich lückenhaft, aber dein Name hat mich eine Dame und keine Rotzgöre erwarten lassen.«
Maxi kannte die Vorurteile, die ihr Name mit sich brachte. Ein Grund, warum sie sich immer nur Maxi nannte. Maxine klang nach taffer Karrierefrau. Leider war sie – zu Enttäuschung ihrer Eltern - davon meilenweit entfernt.
»Schön, damit haben wir ja eine Gemeinsamkeit, wir finden uns beide doof. Was hältst du davon, wenn wir das missglückte Date beenden? Ich hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn wir unsere Bekanntschaft ruhen lassen und wir nach anderen Partnern Ausschau halten. Es wird eine Frau geben, die deinen Fetisch zu schätzen weiß.«
»Wir sollten es wirklich beenden«, erwiderte er lediglich ungerührt und schob seinen Ärmel zurück, um auf seine Uhr zu gucken. »Ich hinke dem Zeitplan schon gravierend hinterher.«
»Dann gehst du?« Warum stellte sie so hoffnungslos naive Fragen. Sie war doch keine neuen Jahre alt.
»Ich? Nein. Wir. Wir gehen.«
»Ich hab nichts passendes zum Anziehen für ein Date außerhalb.«
»Gleich hast du deinen Knebel wieder. Mehr brauchst du auch nicht. Kleidet dich genug.«
Seine Anspielungen waren stets sehr überzeugend. Der Mann sollte unbedingt ins Marketing wechseln, mit seinem Talent wäre er da gut aufgehoben.
Er öffnete seine Tasche, beförderte eine Spritze heraus und eine verpackte Nadel. Das fand Maxi jetzt eher unschön und ihr Sarkasmus verfolg kurz.
»Äh…warte mal«, keuchte sie und starrte auf das Ding in seiner Hand. »Was soll das werden?«
»Nach was schaut es denn aus?«
»Definitiv nach Blödsinn«, meinte sie in einem hysterischen Unterton und rutschte auf dem Polster zurück.
Er machte eine gelangweilte Kopfbewegung zur Wasserflasche hin, die halb geleert auf dem Boden lag und das Holz aufquellen ließ. Ihr Vermieter, der das Parkett mehr liebte als seine Frau, würde ausrasten, wenn er den Wasserschaden sehen würde.
»Das tolle Gefühl hast du dir mit deiner Aktion versaut. Jetzt kommt das harte Zeug.«
»Stopp. Jeder bekommt eine zweite Chance, oder?«
»Sorry. Ich bin nicht der Weihnachtsmann, ich bringe keine Geschenke. Ich bin Knecht Ruprecht, ich bestrafe die Unartigen.«
»Warte. Ich geh freiwillig mit. Ich habe mich anders entschieden.«
»Dann sind wir ja schon zwei. Ich habe mich auch entschieden – gegen deinen Ungehorsam.«
Irgendwie biss sie bei ihm auf Granit. Ja, schon ihr Vater hatte gemeint, dass ihr Sturkopf sie mal in Schwierigkeiten bringen würde, aber von genervten Entführern hatte er nie etwas erwähnt. Väter kamen ihren Pflichten auch nicht mehr nach!
»Ich habe meine Lektion gelernt«, bettelte sie und sah mit großen Augen, wie er die Verpackung der Nadel aufriss.
»Nein«, korrigierte er sie, »du wirst deine Lektion gelernt haben, nachdem ich sie dir beigebracht habe.«
Oberlehrer. Attraktiver Nachbar. Marketingprofi. Einbrecher. Lehrmeister. Seine Liste an Persönlichkeiten wurde immer länger. Ihre hingegen reduzierte sich immer mehr auf das bettelnde Kleinkind. Wo war denn die aggressive Gegenspielerin in ihr? Wieso mutierte sie nicht zur filmreifen Heldin, die dem Schurken Paroli bot?
»Ich bin wirklich brav. Ich werde dir keine Schwierigkeiten machen«, gelobte sie Besserung und entfernte sich von dem Vorsatz weniger Mädchen und mehr reife Frau zu sein in Lichtgeschwindigkeit.
»Definitiv.« Er setzte die Nadel auf die gefüllte Spritze.
Maxi wurde deutlich unruhiger. Wie sollte sie ihn nur überzeugen? »Ich mache alles, was du willst.«
Er hielt inne. Dann sah er sie mit seinen braunen Augen prüfend an. »Wirklich alles?«
Sie nickte so heftig mit ihrem Kopf, dass ihr schwindelig wurde.
»Versprich es«, forderte er sie auf.
»ALLES.«
»Toll«, kommentierte er ihren Schwur, »dann halt jetzt schön brav still, dann geht es ganz fix und beinahe schmerzlos.«
Wie bitte? Sie sah ihn fassungslos an. »Nein, so war das nicht gemeint.«
»Dann wirst du jetzt lernen, zu deinem Wort zu stehen, Hausmädchen. Vielleicht reduziert das dein Goldfischgedächtnis. Alles heißt alles, da gibt es kein Interpretationsspielraum.«
Das war ein gemeiner Hinterhalt. Er wusste genau, um was es ihr ging. Wie konnte er sie nur so fies in die Irre führen.
»Aber ich…«
»Halt still«, unterbrach er sie barsch und drehte sie mit einem Ruck auf die Seite, damit er besser an ihre zusammengebunden Arme kam.
So verlor sie ihn und die Spritze ungewollt aus dem Blickfeld. Er war jetzt in ihrem Rücken, während ihr nur die Aussicht auf die Sofakissen blieb. Einen solchen Mann hatte man ungern unbeobachtet im Nacken. Ihr stellten sich daher alle Härchen auf, als könnten sie ihn damit abwehren.
»Ich habe Angst vor Nadeln«, piepste sie. Das war natürlich eine absurde Ausrede, denn es gab schlimmeres als einen kurzen Stich. Zum Beispiel in den Händen eines Geisteskranken zu sein.
»Umso besser, dann lernst du jetzt mit deiner Angst umzugehen«, ertönte es hinter ihr.
»Bist du Psychologe? Wenn nein, dann bist du nicht der passende Akteur für eine Konfrontationstherapie. Das solltest du lieber den Profis überlassen.«
»Langsam finde ich Gefallen an deinem Humor, Hausmädchen, aber wenn es dir hilft, ich bin Profi, wie ich schon mehrmals erwähnte.«
»Findest du auch Gefallen an der Idee, mich gehen zu lassen?«
»Nein, daran nicht.«
Sie hatte mit der Antwort gerechnet. Im Glücksspiel des Lebens zog sie halt immer die Nieten.
Eine kalte Flüssigkeit wurde auf ihrem Handrücken verteilt. Sie roch Desinfektionsmittel. Wow, der Typ meinte es tatsächlich ernst. Das war keine Show oder ein Bluff gewesen. Langsam kam Leben in Maxis erstarrten Bewegungsapparat.
Sie wälzte sich herum, strampelte, aber er legte die Spritze gelassen beiseite, packte sie und drehte sie erneut auf die Seite. Dann setzte er sich auf ihre Hüfte. Ein Knie links, dass andere rechts von ihrem Körper, sodass sie zwischen seinen Beinen eingeklemmt lag. Er reckte seinen Arm nach vorne und fischte die Spritze vom Couchtisch.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er konzentriert den Inhalt durch Herausspritzen der Flüssigkeit reduzierte. Dann beugte er sich zu Maxis gebunden Händen herunter und sie verlor ihn aus ihrem Sichtfeld, was sie höchst panisch werden ließ. Doch er presste seine Schenkel hart um ihren Leib und zwang sie zur Ruhe.
»Bereit, dich deiner Nadelangst zu stellen?«
»Absolut nicht«, schnaufte sie und arbeitete gegen sein Körpergewicht an.
»Macht nichts. Ich schon. Genieß es, in erfahrenen Händen zu sein.«
»In…autsch.«
Dann ging alles so erstaunlich schnell, dass sie eigentlich überhaupt nicht mitbekam, was mit ihr und ihrem Bewusstsein geschah. Ein Stich, ein Brennen, welches ihren Arm hinaufwanderte und dann waren ihre Lichter in wenigen Sekundenbruchteilen schon ausgeknipst. Gute Nacht.
»Mhm«, stöhnte sie schlaftrunken, als sie zu sich kam. Verdammt, wo war sie? Und vor allem, wie ging es ihr? Sie tastete hastig alle Körperteile ab. Nichts fehlte. Also bei Organhändlern war sie nicht gelandet. Das war nämlich der letzte, schreckliche Gedanke gewesen, den ihr verblödetes Gehirn ihr noch aufgedrückt hatte, bevor sie ohnmächtig geworden war.
Sie rappelte ihren tauben Körper hoch. Sie lag auf einer weichen, bequemen Matratze. Sie war weder alt, noch modrig. Auch der Rest des Zimmers entsprach nicht ihren Horrorvorstellungen eines Kerkers. Weiße Wände, gepflegte, funktionale Inneneinrichtung. Ein Schrank. Eine Toilette und eine Dusche. Dazu Tageslicht, was zu ihrer Enttäuschung aber durch ein vergittertes Fenster fiel. So ganz wollte man ihr die Illusion, sich lediglich in einem gemütlichen 1-Sterne Hotel aufzuhalten, nicht lassen. Also kein Ferienlager für klein Maxi.
Sie ging zu dem Fenster und beäugte ihre Umgebung. Ihre Umwelt sah fremd und gleichzeitig vertraut aus. Keine Wüste. Nur Wald. Aber es wirkte seltsam abgeschieden für ein dicht besiedeltes Land wie Deutschland. War sie also noch in ihrer Heimat? Die Beschaffenheit der Nadelbäume gab keinen Anhaltspunkt – die gab es überall.
Ein Geräusch an der Tür ließ sie blitzschnell herumfahren.
»Guten Morgen.« Ihr Entführer stand mit einer Kaffeetasse in der Hand da und lächelte sie unverschämt an. »Müde?«
»Nein«, knurrte sie, »hellwach. Und der gute Morgen endete, als du eingetreten bist.«
»Dann keinen Kaffee?«
Der dunklen Flüssigkeit entströmte ein verlockender Duft. Und er grinste wissend.
»Doch.« Beschämt senkte sie ihren Kopf. Es war ihr unangenehm ihm auf den Leim gegangen zu sein.
»Hier«, er reichte ihr die Tasse und trat dann schnell einen Schritt zurück, als befürchte er, das heiße Getränk gleich im Gesicht zu haben. Und so ganz abwegig war seine Vermutung nicht, denn Maxi hatte einen solchen Impuls verspürt. Aber da sie weder wusste, wo sie war, noch wer alles hier im Haus mit ihnen verweilte, verwarf sie ihren Plan schnell wieder und genoss dafür den exzellenten Kaffee.
Über den Tassenrand hinweg schaute sie ihn an. »Wie heißt du?«
»Ist das wichtig?«
Sie zuckte mit ihren Schultern. »Vermutlich nicht, aber da du mich auf einen Kaffee in deine Wohnung eingeladen hast, habe ich das Gefühl, dass unser Date an Fahrt aufgenommen hat. Da scheint es mir legitim, dich nach deinem Namen zu fragen.«
»Ivan.«
»Russland?«
»Russisch«, korrigierte er sie.
»Nein, sind wir in Russland?«
»Wieso, nur wegen meinem Namen? Du bist ja auch nicht unbedingt eine Maxine.«
Der Seitenhieb hatte gesessen. »Ja, ich weiß«, fauchte sie, »ich bin nicht so edel, wie mein Name es vermuten lässt.«
Er schmunzelte. »Nein, nicht so etepetete.«
Die Antwort war fast schon wieder nett. Manchmal konnte er recht charmant sein, was natürlich nicht über sein kriminelles Talent hinwegtäuschen sollte.
»Wo sind wir dann?«
Sein Grinsen wurde unglaublich breit und fett. »In Russland.«
»Wie bin ich hierhergekommen?«
»Mit mir.«
Sie biss ihre Zähne aufeinander, um einen unschönen Fluch zu unterdrücken, der ihr brennend auf der Zunge lag.
»Nein, wie hast du mich hierher gebracht?«
Er hob seine Hände zu einer belanglosen Geste. »Auto. Flugzeug. Auto. Ganz einfach.«
Okay, die Flugsicherheit wurde überschätzt. Da schaffte es ein 0815 Verbrecher, sie mit einem simplen Flugzeug nach Russland zu schaffen und keine Sau interessiert es. Gab es denn seit den ganzen Anschlägen nicht bessere Kontrollen? Sie würde die Aufsichtsbehörde in Grund und Boden klagen, falls sie ihren unfreiwilligen Urlaub überleben sollte.
»Ich kenne keinen Russen, also was mache ich hier?«
»Glaubst du immer noch an einen Irrtum?«
»Ja«, kam es klar und deutlich aus ihrem Mund, während sie ihren Kaffee schlürfte und Ivan böse Blicke zu warf.
»Ich habe es überprüft«, er wölbte seine Augenbrauen hoch, »denn dein ständiges Gezeter, du seist die Falsche, hat mich tatsächlich etwas verunsichert, aber nun steht fest, du bist es.«
»Ich bin was?!«
»Die richtige Zielperson.«
»Ich trete dir gleich in die Eier«, schrie sie ihn an, »wenn du weiter in Rätseln redest.«
»Oh, noch eine Eigenschaft, die ich nicht mit dem Namen Maxine verbinde: Gewalttätigkeit.«
»Ich beweise es dir gleich, du Stück Dreck, dass ich so gewalttätig sein kann, wie es nicht mal eine Brunhilde sein könnte!« Sie war wirklich fuchsteufelswild. Seine Hinhaltetaktik machte sie verrückt. Wer zum Geier hatte ein Interesse an ihr? Er sollte es endlich ausspucken.
Doch er rieb nur seine Hände aneinander, dann drehte er sich zum Gehen um. »Wenn du wieder zu einer höflichen Umgangsform zurückgefunden hast, reden wir weiter…«
Ein Entführer, der auf Etikette Wert legte. Sie würde hysterisch kichern, wenn sie nicht so wütend wäre. Das war die irrste Geschichte ihres Lebens. Nicht mal Hollywood würde auf ein solches Szenario kommen. Hier hätte der Kriminelle schon hunderte Mal das Wort Fuck verwendet und eine Kippe nach der anderen geraucht. Aber hier…hier war der Kriminelle gebildeter als sie. Die Erkenntnis war für Maxi eine Schmach.
Die Tür fiel zu und Maxi blieb nichts anderes übrig, als in ihren Handballen zu beißen. Sie kochte vor angestauter Aggression. Es dauerte wirklich lange, bis sie sich beruhigt hatte und aufhörte, in ihrem Gefängnis wie ein aufgescheuchtes Huhn hin- und herzurennen.
Gegen Mittag erschien Ivan erneut. Er blieb provokativ im Türrahmen stehen. »Kann ich reinkommen oder brauchst du noch Zeit zum Schmollen.«
»Ich schmolle nicht.«
»Sondern?«
»Ich motiviere mich…«
»Wozu?«
»Dich zu verabscheuen.«
»Oh, das ist nicht nett.«
»Du bist nicht nett«, korrigierte sie ihn.
»Ich finde, ich bin sehr zuvorkommend.« Er schürzte leicht seine wohlgeformten Lippen. »Und daher frage ich dich nun, ob du Hunger hast? Das müsste ich nicht tun, mache ich aber.«
Okay, da musste sie ihm zustimmen. Für einen Verbrecher war er ein Gentleman mit ausreichender Höflichkeit, auch das saubere Zimmer und die angebotene Vollverpflegung entsprachen nicht ihrer Vorstellung einer Entführung.
»Mhm«, sagte sie nur indifferent. Sie wartete erst Mal ab, was er ihr kredenzen wollte. Nicht, dass es danach irgendeine Schweinerei war. Blut. Gedärme. Leichenteile.
Er sah sie spitzbübisch an. »Ich habe deinen Vorschlag mit der Pizza Margaritha aufgegriffen, falls du möchtest, bringe ich sie dir.«
Ihr Magen knurrte und sie sah keinen Sinn darin, jetzt die Zicke zu spielen. »Gerne.«
»Das Hausmädchen kann ja lammfromm sein«, witzelte er und verließ kurz das Zimmer, aber nicht ohne vorher abzusperren. Dann kam er mit einem Teller zurück, auf dem zwei Stücke lagen. Enttäuschend wenig für Maxi, die gerne eine ganze Pizza für sich aß und für die teilen ein Fremdwort war. Sie war Einzelkind und vor allem war sie futterneidisch.
Er bemerkte ihre Schnute. »Du bekommst mehr, wenn du netter bist. Quit pro Quo.«
Sie entriss ihm fast herrisch den Teller und schlang dann die Pizza herunter, die zu ihrem Erstaunen selbstgemacht schmeckte. Sie hatte eine billige Tiefkühlware erwartet. Er war also ein charmanter, höflicher, bösartiger, kochender, intelligenter, attraktiver, gebildeter Entführer. Die Latte an Merkmalen wuchs und wuchs. Es wollte kein Ende nehmen.
Als sie fertig war, nahm er ihr das Geschirr wieder ab. »Du wirst eine Woche bei mir bleiben, dann wirst du abgeholt werden. In den sieben Tagen wünsche ich mir, dass wir gut miteinander auskommen. Dann hast du eine schöne Zeit und ich auch. Wenn du irgendwelchen Quatsch machst, wirst du erfahren müssen, dass dein Verhalten Konsequenzen haben wird.«
Eine Woche. Und dann? Wohin wollte man sie schaffen, wer steckte dahinter und warum?
»Wer…«, sie stockte, schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, »wird mich denn abholen kommen?«
»Ein Fahrer.« Er war wie immer geschickt gemein und wich ihrer Frage aus.
»Verdammt, du weißt, was ich meine.«
»Und du weißt, dass ich darüber nicht reden werde«, wies er sie zurecht.
Am anderen Morgen erschien Ivan wie immer gut gelaunt. In seiner Hand balancierte er eine Kaffeetasse, die er Maxi reichte.
Übermüdet von einer unruhigen Nacht, in der sie stundenlang gegrübelt hatte, mit wem sie eine Rechnung offen hatte, nahm sie die Ladung Koffein gerne entgegen. In einem Zug trank sie den Becher leer.
Er stand mit verschränkten Armen vor ihr und wartete, bis sie ihren Durst gestillt hatte. »Du wirst heute nichts zu essen bekommen, am Abend kommt ein Arzt, er wird dich untersuchen, dafür ist es notwendig, dass du nüchtern bist.«
»Was, wozu?«
»Naja, mein Auftraggeber will sich davon überzeugen, dass ich sorgsam mit dir umgegangen bin.«
»Das kann doch nicht wahr sein«, ächzte sie.
»Ja, mir geht sein Misstrauen auch auf die Nerven. Aber da müssen wir beide nun mal durch.«
Maxi fand nicht, dass man ihre Situation miteinander vergleichen konnte. Schließlich konnte er jederzeit sein Leben ändern, während sie hier gezwungenermaßen festhing. Sie hatte wirklich keinen Bock auf den ganzen Scheiß. Vielleicht sollte sie ihr Gesicht an die Wand schlagen, damit sie blaue Flecken und er Ärger bekam. War das vielleicht das Druckmittel, das sie verwenden konnte, um ihn zum Reden zu bringen.
»Ich tue mir selbst weh, wenn du mir nicht sofort sagst, wer dein Boss ist! Dann können wir ja mal sehen, was der Arzt deinem Auftraggeber berichten wird.« Ihre Augen blitzten auf, als er vorerst ungerührt vor ihr stand. »Ich meine es ernst, Ivan. Ich tue das!«
»Hausmädchen, kleines freches Hausmädchen«, säuselte er in einem Tonfall, der Maxine sofort verriet, dass sie mit ihrem Erpressungsversuch einen bösen Fehler begangen hatte. »Du bist so unartig.«
Mit einem Satz war er bei ihr, was keine große Leistung war, denn das Zimmer war recht klein. Er drückte sie auf die Matratze. »Mach deine Drohung war und ich werde es dir gleichtun«, zischte er, dann ließ er von ihr ab. »Und du kannst dir sicherlich nicht so wehtun, wie ich es kann. Und meine Techniken hinterlassen keine sichtbaren Spuren.«
Sie sah bockig zu ihm auf und rieb ihren Oberarm, der nach seiner Umklammerung pulsierte. Aber seine bitterböse Miene hielt sie tatsächlich davon ab, ihren Plan in die Tat umzusetzen.
»Sind wir wieder ein Team?«, wollte er wissen.
Als wären sie das je gewesen. Sie war höchstens der Bauer auf dem Schachfeld und er der König. »Klar«, fauchte sie und drehte dann beleidigt ihren Kopf weg.
Er beließ es dabei und ging.
Sie überlegte lange, ob es doch noch Sinn machte, ihren Schädel gegen die Wand zu stoßen, aber am Ende würde sie nicht wissen, wie es dann für sie beide ausging. Vielleicht war sie mit Blessuren auch für ihren Beschaffer wertlos…das Risiko wollte sie nicht eingehen.
Am Abend klopfte es leise an ihre Tür. Sie war tatsächlich eingeschlafen, aber der Schlafmangel der letzten Nacht hatte ihren Tribut gefordert. Zudem war die Matratze verdammt bequem. Besser als ihre zu Hause. Naja für etwas musste ihre Entführung ja gut sein, so wusste sie wenigstens, dass sie demnächst ihre Matratze auch bei Dreamland kaufen würde.
»Herein«, sagte sie unnötigerweise, als würde darauf irgendjemand Rücksicht nehmen.
Ein älterer Herr trat zusammen mit Ivan ein.
Maxi zuckte zusammen. Sie hatte ganz vergessen, dass ja noch Besuch angekündigt worden war. Der Schlaf hatte ihr wirklich für einen Moment das Gedächtnis geraubt.
»Hallo Maxine«, sprach sie der Ältere an, »würdest du bitte mitkommen.«
»Ungern.« Ah, ihr loses Mundwerk hatte wieder zugeschlagen und Ivan blinzelte sie sofort mahnend an.
Der Arzt lächelte stoisch. »Keine Sorge, es wird dir nichts passieren.«
»Mein Impfstatus ist aktuell. Ich bin bei bester Gesundheit«, zählte sie ihre körperliche Verfassung auf, »ich brauche keinen Arzt.«
Er nickte. »Verstehe. Aber ich würde mich gerne selbst davon überzeugen.«
»Sehe ich krank aus?«, giftete sie zurück. Sie wünschte sich eine ganz normale Entführung. Irgendwo alleine im Keller mit einer Lösegeldforderung. Da wusste man wenigstens um was es ging. Aber das hier, das war einfach nur absurd.
»Gleich wirst du es«, grollte Ivan, doch der Arzt legte beruhigend seine Hand auf dessen Schulter. »Lass ihr etwas Zeit.«
Zeit? Sie brauchte keine Zeit. Sie brauchte ihre Freiheit. Dämlicher, alter Mann!
»Darf ich dir meine Gehilfen vorstellen?«, meinte der Arzt und machte Platz für zwei Schränke, die aussahen wie Türsteher von der übleren Sorte. Diese reizenden Exemplare fand man nur im Rotlichtmilieu.
Sie taxierte die Muskelberge. »Bodybuilding oder Anabolika? Wahrscheinlich beides, hm?«
Die grimmigen Gesellen teilten ihren Humor nicht, sondern schoben nur ihre enorme Kiefer nach vorne, was sie erst recht wie Gorillas aussehen ließ.
»Maxine, möchtest du sie näher kennenlernen?« Oh je, wie er das Wort ‚näher‘ betonte, gefiel ihr nicht. Auf den Körperkontakt mit den Beiden konnte sie verzichten.
»Aus der Ferne sind sie mir lieber.«
»Dann würde ich sagen, du mir folgst jetzt.«
Der Arzt war ein ebenso guter Erpresser wie Ivan. Ob sie Verwandte waren? Ein Vater-Sohn-Unternehmen sozusagen.
Sie trottete zu dem Arzt hin und wurde augenblicklich von den zwei Riesen flankiert. Man traute ihrem Gehorsam wohl nicht. Ihr Weg war relativ kurz, es ging nur ein Zimmer weiter. Diese Streckte hätte sich auch ohne die Gorillas an ihrer Seite geschafft.
Die Einrichtung des Raums gefiel ihr weniger gut, als die von ihrem Zimmer. Sie war deutlich zu medizinisch. Und wieder spukte ihr der Gedanke von Organhändlern im Kopf herum. Danke, liebes Gehirn. Das war ein wirklich hilfreicher Gedanke in dieser Situation.
»Zieh dein Nachthemd aus.«
»Ich, ich…« Das war peinlich. »Bin nackt darunter.«
»Umso besser, dann sparen wir uns das Gezeter, wenn ich dir die Unterwäsche ebenfalls verboten hätte.«
Der alte Greis schien ein Lustmolch zu sein. Bah. Mit einem vernichtenden Blick starrte sie ihn an und bewegte ihre Arme kein Stück.
Er sah sich das ganze genau eine Minute lang an, dann machte er eine knappe Geste und die Schränke preschten auf Maxi zu. Es dauerte nicht mal eine Sekunde, da war sie entkleidet. Die zwei Riesen könnten mit ihrem Entkleidungstalent eine Zaubershow machen.
Zitternd und entblößt stand sie nun vor den vier Männern.
»Gut, keine Hämatome«, notierte der Arzt, als er sie umrundete und wie ein Objekt mit seinen Augen sezierte, »oder Quetschungen. Du scheinst pfleglich mit ihr umgegangen zu sein.«
Das fand Maxi nicht. Aber wahrscheinlich hatte sie mit Ivan als Entführer trotzdem Glück gehabt.
»Hatte er Sex mit dir?«
Die Frage kam überraschen direkt und unerwartet. Sie bemerkte, wie nicht nur sie selbst, sondern auch Ivan knallrot wurde.
»Äh, nein, denke nicht.«
»Was ist denn das für eine Antwort?«
»Ich war bewusstlos.«
Der Arzt drehte sich zu Ivan um. »Hast du?«
»Nein, nein«, er hob abwehrend seine Hände, »auf keinen Fall.«
Diese Thematik war ihrem Katastrophenhirn noch gar nicht eingefallen. Aber was hatte er mit ihr gemacht, als sie von dem Medikament ins Land der Träume geschickt worden war? Wollte sie darauf eine Antwort haben? Lieber nicht.
»Also, wenn ich sie gynäkologisch untersuchen würde, würde ich keine Spuren finden?«
Moooooment. Maxis Gedanken purzelten durcheinander. Was hatte der Arzt mit ihr vor?
»Er hat nichts gemacht«, beantwortete sie die Frage, die nicht an sie gerichtet war.
Beide Männer schauten sie stutzig an.
»Ich würde das spüren. Ehrlich. Er hatte kein Sex mit mir.« Ihr Schauspieltalent konnte doch manchmal unter bestimmten Umständen glänzen.
»Mhm«, brummte der Arzt und hörte sich in Maxis Ohren überhaupt nicht überzeugt an.
»Ich schwöre es.«
»Auf den Stuhl mit ihr«, befahl der Arzt nun, dessen Misstrauen sie anscheinend durch ihre vehemente Art eher geweckt, als beschwichtigt hatte.
»Nicht. Wartet. Ich sage die Wahrheit.«
Vier Pranken packten sie und ehe sie auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, saß sie auf dem Stuhl, den sie auch in ihrem normalen Leben wie die Pest mied. Das war wohl die Rache für ihre ganzen versäumten Frauenarzttermine.
Panisch schlug sie um sich. Sie bemerkte nicht, wie einer der Gorillas etwas in ihre Halsvene stach, zu aufgewühlt war sie.
Peng. Ausgelöschtes Bewusstsein. Nach dem zweiten Erlebnis dieser Art fast ein vertrautes Gefühl.
Sie schlug die Augen auf. Ivan saß neben ihr auf der Matratze. »Alles gut«, beruhigte er sie, als Maxi sich hektisch aufsetzen wollte. »Bleib liegen. Du bist noch benommen.«
»Was…«, sie krallte ihre Finger in sein Hemd, dann fing sie plötzlich an zu weinen. Sie wusste gar nicht warum.
Er nahm sie in den Arm. »Hey, dir ist nichts passiert. Alles ist gut. Magst du nachher etwas essen? Ich koch dir alles, was du möchtest.«
Sie schluchzte. »Gnocchi. Ich hätte gern Gnocchi.« Ja, das war ihr Talent. Selbst in ausweglosen Situationen war sie verfressen.
Er lächelte versonnen. Wahrscheinlich musste er über ihre Antwort schmunzeln. »Okay. Nicht sehr anspruchsvoll. Welche Soße?«
»Tomatensoße.«
»Bekommst du.«
Er löste behutsam ihre Hände aus seiner Kleidung, dann stand er auf. »Ich würde dich gerne etwas fragen…«, begann er, doch dann winkte er ab, »ach, nicht so wichtig.«
Sie fand es schon wichtig, aber sie traute sich auch nicht, nachzufragen. Als sie sich aufsetzte, bemerkte sie, dass sie wieder ihr Nachthemd trug. Aber es roch gewaschen. Sie musste einigermaßen lange weggetreten sein. An ihrer Armbeuge bemerkte sie ein Pflaster und einen Bluterguss, als sie zu ihrem Hals tastete, erfühlte sie auch hier einen Klebestreifen. Diese Blessur verdankte sie einem der Gorillas.
Stöhnend hievte sie ihre Körper auf ihre Beine. Er half ihr dabei.
»Was haben die gemacht?«
»Geschaut, ob ich auch brav war«, lachte er, wobei sie es nicht sehr lustig fand, schließlich hatte sie es ausbaden müssen.
»Und was noch?«
»Ultraschall, Blutbild, Urinkontrolle, Abstriche. Das war‘s.«
Maxi fand das reichlich viel für ein simples Entführungsopfer. Langsam dämmerte ihr der Verdacht, dass sie vielleicht bei Menschenhändlern gelandet war. Damit war der Organschmuggel erst mal passé. Ihr Verstand hatte ein neues Horrorszenario gefunden, an dem er sich abarbeiten konnte.
»Warum tut ihr das? Ist das nicht Geldverschwendung?«
»Ist nicht mein Zaster«, meinte er und besah sich ihre Augen. »Deine Pupillen reagieren verzögert, komm, nimm wieder Platz, während ich uns was koche.«
»Antworte mir doch einmal, ohne mir auszuweichen. Warum der ganze Aufwand? Soll ich in einem Bordell arbeiten?«
»Ne«, er schüttelte belustigt seinen Kopf, »dafür haben wir in Russland deutlich geeigneter und jüngere Frauen. Dafür brauchen wir sicherlich keine Deutsche.«
Obwohl es sie eigentlich beruhigen sollte, verletzte sie es zugleich. »Bin ich nicht hübsch?«, fragte sie unsinnigerweise. Warum bettelte sie nicht gleich darum, eine Hure zu sein? Was war denn mit ihrer Intelligenz los, machte die noch ein Nickerchen, oder was?
»Doch, kleines Hausmädchen, aber man geht nicht im Ausland einkaufen, wenn man genug Angebot vor der Haustür hat. Glaub mir, Import lohnt sich in dem Fall nicht.«
»Du kennst dich in dem Metier also aus?«
»Ich kenne mich mit Kriminalität aus. Ja. Das ist mein Gebiet.«
Wieder eine Antwort, die sie eigentlich gar nicht hatte hören wollen. Sie zerstörte die Illusion, dass er ihr vielleicht doch noch helfen könnte, zu entkommen. So aber stellte er unmissverständlich klar, auf welcher Seite er stand – auf der anderen, nicht auf ihrer.
»Schau nicht so erschrocken, Hausmädchen.«
»Wenn du mir einen Besen gestattest, schaue ich nicht nur so, sondern handle auch danach.«
»Immer noch den Wunsch, mich zu verprügeln?«
»Drängender denn je!«
»Gut zu wissen, dann gibt es demnächst lieber Pappteller und Becher. Ich hänge an meinem Leben und an meiner Gesundheit.«
»Ich auch!«
»Gesund bist du«, scherzte er, »das habe ich nun schwarz auf weiß.«
Gleich würde sie ihn auch ohne Besen anspringen. Ihre Fäuste waren Waffe genug.
»Falsches Thema?«, interpretierte er ihren Gesichtsausdruck und ihre geballten Hände süffisant.
Nein, es war ein wirklich wunderbares Thema. Er konnte es sich vor allem wunderbar in den Arsch stecken. Wenn sie ihn überwältigen würde, dann könnte sie ihm ja mal so eine nette Behandlung angedeihen lassen. Er wäre dankbar – so dankbar, dass er es anschließend gerne noch tausend Mal hören wollte.
»Uiui«, kommentierte er ihre düstere Miene, die immer schwärzer wurde, »ich geh dann mal auch kochen, du tust es ja schon.«
Ihr Geduldsfaden war dünner als das Negligee, das ihr Ex-Freund ihr einst geschenkt hatte. Und das war schon ein grauenvoller Hauch von Nichts gewesen.
»Geh«, knurrte sie, »geh.«
»Besser ist das.« Doch bevor er vollkommen verschwand, steckte er seinen Kopf erneut herein. »Sahnesoße war es, oder? War ja klar, Hausmädchen steht darauf, wenn der Mann die Sahne bringt.«
Mit einem Schrei rannte sie auf die Tür zu. Hastig brachte er seinen Dickschädel in Sicherheit und die Tür schlug zu. Mit hochgerissenen Fäusten und schwerem Atem stand sie nun davor und wusste nicht wohin mit ihrer Wut. Sie trat mit dem Fuß dagegen. »Scheißkerl«, brüllte sie, »wenn ich dich in die Finger bekomme.«
Leider bekam sie an dem Abend weder ihn noch etwas zu Essen in die Finger. Ihm war es nach ihrem Wutausbruch wohl zu riskant gewesen, sie zu besuchen. Sie musste ihre Emotionen besser beherrschen. Aber seine Art brachte sie auf die Palme – und zwar auf die höchste, die es gab.
Schließlich ließ sie der Hunger aber kleinlaut werden und als er am nächsten Morgen mit einem Friedensangebot in Form von Kuchen vor ihr stand, war ihr Zorn verflogen. Er war schließlich nur der Paketbote.
»Apfelkuchen?« Er streckte das Kuchenstück weit von seinem Körper weg. So ganz schien er ihrer Friedfertigkeit nicht zu trauen. Schön, dass er sich auch wenig vor ihr fürchtete.
Sie grabschte danach. Übellaunig biss sie ab, kaute, schluckte. Wieder war sein Essen eine Gaumenfreude.
»An dir ist ein Koch verloren gegangen. Schade, dass du lieber kriminell bist.«
»Wie du siehst lässt sich beides vorzüglich verbinden. Ich bekoche einfach meine Opfer«, erwiderte er verschmitzt.
»Bist du immer so freundlich?«
Er legte seinen Kopf leicht schief, dachte nach. »Ja, es hat doch keinen Sinn, unnötiges Leid hervorzurufen. Auch wenn man auf der anderen Seite der Gesellschaft steht.«
Gratulation. Ein Verbrecher mit Anstand und Gewissen. Welche Trefferquote gab es da, auf so ein Exemplar zu stoßen? 1-2 %? Und ihr war es gelungen. Ah, sie hatte doch ein feines Gespür für das Seltene. Leider immer nur für selten dumme Missgeschicke.
»Kannst du mich nicht einfach gehen lassen?«
»Nein.«
»Warum nicht? Wir könnten zusammen fliehen, untertauchen und eine Bäckerei eröffnen.«
Bei ihrem aberwitzigen Fluchtplan musste er laut auflachen. Er wischte sich mit der Hand eine Haarsträhne hinter sein Ohr. »Verlockend, aber man sollte sein Hobby nie zu seinem Beruf machen. Und außerdem, welchen Part übernimmst du dann? Ich bin der Bäcker und du…?
»Die Verkäuferin.«
»Verantwortungsvolle Aufgabe.«
Sie nickte. »Und? Haben wir einen Deal?«
»Ach, Maxine, stell doch solche Fragen nicht derart ernst. Da bricht einem ja das Herz, wenn man dann nein sagt.«
»Dann tue es nicht.«
»Nein, Hausmädchen. Wir bleiben beide in unseren Rollen.«
»Ich kenn ein nettes Spiel, es nennt sich Rollentausch. Interesse?«
»Iss auf.«
Ihr gelang es nicht, ihn zu erweichen. Knallhart blieb er dabei, sie hier die restlichen Tage gefangen zu halten, bis der mysteriöse Schatten ins Licht trat und sich Maxi offenbarte. Sie verstand immer noch nicht, warum die Wahl auf sie gefallen war.
Als sie fertig war. Streckte er ihr seine offene Handfläche entgegen. »Anordnung vom Arzt, die sollst du nehmen.«
»Hast du schon mal was davon gehört, dass man auch gegen ärztlichen Rat entscheiden darf?«
»Hab ich, geht aber in den seltensten Fällen gut aus.« Seine Miene war unbewegt, starr, sie konnte keine eindeutige Emotion herauslesen. War er amüsiert? Gereizt? Sie tippte auf letzteres, denn seine Augenbraue zuckte verräterisch. Wenn sie am Pokertisch sitzen würden, wäre das sein Zeichen.
»Was ist das?«
»Medikamente.«
Sie musste dringend verinnerlichen, dass er auf unspezifische Fragen, unbedeutende Antworten gab.
»Welche Wirkung haben die Tabletten?«
»Habe ihn nicht danach gefragt.«
Sie presste ihre Lippen aufeinander. Es war zum Mäuse melken mit ihm, wobei sie das Gefühl hatte, nicht mal ne Zitze in der Hand zu haben. Da kam kein Tropfen an Information heraus.
»Dann nehme ich sie nicht.«
Er lehnte sich in bekannter Manier zurück. Eine eindeutig dominante Geste. »Soll ich ihn anrufen? Ich bin mir sicher, er freut sich darauf, dir haargenau zu erklären, welche Wirkstoffe darin sind. Er liebt Überstunden. Ganz, ganz doll.«
»Ich will ihm keine Umstände machen…«
»Tust du aber«, schnitt er ihr das Wort ab und seine Hand wanderte näher zu ihrem Gesicht hin. »Also?«
Zögerlich klaubte sie die Pillen aus seiner Hand. Menschenexperimente? Wie schön, ein weiterer, neuer Horrorgedanke, der in ihr aufkam. Sie hatte sich nach Organ- und Menschenhandel schon richtig gelangweilt. Gut, dass jetzt eine neue Option aufgetaucht war. Endlich wieder ein bisschen gruseln. Puh, sie hatte schon befürchtet, vor Langeweile verrückt zu werden. Dem Schicksal war sie nun ja knapp entronnen. Das Leben hielt eine neue Variante ihres Ablebens parat.
»Weißt du es wirklich nicht?«
Seine Miene blieb ausdruckslos. »Komm, mach kein Theater.«
»Auf der Bühne meines Lebens darf ich so viel Theatervorführungen machen, wie ich will.«
Abschätzend betrachtete er sie. Von der Zehnspitze bis zum blonden Scheitel. »Ich bewundere deine Redegewandtheit, aber es wird nichts an der Sachlage ändern, dass ich meine Anweisungen habe und du sie zu befolgen hast. Unser gemeinsames Dilemma, Hausmädchen.«
Nur, dass ihr gemeinsames Dilemma ungerecht verteilt war. Sie hatte den Hauptteil davon abbekommen, während er den kümmerlichen, unbedeutenden Rest besaß. Ob er tauschen wollte? Unwahrscheinlich.
Sie führte die Tabletten zum Mund. Angst kroch in ihre Glieder.
Ivan reichte ihr Wasser. »Damit geht es besser.«
»Noch besser würde es mit etwas Information über das Zeug gehen.«
»Es wird dich nicht umbringen«, gab er einen klitzekleinen Anteil seines Wissens Preis.
»Würdest du es schlucken?«
»Schlucken? Das ist Frauensache.«
Ah. Mal wieder ein gewohnter Machospruch von ihm. Das hatte ihr noch gefehlt. Grimmig stierte sie ihn aufgrund seiner geschmacklosen Äußerung an. Sie war versucht, ihm die Pillen gegen seinen verblödeten Stirnlappen zu pfeffern.
Er rieb seinen Nacken. »Wird es heute noch etwas? Oder brauchst du eine gesonderte Einladung?« Aber sie zauderte weiterhin. Es würde sie nicht umbringen, aber was dann? Lähmen? Blind machen? Sie zu einem willenlosen Zombie werden lassen? Ihre Vorstellungkraft fand viele überzeugende Wirkungen und keine gefiel Maxi.
»Sind sie schädlich?«
Er rollte mit seinen Augen, dann stöhnte er verdrießlich auf. »Wir sind hier nicht beim Ratespiel-Wettbewerb. Ich weiß auch nicht genau, was es ist. Sicher ist nur, dass der Doktor dir kein tödliches Zeug verschrieben hat. Das wäre unsinnig.«
Bei ihrer aktuellen Glückssträhne, die ihr einen Abenteuerurlaub in Russland in einem kleinen Garni-Hotel beschert hatte, war sie sich nicht so sicher, ob die Medikamente nicht doch zu ihrem Tod führen würden.
»Warum hast du ihn nicht gefragt?«
»Aus Prinzip, Hausmädchen. Das ist Sache des Auftraggebers. Ich mache nur das, wofür ich bezahlt werde. Und für Fragen werde ich nicht bezahlt, höchstens gefeuert.«
»Ich bin dir gleichgültig?«
Seine braunen Augen wurden eng und seine Mundpartie verkniffen. »Ich rufe ihn jetzt an, dann ist die Diskussion beendet.«
Das war ein guter Vorschlag, wie Maxine befand. Aufklärung war wirklich dringend nötig.
Ivan verließ das Zimmer und kam ewig nicht zurück. Maxi war erstaunt, wie lange ein Telefonat dauern konnte. Ob er sich auch alle Nebenwirkungen aufschrieb? Das würde die Dauer erklären. Das wäre dann doch recht gewissenhaft von ihm. Sie fing an, ihn zu mögen. Aber ihre Sympathie wurde jäh zerstört, als ihre Tür aufschlug und sich zwei Gorillas den Weg zu ihr bahnten.
»Okay, Jungs«, rief sie den zwei Dampfwalzen zu, »das ist alles ein Missverständnis.« Wie lange wollte sie eigentlich noch glauben, alles, wirklich alles, was ihr widerfuhr, sei ein Missverständnis?
Die zwei Schränke hatten wenig Gehör für ihre Entschuldigung. Sie wurde kurzerhand gegen die nächstbeste Wand gedrückt, dann trat der Arzt ein.
»So Maxine, wir lösen das Problem, dass du mit den Tabletten hast ganz schnell.«
Das kaufte sie ihm sofort ab. Aber sie vermutete, dass er nicht an einer gemeinsamen Lösung interessiert war. Sie behielt zu ihrem Leidwesen recht. Während die zwei Riesen sie mit dumpfer Miene gegen die Wand nagelten, schob der Arzt ihr Nachthemd hoch, desinfizierte eine Stelle an ihrem Oberarm und gab ihr mehrere Spritzen.
Jede einzelne tat höllisch weh. Dann wurde sie losgelassen und der Spuk war vorbei. Die drei Männer rauschten wort- und kommentarlos ab.
Maxi sank auf die Knie. Ihre Schulter brannte und die Einstiche juckten. Überrumpelt von der Situation krabbelte sie schluchzend zurück auf ihr Bettenlager und hielt sich ihren Oberarm.
»Tapfere Mädchen bekommen einen Lolly«, hörte sie eine dunkle Stimme über sich und ein roter Lutscher erschien vor ihrer Nase.
»Bitte…«, sagte sie leise und drückte seine Hand samt Süßigkeit von sich weg. Irgendwas in ihrer resignierten Stimme schien ihn nachdenklich gestimmt zu haben, denn er unterließ eine weitere spöttische Bemerkung, dafür ging er in die Hocke und legte den Lolli achtlos beiseite.
»Ich wollte nicht, dass sie grob zu dir sind«, sagte er und strich ihr über den Kopf. »Aber du hast mir keine andere Wahl gelassen. Ich muss zusehen, dass ich meinen Auftrag ausfülle und du kannst mich ganz schön boykottieren, weißt du das?«
Ja. Am liebsten würde sie sein ganzes Gewerbe mit einem Streik lahmlegen. Ob Verdi auch Verbrecher vertrat?
»Warum bin ich hier?«, sie ging absichtlich nicht auf seine vorgetäuschte Nettigkeit ein. Er sollte ihr mit seiner falschen Freundlichkeit gestohlen bleiben.
»Naja, weil ich den Auftrag erhalten habe, dich hierher zu bringen und dann den Arzt darüber zu informieren. Ich habe auch nicht so viele Details.«
»Aber warum ich?«
Bedrückt räusperte er sich. »Ich weiß nicht…«
»…so viel«, unterbrach sie ihn unfreundlich »das ist inzwischen hinreichend bekannt«. Sie wollte alleine seine. Seine Anwesenheit empfand sie in ihrer miesen, melancholischen Stimmung als störend. »Du bist nur ein Lakaie.«
»Autsch«, entfuhr es ihm, »das trifft mich. Als gewöhnlicher Handlanger wurde ich noch nie bezeichnet, dafür stehe ich in der Rangordnung eigentlich zu weit oben.«
»Es gibt immer ein erstes Mal.«
»Sieht so aus«, er zwirbelte eine ihrer Haarsträhne zwischen seinem Daumen und Zeigefinger. »Du bringst mein Leben gehörig durcheinander. Selbst deine Beleidigungen erfreuen mich.«
Sie schwieg. Ging nicht auf seine Offenbarung ein, sondern richtete ihren Blick gegen den Boden.
»Ich lasse dich alleine«, durchbrach er die unangenehme Stille, »dann hast du Zeit für dich.«
Maxi wartete bis er hinter der Tür verschwunden war, dann warf sie sich rittlings auf die Matratze und starrte zur Decke. Ihr ganzer Arm schmerzte, aber bis jetzt ging es ihr noch erstaunlich gut. Eventuelle Nebenwirkungen ließen auf sich warten.
Sie verharrte stundenlang in der Position. Ihre einzige Ablenkung waren die wandernden Schatten der Eisenstäbe, die die Sonne durch den Raum trieb. Anhand dessen konnte Maxine auch erahnen, dass der Abend sich näherte und die Sonne langsam tiefer sank.
Irgendwann setzte eine eklige Übelkeit ein, wobei Maxi nicht sagen konnte, ob es von ihrer Psyche oder von ihrem Körper herrührte. Sie krabbelte zur Toilette und übergab sich.
»Ist dir schlecht?« Er war in ihr Zimmer gekommen.
»Nein, ich hänge hier nur ein bisschen ab«, giftete sie zurück. Was für dumme Nachfragen er stellen konnte.
Er ignorierte ihre Spitze geflissentlich und ging darüber hinweg. »Er meinte, das könnte auftreten. Ist aber harmlos. Du sollst nur ausreichend trinken.«
Ja, trinken war jetzt eine gute Idee. Am besten Hochprozentiges. »Guter Tipp. Ein Wodka, bitte. Mit Eiswürfeln.« Auf ihre Lage konnte man nur mir Schnaps nicht mit Champagner anstoßen.
»Du kriegst Wasser – gerne auch mit Eiwürfeln.«
»Spielverderber.«
»Einer muss ja der Vernünftige von uns zweien sein.«
»Bei deiner Berufswahl bezweifele ich, dass du tatsächlich der Vernünftigere von uns bist.« Sie hätte gern noch weiter geschimpft, aber ein Würgen unterbrach ihren aufgebrachten Redefluss.
Plötzlich stand er hinter ihr und hielt ihr das Haar aus dem Gesicht zurück. Das fand sie nicht nett, sondern nur beschämend, aber sie zwar zu schwach, um zu protestieren. Sie spukte. Ihr Magen krampfte schmerzhaft in ihrem Leib. Sie musste mit dem Arzt unbedingt die Definition von harmlos diskutieren. Im Moment fühlte sie sich wie vom Panzer überrollt, also weit entfernt von seiner Bagatellisierung.
»Er hat mir ein Medikament für dich dagelassen, wenn die Übelkeit nicht nachlässt.«
»Bist du irre?«, sie keuchte beinahe, »als würde ich von dem Typen noch irgendwas konsumieren. Du siehst doch, wie es mir geht.«
»Aber…«
Sie wendete ihren Blick zu ihm hin und weg von der entzückenden Aussicht einer Kloschüssel. Er verstummte unter ihrem feurigen Blitzen augenblicklich und hielt still und stumm ihre Haare fest. Wenigstens konnte er auch mal seine Klappe halten. Sie riss hingegen ihre weit auf, wenn auch aus anderen, unschönen Gründen.
Ivan blieb bis zum Schluss, was in Zeit gemessen, bis zum frühen Morgen währte. Erst als sie aufgehört hatte, sich zu übergeben und erschöpft auf der Matratze eingeschlafen war, war er aus dem Zimmer geschlichen.
»Hallo?«
»Was ist Ivan?«
»Maxine geht es nicht so gut. Was hast du ihr gegeben?«
»Ein Gegenmittel.«
»Wogegen? Ich verstehe nicht…«
»Das brauchst du auch nicht.«
»Ich soll sie wohlbehalten abliefern«, meinte Ivan ruhig und bestimmend. »Daher möchte ich es aber gerne verstehen.«
»Ich versichere dir, dein Auftrag ist in keiner Weise gefährdet.«
»Die Medikamente…«
»Es geht dich nichts an, Ivan. Wenn es ihr wirklich morgen nicht bessergehen sollte, melde dich wieder.«
Dann wurde aufgelegt und Ivan stand ziemlich ratlos mit dem Handy in seiner Hand da. Es ärgerte ihn, dass man ihn im Dunklen ließ. Normalerweise war er der Macher und nicht der Untergebene. Aber sein Auftraggeber war inkognito auf ihn zugekommen und hatte ihm erstaunlich viel Geld, bei sehr geringen Informationen geboten. Und er hatte zugestimmt. Jetzt hatte er das Gör an der Backe, dass ihm erstaunlich schnell an Herz gewachsen war.
Er seufzte. Verdammt.
»Na, Hausmädchen«, er reichte ihr eine neue Zahnbürste, »geht es dir besser?«
»Passt schon.«
»Hunger?«
Sie strafte ihn mit Missachtung. Aber er blieb wie eine Zecke hartnäckig und saugte sich fest. »Du musst doch Hunger haben!«
»Und du ein Gehirn«, knurrte sie, »aber da haben wir wohl beide falsche Erwartungen.« Sie war überreizt. Ihr Wachhündchen war ein Wadenbeißer und ihr fehlte ein Stromhalsband, um es zu züchtigen.
»Dein Sarkasmus…«
»Ist respektlos.« Sie nickte. »Ich habe es mir gemerkt.«
»Was hindert dich dann daran, deine Lernerfahrung in Taten umzusetzen?« Tja, was hinderte sie daran? Ihr Trotz. War doch nicht so schwer zu verstehen.
»Ich bin halt dumm.«
Er atmete langsam ein, dann aus. Er rang um Beherrschung. »Lass uns die Streitigkeiten beilegen, uns bleiben noch 5 Tage und ich möchte es dir so angenehm wie möglich machen. Falls du es zulassen kannst.«
Und in den fünf Tagen wollte er aus ihrer Gefangenschaft einen Wellenessurlaub machen, oder was schwebte ihm vor? Innerlich brüllte sie den Scheißkerl an, nach außen blieb sie erstaunlich gefasst, was aber auch daran liegen mochte, dass ihr immer noch latent übel war.
»Ich kann es zulassen, wenn du in Erwägung ziehen könntest, einem gewissen Arzt Hausverbot zu geben.«
»Er kommt nicht mehr. Keine Sorge, Hausmädchen.«
Aber wer kam stattdessen? Fünf Tage blieben ihr, bis ihr Schicksal sich endlich vor ihren angstgeweiteten Augen entblättern würde. Und dann? Sie erschauderte. Ihr Verstand hatte da schon einige grausigen Möglichkeiten parat. Sie war in den wenigen Tagen zu einer begabten Horror-Regisseurin aufgestiegen. Keine makabre Todesart, die ihr Gehirn nicht in detailverliebten und in bildgewaltigen Szenen gedreht hatte.
»Kannst du mich wirklich nicht gehen lassen?« Er war ihre Hoffnung. Niemand hielt einem die Haare aus dem Gesicht, wenn man sich übergab, ohne ihn zu mögen.
Er wirkte einen Wimpernschlag lang zerrissen. Und in ihr keimte Zuversicht auf. Aber dann wurde seine Miene emotionslos und verdunkelte den Silberstreifen am Horizont. »Nein.«
»Du könntest mein Held sein«, schmeichelte sie ihm. Männer standen doch darauf, wenn sie kleine Frauchen beeindrucken konnten. Sie war gerne ein Frauchen, wenn er dafür seiner Aufgabe nachkam und sie befreite.
»Und du mein Sargnagel«, meinte er schroff. Er hatte ihre Taktik durchschaut. Aber er war eben auch kein dummer Verbrecher – zu ihrem Bedauern, denn solche Exemplare konnte man gut um den Finger wickeln. Bei ihm hingegen war Fingerspitzengefühl gefragt, was für sie als tollpatschiges Wesen so schwer zu bekommen war wie ein Ehering von Prinz Harry.
»Willst du duschen?«, veränderte er mit der Frage die Richtung der Konversation abrupt.
Sie holte tief Luft. Nachdem sie inzwischen bestimmt wie ein Frettchen roch, war sein Vorschlag annehmbar, auch wenn Maxi die Taktik hinter dem Themawechsel durchschaute. Er wollte sie nicht retten.
»Ja«, erwiderte sie monoton und ließ sich von ihm zur kleinen Eckdusche begleiten, die sauber und geputzt wirkte. Also eins musste man ihrem Entführer lassen, seine Unterkunft war sehr gepflegt.
Mit wackeligen Beinen stieg sie über den schmalen Rand der Duschwanne und stellte sich unter die Brause. Erwartungsvoll schaute sie ihn an, während er ihren stummen Blick nur gehässig erwiderte. Maxi seufzte innerlich. Von Privatsphäre hielt er wohl nichts.
»Könntest du dich bitte umdrehen, während ich mich ausziehe?«
Er grinste spöttisch. »Falls es dir entgangen ist, Maxine, ich habe dich jetzt schon etliche Male nackt gesehen, oder wer glaubst du, hat dir dein Nachthemd angezogen? Wir sind hier nicht in einem Disneyfilm, hier gibt es keine Vögelchen, die dich ankleiden.«
»Stimmt«, grummelte Maxi, »wenn wir das wären, wärst du deutlich galanter und wahrscheinlich ein Ritter – und kein Entführer.«
»Wer sagt das? Bei Disney gibt es immer einen Bösewicht.«
»Die sehen aber nicht so gut aus wie du.«
Ups. Hatte sie das tatsächlich gesagt? Wie frappierend. Aber wenigstens wurde ihr Gegenüber mindestens genauso knallrot wie sie. Wenn das keine Genugtuung war. Sie konnte ihre Körperreaktion wenigstens darauf schieben, dass sie sich vor einem Fremden entblößen sollte, er nicht.
»Oh«, stieß er hervor, nur um dann ins genauso bedeutungslose »äh« zu wechseln. Hatte sie es tatsächlich geschafft, ihn sprachlos zu machen? Das wäre ja grandios. Doch ihre innerliche Zufriedenheit wurde jäh gestört, als kräftige Hände an ihrem Nachthemd zogen.
»Zieh dich jetzt aus und dusche.«
Er hatte also die Sprache wiedererlangt und zusammen mit seiner Artikulationsfähigkeit war also auch seine ungestüme Tatkraft zurückgekehrt. Er zerrte grob an den Stoff ihres Nachthemdes und stülpte es ihr einfach über den Kopf, sodass sie Sekunden später nackt vor ihm stand. Jetzt war sie es, die glühende Wangen bekam. Rasch bedeckte sie mit ihrem linken Oberarm ihre Brüste, während ihre rechte Hand ihre Scham bedeckte.
Er sah sie leicht ärgerlich an. »Schon vergessen? Ich darf dir nichts tun.«
»Du hast auch gesagt, der Arzt kommt nicht mehr. Also wer versichert mir, dass du nicht jetzt die Gelegenheit ergreifst.«
»Jetzt, wo du es erwähnst. Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht…«
Um Himmels Willen, Maxine, halte doch endlich mal deine vorlaute Klappe, brüllte ihr Verstand sie erzürnt an, doch ihr Trotz streckte ihm nur die Zunge heraus. Sie war nicht grundlos aus zahlreichen Jobs herausgeflogen, irgendwie gewann immer ihr impulsiver Anteil in ihr. Selbst hier, in dieser verzwickten Situation, wo eine Kündigung leider nicht möglich war.
»Ich…«, sie setzte zum verbalen Gegenschlag an, doch Ivan zuckte nur mit seinen breiten Schultern und trat einen Schritt zurück. Mit einem lauten Knurren schnitt er ihr das Wort ab. »Aber ich will dich gar nicht.«
5 Wörter, die sie hätten erfreuen sollen, doch Maxines Selbstbewusstsein zerbarst mit ihnen. Sie hörte in dem kleinen Satz so viel Abscheu heraus, dass sie sich plötzlich ganz klein und wertlos fühlte. Ja, es war paradox und unerklärlich, warum seine Aussage sie dermaßen traf.
Erschüttert über seine harsche Ablehnung, starrte sie ihn aus großen, verletzlichen Augen an, aber er nahm seine Worte nicht zurück, sondern wiederholte sie nur flüsternd: »Ich will dich gar nicht.« Dann drehte er sich um und verließ den Raum.
Maxine stand wie betäubt unter der Dusche. Nackt und frierend. Sie machte weder die Anstalten zu duschen, noch sich ihr Nachthemd, das er achtlos auf den Fußboden geworfen hatte, zurückzuholen und anzuziehen.
Er mochte sie nicht. Er verabscheute sie. Paralysiert wiederholte sie ihre Einschätzung mantraartig in ihrem Kopf. Sie hatte den Satz schon mal gehört, von ihrer großen und einzigen Liebe. Ich will dich nicht, Maxine. Danach hatte sie beschlossen, dass die Liebe nur etwas für Dumme und Einfältige sein könnte. Sie hatte sich bewusst entliebt.
Sie schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter, der ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie zwang die melancholische Maxine gewaltsam zurück in ihr Gefängnis und schüttelte sich. Diese Maxine hatte keine Daseinsberechtigung. Sie stellte die Dusche auf kalt, wusch sich und stieg hinaus. Ihr nasses, kaltes Haar klebte ihr im Gesicht und an ihren Schulterblättern. Jetzt fror sie wirklich. Und der bescheuerte Typ hatte ihr keinen Föhn gegeben. Wahrscheinlich befürchtete er, sie würde daraus eine funktionsfähige Waffe bauen.
Bibbernd schlang sie die Bettdecke um ihren feuchten, ausgekühlten Leib und setzte sich auf den Matratzenrand. Nicht mal ein Handtuch zum Abtrocknen war da. Das Hotel Entführung ließ langsam in seiner Qualität nach. Das würde eine 1-Sterne-Bewertung geben. Darauf konnte Ivan sich verlassen.
Ihre langen Haare blieben weiterhin nass und durchfeuchteten nun auch die Bettwäsche unangenehm. Bald wäre alles nass und kalt. Sie stand auf, und ging zur Tür. Prüfend legte sie ihr Ohr an das Holz und lauschte. Wo war Ivan? Sie horchte, aber es blieb, bis auf das Rauschen in ihrem Ohr, ruhig und geisterhaft still. Wahrscheinlich war ihr Entführer ausgegangen und besorgte sich nun die Frauen, die er wirklich wollte. Ein Stich ging durch ihr Herz, den sie aber sofort wieder verbannte. Maxine war vielleicht ein trauriges, sensibles Mädchen, aber Maxi sicherlich nicht. Sie straffte ihre Rückenmuskulatur und richtete ihren Oberkörper stolz auf. Sie widmete ihre Aufmerksamkeit dem Außen- und nicht mehr ihrem Innenleben. Interessiert inspizierte sie die Beschaffenheit der Tür. Sie war aus gewöhnlichem Holz, die Türangeln aus Metall, aber besonders verschraubt, sodass man die Nägel nicht herausdrehen konnte. Da hatte jemand mitgedacht. Okay, er hatte erwähnt, dass er ein Profi war, aber sie wollte es ihm einfach nicht glauben.
Nachdenklich befühlte sie mit ihren Fingerspitzen erneut die Oberfläche der Tür. Das verwendete Material wirkte durchaus stabil, aber in so vielen Filmen und Büchern wurden Türen eingetreten, da musste es doch durchaus möglich sein, dass eine verzweifelte Frau die gleiche durchschlagende Kraft entwickelte. Oder?
Noch zögerte Maxi. Dann schloss sie die Augen, nahm Anlauf und trat zu. Ein ohrenbetäubendes Krachen hallte durch das stille Haus und ein glühender Schmerz bahnte sich seinen Weg von ihrem Fußballen bis zu ihrem Gehirn vor.
»Verdammt«, keuchte sie und ging mit schmerzverzerrten Gesicht in die Knie. Wie die Helden danach weiterlaufen konnten, war ihr ein Rätsel.
Mit Tränen in den Augen sah sie zur Tür hin – und erstarrte. In dem Holz war lediglich eine kleine Delle. Die Geräuschkulisse hatte ihr ein ganz anderes Ergebnis versprochen! Das sollte alles gewesen sein? Nein, nicht, nicht alles, ihr Ausbruchsversuch sollte noch ein bitteres Nachspiel haben, wie sie gleich darauf erfuhr. Denn die Tür schwang plötzlich auf, was aber nicht ihrem Einsatz, sondern einem grimmigen Entführer zu verdanken war.
Er war also doch im Haus gewesen. Ungünstig. Sehr ungünstig.
»Bin ausversehen ausgerutscht und gegen die Tür gefallen.«
»Mit dem Fuß zuerst, nehme ich an«, erwiderte er trocken und sah auf sie herab.
»Kann sein.«
Er besah sich die Delle in der Tür genauer, dann schüttelte er seinen Kopf. »Das funktioniert nur in den seltensten Fällen. Dass immer alle auf diese Filmszenen hereinfallen, darüber lacht die ganze Gangsterwelt.«
»Hatte noch nicht sooft die Gelegenheit diese Filmszene auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen«, zischte Maxi zurück und rieb ihren pochenden Fuß.
»Versuch mach kluch«, witzelte er und ging dann ebenfalls in die Hocke. »Hast du dir wehgetan?«
Natürlich. Ihr ganzes Bein brannte wie die Hölle. »Nein.«
»Maxine«, betonte er ihren Namen, sodass sein Tonfall schon zu einer deutlichen Einschätzung seiner Stimmungslage beitrug, die nicht sehr positiv war.
»Ja?«
»Ich wollte nicht auf solche rüden und martialischen Methoden zurückgreifen, aber wenn es sein muss, fixiere ich dich. Und zwar so, dass du dich nicht mal an deiner Nase kratzen kannst, wenn sie juckt.«
»Das Einzige, was mich juckt, bist du.«
Patsch. Er hatte sie gepackt und bäuchlings auf den Boden befördert. Sein trainierter Körper saß schwer auf ihrem Rückgrat und nahm ihr die Luft zum Atmen. Sie schnaufte. »Ja, fast die richtige Stelle, noch etwas weiter oben, bitte, da juckt es.«
Ihre Arme wurden ihr als Antwort auf ihren frechen Spruch auf den Rücken gedreht und mit Kabelbindern gefesselt. Hatte er das Zeug denn immer dabei? Gab es da ein geheimes Hosentaschenfach für Entführer? Sie zappelte, aber er war stärker. Mit beiden Armen hob er sie hoch und warf sie sich über die Schulter. Mit hochrotem Kopf baumelte sie genau neben seinem muskulösen Gesäß. Und tatsächlich, in der Hosentasche sah sie mehrere Kabelbinder.
Er stieß die Tür mit seiner Fußspitze auf, während seine Hände ihre Füße stillhielten, und er trug sie aus ihrem Zimmer heraus.
Erstaunt hielt sie inne und verrenkte ihren Kopf, bis ihre Nackenmuskulatur brannte. Zum ersten Mal – bis auf diesen unschönen Besuch des Arztes – war sie außerhalb des schlichten Raumes. Sie wurde an geschlossenen Türe vorbei und eine Wendeltreppe hinuntergetragen, bis sie in einem gemütlichen Wohnraum landeten.
Ivan steuerte auf das breite, massige Ledersofa zu und setzte dort die verdutzte Maxine ab.
»Du wolltest doch den Rest des Hauses sehen, das hier ist mein Lieblingsraum, hier entspanne ich.«
Sie hatte nicht den Rest des Hauses, sondern das Haus in weiter Ferne sehen wollen. Aber sie verzichtete auf diese Art von Korrektur, die ihr nur wahrscheinlich zusätzliche Fußfesseln eingebracht hätte.
Neugierig überflog sie den Wohnraum, der tatsächlich gemütlich und beruhigend wirkte. Deckenhohe Bücherregale, ein Kamin und ein Teppich sorgten für eine unglaublich warme Atmosphäre. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde man meinen, bei einem gehobenen, intellektuellen Mann zu Hause zu sein.
Auf dem rustikalen Couchtisch lag ein aufgeschlagenes Buch, aber Maxine konnte den russischen Titel nicht entziffern. Sie musste Ivan gerade beim Lesen gestört haben.
»Du sprichst akzentfrei Deutsch«, meinte Maxi, während sie mit ihrem Kopf eine Geste zu dem Buch mit der kyrillischen Schrift machte, »wie kommt’s?«
»Meine Mutter war Deutsche, aber ich bin in Russland aufgewachsen.«
Maxi war ein bisschen über seine plötzliche Ehrlichkeit verwundert. Erst sprach der Typ kein vernünftiges Wort mit ihr und nun erzählte er ihr breitwillig einen Teil seiner Familiengeschichte?
»Und wissen deine Eltern, was aus dir geworden ist?«
»Du meinst, ob sie wissen, dass ich ein respektabler Geschäftsmann der Unterwelt bin?«
»Wenn du es so nennen magst.«
»Natürlich. Es war ihr größter Wunsch, dass ich in ihre Fußstapfen trete und das Familienunternehmen weiterführe.«
Maxine blieb der Mund offenstehen. Gab es tatsächlich solche mafiösen Familienstrukturen. Bis jetzt hatte sie das alles für Fiktion gehalten. Und sie hatte das Glück, diese Annahme gleich persönlich überprüfen zu dürfen – hautnah und authentisch. Es gab solche Familien.
»Was machen deine Eltern?«
Er sah sie lange an, dann erwiderte er: »Nichts mehr, sie sind tot.«
Juhu. Ein weiteres Fettnäpfchen, welches sie nicht ausgelassen hatte. Die standen aber auch wirklich im Millimeterbereich rum.
»Mein herzliches Beileid.«
»So? Dein Beileid?« Er hob verspielt seine Augenbraue an, »dabei habe ich das Gefühl, dass du mir ebenso den Tod an den Hals wünschst.«
Da hatte er nicht ganz Unrecht. Aber erst, wenn sie aus seinen Fängen entkommen war. Nichts war lebensungünstiger, als in einem Zimmer bei einem toten Entführer eingesperrt zu sein.
»Nein, ich will nicht, dass du stirbst.« Noch nicht, du Bastard.
»Solange du noch in meinen Fängen bist«, vollendete er ihren Satz. Oh Gott, er war ein begnadeter Gedankenleser, was für ein Talent. Maxi musste unbedingt ihre Miene besser kontrollieren, wenn sie nicht wollte, dass er aus ihr las wie aus einem offenen Buch.
»Hm«, gab sie indifferent zurück und kuschelte ihren Körper gegen das weiche Leder.
Er setzte sich neben sie und seine Hand fuhr durch ihr Haar. »Du bist noch ganz nass.« Plötzlich wurde sein Gesicht betroffen und es entfuhr ihm zerknirscht. »Ich habe nicht daran gedacht, dir einen Föhn zu geben.«
»Korrekt.«
»Oh, das tut mir Leid. Warte…«, er sprang hastig auf und lief die Treppe hoch. Das war ihre Chance. Ohne lange nachzudenken, ob es sinnvoll war, nur mit einem nassen Nachthemd und feuchten Haaren – nicht zu vergessen mit gefesselten Händen – einen Fluchtversuch zu wagen, rannte sie zur Terrassentür. Hektisch drehte sie dem Türknauf den Rücken zu und fummelte mit ihren zusammengebundenen Händen an dem Griff herum. Ihr Herz raste, sodass Maxi befürchtete, sie würde eher an einem Herzinfarkt verenden, als erfroren im dunklen Wald bei der Flucht draufgehen.
Dann stand er da. Ruhig, gelassen, mit dem Föhn in seiner Hand. Und er lächelte…bei diesem Lächeln wurde Maxi schlecht, sehr schlecht.
»Ich, ich, ich…«, stammelte sie. Ihr fiel beim besten Willen keine vernünftige Ausrede ein. Staubwischen? Die hervorragende Qualität des Türgriffs befühlen? Den Ausblick genießen? Fingertraining machen…?
»Komm her«, beendete er ihr Gedankenkarussell und deutete auf ihren vorigen Platz auf dem Sofa.
»Ich wollte wirklich nicht…«
»Fliehen?«, meinte er leise und lächelte sie weiter stoisch an. »Was denn dann?«
Tja. Jetzt war sie wieder bei ihren nutzlosen Ausreden, von denen keine wirklich passen wollte. Hätte sie sich doch vorher schon ein Repertoire nützlichen Ausreden zurecht gelegt, dann würde sie jetzt nicht so blank dastehen.
»Okay.« Sie stellte sich der Wahrheit. »Ich wollte abbauen. Ist das denn nicht nachvollziehbar?«
»Doch ist es. Und wenn du dich nun in meine Lage versetzen würdest, was würdest du jetzt an meiner Stelle mit dir tun? Hm?!?«
Maxi hatte schon bei ihren Lehrern diese rhetorischen Fragen gehasst. Maxine, du hast schon wieder deine Hausaufgaben gemacht. Was machen wir nun mit dir, sag?
Bockig stierte sie ihn an. Genau wie sie es mit dem Direktor Gutenland getan hatte. Unbeugsam und ungebrochen.
»Fick dich«, säuselte sie. Ivan schaute nicht anders als Herr Gutenland, als sie die Worte deutlich und langsam aussprach »Fick dich«. Aber er gewann seine Contenance schneller zurück als der Direktor, wahrscheinlich war er in der Unterwelt einen rüderen Umgangston gewohnt als es ein Akademiker war. Sein Gesicht entgleiste ihm kaum, es blieb beinahe erschreckend unbewegt.
»Maxine«, sagte er in einem süffisanten Tonfall, »du verwechselt da was, wenn, dann wirst du gefickt. Und zwar vom Leben, nicht von mir. Und jetzt stell meine Geduld nicht länger auf die Probe und setz dich wieder hin.«
Er hatte mit seinen Worten die Sache auf den Punkt gebracht. Das Leben spielte ihr übel mit, wenn dann war wirklich sie es, die vom Leben gefickt wurde. Niemand sonst.
Langsam bewegte sie sich auf das Sofa zu, auch wenn ihre Beine sich eigentlich weigerten, dorthin, in seine Nähe, zurückzukehren. Aber ihr blieb keine andere Wahl. Im Gegensatz zu Gutenland warf er sie nicht hochkant hinaus – was in diesem Fall absolut wünschenswert gewesen wäre. Er bestand darauf, dass sie blieb. Blöd gelaufen.
Sie sank auf die Sofakante, ließ ihn dabei aber nicht aus den Augen. Sie befürchtete das Schlimmste. Ängstlich kniff sie die Augen zusammen, als er zu ihr kam, doch gegen ihre Erwartung schlug er sie nicht.
Stattdessen steckte er den Föhn ein und trocknete wortlos ihr Haar. Sie blieb ebenfalls stumm und genoss sogar ein wenig seine Hände, wenn er mit gespreizten Fingern durch ihr Harr fuhr und es entwirrte. Müde von dem Stress der letzten Tage lehnte sie sich gegen seinen Oberkörper und ließ es zu, von ihm gehalten zu werden.
Als er fertig war, blinzelte sie und richtete sich erschrocken auf. Sie war tatsächlich eingenickt. Beschämt drehte sie ihren Kopf weg, doch er fing ihre Bewegung ab, indem er ihr Kinn zwischen seinen Daumen und Zeigefinger nahm und ihr Gesicht dem seinen zuwandte. »Wollen wir nun Frieden schließen?«
»Ja.« Sie nickte erschöpft.
»Keine Fluchtversuche mehr?«
»Aktuell nicht.«
»Aktuell?«, griff er ihr ehrliches Versprechen skeptisch auf.
»Die nächsten zwei Tage?«, versuchte sie einen Kompromiss auszuhandeln, auch wenn sie wusste, dass sie definitiv den Kürzeren ziehen würde.
»Kein Problem. Das bedeutet für dich zwei Tage ohne Fesseln und drei Tage mit, wenn du es so willst, gerne.«
Seine Argumente waren stets so simpel, dafür aber so überzeugend.
»Okay, alle 5 Tage.«
»Sicher?«
»Klar.« Genauso klar, wie sie bei allen Schulprüfungen nie geschummelt hatte.
»Gut«, seine Stimme klang misstrauisch, doch dann kippte sie ins Weiche. »Du hast jetzt lange nichts mehr Richtiges gegessen und trinken solltest du auch etwas.«
Dieses Mal war sie heilfroh, dass er das Thema wechselte. Denn ihr Pokerface war nicht unerschöpflich. Und er sollte doch bitteschön nicht erfahren, dass sie es mit ihrem 5-Tage-Versprechen nicht ganz so ernst nahm.
»Ich wärme und schnell was in der Mikrowelle auf.« Dann schmunzelte er. »Ach ja, und lass mich dich noch schnell über die Besonderheiten dieses Ferienhauses aufklären.« Er zeigte auf die Türen. »Die Griffe lassen sich nur mit einer Magnetkarte öffnen und die Scheiben sind bruchsicher.« Jetzt kicherte er diebisch. »Ich weiß, das hätte ich dir früher sagen sollen, aber es hat mir einfach zu sehr Spaß gemacht, dich ein bisschen zu ärgern.«
Was? Dieses ganze verdammte Haus war ein Gefängnis? Damit hatte sie nicht gerechnet. Betrübt warf sie der vermeintlichen Freiheit auf der anderen Seite des Fensters einen sehnsuchtsvollen Blick zu. Adieu Freiheit.
Er verschwand – zu ihrem Missfallen immer noch amüsiert kichernd – in der angrenzenden Küche und kam eine halbe Stunde später mit dampfenden Essen zurück.
Es sah aus wie eine Art Auflauf, nur ohne Fleisch und irgendwie auch ohne Kontur. Vielleicht glich es auch eher einem undefinierbaren Matsch. Eigentlich war sie von ihrem Gastgeber bessere Kochkünste gewöhnt.
Behutsam flößte er ihr erst Wasser ein, dann schöpfte er den seltsamen Brei auf den Löffel und hielt ihn ihr vor den Mund. »Es wird nicht besonders gut schmecken, aber es enthält viele Nährstoffe, Boxer essen das immer vor Kämpfen.« Naja, wenn sie also fit für den nächsten Kampf mit ihm sein wollte, sollte sie es essen.
Ergeben öffnete sie ihren Mund und ließ sich von ihm füttern, was blieb ihr mit den gefesselten Händen auch anderes übrig. Es schmeckte genauso unsäglich, wie es aussah. Sie würgte es tapfer hinunter, um ihn nicht zu kränken.
»Schmeckt es?«
»Du hast schon mal besser gekocht. Ist deine Haushälterin im Urlaub?«
»Hey, das ist prämierte Sportlernahrung.«
»Prämiert für was?! Anscheinend nicht für ihren Geschmack.«
Ungerührt ihrer Kritik stopfte er ihr Löffel um Löffel in den Mund, bis die Schüssel leer war. Doch nach dem Essen überkam sie eine eigentümliche Übelkeit.
»Mir ist schlecht«, murmelte sie.
Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht. »Mhm«, bestätigte er ihre Aussage. »Du hast ein paar aufregende Tage hinter dir, es ist vielleicht besser, wenn du noch etwas schläfst.«
Sie übergab sich direkt auf seinen schönen Teppich. Wer nicht hören wollte, muss eben fühlen. Sie wäre voller Schadenfreude gewesen, wenn es ihr nicht so dreckig gehen würde.
Er stütze sie besorgt. Irgendwie hatte sie von ihm eher einen Wutausbruch erwarten, schließlich entleerten sich Gäste sonst nicht so ungestüm auf seinen Teppich, aber er blieb ruhig. Seine Hand strich ihren Rücken lang, beruhigende drangen seinen murmelnden Worte zu ihrem Geist vor.
»Komm, Maxi, wir gehen ins Bad.«
Endlich mal eine gute Idee von ihm. Sie schwankte trotz seines festen Griffes.
»Geht’s?«, wollte er wissen, als er sie zur Toilette begleitete.
»Ging schon besser«, sagte sie leise und dann brach sie zusammen.
Der Arzt beugte sich über ihr blasses, verschwitztes Gesicht, während Ivan besorgt neben ihr stand.
Maxi sah sein altes Gesicht verschwommen. »Es ist alles nur ein Irrtum« hauchte sie. Und wehrte den Mann mit ihren Händen ab, der sie eindringlich musterte.
»Ich nehme sie mit zu Jonny«, befand er schließlich und winkte seinen zwei Gorillas, die ihm nicht von der Seite wichen.
»Nein, auf keinen Fall bringst du sie zu dem Irren«, meinte Ivan entschlossen und trat schützend vor Maxi, die ihren Entführer kaum wiedererkannte. Er konnte ja doch ein Held sein. Ein bisschen spät, aber immerhin - und das obwohl sie ihm seinen Teppich versaut hatte. Hätte sie das früher gewusst, hätte sie ihm eher auf den Perser gekotzt.
»Geh aus dem Weg, Ivan«, grollte der alte Mann und Maxi schwante nichts Gutes, ihr Held wurde gerade ordentlich auf seinen Platz verwiesen und der war nicht gerade auf dem Königsthron. Eher Abstellkammer.
Sie wurde grob auf die Beine gestellt.
»Nein, sie bleibt bei mir«, schrie Ivan und zerrte an ihrem Oberarm, was ihren aufkommenden Schwindel nicht gerade beruhigte.
Einer der Wachmänner löste sich von ihrer Seite und nahm sich den rebellischen Ivan zur Brust. Maxi beobachtete, wie der eigentlich kräftige Kerl wie ein kleiner Bube durch das Zimmer geschleudert wurde. Während der Arzt in Seelenruhe ihren Arm abfuhr, als suche er etwas.
Ihr Sichtfeld wurde unscharf. Irgendwie endete die Begegnung mit diesem mysteriösen Arzt immer so. Sehr unerfreulich. Und Maxi bezweifelte zudem, dass es nicht gerade gesundheitsförderlich war, sooft das Bewusstsein zu verlieren.
Als sie wieder zu sich kam und der Drehschwindel nachließ, bemerkte sie, wie komfortabel sie es zuvor bei Ivan gehabt hatte, denn hier war weder der Raum noch ihre Lage gemütlich. Jetzt lag sie an Füßen und Armen fixiert auf einer harten Liege, in ihre Augen stach grelles, kaltes Neonlicht. Die Decke, soweit sie das unter dem hellen Licht erkennen konnte, bestand aus unverputzten Beton. Sie würde dem Arzt dringend einen Innenarchitekten ans Herz legen. Das war doch keine Atmosphäre, wo man schneller gesund werden würde.
Empört murrte sie und blinzelte wütend gegen das Deckenlicht an, dass ihr die Sicht nahm. Probeweise riss sie an ihren Fesseln, die sich aber keinen Millimeter lösten, dafür schrillte in ihrem Kopf ein lautes Pfeifen los.
Okay, Maxi, blieb ruhig liegen. Sie hörte auf, wie wild herumzuzappeln und sondierte die Lage erneut. War sie doch bei Organhändlern gelandet? Der Gedanke trug nicht zur Beruhigung bei, sondern zu einem heftigen Adrenalinausstoß. Herzlichen Dank, liebes Gehirn, auf dich ist immer verlass, wenn es um Schauergeschichten geht. Und nur so eine kleine Randbemerkung: Dieses Szenario hatten wir schon! Also bleib mir damit gestohlen, schimpfte sie ihren eigenen unfähigen Verstand aus.
Sie presste ihre Augenlider zu, um sie gleich wieder aufzureißen. Endlich ebbte die Übelkeit und das Schrillen ab. Sie drehte vorsichtig ihren Kopf erst nach links, dann nach rechts. Der Raum war groß, kahl und hallenartig. Neonröhren hingen aneinandergereiht an der grauen Decke. Mehr gab es in dem Raum nicht zu entdecken.
Frustriert richtete Maxi ihren Blick erneut gegen die Decke, als Schritte sie hochschrecken ließen. Einer der Gorillas steuerte direkt auf sie zu, Maxi duckte sich weg, obwohl diese Handlung nur andeutungsweise geschah, da ihr die Fixierung dafür nicht den tatsächlichen Spielraum ließ.
»Hallo, wir haben uns noch nicht vorges…«, bevor Maxi weitersprechen konnte, hatte er schon ihr Kinn gepackt und drückte ihren Mund auf, mit der anderen Hand presste er ihr eine Wasserflasche an die Lippen.
»Trink.«
Gesprächig war der Kerl nicht gerade und die Höflichkeit ließ auch deutlich zu wünschen übrig. Da aber sein harter Griff diese Attribute wettmachte, tat sie ihm den Gefallen, auch wenn sie unter anderen Umständen wohl höflich abgelehnt hätte.
Die kühle Flüssigkeit tat in ihrer brennenden Kehle gut, unschön war nur, dass sie kurzdarauf wieder das Bewusstsein verlor.
Doch dieses Mal war sie weder gefesselt, noch streng bewacht, als sie zu sich kam. Sie lag auf der Rückbank eines Autos, eine schneebedeckte Landschaft sauste an ihr vorbei. Mit einem Brummschädel, den sie zuletzt in ihren ausufernden Partynächten gehabt hatte, richtete sie sich leise und behutsam auf.
Der eine Kerl, der ihr auch das Wasser eingeflößt hatte, steuerte den Wagen, während sein Klon auf dem Beifahrersitz saß und schlief.
Maxi streckte ganz langsam ihre Hand zu dem Türgriff aus. Sie rechnete jede Sekunde damit, entdeckt zu werden. Dann hatte sie den Metallgriff erreicht, mit Daumen und Zeigefinger – die zitterten als hätte sie Schüttelfrost – umfasste sie ihn.
Synchron spannte sie ihre Muskulatur an und wappnete sich entweder für einen heftigen Aufprall oder auf eine Tracht Prügel…
Die Tür ging auf. Darüber war Maxine wohl genauso verdutzt wie die zwei Kerle. Eiskalter Fahrtwind strömte herein und Maxi kletterte auf den rettenden Ausgang zu. Doch die vorige Schlafmütze war inzwischen hellwach und hing über der Lehne. Seine Klauen hatten sich in ihre rechte Wade geschlagen und hielten sie davon ab, aus dem Wagen zu springen.
Zeitgleich bremste der Fahrer mit quietschenden Reifen und sie schlitterten über die gefrorene Straße. Der Wagen machte schönere Pirouetten als jede Eiskunstläuferin, bevor er zum Stehen kam. Maxi musste sich nach dem Drehkarussell erst orientieren, für wenige Augenblicke fehlte ihr der Überblick, wo oben und unten, links und rechts war. Doch dann, als sie endlich wieder Herr ihrer Sinne war, trat sie nach der Hand, die sie immer noch umklammert hielt. Das schmerzhafte, dunkle Aufstöhnen hinter ihr, verriet Maxi, dass sie auf dem richtigen Weg war. Noch ein, zwei Mal kräftig nachgetreten und sie war frei.
Eigentlich wollte sie aus dem Wagen hechten, es wurde aber mehr ein unbeholfenes Plumpsen, denn spurlos war das Drehen des Autos und die vorige Betäubung nicht an ihr vorübergegangen. Hart landete sie auf der verschneiten Straße, mit einem Cocktail an Angsthormonen rappelte sie sich auf und spurtete zum neuen Weltrekord.
Maxi hatte bis dahin nicht vermutet, dass eine Spitzenläuferin in ihr schlummerte, aber ihr Talent schien geweckt, denn sie hängte die Gorillas erstaunlich schnell ab. Beflügelt durch ihren Vorsprung gönnte sie sich sogar einen hämischen Schulterblick auf ihre abgehängten Verfolger, die ihr mit finsteren Mienen folgten.
Sie rannte über die schneebedeckte Einöde. Hinter ihr, wenn auch in beruhigender Ferne, die zwei Gehilfen des Arztes. Doch Maxi war klar, dass sie nicht ewig laufen konnte. Sie musste sich irgendwo verstecken, denn für einen Marathon ging ihr schon jetzt die Puste aus.
Immer öfters musste sie stehenbleiben, während die Männer unbeirrt über das Schneefeld trotteten. Vielleicht hatte sie ihre Kondition auch über- und die der Männer unterschätzt. Vielleicht hatten die zwei Gorillas auch von Anfang an gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis man durch den hohen Schnee so erschöpft wurde, dass ein Sprint das dümmste war, was man tun konnte.
Ihr hämisches Grinsen verwandelte sich zunehmend in ein panisches. Während die Männer ein selbstsicheres Grinsen auf ihren Lippen trugen.
Ihre nackten Beine wurden immer tauber, jeder Schritt schmerzte inzwischen höllisch und nur ihre Knie zu heben, kam ihr wie der größte Kraftakt überhaupt vor. Sie sackte kurz ein, was den Männern weitere Meter verschaffte.
Schwankend kam sie wieder auf die Beine, aber der Abstand zwischen ihr und dem Unheil war dramatisch dahingeschmolzen.
»Gib auf«, brüllte einer der Gorillas, »du kommst nicht mehr weit.«
Danke für diese Information, die keine war. Das wusste sie selber schon.
Abwehrend schüttelte sie ihren Kopf und zwang ihren Körper weiter durch den eiskalten Schnee, obwohl er dagegen rebellierte.
Komm schon, lauf, feuerte sie ihren ausgelaugten Leib an, der nicht wusste, dass es schlimmeres als weißen Schnee und Kälte gab. Aber wenigstens sorgte ihr Verstand für genügend Brennstoff, indem er Maxine erzählte, was die Typen mit ihr machen sollten, falls sie sie bekommen würden. Denn es sah nicht so aus, als würden sie Maxine für das Sportprogramm dankbar sein und sie als persönliche Fitnesstrainerin engagieren wollen.
Der Umriss eines Waldes mobilisierte schließlich ihre letzten Kraftreserven. Hier konnte sie sich verstecken. Sie rannte ein letztes Mal los und schaffte es tatsächlich, ihre Verfolger abzuhängen.
Dafür befand sie sich nun in einem düsteren Wald, halb nackt und alleine. Ob es hier Bären oder Wölfe gab?
Wirklich ihr Gehirn war zu nichts zu gebrauchen. Bestimmt gab es hier Raubtiere, aber der Gedanken daran änderte nichts an ihrer Lage. Hier im Wald bei den Tieren bleiben oder zu den menschlichen Monstern zurückkehren, beides schien nicht gerade erfreulich.
Maxine stolperte durch das dichte Unterholz. Sie schürfte sich jeden Teil ihrer unbedeckten Haut auf, was leider dem größeren Teil ihres Körpers entsprach.
Eine Flucht im Nachthemd war eine hirnrissige Idee gewesen. Aber sie war sich inzwischen auch sicher, dass es sich bei den Schurken um irgendwelche dubiosen Ärzte handelte, die Experimente machten. Also musste sie sehen, wie sie hier überleben und sich retten konnte. Leider hatte sie nie bei einem Überlebenstraining in der Wildnis mitgemacht. Wozu auch? In ihrer Straße gab es eine 24 Stunden Tankstelle mit Tiefkühlpizza und Wein, mehr hatte Maxi bis dahin nicht zum Überleben gebraucht.
Sie fror erbärmlich. Langsam merkte sie, wie ihre Gliedmaßen immer tauber wurden. Erst würden ihr die Zehn absterben, dann der Rest. So viel wusste sie aus Dokus über verunglückte Wanderer im Winter. Nur die hatten wenigstens Schuhe angehabt.
Mutlos setzte Maxi sich auf einen verschneiten Baumstumpf. Ihr Vorhaben war zum Scheitern verurteilt. Sie war erst wenige Minuten unterwegs, aber schon jetzt setzte ihr die Kälte enorm zu. Eine Nacht unter freiem Himmel – in der Kleidung, falls man es so nennen mochte – würde sie nicht überleben.
Also doch zurück zur Straße und dort ein Auto anhalten? Aber das Risiko war hoch, auf die Gorillas zu treffen. Und vor allem, wie oft kamen den Autos diese verschneite Landstraße entlang? Bis vielleicht ein Wagen vorbei fuhr, war sie schon längst zum Schneemann geworden.
Sie zitterte immer stärker, ohne, dass sie darauf einen Einfluss gehabt hätte. Ihr Kiefer schlug aufeinander, als sie auch noch begann, mit den Zähnen zu klappern.
Sie schlang ihre Arme um ihren Körper, doch die Kälte war überall.
Sie war verloren.
»Maxine. MAXINE.«
Sie horchte in ihrem Delirium auf. Das war doch Ivans Stimme, oder?
»MAXINE. Wo bist du? Niemand wird dir etwas tun, komme schon, melde dich, wenn du uns hörst.«
Er klang ehrlich besorgt und regelrecht verzweifelt.
Wieder hallte sein Brüllen durch den Wald. »MAXINE.«
Bibbernd und ohne die Kontrolle über ihren Körper zu haben, rief sie ganz leise »Hier.«
Ihre nackten Knie schlugen gegeneinander, sie wackelten heftiger als Wackelpudding und sie konnte nichts dagegen tun. Ihre zitternden Muskeln hatten die Oberhand, während der Rest ihres Körpers eingefroren war.
Halluzinationen und eine bleierne Müdigkeit machten es ihr schwer, die Richtung der Schreie zu orten. Kamen sie von links? Rechts? Oben?
Ihr Kopf sackte gegen die Rinde des Baumes. »Hier.«
»Maxi«. Erleichterung auf beiden Seiten. Er stand in dicke Kleidung gehüllt vor ihr, dann ging er in die Knie und drückte sie so fest an sich, dass sogar ihre betäubten Glieder den Druck spürten. Er riss sie mit nach oben, hob sie in seine Arme und rannte mit ihr los.
»Ich hab sie«, brüllte er so laut, dass sie zusammenzuckte. Sie wusste, dass er sie zurückbringen würde, dass er nicht mit ihr auf dem Arm durchbrennen würde – und doch war sie einfach nur froh, in seiner Nähe zu sein.
Ein Jeep bretterte heran, das Innere war warm beheizt, Maxi spürte sofort die stickige Luft, als die Tür aufgerissen und sie hineinbefördert wurde. Die warme Temperatur verursachte auf Maxis Haut ein unerträgliches Jucken und Kribbeln, als sie langsam wieder – im wahrsten Sinne des Wortes – aufgetaut wurde.
Als Ivan sich abwenden wollte, packte sie ihn am Ärmel. »Nicht. Nicht gehen.«
Sie sah, wie er mit einem Fremden, der neben der Beifahrertür stand und der einen schwarzen Wollmantel sowie einem dichten Schal trug, der fast sein komplettes Gesicht verbarg, Blicke austauschte. Dann seufzte er leise und nickte.
»Rutsch rüber«, befahl er und schob sie vorsichtig von der Tür weg.
»Wer ist das?«, krächzte sie.
»Der Autoverleiher des Jeeps.«
Sie sah ihn ungläubig an. »Ehrlich?«
Er konnte sich ein schallendes Lachen kaum verkneifen. »Natürlich nicht.«
Pikiert sah sie ihn an. Bei seinem illustren Freundeskreis wäre das durchaus im Bereich des Vorstellbaren gelegen.
Sie rollte sich auf dem warmen Sitz zusammen, das Nachthemd klebte an ihrem Körper, aber es störte sie nicht. »Kann ich bei dir bleiben? Ich will nicht zurück zu diesem angeblichen Arzt.«
»Maxine, du weißt doch, dass du nicht bei mir bleiben kannst, du gehörst nicht mir.«
»Wieso kann ich nicht dir gehören?«
Er drehte ihr sein Gesicht zu. »Würdest du das denn wollen?«
Sie schwieg. Wie ein kleines Kind knabberte sie an ihrem Daumen und heftete ihren Blick gegen die Rückenlehne des Fahrers. »Keine Ahnung…«, wich sie seiner Frage aus.
»Ich meine, würdest du freiwillig bei mir bleiben?«
Sie runzelte ihre Stirn. Freiwillig. Wie meinte er das? »Du meinst, ohne, dass ich deine Gefangene bin?«
»Ja.«
Überrascht rollte sie sich auf den Rücken und fixierte Ivan. Eine ungeahnte Aufregung strömte durch jede Faser ihres Körpers und vermischte sich mit dem unsäglichen Jucken
»Würde das denn gehen?«
»Ich…«
»Ivan«, unterbrach ihn eine herrische Stimme und der alte Doktor steckte seinen Kopf herein. »Was suchst du hier? Du hast sie gefunden, damit hast du deine Pflicht getan. Verschwinde jetzt, wir kümmern uns um den Rest.«
Maxine wurde bei seiner Aufforderung wieder ganz anders Zumute. »Nein, bitte«, hauchte sie einer Weinattacke nahe, »bitte, ich werde auch alles tun, was von mir verlangt wird, aber kann Ivan bei mir bleiben?« Sie sah den Arzt eindringlich an und dann kam ein flehentliches Betteln über ihre Lippen, was sie noch nie aus ihrem vorlauten Mund gehört hatte: »BITTE«.
Der alte Mann kniff erbost seine Lippen zusammen und musterte erst sie und dann Ivan unwirsch. Dann sauste sein Blick zurück zu ihr und durchbohrte sie förmlich. »Du wirst also brav sein, hm?«
»J…ja«, das kam jetzt schon nicht mehr ganz so inbrünstig wie das Flehen zuvor über ihre Lippen. Das schien auch der Arzt bemerkt zu haben, der er zog sofort seine Augenbrauen nach oben, was Maxi dazu veranlasste, hastig ein »Ich schwöre es« hinterher zu schieben.
»Na gut«, brummte er. »Dann zeig deinen guten Willen und verhalte dich jetzt ruhig, wenn ich dir eine Augenbinde umlege, denn ich will nicht, dass du Gör weißt, wo unsere Verstecke sind.«
»Augenbinde?«, stammelte Maxi.
»Wahlweise K.O. Tropfen.«
Jetzt wusste Maxine woher Ivan sein Überzeugungstalent und Verhandlungsgeschick hatte. Innerhalb von Millisekunden kam ihr sein erster Vorschlag unglaublich passabel und annehmbar vor.
»Das mit der Binde passt.«
»Gut.« Er warf Ivan ein dunkles Stoffteil zu. »Du bist mir dafür verantwortlich, dass sie nicht sieht, wohin es geht. Findet sie raus, wo sie ist, wird es ihr und dir leidtun. Habe ich mich da klar ausdrückt, mein Freund?!«
»Hast du«, erwiderte Ivan trocken. »Denk aber auch daran, wem sie entkommen ist. Nicht mir, sondern dir! Also führe dich nicht so herrisch auf.«
Der Arzt brummte etwas auf Russisch, was Ivan genauso brummig erwiderte. Dann wurde die Tür zugeschlagen und der Wagen setzte sich langsam in Bewegung.
»Maxi«, meinte ihr Entführer leicht peinlich berührt und hielt den Stoff nach oben. »Du hast gehört, was er gesagt hat.«
Hatte sie. Aber so ganz einverstanden war sie nicht. Dennoch nickte sie Ivan zu. Klag- und willenlos ließ sie sich die dunkle Stoffhaube über den Kopf ziehen. Sie verzichtete sogar darauf, ihm irgendwelche bösen Kommentare zuzuwerfen.
Sie war einfach nur froh, nicht mehr in der schrecklichen Kälte ausharren und dort auf den einsamen Tod warten zu müssen. Obwohl – tadaaaaa – da war auch ihr Geist aus seinem Winterschlaf erwacht und funkte mal eben unangenehm dazwischen: Was, wenn sie am Ende doch umgebracht werden würde? Was wusste sie schon von Ivan und seinem Auftraggeber? Nichts.
»Kann ich die letzten Tage bei dir sein?«, nuschelte sie durch den Stoff und drehte ihm blind das Gesicht zu.
»Warten wir es ab«, meinte Ivan leise und strich mit seiner Hand über ihre Schulter.
Je länger sie im Auto saßen, desto unruhiger wurde Maxine. Die Kälte und das Jucken in ihrem Körper hatte nachgelassen, aber sie rutschte nervös auf dem Polster hin- und her. Ihr war siedeheiß. Sie schwitzte.
»Was ist los, Maxi?«
Sie fuhr erschrocken zusammen, als Ivans Stimme die Stille des Innenraums durchbrach.
»Nichts.«
O Gott. Sie verbrannte. Innerlich. Äußerlich. Hektisch schnappte sie nach Luft, wippte mit ihrem Fuß, aber das Gefühl blieb.
»Dein Nichts scheint aber große Auswirkungen auf dich zu haben«, meinte Ivan neben ihr und legte beruhigend seine Hand auf ihren bebenden Oberschenkel.
»Ich sitze einfach nicht gerne im Dunkeln«, murrte Maxi und stieß seine Hand von ihrem Bein. Irgendwie ertrug sie es gerade nicht, angefasst zu werden.
»Sieh an, die Diva in dir ist also auch wieder aufgetaut.«
Sie sagte darauf nichts. Sondern schloss die Augen. Sie driftete davon.
Wieder wurde sie unsanfter geweckt, als sie es sich gewünscht hätte. Jemand rüttelte sie, dann wurde ihr Arm abgequetscht, schließlich bohrte sich eine Nadel durch ihre Haut. Sie schrie auf und schlug um sich, aber sie wurde nur fester gehalten und eine ältere, mahnende Stimme erinnerte sie an ihr Versprechen: »Hey, du wolltest brav sein, nicht wahr?«
Sie wimmerte, blieb aber nach der Mahnung ruhig. Sie hatte inzwischen gelernt, dass sie mit dem alten Mann lieber keinen Unfug trieb.
»Was ist das…?«
»Hm. Eigentlich geht das dich nichts an«, knurrte er, aber bevor sie aufbrausen konnte, fuhr er fort: »Aber du warst wirklich kooperativ. Daher werde ich eine Ausnahme machen und es dir erzählen: Es ist ein Gegengift.«
»Wogegen?« Erst dachte, Maxi, dass sie ein Echo haben würde, bis ihr klar wurde, dass Ivan die gleiche Frage gestellt hatte. Na toll, wie beruhigend zu erfahren, dass er wirklich auch überhaupt keine Ahnung hatte.
»Dir wurde Gift gegeben, was einerseits lange braucht, um tödlich zu wirken, andererseits hat es auch eine lange Halbwertszeit, daher verbleibt es lange im Körper. Das Gegengift verhindert die volle Entfaltung des Giftes, hat aber selbst einige Nebenwirkungen.«
»Lass mich raten, eine der Nebenwirkung ist Übelkeit?«, hakte sie spitz nach.
»Ja.«
Sie wandte sich seiner Stimme zu. Starrte gegen den dunklen Stoff der Haube. »Und wer soll mir das Gift gegeben haben und warum?« Wieder beschlich sie der fatale Verdacht, dass sie einfach die falsche Zielperson war. Oh je! Ob das besagte Gegengift eventuell irreversible Schäden verursachte, wenn man es gespritzt bekam, ohne überhaupt das Gift in seinem Körper zu haben? Sie erinnerte sich da an eine Bio-Stunde in der Schule, da war immer etwas von Agonisten-Antagonisten, die im Gleichgewicht sein sollte, die Rede.
»Du hast deine Antwort bekommen, mehr Nachfragen stehen dir nicht zu.«
Hä? War der Alte noch ganz bei Trost. Sie hatte als Betroffene wohl das Recht alles zu erfahren!
»Moment«, quäkte sie unter der Maske hervor, »da es meinen Körper betrifft und ich vermute, dass es sich bei meiner Entführung um ein Irrtum handelt, will ich alles wissen.«
»Irrtum?« Sie sah sein vertrocknetes Grinsen förmlich vor ihren Augen. »Hat dir Ivan diese Illusion nicht schon längst genommen?«
»Nein«, knurrte sie, nur um sich dann kleinlaut zu verbessern, als sie Ivans Ellenbogen zwischen ihren Rippen fühlte. »Äh, doch.«
»Na dann, sei jetzt still und nerv mich nicht. Du hast mir heute meinen Tag eh schon ordentlich versaut. Eigentlich sollte ich bei Antje sein, die mir richtig einen blasen wollte, stattdessen muss ich meine Zeit mit dir verbringen.«
Maxi hatte eher das Gefühl, dass sie der Antje – wer immer sie auch sein mochte – den Tag gerettet hatte, aber diese Einschätzung behielt sie für sich.
Stattdessen lehnte sie ihren ermatteten Leib gegen Ivan, der sie sanft umschlang und in seinen Armen hielt.
Sie dachte an den seltsamen Mann mit dem Schal zurück, der in ein anderes Auto gestiegen, aber irgendwie der Boss gewesen war. Ivan hatte ihn um Erlaubnis fragen müssen. Hmm. Sie drehte ihren verschwitzen Körper herum und rutschte auf die Rückbank. Ivan ließ sie gewähren.
»Der Jeep-Verleiher, wer ist das?« Sie hatte sehr leise gesprochen, denn ihre Worte waren nur für Ivan bestimmt und es gab sicherlich viele neugierige Ohren in dem Wageninneren.
»Das ist der Namenlose«, erwiderte ihr Entführer.
»Weil er keinen Namen hat?«
»Nein, es ist sein Spitzname. Er ist ein Auftragskiller, er braucht keinen Namen, denn alle, die ihn kennenlernen, können ihn sowieso nicht ein zweites Mal begrüßen.«
Maxis Herz raste. Wieso war ein Killer bei dem Suchtrupp dabei gewesen.
»Mach ihr keine Angst«, kam es mahnend von dem Beifahrersitz. Es war die Stimme des alten Arztes. »Ihr Kreislauf macht mir eh schon Sorgen, da kann ich es nicht gebrauchen, dass du ihren Puls in die Höhe treibst.«
»Ist das…dann ein Witz gewesen?« Sie hörte sich hoffnungsvoll an. Vielleicht rächte Ivan sich an ihrer Flucht mit einem makabren Scherz. Doch der Mann an ihrer Seite zerstörte die Illusion. »Nein.«
»Ivan!«, fluchte der Alte. »Halt deine Klappe.«
»Schon gut«, maulte der Andere, während Maxi nun wirklich mit Herzrasen im Wagen lag. Hätte der Mann sie erschießen sollen, falls sie entdeckt und geflüchtet wäre? Wie ein Jäger ein Reh im Wald schoss?
Oh, ihr geliebtes Gehirn hatte eine brandneue Sterbemethode parat: Sie war das Jagdwild einer dekadenten Gesellschaft, die von der normalen Jagd gelangweilt war und sich jetzt nach Menschenfleisch sehnte.
Aber wieso hatte der Typ sie dann nicht erschossen?
»Der Namenlose«, sie räusperte sich, um den Kloß in ihrem Hals niederzuzwingen, »war er wegen mir da?«
»Wegen uns, nicht wegen dir.«
Die Antwort verstand sie nicht. Aber es war wie sooft zwischen ihnen, sie stellte eine Frage und er gab Antworten, die mehr neue Fragen aufwarfen, als sie beantworteten. Ob man das auf einer Berufsschule für Entführer lernen konnte? Das musste sein Unterrichtsfach gewesen sein, so gut wie Ivan es beherrschte – der Musterschüler.
»Was soll das bedeuten, er war wegen euch da?«
»Ich schätze mal, er hätte uns erschossen, wenn wir dich nicht gefunden hätten. Er mag keine missglückten Aufträge.«
»Und mich…?«
»Dich? Keine Ahnung. Kommt wohl darauf an, wem du in die Hände gefallen wärst. Es ist eins seiner Geheimverstecke von dem du geflohen bist, ich schätze, er mag keine Leute, die das ausplaudern könnten.«
»Aber ich erinnere mich an nichts, ich bin erst in dem Auto wieder zu mir gekommen«, erklärte Maxi sofort, nur um jeglichen Verdacht von sich zu lenken.
»Er geht auf Nummer sicher.«
»Oh man«, entfuhr es Maxi und sie setzte sich auf. Schlafen konnte sie jetzt sowieso nicht mehr.
»Siehst du, du hast sie nervös gemacht«, scholt der Arzt ihren unsensiblen Begleiter.
»Ich finde, sie muss wissen, in welche Gefahr sie uns und sich selbst gebracht hat.«
»Ich finde, sie sollte jetzt Ruhe haben und keine Horrormärchen von dir hören.«
Zum ersten Mal war sie mit dem Arzt einer Meinung. Wenn das kein Grund zum Feiern war. Sie lehnte ihren Hinterkopf an die Kopfstütze und dachte nach: Sie hatte also auch Ivan und seine Komplizen in Lebensgefahr gebracht? Seltsam, das zu wissen. Aber eventuell auch ein Vorteil, den sie nutzen konnte.
Der Wagen stoppte. Ivan zerrte sie aus dem Inneren, hinaus ins Trockene. Es war weder besonders kalt, noch besonders warm. Sie waren also nicht draußen, aber auch nicht in einem Wohnraum. Vielleicht befanden sie sich in einem Hausflur?
Als sie von ihm nach vorne dirigiert wurde, hallten ihre Schritte auf Beton. Sie überlegte, es konnte eine Garage sein. Geruch und Temperatur passten auf jeden Fall.
»Vorsicht, Stufen.«
Behutsam tastete sie sich Schritt für Schritt die steile Treppe nach oben. Ihr Begleiter blieb dabei geduldig und freundlich, obwohl sie bestimmt doppelt solange brauchte, als wenn sie mit geöffneten Augen dort hochgegangen wäre. Aber da es die Schuld ihrer Entführer war, dass sie blind die Treppen hochstolpern musste, hielt sich ihr schlechtes Gewissen in Grenzen.
»So, bleib stehen, Hausmädchen.« Dass er ihren Kosenamen auch in der Anwesenheit der anderen Männer verwendete, brüskierte sie. Sie schnaubte leise unter der Maske, um ihren Unwillen darüber kundzutun, was ihn jedoch nur dazu veranlasste, es noch einmal lauter zu sagen und dabei jede Silbe zu betonen: »Hast du verstanden, Haus-mäd-chen?!«
Sie nickte, auch weil er sie unauffällig in den Oberarm zwickte. Seine Lippen waren ganz nah an ihrer Ohrmuschel, als er raunte: »Wir sind hier im Haus des Namenlosen, er mag keine respektlosen Personen. Sei höflich, erwidere etwas Nettes, wenn du gefragt wirst und falls du das mit deinem Dickschädel nicht vereinbaren kannst, dann nicke wenigstens und halte dabei deine vorlaute Klappe!«
Sie murrte. Aber dieses Mal kniff er richtig fest zu, sodass sie schließlich ein gekeuchtes »Ja«, hervorstieß.
Wieso brachte Ivan sie denn auch in eine solche missliche Lage? Hatte sie etwa darum gebeten, bei einem Mörder Obdach zu erbitten? Nein! Sollte er doch hier die Füße hochlegen, sie hätte nichts dagegen, wieder zu gehen.
»Kann mir jetzt jemand die Haube abnehmen? Sie juckt!«
»Da fehlt ein Wort«, belehrte er sie.
Ach, verdammt. Sie hatte vergessen, dass Ivan ganz besessen von Etikette war. Blöder Kerl! »Wieso machst du nicht eine Benimm-Schule auf, statt Frauen zu entführen, das würde deutlich besser zu dir passen!«
»Warum sollte ich?«, erwiderte er amüsiert, »so habe ich den Vorteil, unartigen Mädchen Benehmen beizubringen und verdiene das 8-fache. Ist für mich nur vom Vorteil. Und jetzt…«, er pikste ihr mit seinem Daumen ins Rückgrat, »bittest du darum, die Maske loszuwerden oder sie bleibt dran.«
Immer diese Wahlmöglichkeiten, die keine waren. Sie seufzte innerlich. Es dauerte gefühlt etliche Minuten, bis sie ihren Stolz bezwungen hatte und patzig murmelte: »Bitte.«
»Jetzt noch in einem anderen Tonfall, Hausmädchen.«
Er trieb es wirklich auf die Spitze. Sie ballte ihre Hände zusammen und knirschte mit den Zähnen, aber die Verlockung das klebrige Teil endlich loszuwerden, war zu groß. In einem schmeichelnden Tonfall wiederholte sie das Wort: »Bitte.«
»Prima«, lobte er sie, dann legte er seine Hände auf ihre Schultern. »Aber nein, das geht noch nicht. Später vielleicht.«
»Was…?«, knurrte sie, als sie seinen Betrug durchschaute. »Du hast gesagt, du tust es, wenn ich bitte sage.«
»Nicht nur unhöflich, sondern auch noch eine Lügnerin«, lachte er, dann wurde er wieder ernst. »Nein, Kleines, mit keinem Wort habe ich erwähnt, dass ich deiner Bitte nachkommen werde.«
»Du hast gesagt, dass ich mich entscheiden kann, ob ich sie loswerde oder ob sie dran bleibt. Das ist irreführend gewesen«, lamentierte sie.
»Nein, es ist nur ein Zeitfaktor. Du wirst sie abgekommen, nur nicht jetzt. Aber wenn du weiterhin aufmüpfig bist, dann wirst du sie sicherlich nicht ablegen dürfen. Ich arbeite nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche, wie du inzwischen wissen müsstest.«
Wissen: Ja! Daran denken: Nein.
Plötzlich griff eine weitere Hand nach ihr und sie wurde Ivan förmlich entrissen. Mit einem erschrockenen Ausruf wurde sie nach vorne gezerrt. Sie taumelte, konnte aber ihr Gleichgewicht wiedererlangen.
Der Griff um ihr rechtes Handgelenk schmerzte. Die Hand, die sie so eisern festhielt, fühlte sich glatt und jung an, der Arzt konnte es also nicht sein. Entweder war es einer der Gorillas oder…sie schluckte…oder es war der Namenlose. So ganz abwegig war der Gedanke nicht, schließlich war es ja sein Haus.
»Da rein«, hörte sie seine rauchige, unfreundliche Stimme, die sie weder den Gorillas, noch Ivan oder dem Arzt zuordnen konnte.
Ein grober Schubs beförderte sie in ein Zimmer, hinter ihr schlug die Tür krachend zu. »Halt«, rief sie ihm verzweifelt hinterher, »darf ich die Maske abnehmen?« Sie erinnerte sich an Ivans Worte, dass der Namenlose ebenfalls Wert auf Höflichkeit legte und fügte noch hastig ein »Bitte« hinzu. Aber es blieb still. Keine Antwort oder Anweisung, was sie nun tun sollte.
Ratlos blieb sie erst einmal stehen und wartete. Aber als dann immer noch nichts geschah, ließ sie sich behutsam auf dem Boden nieder. Sie kauerte im Schneidersitz und lauschte, aber sie schien tatsächlich alleine zu sein. Ganz langsam wanderten ihre Finger zu der Maske hin, ihr Herz pochte unablässig, als sie den Stoff zwischen ihre Finger nahm und sie schließlich entfernte.
Der Anblick, der sich ihr bot, war mehr als enttäuschend. Es war ein komplett kahles Zimmer, nur eine kleine Überwachungskamera, unerreichbar hoch für Maxi angebracht, blinkte.
Na, toll, dachte sie verdrossen und ließ sich rücklings auf den Boden fallen. Missmutig über ihre Lage blickte sie zur Decke hoch.
Dabei war das – nach Aussagen von Ivan – ja nicht ihre Stärke.
Sie versuchte, das Drängen in ihrer Blase zu ignorieren, was so gut gelang, wie es eben gelingt, wenn man dringend auf Toilette muss: Gar nicht! Als sie es überhaupt nicht mehr aushielt, klopfte sie zaghaft gegen die Tür, dann als nichts geschah und sie schon Panik bekam, lauter. So laut, bis es auch jeder in diesem verdammten Haus hören musste.
Ihr Gehämmer verfehlte seine Wirkung nicht, Ivan stand augenblicklich vor ihrer Tür. Lässig lehnte er sich an den Türrahmen und schmunzelte.
Sie starrte auf das Grinsen seiner Lippen und spürte Wut hochkochen. Er wusste genau, warum sie hier mit zusammengepressten Beinen stand und amüsierte sich darüber, sie in einer solchen Lage vorzufinden, die er noch dreister Weise verschuldet hatte.
»Naaa?«, fragte er gedehnt und sein Grinsen wurde noch breiter.
Verflucht seist du, schoss es ihr durch den Kopf.
»Ich muss mal.«
»Und?«
Entgeistert sah sie ihn an. Wie konnte er es wagen, jetzt den Trottel zu mimen. »Was und? Ich muss mal auf Toilette.«
»Ja, und?«, erwiderte er ungerührt.
»Kann ich bitte auf die Toilette.«
»Schön, du lernst es ja doch.«
»Ja. Bitte, bitte, bitte…«, äffte sie. »Ich kann es ganz gut vorspielen. Hörst du…bbiittteeee.«
Rums. Da war die Tür wieder zu. Ungläubig schaute sie auf das dunkle Holz, welches unvermittelt den Sichtkontakt und die Chance, auf ein Klo zu kommen, beendet hatte.
»Ivan?«, fragte sie immer noch völlig fassungslos und legte ihre Hände auf die Tür. »Hallo, Ivan?« Doch auf der anderen Seite blieb es still.
»Oh Gott, Ivan, es tut mir leid! Bitte! Ich wollte nicht frech sein! Lass mich raus, ich muss ganz dringend und sonst passiert hier noch ein Missgeschick!« Aber ihr Flehen – jetzt deutlich authentischer – stieß auf taube Ohren. Er wollte sie bestrafen und das gelang ihm verdammt gut, denn sie platzte gleich.
Gepeinigt presste sie ihre Oberschenkel zusammen. Ihre Würde verbot es ihr, sich wie Tier auf den Boden zu erleichtern – auch weil es DAS Haus des Namenlosen war und sie nicht herausfinden wollte, wie er es mit der Hygiene so nahm. Sie konnte sich durchaus vorstellen, dass er wenig entzückt war, wenn man auf seinen Boden pinkelte.
»Willst du sie nicht erlösen?«, fragte Jonny und spielte seine Karte. »Also ich mach nicht sauber, das sag ich dir.«
Ivan sah den Namenlosen, den alle nur Jonny nannten, pikiert an. Keiner, außer ihm, wusste, wie er wirklich hieß, aber Jonny passte einfach zu ihm, so ließ der Namenlose diesen Spitznamen zu. »Sie ist eine Rotzgöre.«
»Mhm?«, der Killer zog überrascht seine linke Braue hoch, fächerte seine Spielkarten in einer Hand auf und blickte über den Rand hinweg Ivan an. »Interessant.«
»Was, deine Karten?«
»Nein, das Mädchen. Sie scheint dich ja völlig aus dem Konzept zu bringen.«
Ivan schüttelte den Kopf und spielte einen Buben. »Vergiss es. Sie lässt mich absolut kalt.«
»So kalt wie einen Schneemann im Sommer«, konterte sein Gegenüber frostig und schlug mit seinem König Ivans Herzbuben – wenn das kein Zeichen war. Frustriert, erneut verloren zu haben, rückte Ivan den Stuhl nach hinten und erhob sich. Er streckte seine schmerzenden Glieder, dann griff er zum Scotchglas und trank die darin enthaltene, scharfe Flüssigkeit in einem Zug leer.
»Du wirst sie in 2 Tagen übernehmen, richtig?«
Der Killer schob die Spielkarten zusammen, faltete seine Hände ineinander und schaute dann zu Ivan auf. »Hast du damit ein Problem?«
»Nein, ich…ach, vergiss es«, er winkte ab und goss sich stattdessen ein weiteres Glas Alkohol ein. Nachdenklich ließ er die Flüssigkeit hin und herschwappen. Betrachtete sie im Licht, bevor er das Glas an seine Lippen führte und erst nach einem weiteren Schluck, fasste er den Mut zu fragen: »Nehmen wir mal an«, begann er, »dass du nicht Unrecht mit meinen Gefühlen gegenüber dem Mädchen hast: Gäbe es eine Möglichkeit, den Käufer zu kontaktieren und sie ihm abzukaufen?«
Der Mann sah ihn scharf an. »Da ich um deinetwillen hoffe, dass es wirklich nur eine hypothetische Frage ist und du nicht den Codex deines Geschäftes verletzen würdest, muss ich dir diese Frage ja nicht beantworten. Nicht wahr?!«
Der Halbrusse krallte seine Finger der linken Hand um das Glas, während er mit der rechten nach der Schnapsflasche griff. »War nur hypothetisch«, murmelte er, »hätte mich halt interessiert, was in einem solchen Fall passieren würde.«
Wieder erntete er von dem Mörder einen bösen Blick. Was der Mann dachte, war offensichtlich: Ivan war für ihn ein emotionaler Trottel, der seine Aufgaben nicht richtig erledigte.
»Ivan, bleib nüchtern. Ich mag keine betrunkenen Leute in meinem Haus«, wurde er mahnend von dem Namenlosen abgehalten, sich ein drittes Glas zu genehmigen.
»Du bist eine wirkliche Spaßbremse«, meinte Ivan enttäuscht und stellte das Glas geräuschvoll auf dem Tisch ab.
»Ihr habt schon genug Fehler gemacht, weitere werde ich nicht akzeptieren«, sagte der Andere leise und erhob sich nun ebenfalls. »Daher würde ich dir raten, den Rest der Zeit bei klarem Verstand zu bleiben.« Seine dunklen, fast schwarzen Augen fixierten den Russen derart intensiv, dass er am liebsten weggeschaut hätte. Aber eine solche Niederlage würde er sich nie zugestehen, also hielt er dem messerscharfen Blick des Killers stand – wenn auch mit weichen Knien.
Der Namenlose wandte sich zum Gehen. »Und jetzt bring sie ins Bad.«
Ivan knurrte leise auf, fügte sich aber dann dem Befehl des Anderen, denn ihm zu widersprechen, war selbst für ihn zu gefährlich. Murrend machte er sich zu Maxine auf, die ihn bestimmt schon sehnsüchtig erwartete.
Als die Tür aufging, wäre sie Ivan am liebsten um den Hals gefallen. Nie zuvor hatte sie sich derart gefreut, seine Visage zu sehen.
»Bitte«, war ihr erstes Wort, mit welchem sie ihn begrüßte. Wie wohlerzogen sie sich artikulieren konnte, wenn man sie dazu zwang. »Bitte, das wäre wirklich sehr nett.«
»Du scheinst mich wirklich sehr vermisst zu haben«, kommentierte er ihre Freundlichkeit spitzbübisch und inspizierte den Raum. »Und anscheinend warst du ganz brav.«
Sie wusste, worauf er hinauswollte, der Boden war trocken geblieben, aber das würde sich bald ändern, wenn er sie jetzt nicht gleich aus diesem gottverdammten Zimmer ließ. Sie drängte ihn behutsam mit ihren flachen Händen in die Richtung, aus der er gekommen war. »Kann ich bitte auf die Toilette?«
»Wer so liebt fragt, natürlich«, er nahm sie bei der Hand wie eine Mutter ein kleines Kind führte. Was ansonsten bei ihr zum Widerstand geführt hätte, verursachte jetzt nicht mal ein Wimpernzucken. Folgsam, wenn auch mit zusammengekniffenen Knien, folgte sie ihm. Es ging einen langen Gang entlang, der von zahlreichen, schmalen Türen gesäumt war. Aber Maxi hatte jetzt nicht die Nerven, ihre Umwelt genau zu inspizieren. Als sie endlich beim Bad angekommen waren, rannte sie beinahe auf die Toilette zu, die ihr wie der schönste Ort der Erde vorkam.
Es störte sie nicht einmal, dass man die Tür von innen nicht verriegeln konnte und dass in der Mitte ein großes Glasfenster angebracht war. Sollte er doch spannen, wenn er wollte, Hauptsache sie fand Erleichterung.
Aber sie schien Glück im Unglück zu haben, denn zu Ivans Interessen und Vorlieben schienen keine pinkelnden Mädchen zu gehören, denn er blieb dem Sichtfenster fern, sodass sie ungestört aufs Klo gehen konnte. Wenigstens hatte sie so erfahren, dass Ivan ein anständiger Kerl ohne einen seltsamen Fetisch war – das brachte ihn auf der Liste ihrer potentiellen Verehrern nach oben. Er würde bald die Nummer eins auf ihrer Liebesliste sein: Erst ließ er sie auf die Toilette und dann war er auch noch so gut erzogen, ihr die nötige Privatsphäre zu lassen. Tja, die Kriterien für gute Männern änderten sich eben. War es früher für Maxi ein charmantes Lächeln, ein cooles Outfit und eine gewisse Selbstständigkeit gewesen, waren nun Männer ohne Fetisch ein Highlight. Eigentlich – wenn sie darüber nachdachte – ein trauriger Umstand.
»Fertig?«, fragte er nach.
»Ja.« Sie wusch sich noch die Hände, dann kam sie unverzüglich raus. Er stand gut knapp einen Meter vom Bad entfernt und wartete auf sie.
»Durst? Hunger?«, fragte er nach, nachdem sie bei ihm angekommen war.
»Nur Durst.«
Er warf ihr einen skeptischen Seitenblick zu. »Wirklich? Keinen Hunger?«
»Nein«, sie schüttelte ihren Kopf. Ihr Magen knurrte zwar, aber nachdem sie sich jedes Mal übergeben hatte, war ihr nicht danach, diese Erfahrung wiedermachen zu müssen. Zudem trug sie eine normale Kleidergröße. Mit ner 38 verhungerte man nicht nach wenigen Tagen – der Vorteil einer weiblichen, runden Form. Ein Hungerhaken wäre jetzt schon in ernsten Schwierigkeiten.
Er geleitete sie zurück in ihr Zimmer. Jetzt, wo Maxi entspannter war, fielen ihr auch die vielen Türen und Schilder auf. Sie runzelte die Stirn, dann täuschte sie kurz Erschöpfung vor und stütze ihre Hand an der Wand ab, direkt neben einem dieser Schildchen, um dieses lesen zu können.
Ivan blieb besorgt neben ihr stehen. »Alles in Ordnung? Geht es dir nicht gut? Soll ich den Arzt holen?«
Sie winkte ab. »Nein, nein, ich bin nur müde«, log sie und schielte auf das Stück Papier, auf dem zu ihrer Überraschung in Deutsch verfasst war:
Mona Hanselbach. 22 Jahre. Nationalität: Ungarisch. Penetriert: Ja. Allergien: Nüsse. Verkauft an: P.E.R.
Was zum Teufel? Sie holte tief Luft. Jetzt bemerkte auch Ivan, was ihr Interesse geweckt hatte. Rasch packte er sie am Oberarm und zerrte sie grob weiter.
»Was hat das zu bedeuten?«, keuchte sie und ihr wurde ganz schummrig im Kopf, als ihr bewusst wurde, an wie vielen solcher Türen sie vorbeigekommen waren. Es mussten mindestens zwölf gewesen sein.
»Steck deine Nase doch nicht überall rein«, grollte er und schubste sie den Gang zügig weiter, sodass sie keine Chance mehr bekam, die anderen Schilder zu entziffern. Als sie bei ihrer Tür ankamen, glitt ihr Blick sofort zu dem weißen Schild, aber dort stand außer ihrem Namen nichts geschrieben. Aber was hätte es ihr auch genutzt, die Namen der Käufer waren abgekürzt und anonymisiert. Sei denn irgendwelche Eltern waren sehr kreativ in der Namensgebung gewesen und hätten ihr Kind: PER getauft. Das war wohl aber eher nicht der Fall, also musste ihre erste Vermutung stimmen.
»Wie viele Menschen sind hier gefangen?«, wisperte sie entsetzt.
Ivan zuckte mit seinen breiten Schultern. »Keine Ahnung. Interessiert mich nicht.«
Tränen standen ihr in den Augen. »Interessiert dich mein Schicksal denn?«
Er stand regungslos vor ihr. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig unter dem weißen Hemd. »Ja«, sagte er ruhig, »aber im Moment kann ich nichts daran ändern.«
»Daran, dass es dich interessiert oder an meinem Schicksal?«, hakte sie vorsichtig nach, denn seine Doppeldeutigkeit hatte sie schon oft hinters Licht geführt.
»Dein Schicksal«, gab er ihr ehrlich Antwort, »es liegt nicht in meinen Händen. Ich weiß nicht einmal, wer dich gekauft hat.«
»Weiß es der Namenlose?«
Ivan holte tief Luft. »Wahrscheinlich. Er ist der Vermittler.«
»Kannst du ihn fragen? Mir zu liebe?«
Sein Gesicht wurde ernst. »Nein. Er würde mir keine Antwort geben, vermutlich würde er mir sogar den Auftrag entziehen, dann würden uns nicht einmal diese letzten Stunden bleiben.«
Die letzten Stunden. Es war absurd, aber im Augenblick wünschte Maxi sich nichts sehnlichster, als bei Ivan bleiben zu können. Sie waren bestimmt nicht die besten Freunde, aber es gab ein paar Überschneidungen in ihrem Humor. Natürlich musste Maxi ihn dann noch vom Bad Boy zum anständigen Mann erziehen, aber mit etwas Mühe, wäre das sicherlich möglich. Dass bisschen Arbeit war ihr lieber, als in die ungewisse Zukunft zu gehen. Davon abgesehen, dass es wirklich sehr, sehr unschön war, im Haus eines Psychopathen festzusitzen – noch dazu in einem Zimmer ohne Bad.
»Du siehst nachdenklich aus«, meinte er und strich mit seinen Fingern eine störrische Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
»Ich bewerte gerade die zwei Kurzurlaube«, konterte sie und setzte die Maske der unnahbaren Komikerin auf. »Die Unterkunft des Reiseanbieters Ivan-Tours hat mir deutlich besser gefallen.«
»Doch nur, weil es ein Bad gab.«
»Nein, der Reiseleiter schien mir auch etwas sympathischer.«
»Dann sieh das jetzt als Abenteuerlaub an.«
»Gibt es eine Reiserücktrittversicherung, die ich einreichen könnte?«
»Nein, hier bezahlt man mit allem, was man hat.« Obwohl er es scherzhaft sagte und vollkommen auf ihr durchschaubares Spiel einging, klang sein Satz wie eine Warnung.
»Ich habe diese Reise aber nicht gebucht, es ist ein Irrtum.«
Er berührte ihre Ohrmuscheln mit seinem Zeigefinger. »Wir sitzen beide im gleichen Boot, Hausmädchen. Ich hatte das auch nicht so geplant, wie es jetzt läuft.«
»Weil du jetzt einen Auftragskiller als Aufpasser hast?«
Er sah ihr unvermittelt in die Augen. »Nein, weil ich dich mag.«
Bäm. Knallrote Wangen in nicht mal einer Sekunde, ein Spitzenwert. Zudem absoluter Sprachverlust. Hastig stierte Maxi auf ihre Fingernägel, die ihr plötzlich äußerst interessant vorkamen. Nur nicht ihn anschauen müssen.
»Magst du mich auch…etwas?«
Das „etwas“ musste er wohl anstandshalber hinzugefügt haben, denn schließlich war es schon recht unverfroren, sie zu fragen, ob sie ihren Entführer mochte, der sie aus ihrem gewöhnlichen, aber schönen Leben gerissen hatte.
Aber Maxine mochte ihn tatsächlich etwas. Wobei sie ihn vor allem im Verhältnis zu den anderen Gestalten, die nun ihren Erfahrungsschatz an durchgeknallten Menschen bereicherten, mochte. Im Vergleich zu denen, erschien er ihr wie ein kultivierter Gentleman, wie ein Silberstreifen am Horizont, wie der Ritter in der weißen Rüstung…wie…Naja, eben wie ein Held, auch wenn er es nicht war. Aber wie hatte schon immer ihre Oma gesagt: »Dein Umfeld kann dich hübscher oder hässlicher machen. Geh mit der dicken Lisl raus, Mädchen, dann bist du schön.« Ach, Oma Rosmarie, war eine wirklich pragmatische und kluge Frau gewesen.
»Ich mag dich etwas, ja«, bestätigte sie daher seine Frage und es war nicht einmal eine Lüge.
Er lächelte undefinierbar. War es Freude? Unglaube? Schadenfreude? Sie konnte es nicht sagen, sie hoffte nur, dass er keinen Schabernack mit ihr trieb, dafür war sie im Moment zu sensibel.
»Geh rein«, er öffnete mit einem Schlüssel ihre Tür, »ich bringe dir etwas zu trinken.«
Betonte er in dem Satz das Etwas absichtlich oder war es ein Zufall gewesen? Sie sah ihn skeptisch an, aber er blieb ernsthaft. »Versuch dann zu schlafen, leider sind keine Decken oder Gegenstände im Zimmer erlaubt, aber wenn du magst, kann ich den Raum etwas wärmer temperieren.« Er hatte es schon wieder getan: Das ETWAS so seltsam zu betonen, ohne dabei seine Miene zu verziehen. Er ließ es somit offen, ob es eine Anspielung auf ihre Antwort war.
»Danke«, meinte sie lakonisch, »aber die Temperatur passt gut zu meiner Gefühlslage.«
»Kühl?«
»Neutral.«
»Neutral?«, er blinzelte sie an, »sorry, Hausmädchen, aber dafür fehlt dir das Schauspieltalent, das vortäuschen zu können.«
»Besser kein Talent zu haben, als deins zu besitzen.«
Entnervt sog er die Luft ein. »Wieso dich überhaupt jemand haben will, ist mir ein Rätsel«, meinte er beißend »du bist eine Nervensäge.«. So schnell war also die romantische Stimmung verflogen. Und sie war daran nicht ganz unschuldig, aber ihre vorlaute Klappe wollte sich nicht schließen. Lag wohl an ihrem Sternzeichen: Stier, im Aszendenten Widder. Böse Kombi.
»Vielleicht solltest du deinem Auftraggeber von meinem Potential als Nervensäge berichten, wenn ich schon nicht von dem Sonderurlaub zurücktreten kann, vielleicht tut er es dann.«
»Ausgeschlossen«, grollte Ivan und kam einen bedrohlichen Schritt auf sie zu, seine Hand landete in ihrem Nacken und er riss sie zu sich heran. »Denk daran, was mit Spielzeug passiert, das man nicht haben mag, bestenfalls verschenkt man es, ansonsten…«
»…wirft man es weg«, vollendete sie seinen Satz. Ihre Köpfe waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Er hielt sie weiterhin fest umklammert und zwang ihren Nacken nach unten.
»Du hast es erfasst«, flüsterte er heiser, dann ließ er sie abrupt los. Doch sie spürte seine Finger immer noch auf ihrer Haut. Die Stelle, an der er sie unsanft gepackt hatte, pulsierte heftig.
Sie richtete ihren Oberkörper wieder kerzengerade auf und rieb mit ihrer linken Hand über die schmerzende Stelle an ihrem Hals. Er konnte ganz schön grob werden, wenn man ihn reizte.
»Ich möchte kein Spielzeug sein«, sie schürzte ihre Lippen nach vorne, »das stand nicht auf meiner Agenda des Lebens.«
Er wirkte schon wieder freundlicher. »Kann ich mir vorstellen, aber es kommt manchmal anders als man denkt.«
Wie man denkt? An dieses Szenario hatte sie nicht einmal einen flüchtigen Gedanken verschwendet. Wenn sie es getan hätte, wäre sie jetzt vielleicht nicht ganz so überrumpelt und unvorbereitet gewesen.
»Ich hol jetzt Wasser«, sagte er entschuldigend und machte die Tür zu. Sie blieb aber tatsächlich nicht lang alleine in dem leeren Raum, er war wenige Minuten später wieder bei ihr. In seiner Hand hielt er eine Wasserflasche.
Ob es an der Leere des Raumes oder an ihrer Dehydration lag, aber als er eintrat, fiel ihr wieder auf, wie schön sie den Mann fand, der eine so hässliche Seele besaß. Seine braunen Augen, das dunkle Haar und das kantige Kinn verliehen ihm einen edlen Ausdruck, den er nur zerstörte, wenn er gemeine Dinge sagte – was er recht oft tat.
Sie seufzte auf. Die Einsamkeit schien sie verrückt zu machen. Sie verwarf den romantischen, kitschigen Gedanken an ihn.
»Beobachtest du mich?« Trotz seines harschen Tons, wirkte er verunsichert.
»Natürlich«, sie machte eine Kopfbewegung zum Wasser hin, »du hast da was, was ich begehre.«
Erleichtert wanderte sein Blick zu der Wasserflasche, die er ihr augenblicklich reichte. »Hier.«
»Danke«, sagte sie höflich, so wie sie es gelernt hatte, dann schraubte sie den Verschluss auf und stillte ihren Durst.
»Klopf, wenn du was brauchst«, forderte er sie auf, dann ging er und sie war wieder in dem kahlen Raum. Sie setzte sich an die Wand und legte ihr Ohr gegen die kalte Betonwand. Ob sich neben ihr gerade ein anderes Mädchen in der gleichen Situation befand? Sie horchte, aber die Wand war zu dick, sie hörte lediglich ihr eigenes Blut in ihrer Ohrmuschel rauschen.
Sie schloss ihre Augen. Sie war müde und erschöpft, ihre planlose Flucht forderte ihren Tribut und ihr Kopf sank auf die Seite.
Als sie mitten in der Nacht hochschreckte, starrte sie orientierungslos in absolute Dunkelheit. Eine Zeitschaltuhr oder vielleicht auch der Namenlose höchstpersönlich hatte das Licht in ihrem Raum gelöscht. Jetzt bot sich ihren Augen nur die alles verschlingende Finsternis, die ihr Angst machte. Wenn man rein gar nichts sah, hatte man das Gefühl, tausend Hände würden nach einem greifen.
Sie glaubte nicht an Monster, aber die Urangst ließ sich auch nicht durch die Vernunft bändigen. Sie kauerte ihren Körper enger gegen die Wand, die ihr wenigstens von einer Seite aus Schutz bot. Sie merkte erst, wie sehr sie schwitzte, als ihre Haut an der Betonwand klebrig wurde. Hoffentlich durfte sie hier auch mal duschen.
Immer mehr Schweiß rann über ihre Haut, Kopfschmerzen raubten ihr den Schlaf. Unruhig warf sie ihren Kopf auf die linke, dann auf die rechte Seite. Sie kam sich vor, wie ein Fan auf einem Black-Metall-Konzert.
Irgendwann – sie stöhnte aufgrund der Blendung – flammte das Licht wieder auf. Mit verquollenen Augen und schmerzenden Knochen saß sie in der Ecke und richtete ihren Blick starr auf die Tür.
Sie ging auch nach einiger Zeit auf, aber es war nicht Ivan, der eintrat.
Der Namenlose mit den schwarzen Augen und der dunklen Aura betrachtete sie von oben bis unten, dann ging er wieder wortlos. Aber seine mangelnde Konversation kam ihr ganz recht, denn sie war im Moment auch nicht sehr gesprächig. In ihrem Kopf dröhnte eine ausgewachsene Migräne.
Aber es war ihr nicht vergönnt, alleine zu bleiben, denn der Namenlose erschien wieder, nur dieses Mal in Begleitung des Arztes, der sofort auf sie zugeeilt kam.
Seine faltige Hand legte sich auf Maxis Stirn. »Du hast Recht, sie hat Fieber.«
Der Namenlose verzog genervt seinen Mund. »Eine Nebenwirkung?«
»Nein«, der Arzt schüttelte seinen Kopf und seine Hand wanderte zu Maxis Halsvene. Es dauert ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass er ihren Puls maß. »Ich schätze, der Waldausflug in luftiger Kleidung hat ihr nicht gutgetan.«
Die Mundpartie des Mannes mit den dunklen Augen verhärtete sich, dann stemmte er seine Hände in die Hüfte. »Ich habe keinen Bock auf Komplikationen, alter Mann! Löse das Problem. Schnellst möglichst!« Das letzte Wort kam einer unverhohlenen Drohung gleich.
Wenn der Kundendienst ihres Handyanbieters nur auch immer so schnell reagiert hätte, wie der alte Mann, der sofort rief: »Natürlich, Jonny…«
Jonny? Sie musterte den Mann aus halbgeschlossenen Augen. Ein unpassender Name, sie verband mit Jonny einen amerikanischen Beachboy und keinen schwarzäugigen Teufel.
»Kannst du aufstehen?«, wollte der Alte wissen.
Sie presste ihre Lippen aufeinander, dann sagte sie: »Wo ist Ivan? Ich will ihn sehen.«
Jonny trat zu ihr, überheblich blickte er auf sie herab. »Du wirst ihn nicht wiedersehen. Gewöhn dich daran.«
Sie riss ihre brennenden Augen auf. »Nein, mir stehen noch ein paar Stunden mit ihm zu, er hat es mir versprochen!«
»Um genau zu sein, nur noch ein Tag. Aber ich habe mich entschieden, ihn von seiner Aufgabe zu entbinden. Er hat den Codex verletzt, er ist dir zu nahegekommen.«
Codex? Ach, es gab so etwas auch für Verbrecher? Und warum war dieser verdammte Codex nicht auf ihrer Seite?!
»Aber, ich will meinen letzten Tag mit ihm haben, es steht mir zu«, murmelte sie schwach.
»Dir steht das zu, was man dir gibt. Sei dankbar dafür.« Nach der harten Ansprache wandte Jonny sich dem Arzt zu. »Kümmere dich um sie, ich muss arbeiten und möchte nicht gestört werden.«
»Ja.«
Sie wurde von dem Arzt nach oben gehievt, wobei sie erstaunt war, wie viel Kraft in diesem vertrockneten Kerlchen steckte. Wahrscheinlich war er fitter als sie – was im Moment aber auch nicht schwer war.
»Ich bringe dich in ein richtiges Bett, dann kannst du dich gesund schlafen.«
Das war mal ein richtig vernünftiger Vorschlag, denn allein die Nacht auf dem blanken Boden hatte ihrem Körper ordentlich zugesetzt, sodass ihr Rückgrat sowie ihre Hüfte ordentlich schmerzten. Ein Bett mit einer Matratze und sogar mit einer Decke, was für eine himmlische Vorstellung. So schnell konnten als die Ansprüche ans Leben heruntergeschraubt werden. Vorher war es noch ein gut bezahlter Job, ein Traumman sowie eine kleine Villa am See. Jetzt eine Bettdecke.
Sie fiel in das Bett, was nicht frisch bezogen war, denn es roch nach Parfüm. Aber Maxi wollte nicht meckern, hauptsache, sie lag bequem. Sie rollte ihren schmerzenden Leib auf die Seite, zog ihre Knie an die Brust und schlief augenblicklich ein.
Ein leises Knarzen weckte sie. Eine junge Frau stand irritiert in dem Raum und schaute mit gerunzelter Stirn auf das von Maxi okkupierte Bett hinab.
»Wer bist du?«, fragte sie und näherte sich Maxi, die ihren Oberkörper aufrichtete und die Frau ebenfalls neugierig musterte.
»Ich bin Maxi…und du bist?« Sie streckte ihr die Hand zur Begrüßung entgegen.
»Ich bin Jessica.« Maxi fielen bei der Begrüßung die silbernen Armreifen auf, die sie erst für Schmuck gehalten, aber nun als Handfesseln identifiziert hatte.
»Was ist das?«, fragte sie trotzdem nach und tippte auf den metallenen Ring an dem Handgelenk der Frau.
»Du bist noch nicht lange bei ihm, oder?«, fragte Jessica vorsichtig und rieb mit ihrer linken Hand an dem rechten Reifen. Wie die Frau ihre Frage stellte, ließ Maxi nichts Gutes vermuten.
»Nein«, sagte sie. »Sagst du es mir trotzdem?«
Sie wirkte unsicher. »Ich weiß nicht, ob ich das darf.«
»Bitte.«
Die Gesichtszüge der blonden, schlanken Frau wurden weich. »Na, gut. Du wirst es ja sowieso erfahren. Es sind Manschetten, sie kennzeichnen sein Eigentum und man kann sie natürlich noch für andere Dinge benutzen…«
Maxine dachte, sie sei mit ihrer Entführung am Tiefpunkt angekommen, aber das was sie jetzt hören musste, übertraf alles. Selbst ihr unerschütterlicher Sarkasmus verzog sich in die hinterste Gehirnwindung, sodass sie keinen Schutz mehr vor der bitteren Realität hatte.
»Du bist eine Sexsklavin?«
»Ziemlich direkt ausgesprochen«, sie zuckte mit ihren schmalen Schultern, als würden sie über das Wetter und nicht über ihr Leben reden, »aber so ist es wohl.«
Maxine fühlte wie ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, sie war heilfroh zu liegen, sonst wäre sie wohl einfach umgekippt.
»Du bist ganz schön blass, Schätzchen. Geht es dir nicht gut?«
Was für eine Frage. Wie sollte es einem schon gehen, wenn man erfuhr, was für ein Schicksal auf einen wartete.
»Jessica«, eine schneidende Stimme zerriss den Raum und das Mädchen fuhr ängstlich zusammen. »Sir, Jonny«, hauchte sie.
Der Killer beobachtete sie aus finsteren Augen. »Dein Zimmer ist heute besetzt, verschwinde von hier.« Die Frau schlich mit gesenkten Kopf an ihm vorbei, doch bevor sie das Zimmer verlassen konnte, schnellte seine Hand nach vorne und riss sie am Arm zurück. »Und noch was«, fauchte er heiser, »wenn du noch mal mit jemanden aus dem Haus redest, ohne, dass ich es dir erlaubt habe, kannst du was erleben!«
»Entschuldigung, Sir«, wisperte Jessica mit erstickter Stimme und Tränen in den Augen, dann rannte sie aus dem Raum, als er sie losließ.
»So, nun zu dir«, meinte Jonny und richtete seine Aufmerksamkeit auf sie. Er erinnerte Maxine an ihren Prüfer in der Abschlussprüfung. Man konnte deutlich in seinen Augen lesen, dass er es darauf anlegen würde, sie zu verunsichern. Und es gelang ihm wie damals Herrn Schulte hervorragend. Sie schrumpfte zusammen, um ihm möglichst keine Angriffsfläche zu bieten.
»Ja?«, fragte sie kleinlaut.
»Geht es dir besser?«
Puh. Das war sein Anliegen? Und sie war dafür tausend Tode gestorben. Eigentlich ging es ihr nicht besser, aber sie hatte das Gefühl, dass es keine gute Idee war, ihm zur Last zu fallen. Daher nickte sie heftig mit ihrem Kopf. »Viel besser.«
»Dann kannst du wieder in dein eigenes Zimmer zurück?« Er legte seine Hand auf den Türknauf, »denn das Privileg eines Bettes muss man sich erarbeiten und nicht mit Ungehorsam erschleichen.«
Sie musste den Sinn erst entziffern, bis sie verstand, dass er es ihr übel nahm, dass sie aufgrund ihres Fiebers den Schlafplatz – in seinen Augen – zu Unrecht erobert hatte.
»Natürlich«, gab sie zu. Naja, eigentlich täuschte sie das Verständnis nur vor, denn sie wollte keine Sekunde länger seine Aufmerksamkeit genießen. Und am schnellsten ging es, wenn sie ihm zustimmte. Sie sprang aus dem Bett – ihre Mutter wäre stolz gewesen, hätte sie sie früher auch derart schnell aus den Federn bekommen.
Jonny fixierte sie mit seinen schwarzen Augen. »Dann komm mit.«
Bevor er sie in den Raum zurückbrachte, gewährte er ihr einen kurzen Zwischenstopp im Bad, dann musste sie den Raum betreten, den sie nie wiedersehen wollte. Ihre Stille begann mit dem Krachen der zuschlagenden Tür.
Sie dachte an Ivan. Mit ihm hatte sie wenigstens Konversation betreiben können, hier wurde sie wie Ware verstaut und aufbewahrt, bis sie wohl an ihren Empfänger rausging. Ob ihr das gleiche Schicksal wie Jessica blühte? Was für eine grausame Vorstellung.
Die Tage waren so schrecklich tröge. Nichts passierte und die Einsamkeit des Raums schien sie aufzufressen. Nur zwei Mal am Tag wurde die Tür geöffnet und es wurde Nahrung und ein kleines Trimm-dich-Rad hereingeschoben. Zur Toilette wurde sie ebenfalls zwei Mal am Tag geführt, duschen durfte sie nur alle 3 Tage.
Am Anfang hatte sie das Rad geflissentlich ignoriert, da sie angenommen hatte, dass es von ihr erwartet wurde, sich in Form für ihren „Käufer“ zu bringen. Aber ihre Rebellion war schnell abgebbt, als sie bemerkt hatte, dass es wirklich niemanden interessierte, ob sie das Sportgerät nutzte oder nicht. Maxi wünschte sich fast, man hätte ihr befohlen, zu radeln, nur damit sie ihre angestaute Aggression im sinnlosen Trotz hätte zelebrieren können, aber gemeinerweise krähte kein Arsch danach, ob sie in ihrer Zelle Sport trieb oder nicht.
Und da es also keinen Feind gab, den sie angehen konnte - außer die unerträgliche Langeweile, mutierte Maxi vom Sportmuffel zur begeisterten –man höre und staune – und zur passionierten Radlerin, wo sie zuhause selbst für den Italiener um die Ecke ihren kleinen Polo benutzt hatte. Nun verbrachte sie viel Zeit damit, ihren früheren Schweinehund zu widerlegen, denn manchmal strampelte sie etliche Stunden der Einsamkeit ihrer Zelle davon.
»Essen«, kam es knapp, als ihre Tür geöffnet wurde und einer der Gorillas den Teller sowie einen Wasserbecher abstellte. Beides war aus Pappe, nichts, woraus man aus der Sicht ihrer Entführer wohl ein Angriffswerkzeug bauen konnte. Innerlich musste sie über die übertriebene Vorsicht der Männer schmunzeln. Die Verbrecher mussten sie für eine begnadete Waffenbastlerin halten, so achtsam und vorsichtig sie mit etwaigen Gegenständen in ihrem Zimmer umgingen. Was hatten die denn für eine Vorstellung von ihr? Dass sie eine weibliche MacGyver war? Schön wär‘s. Dann hätte sie schon längst aus einem Pappbecher und einem Kaugummi eine schussfähige Waffe - nein wahrscheinlich gleich eine Atombombe - entwickelt. Frau Maxi Gyver gäbe sich ja nicht mit Kleinzeug zufrieden.
Das Essen stand fertig und warm vor ihr. Sie schob den Teller achtlos zur Seite, seit sie hier war, war ihr der Appetit vergangen. Auch ein Phänomen, welches sie zuvor nicht für möglich gehalten hatte. Sie trank das Wasser leer und setzte sich dann auf das Rad, um der Realität zu entfliehen. Sie hatte inzwischen eine so große Vorstellungskraft entwickelt, dass sie prächtige Landschaften mit ihrem Fahrrad durchquerte, selbst das Vogelgezwitscher nahm sie wahr.
Wie ein simples Sportgerät einem ans Herz wachsen konnte, war ihr vorher nicht klar gewesen, aber es spendete ihr Trost. Am schlimmsten waren daher die Nächte, wenn die absolute Finsternis über sie hereinbrach und kein Fahrrad da war, um sie abzulenken. Es gab nicht einmal eine Decke, unter die Maxi sich nachts schützend verkriechen konnte. Sie war der Dunkelheit schutzlos ausgeliefert, auch wenn der Betonboden beheizt war, bot ihr das nicht die gleiche Sicherheit wie eine Decke, unter die man seinen Kopf stecken konnte.
Maxi strampelte heftiger auf dem Rad. Warum wurde sie nicht von Mr. Unbekannt abgeholt? Inzwischen schien ihr alles besser, als in der kargen Betonwüste, die sie umgab, dahinzuvegetieren.
Die Tür ging zum zweiten Mal auf. Jetzt würde man das Rad wieder mitnehmen. Sie seufzte und stieg ab, dann ging sie zwei Schritte zurück, damit der große Mann es mitnehmen konnte. Sie machte schon seit Tagen keinen Ärger mehr, denn sie hatte begriffen, dass sie damit niemanden beeindruckte.
Doch dieses Mal steuerte der Kerl direkt auf sie zu. Erschrocken und überrumpelt hob sie abwehrend ihre Hände, als seine Klauen nach ihre griffen und sie kurzerhand gepackt und nach Draußen geschleift wurde.
Vor dem Bad hielten sie, obwohl noch gar nicht die Zeit dafür gekommen war. »Geh dich duschen«, kam sein schroffer Befehl. Normalerweise war doch gar nicht ihr Waschtag? Verunsichert ging sie ins Bad, zog das Hemd aus und stellte sich unter den Wasserstrahl, den man leider nie auf warm drehen konnte, sodass sich das Duschvergnügen auf ein Minimum reduzierte. Auch eine Methode, um Wasser zu sparen, dachte Maxi, ehe sie bibbernd und frierend vor dem grobschlächtigen Mann stand.
Er musterte sie, schien dann aber mit dem Ergebnis zufrieden. Wieder schlugen sich seine Finger wie Krallen in ihr Fleisch und er führte sie durch den unterirdischen Bunker.
»Wohin gehen wir?«
»Zum Boss.«
»Zu welchem Boss? Zu deinem oder zu meinem? Kannst du das bitte präzisieren.«
Er stieß einen genervten, abwehrenden Grunzlaut aus. Er war weder gesprächig noch gewillt ihr zu antworten. Sie leckte über ihre trockenen Lippen. Ob sie nun auf die Person treffen würde, der sie diese Misere verdankte? Sie hatte mehr Herzrasen als sie auf dem Rad erzeugen konnte. Wem würde sie gleich gegenüberstehen? Eins konnte sie mit Sicherheit ausschließen: Mr. Perfekt würde es nicht sein.
Nachdem sie um mehrere verwinkelte Flure gegangen waren, kamen sie bei einer prächtigen Doppeltür an. Der Gorilla klopfte, dann schickte er sie allein in die Höhle des Löwen.
Nervös knetete sie ihre Finger.
Jonny saß hinter seinem massiven Tropenholz-Schreibtisch, sein Kopf war hinter dem grünen Glas einer Tischlampe mit einem goldenen Ständer verborgen. Während der alte Arzt wie ein Schuljunge neben ihm standen – oder stehen musste. Denn so ganz glücklich schaute er nicht drein.
Ohne aufzusehen, blätterte der Mann mit den schwarzen Augen weiterhin in seinen Notizen, als er sie unvermittelt ansprach. »Du hast geduscht?«
»Ja.« Nett, dass er sich nach ihrer Hygiene erkundigte, auch wenn sie ihm dabei eher Eigennutz unterstellte. Wer wollte schon ein verschwitztes Mädchen…küssen, ficken, verkaufen?
»Hm«, ertönte seine sonore Stimme und er blätterte eine Seite in einem Buch um. »Und wie geht es dir?«
Maxi wurde heiß. »Gut«, log sie. Mach ihm bloß keine Umstände, hämmerte es ihn ihrem Kopf und brachte ihre eigentlich vorlaute Stimme zum Schweigen.
Er schob mit einer galanten Armbewegung die Unterlagen zur Seite und richtete seinen Oberkörper auf, sodass sein Gesicht nun auch hinter der Tischlampe auftauchte. »Komm her.«
Sie zögerte.
Seine Miene wurde ungeduldig, auch leicht zornig. »Was hast du an meiner Aufforderung nicht verstanden?«
»Ich…ich«, zum ersten Mal stotterte sie. Das war ihr peinlich, aber seine imposante Erscheinung und seine kompromisslose Art Befehle auszusprechen, nötigten ihr doch irgendwie einen Heidenrespekt ab.
»Ja, du?«, hakte er nach und seine linke Augenbraue schnellte tadelnd nach oben. Er sah sie mit seinen durchdringenden Augen prüfend an, dann klopfte er ungeduldig und hart mit seiner Handfläche auf die Tischplatte.
»Nich...ts.« Ihre Artikulationsfähigkeit war auf ein Minimum geschrumpft. Inzwischen würde ein Dreijähriger sie an Redegewandtheit übertreffen.
»Dann komm endlich her.« Sein Befehlston schüchterte sie so sehr ein, dass sie seiner Aufforderung sofort nachkam.
Zitternd stand sie vor ihm. Was wollte er von ihr? Warum war sie hier?
»Okay«, sagte er leise, als er sie mit einem nicht deutbaren Stirnrunzeln begutachtete. Maxi hätte gerne weggeschaut, aber sie traute es sich nicht, irgendwas lag in seiner Miene, was ihr verriet, dass sie damit ihre Situation drastisch verschlimmerte.
»Ich habe gehört, dass du kaum isst.«
Sie blinzelte ihn an. »Wie?«
Er hieb mit seiner Faust auf den Tisch. »Verdammt, ich rede doch deine Sprache, oder?« Ja, das tat er, sogar wie alle hier erstaunlich akzentfrei. Aber seine Art verschlug ihr nun mal die Sprache – und das nicht im positiven Sinn.
»Ja…ja«, beeilte sie sich zu sagen und schob dann schnell ein: »Ich habe einfach keinen Appetit, Sir«, hinzu. Sir, sie hatte ihn automatisch Sir genannt, soweit war es also nun schon gekommen, dass sie ihn derart höflich anredete, obwohl er eher ein „Scheißkerl“ verdient hätte. Aber sie war eingeschüchtert und ihr sarkastischer Humor tat es ihr gleich.
Der Schwarzäugige wandte seine Aufmerksamkeit dem Arzt zu. »Eine Nebenwirkung?«
Der Alte sah Maxi durchdringend an. Als würde er sie dafür höchstpersönlich verantwortlich machen, dass er nun Jonny Rede und Antwort stehen musste.
»Das kann sein.«
Der Killer wedelte mit seiner Hand, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen. »Dann passt alles. Sie wird schon essen, wenn sie Hunger bekommt. Zudem…«, sein Blick zog sie förmlich aus, »hat sie genug auf den Rippen.«
Das war gemein! Einer Frau mit einer normalen, hübschen Kleidergröße so etwas zu sagen. Wusste er denn nicht, was er damit für einen seelischen Schaden anrichten konnte? Obwohl…er wusste es, er war ein Mörder. Leid war sein Geschäftszweig.
Der hereingerufene Gorilla brachte sie wieder zurück in ihr Gefängnis. Sie sank mutlos gegen die raue Wand, sie wünschte sich die Zeit mit Ivan zurück.
Wieder vergingen die Tage und Maxi fragte sich, ob man sie vergessen hatte oder ob der Käufer seine Meinung wohl doch geändert hatte. Was passierte denn mit der Ware, wenn man von dieser zurücktrat? Oh je, das wollte sie sich lieber nicht vorstellen, auch wenn ihr Gehirn sich gleich auf den Gedanken stürzte und dazu die passenden, grausigen Bilder lieferte.
»Essen.«
Inzwischen schaute Maxi nicht einmal, was es gab. Die Tage hier waren besser als jedes Boot-Camp für Abnehmwütige. Was sie nicht einmal durch die Brigitte-Diät geschafft hatte, gelang ihr hier in wenigen Wochen. Sie hatte inzwischen bestimmt 1-2 Kleidergrößen verloren. Das Problem daran, es stellte sich kein euphorisches Gefühl ein, eher Lethargie. Sie konnte die Methode der Gewichtsreduktion nicht empfehlen.
Vielleicht sollte sie es wenigstens probieren, einen Happen zu essen. Sie krabbelte zum Teller und nahm ihn hoch. Es gab frisches Gemüse, Reis und Soße. Also über die Qualität des Essens konnte sie sich nicht beschweren, höchstens über die Umstände, in denen es ihr serviert wurde.
Plötzlich ging die Tür auf. Es war Jonny, der dort stand. Dass er sich zu einer so niederen Arbeit herabließ, sie zu besuchen, erheiterte sie. Ob einer seiner Gorillas im Urlaub war? Gab es denn so etwas, wie geregelte Arbeitszeiten in diesem Beruf?
Sie knetete den Tellerrand zwischen ihren verschwitzten Händen, als er näher kam und den noch vollen Inhalt kritisch betrachtete: »Ich würde mich gerne mit dir unterhalten, komm nachher in mein Arbeitszimmer, wenn du fertig mit dem Essen bist.«
»Unterhalten?«, ihre Knie wurden weich.
Seine schwarzen Augen glommen belustigt auf, als sie wie ein verschrecktes Reh im Scheinwerferkegel vor ihm stand. »Wirklich nur reden. Für alles andere…« Seine Tonlage nahm einen boshaften Klang an, »…bist du mir zu gewöhnlich. Ich kann jedes blutjunge russische Möchtegernmodell haben, da bist du nicht meine erste Wahl.«
»So? Du bist nicht mal meine zweite«, nuschelte sie in einem kurzen Moment der Unzurechnungsfähigkeit, als sie für eine Millisekunde vergaß, wem sie dort gegenüberstand. Es war nicht ihr verhasster Direktor, dieser Mann konnte mit mehr als mit einem Schulverweis drohen.
Der Killer wirkte aufgrund ihrer schnippischen Gegenantwort konsterniert und irritiert, wahrscheinlich war weder gewohnt, dass man ihm Paroli bot, noch, dass man ihn dabei beleidigte. Und Maxi hatte es geschafft, gleich beides in einem Satz zu vereinen. Doch sein Ausdruck blieb reserviert, seine Miene spiegelte höchstens kalte Wut wider – was vielleicht in ihrem Fall nicht so günstig war, daher verbesserte sie sich leise: »Aber Sir, die dritte Wahl wäre es sicher.«
»Ivan erwähnte deinen seltsamen Humor, doch er amüsiert mich nicht. Eher im Gegenteil.« Dann rauschte er ab, wie es seiner würdig war: Kompromisslos und gleichgültig.
Hatte sie Jonny gerade wirklich gesagt, er sei ihre dritte Wahl? Sie klatschte mit ihrer flachen Hand gegen ihre Stirn. Das war ein absolut perfektes Beispiel für Verschlimmbessern gewesen! Warum betitelte sie den gefährlichen Mann nicht gleich als den letzten Abschaum – das hätte fast keinen Unterschied gemacht. Sie stellte den Teller beiseite, falls sie Hunger verspürt hatte, war er nun verflogen. Dennoch wartete sie anstandshalber noch ein paar Minuten ab, bevor sie leise gegen die Tür klopfte. Da diese augenblicklich aufgerissen wurde, musste der Gorilla also schon darauf gewartet haben. Jetzt war Maxi heilfroh, nicht noch mehr Zeit geschunden zu haben.
»Folge mir.«
Ohne, dass er sie am Arm packen musste, ging sie hinter ihm her, bis sie wieder in den Räumen des Killers waren. Als Maxine eintrat hatte sie fast eine Déjà-vu . Wieder saß er unbeteiligt wirkend hinter seinem Schreibtisch, während der Arzt – nur jetzt mit einem deutlich zerknirschteren Gesicht – neben ihm stand.
Jonny sah sie streng an, seine Hände lagen andächtig gefaltet auf dem dunklen Holz. »Maxine«, jeder Buchstabe ihres Namens war eine Anklage aus seinem Mund. »Du bist eine große Enttäuschung für mich.«
Was? Wieso? Ihr Leben war eine große Enttäuschung für sie, aber für jemand anderen war sie das noch nicht gewesen. Außer für ihre Eltern – aber konnte man Eltern überhaupt zufrieden stellen? Und für ihre zahlreichen Chefs und für den einen oder anderen Liebhaber. Und für ihren Direktor. Okay, sie gab es zu, sie war eine Enttäuschung für jeden!
»Ich wollte das nicht«, entschuldigte Maxine sich bei ihm, ohne zu wissen, was sie überhaupt falsch gemacht hatte. Und wofür sie um Verzeihung bat.
Seine herablassende Art nahm an Intensität zu. Er schaute sie an, wie man ein ekliges Insekt inspizierte. Nicht sehr schmeichelhaft. »Was wolltest du nicht?«, griff er ihre lieblos vorgetragene Entschuldigung auf. Ihm war also bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, um was es eigentlich ging. Damit hatte er sie gekonnt in die Ecke gedrängt.
Mit runden Augen erwiderte sie seinen eiskalten Blick. »Äh…das.«
»Das was?« Seine Finger lösten ihre Umklammerung und er trommelte mit ihnen auf das teure Holz. Dann schüttelte er despektierlich seinen Kopf. »Du hast keine Ahnung, um was es geht, oder?«
»Nein…«
»Und trotzdem entschuldigst du dich?«
»Gehört sich das nicht so?« Schließlich hatte man ihr beigebracht, dass man höflich und zuvorkommend zu ihm war und jetzt war es auch wieder nicht Recht? Er erinnerte sie doch an ihre Eltern.
»Eigentlich schon«, sagte er in einem rauen Tonfall, »aber so hinterlässt du bei mir den Eindruck, dass dir dein Fehlverhalten gleichgültig ist und du gar keinen Wert darauf legst, dich verändern zu wollen.«
»Doch, doch«, versicherte sie ihm schnell. Sie kam sich vor, wie in einem Mädcheninternat und er war die Gouvernante.
»Du isst immer noch nicht«, entgegnete er schließlich, nachdem er sie mit verkniffenen Mund betrachtet hatte.
»Das sind die Nebenwirkungen«, betete sie das herunter, was sie hier gelernt hatte. Wieso sollte sie das bisschen Wissen, was man ihr zur Verfügung stellte, nicht für sich nutzen?
»Nebenwirkungen, hm?« Wie er den Satz betonte, machte ihr schnell klar, dass sie in eine Falle getappt war. Sie sah zum Arzt hin, der nur leicht seinen Kopf schüttelte. So ein Verräter!
»Sorry, Maxine. Das Mittel wurde abgesetzt«, hörte sie ihn sagen, »genau, um das herauszufinden.«
Die Erklärung enthielt zwei entscheidende Informationen. Erstens: Anscheinend hatte man ihr die Medikamente einfach ohne ihr Wissen weitergegeben. Sie tippte auf das Wasser, welches immer leicht bitter geschmeckt hatte. Zweitens: Man testete ihren Gehorsam genau. Und sie schien die Prüfung nicht bestanden zu haben. Ob es eine Widerholungsklausur gab, war fraglich.
»Oh…es ist so…hm.« Ausreden für einen solchen Fall im Vorratsspeicher ihres Gehirns: Null. Falls sie das hier überleben sollte, brachte sie ein Ausredenbuch für Entführungsopfer heraus.
»Hier«, er schob einen Teller über die Tischplatte, den sie bist jetzt übersehen hatte, zu sehr war sie von seiner Präsenz gefangengenommen worden. »Iss.« Dann beugte er sich zur Seite und richtete einen kleinen Hocker her.
Maxi wurde heiß. Sie sollte in seiner Gegenwart essen. Allein seine dunkle Aura schlug ihr derbe auf den Magen, vor allem, wenn sie sich vorstellte, was er mit den ganzen Leuten machte, die ebenfalls hinter den zahlreichen Türen dahinvegetierten. Jessica hatte ihr da ja schon ungewollt einen tiefen Einblick gewährt.
»Ich bin aber wirklich nicht hungrig.«
Er verzog keine Miene, was noch bedrohlicher wirkte. Lediglich erneut diese kalte, emotionslose Wut: »Du willst dich mir widersetzen?«
Nein, widersetzen eigentlich nicht. Denn sie war nicht lebensmüde, sie brauchte Nahrung um gesund und stark zu bleiben, aber die Situation hatte ihr wirklich den Magen verdorben. Doch nun witterte sie die einmalige Chance, einen Deal für sich herauszuholen. Er wollte, dass sie aß – und sie wollte zurück zu Ivan. Natürlich gab es da was, was sie noch mehr wollte, als den Entführer, aber Jonny um ihre Freiheit zu bitten, wäre dann wohl etwas unrealistisch gewesen. Aber diesen Wunsch konnte er ihr erfüllen: »Ich möchte zu Ivan zurück, dort werde ich essen.«
Der Killer drehte sich dem Arzt zu und fragte gespielt erstaunt: »Versucht sie wirklich, mit mir zu verhandeln? Ist die irre oder haben die Medikamente ihren Verstand zerstört? Das wäre die einzige, akzeptable Erklärung für mich.«
Der Arzt schaute schockiert zu Maxi, die sich selbstsicher im Raum positionierte. Sie war bereit, Jonnys finsteren Wesen standzuhalten.
»Jonny«, raunte er hastig, »ich werde mich darum kümmern, sie wird essen und sie wird dich nicht mehr belästigen.«
»Oh«, der Killer lehnte sich in seinem Stuhl zurück, »sie belästigt mich nicht, sie macht mich gerade sehr, sehr neugierig, wie ich sie bestrafen muss, damit sie mir gehorcht. Das herauszufinden, könnte mich amüsieren.«
Strafen? Gehorchen? Okay, Jonny schien seine Methoden zu haben, um sie einzuschüchtern, aber der Wunsch, aus diesem Bunker entkommen zu wollen, wog im Moment stärker, als ihre blühende Fantasie – die ihr ansonsten schon zahlreiche Foltermethoden bereitgestellt hätte.
Der Arzt trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Man sah ihm den Zwiespalt, in dem er sich befinden musste, förmlich an. »Jonny. Der Auftraggeber, er…«
»Er will keine Verletzungen an ihrem Körper, aber es gibt auch Techniken, die keine Spuren hinterlassen. Wie wäre es mit Strom?« Beim letzten Satz richtete er seinen Fokus auf Maxi zurück, die augenblicklich blass wurde. »Was meinst du, Maxi? Wäre das was, das dich überzeugen könnte?« Er lächelte provokativ. »Oder bist du doch taffer, als ich denke? Wollen wir gemeinsam deine körperlichen Belastungsgrenzen testen und herausfinden, wer von uns beiden länger durchhält?«
Diesen Wettbewerb würde sie verlieren. Er war ja auch unfair, womit konnte sie ihm schon drohen?
Mit gesenkten Kopf und wortlos – das es nicht zum debattieren gab – trottete sie zu dem Hocker. Sie ließ sich kraftlos darauf plumpsen, griff nach dem Löffel und nahm zwei Bissen von den Nudeln mit Sahnesoße. »Fertig.«
»Du bist fertig, wenn ich es dir sage oder wenn dein Teller leer ist.«
Sie starrte auf den Berg an Nudeln, der dort auf sie wartete. Lustlos stocherte sie mit dem Besteck in dem Essen herum, bevor sie einen winzigen, nächsten Happen nahm. Vielleicht konnte sie ihn mit ihrer Langsamkeit zu Tode langweilen?
»Nicht so zögerlich«, wies er sie an und drückte ihre Hand samt Löffel wieder zum Essen hin. »Sei denn, du willst mich wirklich böse machen. Aber bevor du das tust, lass mich dir erzählen, dass die letzte Person, die das probiert hat, tagelang weder sitzen noch liegen konnte, nachdem ich ihn mit einem Rohrstock bearbeitet habe.«
»Du darfst mich nicht schlagen«, konterte sie und spielte erneut ihr erworbenes Wissen gegen ihn aus.
Baff sah er sie an. »Was dir an Vernunft fehlt, machst du durch Intelligenz wett. Aber okay, du willst ein lustiges Spiel spielen, dann will ich dich nicht enttäuschen…« Mit einem Ruck drehte er sich dem Arzt zu. »Haben wir noch die extrem scharfe Chilipaste, die wir bei unwilligen Sklaven auf deren Schleimhäute anwenden, wenn sie uns nicht dienen wollen, weil es angeblich soooo brennt. Und wir ihnen damit beweisen, dass es etwas gibt, was noch schmerzhafter ist als ein Schwanz im Hintern?«
Seine Worte waren eine enorme Motivation. Maxi hatte in nicht mal einer Minute die Hälfte des Tellers in sich hineingestopft, so schnell konnte der Kerl gar nicht schauen. »Bimm fasst mpfertig«, nuschelte sie mit vollem Mund, während sie schon die nächste, volle Gabel in den Mund zwang. Mit Jonny legte man sich nicht an, das war ihr nun klar – da zog man definitiv den Kürzeren.
»Na, geht doch«, sagte er fast lobend, als er sah, wie sie aufaß. »Und ab jetzt, wird das immer so ein. Nicht?!«
»Ja«, gelobte sie Besserung, denn sein Durchsetzungsvermögen, erschaffen durch ein perfides Strafsystem, überwog einfach.
»Aufwachen«, dröhnte es durch ihre Zelle.
Müde rappelte sie sich auf. »Was ist los?«, wollte sie wissen, obwohl man ihr sowieso nichts sagen würde. Kommunikation gehörte nicht zur Unternehmenspolitik der Männer hier.
»Es geht los«, meinte der Gorilla und grinste dabei boshaft von einem Ohr zum anderen. »Heute ist der Tag deiner Abreise gekommen.«
Wenigstens schien er sich darüber freuen zu können. Sie hingegen war vollkommen aufgelöst und aufgeregt. Das Adrenalin zirkulierte durch ihre Adern, als würde sie vor einem Abgrund stehen. Was sie vielleicht auch tat? Ihr Käufer konnte ja schlimme Vorlieben haben: Menschen zerstückeln war so ein Hobby, das er haben könnte. Das jedenfalls schlug ihr Gehirn ihr netterweise vor und ignorierte dabei alle Fakten, die dagegen sprechen könnten geflissentlich.
Sie wurde ins Bad gebracht, wo man ihr Zeit gab, ihre Notdurft zu verrichten und sich anschließend zu duschen. Dann wurde sie in einen ihr unbekannten Raum geführt, der aber nicht sehr anders aussah als ihr Gefängnis. Nur, dass hier ein kleiner Schrank und ein Stuhl stand.
»Hinsetzen«, blaffte sie der Kerl an.
Im Türrahmen erschien der Arzt. »Hallo Maxine«, begrüßte er sie freundlich. »Deine dritte Wahl schickt mich, dich auf die Reise vorzubereiten. Aus Gründen, die dir bekannt sein dürften, hat er kein Interesse daran, dich persönlich zu verabschieden.«
»Ich nehme an, er ist sauer?«
»Sauer?« Der Alte krümmte seinen Oberkörper leicht vor Lachen. »Du hast ihn zutiefst gekränkt. Dritte Wahl? Man, Maxi, der Mann ist es gewohnt, die Nummer 1 zu sein – und das bei allen Geschlechtern!«
Maxine schürzte ihre Unterlippe vor. »War ein bisschen keck von mir, ich gebe es zu.«
»Du warst verdammt dumm, fast lebensmüde«, schimpfte der Arzt, nachdem er seinen Lachanfall unter Kontrolle bekommen hatte. »Aber es ist glimpflich ausgegangen. Ich bin froh, dass du von Jonny wegkommst, ihr zwei harmoniert nicht, ihr seid eine gefährliche Mischung, wobei du den Kürzeren ziehen würdest.«
Der ältere Mann ging nach seiner kurzen Ansprache, zu dem Schrank und schloss ihn auf, dann drehte er sich zu Maxi um. »So, Maxine«, meinte er, »du hast die Wahl zwischen Knebel und Fesseln oder einem harmlosen Beruhigungsmittel für die Reise.«
»Ersteres«, erwiderte sie ohne Zögern. Von Medikamenten und deren dubiose Wirkung hatte sie genug.
»Verstehe ich nicht«, er schüttelte sein schütteres Haar, »wieso nehmen immer alle die erste Variante? Es muss an eurer Unerfahrenheit liegen, anders kann ich es mir nicht erklären. Oder warst du schon mal mehrere Stunden gefesselt und hast einen Knebel getragen, hm?«
Nein, die Antwort lautet nein. Jedenfalls war sie jedes Mal nicht lange bei Bewusstsein geblieben. »Warum? Was ist damit?«
»Ganz einfach, deine Glieder werden irgendwann unerträglich schmerzen, deine Muskeln werden krampfen, du wirst furchtbare Qualen erleiden. Zudem wird dein Kiefer schon nach wenigen Minuten heftig pulsieren, deine Schleimhäute im Mund werden austrocknen und du wirst Halsschmerzen bekommen. Aber am schlimmsten wird sich die Kiefersperre anfühlen, die nach längerer Zeit durch den Knebel im Mund eintreten wird.«
Seine Ausführungen waren nicht gerade sehr verlockend. Aber bewusstlos gemacht zu werden und dann irgendwo aufzuwachen, war nicht weniger unheimlich.
»Ich bleib bei Wahl Nummer 1.« Sie würde schon ein tapferes Mädchen sein, sprach sie sich selbst Mut zu.
»Und wieder weichst du nicht von der Norm ab, ihr müsst wohl alle erst diese Erfahrung durchlitten haben, um beim nächsten Mal zu wissen, was für ein gnädiges, großzügiges Angebot das Sedativa ist.« Er zuckte mit seinen Schultern. »Aber du hast dich entschieden, dann machen wir das jetzt auch so.«
Der Gorilla riss ihr grob die Arme auf den Rücken und fesselte sie dort zusammen. Dann packte er Maxi am Kinn und drückte ihr gewaltsam den Mund auf, worin ein großer Ballknebel verschwand, bevor er ihr – und das hatte man ihr vorher verschwiegen – einen blickdichten Sack über den Kopf stülpte.
Sie wurde hochgerissen und über die Schultern des großen Mannes geworfen. Ihr Körper wippte im Takt, als sie durch den Bunker getragen wurde. Nach einigen Minuten spürte sie ein Polster unter ihrem Hintern. Man schob sie auf die Rückbank eines Autos. Jemand nahm neben ihr Platz, aber ob das der Arzt, der Gorilla oder sonst wer war, konnte sie nicht sagen.
Die Fahrt ins Ungewisse begann holprig. Sie schienen über eine unbefestigte Straße zu brettern, was sie immer wieder hoch und runter hüpfen ließ. Da sie immer wieder auf ihre gefesselten Hände fiel, stellten sich die prophezeiten Schmerzen schneller ein, als ihr lieb war.
Auch was ihren ausgedörrten Mundraum betraf, behielt der Arzt recht. Schon nach ein paar Stunden fing sie leise an, zu stöhnen. Ihre Hände fühlten sich an, als würden sie bald absterben, ihr Kiefer explodierte beinahe bei jeder Kurve, den der Fahrer zu scharf nahm. Eigentlich entfachte jede kleinste Erschütterung in ihrem Körper ein Feuerwerk an Qualen.
Ihr Stöhnen nahm zu. Sie hielt den stärkerwerdenen Schmerz, der von ihrem ganzen Leib Besitz nahm, nicht mehr aus. Sie war keine Memme, aber das, was der Arzt ihr erzählt hatte, traf mehr als zu. Jetzt wünschte sie sich tatsächlich von ganzem Herzen, sie hätte Option Nummer 2 gewählt.
Ihr Körper krampfte sich zusammen. Sie hatte einen heftigen Muskelkrampf in ihren Armen, den sie auch nicht lösen konnte, da ihr im wahrsten Sinne des Wortes, die Hände gebunden waren.
»Halt an«, hörte sie die Stimme des Arztes. Er saß also neben ihr.
Der Wagen stoppte. »Hast du deine Lektion gelernt?«, wollte er beinahe sanft wissen und Maxi verstand worauf er hinauswollte. Er bot ihr an, ihre Entscheidung rückgängig machen zu können.
»Mhmm«, rief sie durch den Knebel. Er zog ihr den Sack vom Kopf und sie blinzelte gegen das hereinfallende Sonnenlicht an.
»Nicke, wenn du willst, dass wir zu Option 2 wechseln sollen.«
Doch sie hörte seine Worte kaum, selbst ihre Schmerzen ebbten für einen Augenblick vollkommen ab. Auf dem Beifahrersitz saß ein Mann, den sie schmerzlich vermisst hatte. Ivan drehte sich lächelnd zu ihr um.
Auch wenn der Knebel sie sprachlos machte, hätte sie in dem Moment sowieso kein Wort herausgebracht. Was machte er hier? Sofort schossen ihr Tränen in die Augen, was der Arzt falsch interpretierte: »Die Schmerzen werden sofort nachlassen, versprochen.«
Sie ruckte herum, dann starrte sie den Arzt finster an. Dachten sie denn alle, sie könnten mit ihr umgehen, wie sie wollten? Sie zu ihrer Marionette machen. Niemals! Mit einem empörten Schnauben verdrehte sie die Augen und fixierte schmollend den Sitz vor ihr.
»Du willst wirklich bei deiner Entscheidung bleiben? Russland ist groß, wir fahren noch 3 Stunden.«
Sie sagte dazu nichts. Mit Fassung und Stolz ertrug sie, dass er ihr seufzend wieder den Sack über den Kopf zog. Doch kaum hatte sie die Dunkelheit wieder, kamen auch die Schmerzen zurück. Verbissen unterdrückte Maxine weitere Schmerzenslaute, was ihr aber nur die erste halbe Stunden gelang – wie sie schätzte. Dann vervielfachte sich die Qual erneut und sie konnte nicht verhindern, dass sie wieder anfing, leise zu wimmern.
»Machen wir eine Pause«, schlug Ivan vor und Maxis Herz hüpfte unwillkürlich in ihrer Brust, als sie seine dunkle, ruhige Stimme hörte. Sie war plötzlich ganz aufgeregt und wusste nicht mal warum. Was erwartete sie, ein nettes Picknick am Straßenrand im Kerzenlicht?
Dann wurde ihr tatsächlich erst der Sack, anschließend der Knebel entfernt. Wie ihr gesagt wurde, tat ihr Kiefer wirklich höllisch weh. Sie bewegte ihn vorsichtig, indem sie ihre Zähne zusammenbiss. Als sie erwartungsvoll ihre Hände bewegte, schüttelte Ivan seinen Kopf. »Wir sind zwar auf einer abgeschiedenen Straße, aber wie wir jetzt alle wissen, machst du gerne unbegleitete Ausflüge.«
Ihr Kopf ruckte zu ihrem Reiseleiter herum. Ivan lächelte dieses Lächeln, was sie ganz verrückt machte. Es war eine Mischung aus Nähe und Distanz. Nur er bekam es hin, in einem simplen Schmunzeln zwei so widersprüchliche Emotionen zu vereinen.
Trotz oder gerade wegen seinem Lächeln auf den Lippen, war sie wütend. Er hatte sie dem irren Killer ausgeliefert und sie dort zurückgelassen und jetzt taucht er einfach wieder in ihrem Leben auf…und tat so, als wäre nichts passiert.
»Spinnst du«, fuhr sie ihn daher gereizt an, obwohl ihr Herz in ihrer Brust mit harten Schlägen gegen ihre eigenen Worte protestierte.
»Nein. Das ist Weiberkram und außerdem sehr gefährlich, wie wir von Dornröschen wissen.« Sein Grinsen wurde noch breiter, als er ihre aufbrausende Wut beobachtete und mit seinem Scherz noch weiter provozierte. »Aber, wenn du spinnen magst, beschaffe ich dir gern Garn.«
Sie brodelte innerlich so heiß, dass selbst Wasser verdampft wäre. »Ivan, du…«
»…bist endlich genauso witzig, wie ich es bin?«, vollendete er ihren Satz scherzhaft und zwinkerte ihr zu. »Weißt du, ich hatte eine gute Lehrmeisterin.«
Sie knirschte mit ihren Zähnen. Ihr Humor war deutlich besser – außerdem stand es ihrem Entführer nicht zu, über sie zu lachen. Das stand nur ihr zu. »Du bist unmöglich«, schnaufte sie und doch stahl sich ein leichtes, amüsiertes Zucken ihrer Mundwinkel auf ihr Gesicht. Doch dann wurde sie wieder ernst, die Lage erforderte es, dass sie sich nicht von seinem gefährlichen, berechenbaren Charme blenden ließ.
»Wohin bringt ihr mich?«
»Nach Hause.«
Das hörte sich vielversprechend an. Jetzt musste sie noch herausfinden, ob im Ganzen oder in kleinen Stücken. »Lebend?«
Pikiert rutschte Ivan auf dem Beifahrersitz herum, er lehnte seinen Oberkörper weit zu ihr auf die Rückbank vor und packte sie an den Oberarmen. »Maxine, das ist hoffentlich keine ernstgemeinte Frage gewesen? Für wen hältst du mich?«
Tja, gute Frage. Sicherlich nicht für den netten Kerl von nebenan. »Ist, dass ich dich für einen undurchschaubaren Kriminellen halte, eine Beleidigung oder ein Lob für dich?«
»Lob«, meinte er trocken.
»Dann dafür.«
Er leckte sich über seine Lippen, ließ ihre Arme los und sank wieder auf den Beifahrersitz zurück. »Wir müssen gleich eine längere Zeit auf eine Hauptstraße, es ist besser, wenn wir sie in den Kofferraum tun.« Der Satz galt eindeutig dem Arzt und Maxi behagte die Aussage nicht.
»Nein, da bekomme ich eine Panikattacke! Und Luftnot«, zählte sie hysterisch auf und sah Ivan flehend an. Doch er blieb hart. »Du willst nach Hause, oder?«
»Ja.«
»Dann musst du da durch.«
»Aber ich werde dahinten sterben. Ganz sicher«, lamentierte sie. Enge, abgeschlossene Räume waren der Horror, sie war froh, gerade Jonnys Leidenschaft für karge Zellen entkommen zu sein, da wollte sie nicht noch eins draufsetzen und in einem Kofferraum landen. »Bitte, Ivan, ich werde mich unauffällig verhalten.«
»Sieh an, Jonny hat dir das Bitte beigebracht, du bist also doch kein hoffnungsloser Fall«, witzelte er, doch dann drehte er sich mit ernster Miene zu ihr um. »Nein, das geht nicht. Ich habe Jonny versprochen, die höchsten Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Also…«, nun sah er den Arzt an, »du durftest ja schon mal zwischen zwei Optionen entscheiden. Welche wählst du jetzt, nachdem du deinen Erfahrungsschatz erweitern durftest?«
»Knebel und Sack«, fauchte sie. Natürlich war das keine gute Wahl, aber ihr Hochmut ließ sie lieber stundenlang leiden, als dass Ivan denken könnte, sie sei ein schwaches, weinerliches Gör. Das würde er nie zu Gesicht bekommen. Das bekam keiner auf diesem Planeten zu Gesicht, lieber weinte sie alleine, als dass sie bemitleidet wurde. Sie war ein Supergirl.
»Schade, ich dachte, dein Humor und Intelligenz seien auf dem gleichen Niveau«, meinte der Halbrusse. Dann machte er eine Geste zu ihrem Sitznachbarn hin. »Tue es, in einer halben Stunde muss sie dann in den Kofferraum.«
Dann ging alles so schnell, dass Maxi nicht mal erwidern konnte, dass sie schließlich ein Supergirl sei. Leider hielt die Vorstellung von der taffen Heldin nicht sehr lange, denn der Schmerz zerstörte die Illusion der Unverwundbarkeit. Wieder seufzte und wimmerte sie leise, auch wenn sie probierte, jeden Laut aus ihren verschlossenen Lippen genauso zu unterdrücken wie es der Knebel tat.
Plötzlich erhob sich Ivans weiche, tiefe Stimme. »Nimm ihr die Entscheidung ab, sie ist zu unvernünftig und zu stolz dafür. Ich kann es echt nicht mehr mitanhören.«
Ivan fiel ihr in den Rücken, aber sie war auch irgendwie gerührt darüber, dass er wusste, dass sie nicht über ihren Schatten springen würde. So gut kannte er sie also schon. Aber das Wissen war ungleichmäßig verteilt, sie wusste von ihm eigentlich gar nichts – außer seinen Vornamen. Sie musste diese Informationsdiskrepanz unbedingt beseitigen. Wer war Ivan, der Halbrusse? Sie würde es herausfinden.
»Wie du meinst, Ivan. Ich hätte ihr die Lektion erteilt und es ihr überlassen.«
»Ich tue das aber nicht.«
Maxi bemerkte, wie eine kühle Flüssigkeit auf ihrem Oberarm verteilt wurde, dann glitt eine Nadel in ihren schmerzenden Muskel. Der Druck der Flüssigkeit verursachte ein höllisches Brennen und sie stöhnte noch lauter auf. Es schien ewig zu dauernd, bis die Spritze leer war.
Dann wurden ihre Fesseln gelöst, was ihr Herz zum jubilieren brachte, als nächstes folgte der Sack und der Knebel – aber das bekam Maxi schon fast gar nicht mehr mit. Hände regten ihre Blutzirkulation an Armen und Beinen an, die wohltuende Massage und das Schlafmittel beförderten sie endgültig ins Reich der Träume. Und wieder war sie nicht dazu gekommen, ihnen zu verkünden, dass sie Supergirl sei.
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Wird bald fortgesetzt
»Gut geschlafen?«
Ivan saß neben ihr auf einem Stuhl. Deine Beine lässig übereinandergeschlagen und das Haar noch nass vom Waschen.
»Ist das ein Scherz?«, fragte sie irritiert, als sie begriff, dass das weder ihr Bett noch ihr Zimmer war, in dem sie aufwachte. Sie war nicht in Deutschland, nicht in ihrer Straße, nicht in ihrem Mietshaus. Er hatte sie verarscht und hinters Licht geführt. Bastard.
»Ob du gut geschlafen hast?«, hakte er ebenfalls leicht verwirrt nach. Er schien ihrer Konversation nicht folgen zu können.
Nein, verdammt. »Ich meine, was mache ich hier, du hast gesagt, du bringst mich nach Hause?«
Er nickte. »Ich sagte, ich bring dich nach Hause. Ich sagte nicht, in dein Zuhause.«
Fuck. Er hielt sie zum Narren und sie Idiotin hatte nicht nachgefragt, wie er nach Hause definierte. Im Prinzip hatte er recht, sie waren zu Hause, nur eben im falschen! Sie hätte es doch bei ihm besser wissen müssen: Stell nie eine Frage, die nicht eindeutig ist.
Ärgerlich, einen solchen Fehler begangen zu haben, wandte sie sich vorerst einem anderen Thema zu, das nicht weniger interessant war: »Warum bin ich hier?«
Ivan schien ebenfalls froh, dem Thema entkommen zu sein, denn er antwortete ihr zügig und freimütig: »Oh, es dürfte dich erfreuen, dass dein Auftraggeber ums Leben gekommen ist und ich dich erwerben konnte.«
Um Himmels Willen, das wurde ja immer schlimmer, je mehr sie fragte. Sie war doch kein Stück Vieh, das man beliebig verschachern konnte. »Dann kannst du mich ja auch wieder nach Hause bringen«, sie rieb mit ihrer Hand über ihre Stirn. »Ich hatte genug Aufregung für den Rest meines Lebens. Ich würde den Abenteuerurlaub jetzt gerne stornieren«
»Verstehe«, er kratzte sich am Kinn, »aber das Problem ist, du kennst jetzt unsere Gesichter. Ich musste Jonny versprechen, dich nie wieder gehen zu lassen, wenn du überleben sollst.«
Sie wiederholte den gleichen Satz nochmal: »Ist das ein Scherz?«
»Sehe ich aus wie ein Clown?«, wollte er rüde wissen. Er wirkte enttäuscht, wahrscheinlich hatte er mehr Enthusiasmus von ihrer Seite aus erwartet. Aber im Moment hielt sich ihre Freude in Grenzen, auch wenn sie sich gewünscht hatte, wieder bei Ivan zu sein – aber jetzt waren die Bedingungen doch anders.
»Du willst mich bei dir weiterhin gefangen halten?«, hakte sie ungläubig nach. Sie konnte es nicht fassen, sie hatte in ihrem Leben nicht einmal eine Heirat in Betracht gezogen und nun sollte sie gleich mit einem Mann für und immer ewig zusammenziehen? Wohlgemerkt mit einem Mann, den sie noch nicht lange kannte und der einen eher fragwürdigen Background hatte.
Er machte eine verzeihende Geste. »Als Gast beherbergen«, korrigierte er sie.
Sie holte tief Luft. »Ich hoffe, die örtliche Polizei beherbergt dich auch bald als ihren Gast.«
Er lächelte sie unverschämt an. »Jonny? Warum sollte er?«
Jonny war bei der Polizei? »Er ist Polizist?«, entfuhr es ihr entgeistert. Damit hatte sie nicht gerechnet.
»Nein, nein. So etwas Profanes würde er nicht tun, sie gehört ihm nur.«
»Ihm gehört die Polizei?« Langsam kam sie sich wie ein Papagei vor, weil sie immer einzelne Satzfetzen aufgriff oder wiederholte.
»Ja, sagen wir mal 99% der Polizisten beziehen von ihm ein großzügigeres Gehalt als vom Staat.«
»Das ist Korruption!«
»Das ist ein Geschäftsmodell, bei dem alle gewinnen.«
Sie schlug energisch die Bettdecke zurück. »Außer ich, ich verliere, seit ich dich getroffen habe, nur noch.«
»Tja«, er griff nach ihrem Handgelenk und zog sie zu sich auf den Schoß. »Dem Gewinner gehört nun mal alles. Und mein unverschämtes Glück scheint es zu sein, dass ich von uns zweien der Gewinner bin.« Stoisch nahm er Maxis heftige Gegenwehr hin und hielt sie einfach nur besonnen fest. Seine Umklammerung, wie er sie zwischen seinen trainierten Armen hielt, war nicht aggressiv oder grob, sondern einfach nur zweckmäßig. Er hielt sie an Ort und Stelle, ohne ihr wirklich wehzutun.
»Lass mich los«, wehrte sie sich mit Worten, nachdem ihre Taten erfolglos blieben und er sie nicht einen Millimeter frei gab.
»Nein«, erwiderte er und drückte sie noch fester an seinen Oberkörper. »Noch nicht.«
Sie war doch ein gottverdammtes Kuscheltier. Was bildete der Kerl sich denn ein? Sie stäubte sich weiterhin gegen ihn, aber als sie bemerkte, keine Chance gegen ihn zu haben, entspannte sie ihre Muskulatur. Sie sank gegen seinen Oberkörper, legte ihren Kopf auf seine Brust und ließ es geschehen, dass er sie umarmte. Er roch gut, nach Duschgel und nach frischen Apfelsinen.
Erst nachdem sie sich ergeben hatte, lockerte er seinen Griff, bis er sie ganz frei ließ. »Frühstück?«, fragte er sie scheinheilig, als seien sie beide vertraute Liebhaber und nicht Gefangene und Krimineller.
Sie schob ihn sanft mit ihren Händen weg. »Ivan, wie stellst du dir das vor? Willst du mich tatsächlich hier, in deinem Haus, gefangen halten?«
»Ich kann dich auch wieder zu Jonny bringen, er meinte, er würde für dich auch eine Verwendung finden, wenn es mit uns nicht klappt.«
Sie konnte in seinem Gesicht nicht ablesen, ob er einen bösen, unpassenden Scherz mit ihr trieb oder ob es ihm ernst war. Die Zeit bei dem Mörder hatte sie zutiefst verunsichert, sie wusste nun, dass es solche Menschen und Orte wirklich gab. Es waren keine Schauermärchen mehr, sie hatte es am eigenen Leib erfahren.
»Croissants?«, fragte sie daher vorgetäuscht locker nach, »gibt es Croissants zum Frühstück?«
Er schmunzelte. »Schätzchen, wir sind hier in Russland. Dein Reiseleiter möchte dir was bieten, was du sonst nicht an jeder Straßenecke bekommst. Es gibt Kascha, eine russische Spezialität.«
Nun, sie war ein Schlemmermäulchen, wenn man ihr nicht mit Misshandlung oder Tabletten den Hunger verdarb, daher beschloss sie, dieses Kascha zu probieren, bevor sie mit Ivan über ihre gemeinsame Zukunftsplanung wie ein altes Ehepärchen stritt.
Sie gingen die steile Wendeltreppe in das gemütliche Wohnzimmer hinunter. Maxi verharrte einen Moment auf dem letzten Absatz und atmete tief durch.
»Was ist los?«, wollte der Halbrusse wissen, der wartend hinter ihr stand.
»Ich genieße das Licht, es ist so schön, es wiederzusehen.« Sie konnte sich kaum sattsehen, an den Fluten an warmen Strahlen, die durch die riesigen Panoramafenster fielen. Ivan legte seine Hände links und rechts auf ihren Schultern ab. »Ich verstehe auch nicht, wie Jonny in diesem Bunker leben kann, aber er ist ziemlich paranoid, er denkt, nur unter der Erde sicher zu sein.«
Sie warf Ivan einen Seitenblick zu. »Du nicht?«
»Nein, das ist Jonnys Ding. Ich bin völlig entspannt und bei bester, geistiger Gesundheit«, er lachte, dann führte er sie zu dem Esstisch, der reichlich gedeckt war. Zum ersten Mal spürte Maxi wieder richtigen Appetit. Erwartungsvoll nahm sie Platz und ließ sich von Ivan bedienen, der einen Schüssel mit einem Brei vor sie stellte. Enttäuscht und mit der Erinnerung an den widerlich schmeckenden Sportmatsch blickte sie ihren Gastgeber an. »Das ist Kascha?«
Er rümpfte pikiert über ihre unsensible Art die Nase. »Koste es doch erst, bevor du meckerst. Manche Dinge kann man nicht nach ihrem Aussehen beurteilen.«
Genau wie dich, dachte Maxi und steckte den Löffel in den Brei, dich sollte man auch nicht nach deinem Aussehen beurteilen. Das könnte zu bösen Überraschungen führen, wenn man einen liebevollen, gutaussehenden Mann erwartete und einen innerlich verdorbenen Kerl bekam. Und genau wie es sich mit Ivan verhielt, war auch der Brei ganz anders als der äußere Anschein vermuten ließ. Er schmeckte ziemlich lecker nach Sahne und Zucker, ein bisschen wie der deutsche Griespudding.
»Und?« Er klang richtig aufgeregt. Wie ein Kind, das seiner Mutter ein selbstgebasteltes Geschenk präsentierte. Fast war es rührend mitanzusehen, wie er immer gespannter wurde, als sie nicht sofort antworte und ihn etwas schmorren ließ.
»Gut«, erlöste sie ihn endlich, »wirklich gut.«
Er strahlte über das ganze Gesicht. Seine authentische Freude täuschte einen Moment darüber hinweg, dass er ein Verbrecher war.
Die Gunst der Stunde nutzend, meinte sie: »Die Person, der ich das alles verdanke, warum wollte sie mich haben und wie ist sie ums Leben gekommen?«
Ivan schnitt mit einem Messer das Brot auf. »Er wurde ermordet, mehr weiß ich nicht.«
»Er? Ermordet?« Und wieder kam sie sich vor wie ein Papagei, dabei mochte sie Vögel nicht einmal unbedingt. Aber falls sie wieder frei sein sollte, würde sie sich doch Papageien anschaffen, die würden ihr dann die Arbeit abnehmen, alles zu wiederholen.
»Ja.«
»Vom wem?«
Er hörte auf, das Brot mit dem Messer zu malträtieren. »Soll ich gleich eine ganze Biografie über ihn verfassen, hm?«
Schon gut, er musste ja nicht gleich so patzig werden. Aber er musste doch verstehen, dass es sie interessierte, wer der geheimnisvolle Mann gewesen war. Da er nun eines gewaltsamen Todes gestorben war, musste es doch möglich sein, etwas mehr Informationen zu bekommen.
Sie schaute ihn an, dann sagte sie trocken. »Ich gebe mich auch mit einem Essay zufrieden.«
Er sagte kein Wort, sodass sie weitersprach. »Ich habe nie einen Verbrecher gekannt, nicht mal einen Kleinkriminellen«, meinte sie leise, »warum sollte mich ein Typ kennen, der anscheinend so viel Dreck am Stecken hat, dass er nun selbst ins Gras beißen musste?«
»Bitte«, er rollte genervt mit seinen Augen, »nicht schon wieder die Story, du seist die Falsche.«
»Aber was, wenn es so ist?«
Er legte das Messer scheppernd auf dem Tisch ab, dann beugte Ivan sich vor. »Willst du die Wahrheit hören?«
Erstaunt nickte sie. So ging das also. Man musste nur penetrant nerven und bekam alles erzählt? Die Technik sollte sie öfters anwenden.
»In deinem Blut wurde ein Gift gefunden, welches von Auftragsmördern verwendet wird, unliebsame Zeugen unauffällig aus dem Weg zu schaffen. Vielleicht erklärst du mir vorher das, bevor ich dir etwas über meinen Auftrag erzähle, der ja deiner Meinung nach nur ein Irrtum ist.«
»Ich hab keine Erklärung dafür«, schrie sie ihn beinahe an, »und wer sagt dir, dass dich der Arzt nicht anlügt?!«
»Nein«, erwiderte er ernst und ruhig, »das würde er nicht tun.«
»Ich kann dir nur sagen, dass diese Behauptung absurd ist. Ich bin weder eine Zeugin für irgendeinen brisanten Mordfall gewesen, noch kenne ich Leute, die in dunkle Machenschaften verwickelt sind.« Sie biss in das Brötchen, bis ihr auffiel, dass der Satz nicht stimmte: »Ich kannte keine Menschen, die in dunkle Geschäfte verwickelt sind - bis jetzt!« Sie würgte den Brocken hinunter. »Dank dir nun schon.«
»Du dankst mir zurecht, wenn auch aus dem falschen Grund«, knurrte er gefährlich leise, »denn wegen mir lebst du überhaupt noch. Ohne mein Eingreifen hätte dich das Gift bald getötet und den einzigen Ort, den du je besucht hättest, wäre das Leichenschauhaus gewesen. Da ist meine Villa ein deutlich bessere Alternative.«
Gleich ging sie wie eine Rakete an die Decke, wenn er es noch einmal wagte, zu behaupten, sie gerettet zu haben. Er log ja schlimmer als jeder Trickbetrüger. Wegen ihm saß sie perspektivlos in einem Haus in der Pampa fest.
»Es. Gibt. Und. Gab. Nie. Ein. Gift«, zischte sie Wort um Wort. Vielleicht war er schwerhörig und sie musste es nur laut und deutlich wiederholen: »Kein Gift. Klar?!«
»Gut«, er schob den Teller von sich fort, anscheinend war ihm auch mal der Hunger vergangen. Willkommen im Club der Appetitlosen. »Dann frage ich dich, kennst du einen Tom?«
Tom. Der Name wühlte sämtliche Emotionen in ihr auf und brachte sie durcheinander, der Name führte zu Atemnot und zu einer enttäuschten, unerwiderten Liebe. »Nein«, log sie.
Er lächelte matt. »Ich möchte dich nicht verletzen, aber dein Schauspieltalent hat in den letzten Tagen nicht an Professionalität gewonnen.«
Ach Mist. Sie vergaß seine gute Menschenkenntnis immer mal wieder gerne. »Er war meine große Liebe. Aber was hat er mit der Sache zu tun? Er war Unternehmensberater, kein Mafiaboss.«
»Hast du ihn mal in seiner Firma besucht?«
Was für eine dumme Frage. Als würde man das noch heutzutage tun. »Ne. Hab ihn aber mit dem Auto öfters vors Büro gefahren.«
»Und auf den Trick fällst du rein?«
Sie stierte auf die Tischplatte. Sie war bei Tom auf vieles hereingefallen: Auf seine Art zu lachen, sie anzuschauen und sie zu berühren. Doch am Ende, als sie heillos in ihn verliebt gewesen war, hatte er sie einfach wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen und diesen fatalen Satz gesagt, nachdem sie ihm ihre Liebe gestanden hatte: „Ich will dich nicht, Maxine.“ Das war dann der Zeitpunkt gewesen, wo sie beschlossen hatte, sich von der Männerwelt zu entlieben. Was er ihr angetan hatte, tat sie nun Alexander, Richard, Paul - und wie sie all hießen - an. Sie war zu einer schwarzen Witwe der Liebe mutiert.
Plötzlich kam ihr ein Verdacht. »Meinst du, einer meiner abservierten Liebhaber wollte mich umbringen?«
»Nicht umbringen«, er stöhnte genervt auf, »dich retten. Und es war keiner deiner Bett-Toys, sondern Tom.«
Okay, jetzt verstand sie wirklich nur noch Bahnhof. Was war denn das für ein absurder Rettungsversuch, sie erst zu vergiften und dann von einem Entführer und einem Killer nach Russland verschleppen und gefangen nehmen zu lassen? Demensprechend kunstvoll fiel auch ihre wortreiche sowie präzise Nachfrage aus: »Hä?«
Er holte Luft. Er schien viel Sauerstoff zu brauchen, um ihr das Nötigste zu erklären, denn bevor er anfing, atmete er erneut ein. »Tom war der Auftraggeber, den Namen habe ich bei Jonny aufgeschnappt, er wollte dich in Sicherheit bringen lassen.«
»Mal abgesehen davon, dass das völlig absurd ist, was du da behauptest: Wieso ist Tom nicht einfach zur Polizei gegangen? Wieso hetzt er mir geisteskranke Menschen auf den Hals? Hm?«
Ihr fiel sein beleidigter Gesichtsausdruck auf. Oha. Hatte sie ihn gerade als geisteskrank bezeichnet? Na super. Notiz an ihr Gehirn: Erst denken, dann sprechen.
»Weil diese Geisteskranken – er betonte die Beschimpfung äußerst lakonisch – die einzigen Personen sind, denen er vertrauen kann. Hier zählt nur der Auftrag, sonst nichts. Während die Polizei leicht zu schmieren ist, wahrscheinlich hätte dich irgendein bestochener Cop gegen ein paar Scheine umgebracht, wenn Tom oder du dich an sie gewandt hätten. Nein, Tom muss gewusst haben, dass du nur bei den schlimmsten Verbrechern, an die sich kein mittelmäßiger Untergrundboss ran traut, sicher bist. Außerdem gehörte Tom definitiv nicht zu denen, die Hilfe bei den Bullen suchen können, wenn sie in Schwierigkeiten geraten.«
Das mit dem Auftrag - das konnte sie bestätigen. Bei Jonny hatte sie sich tatsächlich wie eine lästige Aufgabe gefühlt, die es zu erledigen galt. Ein menschliches Wesen, war sie in seinen Augen nicht gewesen. Trotzdem, es blieben bei ihr Zweifel: »Okay, Sherlock, bleibt immer noch die Sache mit dem Gift…und der Umstand, dass er ein Berater und kein verfickter Drogenboss war.«
»Jo. Ein Berater mit weitreichenden Verbindungen. Denkst du, Typen wie Jonny findet man im Telefonverzeichnis?«
Für Maxi war das nur der Beleg, dass Ivan sich irren musste. Tom war ein charmanter Draufgänger gewesen, immer beruflich eingespannt und viel unterwegs, aber zu sanft, um…
Zu sanft. Wie vom Blitz getroffen, hielt sie inne. Genau wie Ivan. Mit pochendem Herzen blickte sie ihren Entführer an. Sie besaß doch gar keine Menschenkenntnis, wenn sie Ivan im normalen Alltag begegnet wäre, hätte sie dann erkannt, wer sich hinter der freundlichen, adretten Fassade verbarg? Nein. Sie wäre arglos auf ihn hereingefallen, genau, wie sie Tom auf den Leim gegangen war.
Und plötzlich schlich sich ein weiteres, weitaus schwermütigeres Gefühl als der Zorn in ihr Herz. »Heißt das, Tom ist tot?«
Ivan nickte.
Und wie als hätte er mit seiner Kopfbewegung ein unsichtbares Tor geöffnet, strömten die Tränen aus Maxis Augen. Sie schluchzte laut los und verbarg ihr Gesicht zwischen ihren Händen. Sie konnte gar nicht begreifen, warum sie derart weinte. Wegen ihm war sie entführt worden – und was er mit ihr vorgehabt hatte, würde sie auch nicht erfahren. Trotzdem heulte sie jetzt wie ein Schlosshund und war auch nicht durch Ivan, der zu ihr herübergeeilt war, und ihren Kopf streichelte, zu beruhigen.
»Hey, kleines Hausmädchen«, dieses Mal klang ihr Kosename aus seinem Mund freundlich und sanft. »Was ist los?«
»Ich, ich…er, ich«, sie schniefte, schluchzte. Sie zeigte ihm eine verletzliche Seite, die er nie zuvor so intensiv gesehen hatte. Langsam, sehr langsam kämpfte sich ihr Stolz zurück, als ihr bewusst wurde, in welchen Armen sie Rotz und Wasser heulte: Er war nicht nur Ivan, er war auch ein Mann – und dem männlichen Geschlecht hatte sie feierlich abgeschworen. Nie wieder würde sie einem Kerl gegenüber Gefühle zeigen.
»Ja…«, erwiderte er nur beruhigend auf ihr sinnloses Gestammel und fuhr ihr durchs Haar.
Sie ließ es geschehen, auch weil sie unfähig war, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Ableben ihrer großen, unerfüllten Liebe ließ sie unzurechnungsfähig zurück. Ihre Finger krallten sich in sein Hemd, zerknitterten es.
Ivan hielt sie weiterhin stoisch umschlungen. Doch dann brach ihr erwachender Stolz mit brachialer Gewalt an die Oberfläche und verdrängte die Schwäche. Ohne Vorwarnung rammte Maxi ihm seine Hände in die Schultern und stieß ihn zurück. Ivan, der mit keiner Attacke gerechnet hatte, verlor den Halt und taumelte zurück.
»Fass mich nicht an«, schrie sie ihn mit tränennassen Gesicht an und sprang vom Stuhl, der hinter ihr polternd umfiel.
Entsetzt sah er sie an. Er schien sie ihm Moment nicht wiederzuerkennen. Aber da waren sie schon zu zweit. Sie rang nach Luft. Sie musste die Beherrschung über ihre Emotionen rasch wiedererlangen, bevor Ivan noch mehr von ihrem Innenleben entdeckte – das ging schließlich niemanden etwas an. Das war ihr ganz persönlicher Schatz, hinter meterdicken Stahl einer mentalen Schutzmauer sicher verstaut.
»Maxi«, kam seine Stimme schneidend und herrisch. »Geh in dein Zimmer.«
Seine Art, sie wie in ein unartiges Kind wegschicken zu wollen, brachte sie nur noch mehr in Rage. Sie ballte ihre Fäuste, hob sie sogar auf Augenhöhe an, als sei sie ein Boxer. »Lass mich in Ruhe, verschwinde…«
»Das ist mein Haus, das einzige, was vielleicht verschwindet, ist meine Nachsichtigkeit mit dir«, seufzte er rau, dann streckte er seinen Zeigefinger aus und deutete auf die Treppe. »Geh jetzt in dein Zimmer und komm erst wieder runter, wenn du bei Vernunft bist.«
Für einen Wimpernschlag zögerte sie. Ihre Verzweiflung, vermischt mit Trauer und Wut, drängte danach in einem Streit ausgelebt zu werden, aber dann entschied sich ihr Geist für ein theatralisches Aufschluchzen. Sie rannte an ihm vorbei, die Hände vors Gesicht geschlagen, die Treppen hoch und in ihren Raum. Scheppernd schlug sie die Tür zu und warf sich auf die Matratze. Sie war dem Teenageralter zwar entwachsen, aber die alten, kindlichen Verhaltensweisen beherrschte sie noch sehr gut.
Sie weinte in das Kissen. Solange, bis der Bezug durchnässt und ihre Augen trocken waren.
Es klopfte.
Wie höflich von ihm, dass er nie den Anstand vergaß, sein Kommen anzukündigen. Auch wenn sie im Endeffekt keine Einflussmöglichkeit darauf hatte, ob er nun eintrat oder nicht.
»Maxine«, er ging zu ihr hin, aber sie drückte ihren Kopf nur fester ins Bettzeug, »ich habe dir noch etwas Essen mitgebracht, du hast in den letzten Tagen so wenig gegessen. Ich stelle es dir neben das Bett, dann kannst du später noch essen, ja?«
Sie schwieg.
Er blieb neben ihr stehen. Wahrscheinlich würde er nicht gehen, bevor er eine Antwort von ihr bekam. Der blöde, unempathischen Mistkerl wollte einfach nicht verschwinden. Wie angewurzelt blieb er neben ihr stehen, sie konnte über den Rand ihres Kissens seine dunklen Lederschuhe erkennen. Dann ging er in die Hocke.
»Du hingst an ihm, oder?«
Herzlichen Glückwunsch für die Erkenntnis, die ja jetzt offensichtlich war. Hatte er es endlich auch kapiert.
»Geh weg.«
»Maxi, ich habe auch einen Menschen verloren, den ich sehr gern mochte, ich weiß, wie du dich jetzt fühlen musst. Kann ich irgendwas für dich tun, damit es dir besser geht?«
Nett, dass er frage. Sie hatte da schon ein, zwei Vorschläge: »Wie wäre es, wenn du mich nach Hause bringst und dann aus meinem Leben verschwindest?«
»Mhm«, seine Tonlage war angefüllt mit Melancholie, nicht, wie sie erwartet hatte, mit Zorn oder Missfallen. Überrascht über den ungewöhnlichen Ton, den er angeschlagen hatte, hob sie ihren Nacken leicht an. Perplex registrierte sie, dass sie ihn verletzt hatte. Es war deutlich in seiner ansonsten verschlossenen Miene zu sehen.
Da sie sich plötzlich wie das größte Monster auf Erden vorkamen – und das Gefühl neben einem Schwerkriminellen zu haben, war schon eine gigantische Leistung – rappelte sie sich auf und setzte sich im Schneidersitz vor ihm hin. »Wer war es?«
»Meine Schwester.«
Sah sie da etwa Tränen in seinen mörderischen Augen glitzern? Wow, der Kerl hatte ein Herz. Und Gefühle.
»Was ist passiert?«, fragte sie mitfühlend.
»Sie wurde bei einer missglückten Geiselnahme getötet. Sie war in einem Theater als Terroristen es überfielen, die Befreiungsaktion der Polizei ging schief.«
»Und dann…«, sie schluckte und ihr Körper wurde von einer feinen Gänsehaut überzogen. Seine ganze Erscheinung war nur noch ein dunkler Schatten.
»Und dann?«, seine Stimme wurde tiefer und tiefer, »habe ich die umgebracht, die entkommen konnten.«
Okay. Ivan hatte zwar ein Herz, aber es konnte auch mitleidlos und eiskalt sein. Sie durfte nicht vergessen, wer er wirklich war: Ein Verbrecher.
Er schien bemerkt zu haben, dass er sie ängstigte, denn plötzlich lächelte er unvermittelt und streckte seine Hand aus. Sie ließ es geschehen, dass er ihr über das Haar strich. »Aber das ist langer her, ich war noch ein sehr junger Mann, fast noch ein Kind.«
Und schon so grausam, dachte Maxi und musterte ihn. Wie konnte ein eiskalter Racheengel derart sanfte, braune Augen haben? Er war eine Mogelpackung.
»Soll ich dich etwas allein lassen, damit du trauern kannst?«, fragte er sie unerwartet. Endlich ging er auf ihre andauernd vorgebrachte Forderung ein. Wurde ja auch Zeit. Sie nickte. Sie brauchte jetzt die Ruhe, um über den Tod von Tom, aber auch über das Gesagte von Ivan nachzudenken.
»Dann gehe ich jetzt«, sagte er leise und richtete sich ächzend auf, »aber vorher werde ich dich fesseln. Mir behagt es nicht, dich unbeaufsichtigt zu lassen, wenn du so aufgebracht bist. Sei denn…« Seine braunen, sanften Augen blieben an ihr kleben, »du möchtest wieder zu mir ins Wohnzimmer kommen. Dort kannst du auch weiterheulen, aber da habe ich dich im Blick.«
Entrüstet schnaufte sie auf. Ihr Ärger überwog kurzzeitig über ihren Kummer. Wieder hatte er einer seiner berüchtigten Wahlfragen gestellt, die gar keine war. »Du weißt, dass beides ein verdammt blödes Angebot ist, oder?!«
»Beide sind akzeptabel für mich, wie du darüber denkst, ist mir egal, aber entscheide dich, sonst tue ich es für dich«, erwiderte er ungerührt. Da war er wieder, der herzlose, berechnende Ivan. Keine Spur mehr von dem Mann, der um seine Schwester trauerte.
»Ich habe einen dritten Vorschlag: Du gehst einfach und lässt mich in Ruhe. Du hast mein Versprechen, dass nichts passiert.«
»Versprechen sind da, um gebrochen zu werden.« Misstrauisch war Ivan also auch noch. Maxi seufzte. Sie war so verdammt traurig, wegen einem Kerl, den sie nicht mal richtig gekannt hatte – und jetzt bereitete ihr ein weiterer Kerl, den sie ebenfalls kaum kannte, auch noch Kopfzerbrechen. Männer waren doch alle Scheiße.
»Ich nehme die Fesseln.«
Seine Augenbrauen wölbten sich nach oben. »Hast du auf der Autofahrt nichts dazu gelernt oder bist du einfach nur stur?«
Weder noch. Dieses Mal verließ Ivan seine Menschenkenntnis. Sie wollte nicht gefesselt werden, aber noch weniger wollte sie, dass der Halbrusse sie weinen sah. Er sollte nicht Zeuge ihrer Schwäche sein, denn Maxi teilte ihre Tränen nur äußerst ungern. Sie war lieber eine Heimlichweinerin. »Tue es einfach und dann geh.«
Er sah sie mit einem seltsamen, durchdringenden Blick an, der ihr durch Mark und Bein ging. Sie wurde richtig nervös.
»Sicher?«, fragte er nach, »denn ich werde sie dir nicht mehr vor heute Abend abmachen, damit du auch die Konsequenzen deiner Entscheidungen mal begreifst.«
»Sicher«, stieß sie nur schroff hervor.
»Okay«, sagte er gedehnt. Dann zog er aus seiner Hosentasche die verfluchten Kabelbinder hervor. Er machte eine knappe Kopfbewegung. »Leg dich auf den Bauch, die Hände hinter den Rücken.«
Sie tat, wie ihr befohlen wurde.
Sie spürte, wie er neben ihr kniete, seine Hände griffen beinahe sanft nach ihren Handgelenken, zogen sie zusammen und fixierten sie mit den Plastikbändchen. Dann griff er ihr unter die Arme und zog sie auf die Beine.
Verwirrt drehte sie ihm ihren Kopf zu. Wieso half er ihr hoch? »Was hast du vor?«
»Planänderung«, meinte er kühl und legte einen rechten Arm unter ihre Kniekehlen und bevor sie dagegen protestieren konnte, hob er sie hoch und trug sie aus dem Zimmer.
»Was soll das«, fluchte sie aufgebracht. Als sie verstand, dass er sich nicht an die Abmachung halten würde.
Er drückte sie fest gegen seinen Brustkorb, dann flüsterte er in ihr Ohr: »Glaubst du, ich sehe nicht den Schmerz in deinen Augen? Glaubst du, ich falle auf deine taffe Fassade herein und lass mich auf dein Spiel ein? Nein, Maxine, wenn du weinen willst, wirst du es vor mir tun, in meiner Gegenwart. Denn ich lasse dich nicht mit deinem Kummer allein.«
Sprachlos und völlig überwältigt starrte sie ihn an und plötzlich schossen ihr die zurückgedrängten Tränen wieder in die Augen. Keiner war je bei ihr geblieben, wenn sie nicht das perfekte, fröhliche Mädchen gewesen war.
Sie schluchzte heftiger als zuvor. Sie wollte die Wasserfälle stoppen, die aus ihren Augen quollen, aber es gelang ihr nicht. Sie vergrub ihr Gesicht in sein Hemd, das bald darauf ihrem klitschnassen Wangen in Sachen Feuchtigkeit Konkurrenz machte.
»Sieh mich nicht an«, wimmerte sie, als er sein Kinn neigte.
»Doch.«
»Bitte nicht.«
Er lächelte verhalten. »Auch, wenn du inzwischen gelernt hast, zu bitten, muss ich dieses Mal deine Höflichkeit zurückweisen. Ich schaue dich an und soll ich dir etwas sagen Maxi? Ich mag dich trotzdem oder gerade wegen deiner vielen Gesichter, die du hast.«
Fick dich. Fick dich, Ivan. Wieso konnte er sie so gut lesen? Während er für sie ein Buch mit sieben Siegeln blieb.
Er setzte sie auf der Couch ab. Sie drehte sofort ihren Kopf weg und starrte hinaus in die Schneeeinöde, die glitzernd und unberührt hinter den großen Fenstern lag.
»Bist du hier nicht manchmal sehr einsam?«, wollte sie wissen und versuchte so, die unangenehme Lage, in die sie gemeinerweise gebracht worden war, zu ignorieren.
»Bist du denn nicht manchmal einsam?«, fragte er geschickt zurück. »Auch, wenn du unter lauter Leuten bist?«
Sie verstand, worauf er hinauswollte, aber es gefiel ihr nicht, dass er ihre eigene Frage gegen sie verwendete. Schließlich hatte sie die Kontrolle und die Oberhand über die Situation zurückgewinnen wollen. Aber ihre Taktik war nicht aufgegangen. Sie war ein schlechter General, ihre Angriffspläne waren vom Gegner korrekt analysiert und torpediert worden.
»Ivan«, brummte sie daher, »du weißt doch, was ich meine.«
»Nein«, sagte er scheinheilig und lächelte dabei ein Lächeln, dass deutlich sprach: Haha. Reingelegt. Woher hatte der Mistkerl eigentlich gelernt, so dreist zu grinsen?
»Gut«, kommentierte sie seine Lüge, »dann anders gefragt: Warum lebst du hier, ganz alleine, im Nirgendwo?«
»Ganz einfach«, er zuckte lässig mit seinen Schultern, »weil es in meinem Geschäftszweig nicht vorteilhaft ist, unter vielen Menschen zu sein.«
»Bagatellisiere doch bitte nicht immer, was du tust«, schnaubte Maxi und riss leicht an ihren Fesseln.
Er sah sie verwundert an. »Tu ich das?«
»Ja, verdammt«, knurrte sie, »es ist kein Geschäft. Es ist ein Verbrechen.«
»Nun, ich biete eine Dienstleistung an und werde dafür bezahlt, es findet also ein Transfer von Geld und Leistung statt, damit ist es ein Geschäft«, meinte er lapidar, dann setzte er sich neben Maxi, die sofort unruhig wurde. Seine Nähe erzeugte ein seltsames Kribbeln in ihrem Körper und das war ihr nicht geheuer. Nur bei ihm hatte sie das Gefühl, ein gläserner Mensch zu sein.
Der menschliche Seismograph neben ihr registrierte natürlich ihre leichte Erschütterung und lächelte zaghaft. »Du hast immer noch Angst vor mir, oder?«
In seiner Stimme lag Traurigkeit, die Maxi verwirrte. Dennoch konnte sie seine Einschätzung nicht widerlegen, sie fürchtete sich vor ihm, aber nicht, weil er ein Verbrecher war – und das wäre für Maxine wenigstens ein vernünftiger, logischer Grund gewesen – nein, sie fürchtete ihn, weil er ihr emotional sehr nahe kam. Sie wollte doch nie wieder jemanden in ihre Abgründe blicken lassen. Und der Idiot schien eine Sightseeing-Tour ihrer Seele gebucht zu haben.
»Ich habe keine Angst«, widersprach sie ihm trotzdem, »ich finde nur den Urlaub beschissen und würde ihn gerne endlich beenden. Auch lässt die Art der Unterbringung – sie zerrte demonstrativ an ihren gefesselten Händen – zu wünschen übrig.«
»So? Für ein Hausmädchen ist das aber viel Luxus.«
»Das ist ne Kaffeefahrt. Ich habe etwas gekauft, was ich nicht wollte«, grollte sie zurück. Es tat ihr gut, gegen Ivan zu stänkern, denn das vertrieb die Tränen und den Kummer. »Der Luxus ist in Wahrheit Schrott.«
»Mhm«, er sah sie an, »jetzt bist du wieder in deinem Element, Maxi. Sarkasmus ist dein Schutzgebiet, nicht wahr?«
Was fiel dem Halbrussen eigentlich ein? Wieso stieg er nicht auf ihre Provokation ein, sondern ließ sie ins Leere laufen? Sie wollte jetzt keinen philosophischen Diskurs mit ihm führen, sie wollte mit ihm streiten. Und er hatte das ebenfalls zu wollen. Basta.
»Nein, ich…«, begann Maxi, wurde aber von ihm harsch unterbrochen, als er sie unerwartet mit einer knappen Geste unterbrach.
»Schtt.«
Verdattert runzelte sie ihre Stirn. Sie wollte schon aufbrausen, denn niemand verbot ihr den Mund, wenn sie gerade in Fahrt war, bis sie bemerkte, dass seine Aufmerksamkeit nicht ihr, sondern einem kleinen, blinkenden Licht an der Decke galt.
»Wir bekommen Besuch«, sagte er seufzend. »Schade, dann müssen wir unseren Disput über Reiseversprechen wohl auf später verschieben.«
»Aber ich…«
»Nicht, jetzt Maxi.« Er wirkte angespannt und ernst. Behände löste er ihre Fesseln, dann nickte er zur Treppe. »Ich verlasse mich darauf, dass du keinen Blödsinn machst. Geh in dein Zimmer und bleib dort, bis ich dich hole.«
»Sie suchen nach mir, oder?« Ihre Stimme klang hoffnungsvoll.
Ivan verzog verächtlich seine Miene. Es tat weh, ihn so abweisend zu sehen. Aber was hatte sie auch erwartet, wenn sie ihren Entführer aushorchte, ob ihr Rettungskommando unterwegs sei. Freudensprünge? Begeisterte Zustimmung? Wohl kaum!
»Maxine, niemand sucht nach dir, du wurdest vor ein paar Tagen beerdigt.«
»Ich wurde was?«, sie fiel aus allen Wolken, was recht viele an der Zahl waren, so fassungslos war sie.
»Eine junge Frau, in deinem Alter, ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wir haben ihr deinen Pass zugesteckt, die Tattoos nachgestochen und was von ihrem Gesicht noch übrig war, was nicht sehr viel war, so mit Silikon moduliert, dass sie dir ähnlich sah. Deine Eltern haben dich daraufhin identifiziert. Es soll eine sehr emotionale Beerdigung gewesen sein, wie mir berichtet wurde.«
»Nein, nein«, stotterte Maxi, »das hast du dir ausgedacht.«
»So viel Improvisationstalent habe ich nicht.«
Er meinte es ernst. Die Scheißkerle hatte wirklich ihren Tod vorgetäuscht. »Habt ihr das Mädchen umgebracht?«
»Nein. Es war ein regulärer Unfall. Ein Lastwagen hat ein Stauende übersehen, ihr Polo wurde samt ihrem Körper zerquetscht. Meine Leute haben lediglich später im Bericht und auf dem Polizeiinnenhof das Nummernschild ausgetauscht und die Leiche präpariert. Mehr nicht.«
Mehr nicht? Das war für ihn also ein Klacks? Er hatte damit ihr Leben ausgelöscht, jedenfalls auf dem Papier. Ihre Sozialversicherungsnummer, ihre Rente, alles war futsch! Mal abgesehen davon, dass ihre Eltern gerade um ihre Tochter trauerten.
»Du siehst ein bisschen blass aus«, kommentierte er ihren Schock und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Aber du wolltest ja die Wahrheit hören, jetzt geh damit auch wie eine Frau und nicht wie ein Mädchen um!« Er dirigierte sie in Richtung Treppe. »Beeil dich, mein Besuch ist gleich da und ich möchte nicht, dass du hier unten gesehen wirst.«
Paralysiert gehorchte sie ihm, denn der Schrecken saß tief in ihren Knochen. Sie stolperte mehr die Treppen hoch, als dass sie ging. Aber außerhalb seines Blickfeldes blieb sie stehen. Irgendwas hielt sie davon ab, in ihr Zimmer zu gehen und wie ein kleines Kind zu heulen.
Er hatte ihre verdammte Sozialversicherungsnummer löschen lassen. Ihr Gehirn klammerte sich ausgerechnet an diesen unwichtigen Aspekt fest. Nicht an ihre Eltern, nicht an ihre Freunde – wenn überhaupt welche zu ihrer Abschiedsfeier gekommen waren – sondern daran, dass es verdammt schwer sein würde, den deutschen Behörden zu beweisen, dass sie, Maxine Bogen, am Leben und keine Hochstaplerin war. Scheiße. Und das, wo doch jeder wusste, dass die Behörden sehr, sehr langsam, akribisch und misstrauisch waren.
Unten hörte sie inzwischen die Haustür. Schritte füllten das Haus.
Jetzt vernahm sie deutlich zwei Stimmen, die eine gehörte Ivan, die andere hasste sie abgrundtief, denn sie gehörte dem Namenlosen. Was machte er hier, warum hatte er den weiten Weg auf sich genommen, um dann genau hier aufzuschlagen?
Angestrengt lauschte sie, dabei war es schwer, ihr pochendes Herz aus der Geräuschkulisse herauszufiltern.
»Was möchtest du trinken, Jonny? Tee? Kaffee, Wein?«
»Kaffee.«
»Ah, wie immer der Vernünftige.«
»Anders als du, Bruder.«
Was, hatte sie da gehört? Die zwei waren Brüder? Sie biss sich vor Wut auf ihre Lippe. Welche Geheimnisse und Lügen mochte Ivan noch vor ihr haben?
»Komm zur Sache, Jonny.«
»Nenn mich nicht so, du weißt, dass mir der Name nicht gefällt.«
»Bitte, dann halt, Eric. Der Lieblingsname unserer Mutter für ihren Lieblingssohn.«
Der Andere schien die Spitze zu überhören, denn sein Tonfall blieb sachlich und neutral: »Ich habe neue Informationen bezüglich Tom Russows Ableben. Die Malawski-Brüder haben ihn erwischt und abgeknallt. Ging wohl schnell und schmerzlos. Drei Kugeln in den Kopf, da war nur noch Matsch übrig, selbst seine leibliche Mutter müsste Probleme gehabt haben, ihn danach zu identifizieren.«
Maxine musste bei seiner herzlosen Ausführung wieder leise weinen, um ein verräterisches Schluchzen zu unterdrücken, presste sie ihre Faust auf den Mund.
»Sind die Brüder auch noch hinter ihr her?«
»Ihr? Du meinst dein Zuckerpüppchen?«
»Nenn sie nicht so«, knurrte Ivan.
»Ach ja, ich vergaß, sie bedeutet dir ja nichts. Nicht wahr?«
»Halt dein Maul.«
Ein Poltern ertönte, dann die laute Stimme des Killers. »Auch wenn wir Halbbrüder sind und die gleiche Mutter haben, rede nicht so mit mir. Vergiss nicht, wo deinen Platz in der Organisation ist, Bürschchen!«
»Ja«, kam es gepresst aus Ivans Mund, als würde er gewürgt werden. »Verstanden.«
Es folgte eine kurze Stille, ehe Jonny sagte: »Nein, ich denke, sie haben mit dem Tod ihres Feindes das Interesse an ihr verloren. Ihnen ging es darum, ihn aus seinem Versteck zu locken. Sie wussten, dass er dieses Mal handeln würde, nachdem sie seine Familie auf die gleiche Art und Weise umgebracht haben.«
»Das sind gute Nachrichten«, er räusperte sich, »natürlich nicht für den Russow-Clan, aber für Maxine.«
Der Tonfall des anderen klang zurechtweisend: »Du solltest sie nicht bei ihrem Namen nennen, das lässt sie menschlich wirken. Sie muss für dich jederzeit entsorgbar sein, wenn es notwendig wird, sie als Zeugin loszuwerden. Jetzt, wo die Russows sie nicht mehr haben wollen, möchte ich nicht auf ihr sitzen bleiben.«
»Ich hab dir all deine Unkosten erstattet, Eric, du bleibst auf nichts sitzen.«
»Doch«, sagte der andere gedehnt, »auf dem Risiko, dass du, Trottel, sich in sie verliebst und sie freilässt.«
»Das würde ich nie tun!«
Der andere seufzte laut auf. »Dich in sie verlieben? Das hast du doch schon längst getan. Aber wenn du es wagst, ihr auch nur zu erlauben, einen Fuß aus diesem Haus zu setzen, lasse ich sie aufspüren und danach langsam und qualvoll sterben. Und du wirst dabei zuschauen müssen. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?«
»Ja, sie bleibt bei mir.« Die Worte beinhalteten eine gewisse Doppeldeutigkeit. Es schien als würde Ivan tatsächlich um ihr Überleben kämpfen wollen, egal, was sein gewissensloser Bruder sagte.
»Dann sehen wir uns in einer Woche auf der Auktion, ich muss jetzt los, der Hubschrauber wartet, ich muss noch ein paar Aufträge erledigen.«
»Ja, bis dahin«, die Verabschiedung klang von beiden Seiten aus förmlich und frostig.
Bevor die Tür wieder zufiel, erhob sich ein letztes Mal die rauchige Stimme des Namenlosen. »Du wirst sie dorthin mitnehmen.«
»Was? Nein, auf gar keinen Fall.«
»Oh doch, Ivan, du wirst.« Ein lautes Knallen erscholl, als die Tür mit brachialer Gewalt zuschlug.
Maxi huschte in ihr Zimmer zurück, bevor Ivan nach oben kommen und bemerken würde, dass sie dieser furchtbaren, verstörenden Konversation gelauscht hatte.
»Es gibt Abendbrot«, kündigte Ivan freundlich an und reichte ihr die Hand. »Wir haben auch einen Gast, der nach dir schauen möchte.«
Maxine hasste Gäste, denn alle Gestalten, die sie bis jetzt auf ihrer legendären Urlaubsreise kennenlernen durfte, waren ihr in schlechter Erinnerung geblieben. Sie konnte also gut und gerne auf Besuch verzichten.
»Und wenn ich den besagten Gast nicht sehen möchte…?«
»Oh«, er sah sie schelmisch an, dabei rutschte seine linke Augenbraue herausfordernd nach oben, »dem kann ich gerne Abhilfe verschaffen, indem ich dir eine Augenbinde bringen. Entspricht das mehr deinem Wunsch?«
Tja. Ivan war doch recht schlagfertig. Leider. »Nein, ich möchte der Tatsache doch lieber ins Auge sehen, dass wir Besuch empfangen.« Sie knetete ihre Finger. »Wer ist es?«
»Der Arzt.«
Sie verdrehte tausende Male innerlich die Augen, als sie hörte, wer der besagte Gast war. »Ich finde, er trägt die Bezeichnung zu Unrecht. Immer wenn er in der Nähe ist, geht es mir schlecht. Irgendwas hat er an seinem Berufsstand nicht kapiert.«
Der Halbrusse schmunzelte. »Interessant. Er behauptet das gleiche von seiner Laune. Immer wenn er dich sehe, gehe sie in den Keller.«
Aha. Nur gab es da einen feinen, kleinen Unterschied: Der Arzt konnte seine Gesellschaft frei wählen, was ihr nicht erlaubt war. Sie musste seine Anwesenheit wohl oder übel ertragen. Und der Fokus lag deutlich auf dem Übel. »Er kann seiner Laune gerne folgen und dann dort für immer bleiben.«
»Schmollst du?«, wollte er mit einem belustigten Stirnrunzeln wissen, als sie ihre Ablehnung gegenüber dem Mann, der ihrer Meinung nach eher Schlächter als Arzt war, mit einer vorgeschobenen Unterlippe kundtat.
»Nö, ich mach Lippen Yoga.«
Er verlor tatsächlich die Contenance und brach in ein befreites, ehrliches Lachen aus. Er musste sich sogar kleine Lachtränchen aus den Augenwinkeln wischen. »Maxi, Maxi…«, keuchte er in einem weiteren Lachanfall, dann schnappte er nach Luft und schüttelte seinen Kopf. »Ich weiß nicht, was Alexander hat, meine Laune hebst du immer.«
Wow, nach Wochen der Gefangenschaft war auch endlich mal der Name des Arztes gelüftet, der schwerer zu bekommen war als der des Namenlosen.
Ivan setzte wieder eine professionelle Miene auf. »So, du Scherzkeks, gehen wir nach unten, unser Gast wartet nicht gerne.«
»Dein Gast, Ivan, nicht meiner.«
»Doch, doch«, widersprach er, »er ist schließlich nur wegen dir gekommen.«
Sie stemmte ihre Hände in die Hüfte. »Ich erwähnte das mit dem Keller bereits, oder?«
»Zu genüge.« Ivans Hand umklammerte ihren Oberarm, als befürchte er, sie könne sich losreißen und in den Weiten des gesicherten Hauses verschwinden. Wohin sie genau flüchten sollte, war ihr nicht klar, vielleicht in den Wäschekorb, aber der Halbrusse schien eine solche Aktion anscheinend zu erwarten.
»Hausmädchen, lächeln nicht vergessen.«
»Geht ein abfälliges Grinsen auch?«
»Klar, aber es könnte dann auch sein, dass er Akkupunktur mit stumpfen Nadeln vorschlägt. Ich an deiner Stelle würde also lieber nett zu ihm sein.«
Mhmm. Zuzutrauen wäre es ihm ja. Also lächelte Maxi ihr bestes, falsches Lächeln. Das hatte sie unter Frauen-Cliquen perfektioniert. Sie war da so ein Profi, wie Ivan in dunklen Geschäften.
Selbst der Halbrusse schien von ihrem Talent beeindruckt. Anerkennend nickte er: »Wow, Maxi, du hast ja doch ein paar schauspielerische Qualitäten.«
Sie gingen die Treppe hinunter und Maxi blieb verwirrt stehen, als sie zwei Männer auf der Couch sitzen sah. Und als sie sich zu Ivan umdrehte, wurde ihr Herzschlag noch unsteter, denn der Halbrusse selbst schien vollkommen perplex.
»Was tust du hier und wie bist du reingekommen?«, fragte Ivan Jonny, der lässig auf dem Sofa lümmelte und sich mit dem Arzt unterhielt.
Die dunklen Augen des Killers funkelten belustigt auf, dann machte er eine Kopfbewegung zu dem Arzt hin. »Alexander war so nett, mir aufzumachen. Du weißt doch, heute ist die Auktion und du sollst mich als Unterstützung begleiten.«
Maxine, die ganz dicht neben dem Halbrussen stand, hörte als Einzige, wie er mit den Zähnen knirschte. Seine breiten Hände klammerten sich dabei schmerzhaft um Maxines Schultern und sie brauchte viel Willenskraft, ein Stöhnen zu unterdrücken. Da sie ihm aber – mal ausnahmsweise -keine böse Absicht unterstellte, ertrug sie es wie eine Frau: Wortlos.
»Alex«, Ivans Stimme klang enttäuscht, »du wusstest davon?«
Der Arzt wurde leicht blass, beschämt nickte er und rettete sich dann in ein unbeholfenes Achselzucken. »Ich dachte, du weißt Bescheid. Wir fahren doch alle hin…«
»Nein, nicht alle. Maxine bleibt hier«, widersprach der Halbrusse klar und deutlich.
Maxine schmiegte sich enger gegen Ivans Brustkorb. Sie mochte es aus ganz eigennützigen Gründen, wenn er sie gegen diesen schrecklichen Sadisten verteidigte. Doch Jonny besaß einfach mehr Macht, denn ein banales Wort reichte.
»Nein.« Mehr sagte er nicht, nur dieses simple Nein, aber mit einer solchen Intensität ausgesprochen, dass selbst Maxine den Impuls unterdrücken musste, nicht sofort auf die Knie vor ihrem neuen Meister zu fallen und ihm zu huldigen.
Sie hörte, wie Ivan hinter ihr zwei, drei tiefe Atemzüge tat, dann flüsterte er sehr leise und nur für ihre Ohren bestimmt: »Hab keine Angst, ich werde auf dich aufpassen.« Ehe er laut, wenn auch launisch sagte. »Okay, Jonny, okay.«
Maxine zog den Mantel an, den man ihr reichte, dann folgte sie der kleinen Männertruppe mit einer Mischung aus purer Angst, aber auch – morbider – Neugierde. Vor dem Haus schlossen sich zwei weitere, Maxine unbekannte Männer an, die brav und wahrscheinlich stark frierend vor dem Haus gewartet hatten.
Der Arzt ging zusammen mit einem der fremden Männer zu einem dunklen Mittelklassewagen, in dem fröstelnd ein Fahrer wartete, während Ivan mit ihr, Jonny und dem übriggebliebenen Fremden auf den blauen SUV in der Garage zusteuerte.
Höflich bat er erst seinen Halbbruder, dann Maxine herein, ehe er selbst auf der geräumigen Rückbank Platz nahm. Der Unbekannte stieg zur Fahrertür.
Unwohl saß sie zwischen Jonny und Ivan auf der Rückbank des dunkelblauen SUVs, als sie aus der Einfahrt fuhren und auf eine geräumte Straße wechselten. Der Namenlose warf ihr grimmige Blicke zu, während sie versuchte, jenen geflissentlich zu ignorieren. Sie verfolgte die Straußtechnik: Kopf in den Sand stecken und so zu tun, als ob nichts wäre. Erstklässler Niveau.
»Warum ist sie nicht gefesselt«, machte er schließlich seinem Unmut Luft und schaute Ivan herausfordernd an.
»Weil ich mit meiner Ware so umgehe, wie ich es für richtig halte.«
Dass Ivan sie als Ware bezeichnete, schmerzte, aber sie wusste auch, dass er sich vor seinem Bruder nicht noch eine größere Blöße geben durfte. Unsicher lächelnd, wie ein blutjunges Modell, das vor einem sadistischen Scout stand und auf Gnade in seiner Bewertung hoffte, saß sie neben Jonny. Sie wollte ihm gefallen, aber nicht, weil sie ihn mochte, sondern weil es besser war, ihm kein Dorn im Auge zu sein. Sie hatte seine Gastfreundschaft und seinen Charakter kennengelernt, sie konnte getrost darauf verzichten, herauszufinden, was passierte, wenn er wirklich sauer wurde.
»Ich…«, sie streckte ihm demonstrativ ihre Hände entgegen, »habe nichts dagegen.«
»Ich aber«, sagte Ivan neben ihr und drückte ihre Hände zurück in ihren Schoß. »Du wirst keine Handschellen tragen. Basta.« Das Basta galt eindeutig seinem Bruder, denn der Halbrusse blitzte ihn gefährlich an, während er Maxines Handgelenke auf ihre Oberschenkel zwang.
Beide Brüder fochten ein stummes Duell, das aber aufgrund seiner Wortlosigkeit erst recht an Intensität gewann. Sie stierten sich wie zwei verfeindete Cowboys an, jeder war bereit, sofort seine Waffe zu ziehen und dem Tod entgegen zu treten. Sie bewunderte Ivan für seinen Mut – und sie hasste ihn für seine Sorglosigkeit, wie er mit seinem Leben umging. Sollte er sterben, war sie verloren. Er musste unbedingt vorsichtiger sein, er hatte jetzt die Verantwortung für sein und für ihr Leben. Keine Reise ohne ihren Reiseleiter.
»Ivan, bitte«, flüsterte sie leise, aber eindringlich und arbeitete gegen den Druck seiner Arme an. »Es macht mir wirklich nichts aus.« Das war mehr als eine fesselnde Beziehung, die sie bereits führten, sie brauchte ihn, um das Abenteuer heil zu überstehen. Da war sie auch bereit, wie eine irre Masochisten-Bitch zu wirken.
»Das hast du bereits erwähnt. Ich leide nicht am Demenz, du aber anscheinend, denn ich sagte, dass ich das nicht dulden werde.« Seit wann stand er denn so kompromisslos auf ihrer Seite und warum immer im falschen Moment? Sonst war sie ihm doch auch eher gleichgültig gewesen, aber nun kämpfte er um ihre Rechte, die sie gar nicht haben wollte. Sein Timing war ja grandios desaströs. Nichts im Vergleich zu den Männern in Maxines Bett, die auch immer Probleme sowohl mit den Größenangaben als auch mit der zeitlichen Einschätzung gehabt hatten. Aber jetzt gab es einen neuen Champion: Ivan. Man gratuliere ihm.
»Hör auf deine Domina«, höhnte Jonny, »komm schon, sonst gehorchst du ihr doch auch.«
Ivans Wangen verfärbten sich leicht rötlich, sein Kehlkopf hüpfte in seinem Hals auf und ab. Das war kein gutes Zeichen. Maxi seufzte innerlich auf, sie hatte den Streit schlichten wollen, stattdessen hatte sie ihn erst befeuert. Sie war mit ihrer Pechsträhne auch noch zwischen den Zwist zweier Brüder geraten. Da konnte sie nur verlieren. Sie entspannte ihre Arme, ließ locker und arbeitete nicht mehr gegen Ivan an.
»Jonny«, meinte der Halbrusse in einem monotonen Tonfall, der aber so viel Gewaltpotential ausstrahlte, dass Maxine ganz bang ums Herz wurde. »Ich habe mich entschieden, sie gehört mir und ich will nicht, dass sie Fesseln trägt. Wenn du das nicht tolerieren kannst, dann steig aus meinem Wagen aus.«
Der Namenlose kniff seine Lippen aufeinander, dann wurden seine Augen noch dunkler, als sie es eh schon waren. Plötzlich griff er Maxine zwischen die Beine. »Fickst du sie?«
Maxine blieb ganz ruhig sitzen, als die Finger des Mannes sich tief in ihr zartes Fleisch gruben und sie befühlten. Sie leistete keinen Widerstand, um Jonny nicht noch mehr zu reizen, sie wollte Ivan nicht in Lebensgefahr bringen, denn seiner Miene zum Urteilen war er bereit, seinem Bruder an die Kehle zu gehen. Sie zwar auch, aber eher auf die weibliche Art: Hinterhältig, quälend langsam. Gift zum Beispiel. Ja, Gift wäre für Jonny ein würdiges Ende.
»Sie ist mein Besitz, nimm bitte deine Hände von ihr«, sagte der Halbrusse und lächelte seinen Bruder freundlich an. Aber in dieser Nettigkeit lag unverhohlener Hass. »Und nein, ich ficke sie nicht.«
»Soll ich das für dich übernehmen? Ich erziehe sie zu einem Mädchen, das dir jede Wünsche erfüllt. Dann musst du nicht mehr darum betteln.«
»Danke ich verzichte. Und jetzt…« Ivan ließ den Satz unvollendet, aber seine hochgezogenen Augenbrauen sprachen eine deutliche Sprache. Maxine konnte in seinen braunen Augen Mordlust sehen – und wahrscheinlich war sie nicht die Einzige, die das tödliche Funkeln darin lesen konnte, denn plötzlich brach Jonny in schallendes Gelächter aus und entfernte seine Hand aus Maxis Schritt.
»Oh, Ivan. Sie hat dich bei den Eiern.«
Der Andere schüttelte nur leicht seinen Kopf, dann zog er Maxi auf seine Seite und ein Stück von Jonny weg. Sie ließ es nur zu gerne geschehen. Im Wageninneren entstand eine Stille wie in einer Kirche, keiner durchbrach das Schweigen. Es war ein kurzer Moment des fragilen Friedens. Maxine richtete ihren Blick aus dem verschneiten Fenster, sie fuhren schon seit Stunden durch den Schneesturm. Wenn sie Ivan richtig verstanden hatte, wären sie ansonsten mit dem Hubschrauber geflogen, der aber aufgrund der Wetterverhältnisse nicht hatte starten können. Sie fragte sich, warum sie unbedingt mit musste – aber wahrscheinlich stellte Ivan sich die gleiche Frage.
Jonny wollte es. Und Jonny bekam seinen Willen.
Als sie endlich ankamen, war Maxi von den hellen Scheinwerfern geblendet, die eine riesige Area ausleuchteten. Tageslicht hell erstrahlte die verschneite Umgebung meterweit. In dem imposanten Lichtermeer erhob sich ein großes, graues Haus. Es sah aus, wie ein schmuckloser Bunker. Keine Fenster, keine Balkone, nur eine gigantische Tür. Die Architektur entsprach ganz Jonnys Geschmack, daher schätzte Maxi, dass die Landschaft ihm dieses monströse Ungetüm verdankte.
Hunde bellten, als Maxi dicht an Ivans Seite gedrängt die verschneite, aber geräumte Einfahrt hochlief. Überall waren Wachmänner, schwer bewaffnet, und große, schwarze Autos. Maxine kam es fast wie eine Kulisse aus einem Mafia-Film vor – einem sehr klischeehaften Mafiafilm. Nur, dass sie normalerweise keine Hauptdarstellerin in einem Hollywoodstreifen war. Und jetzt war ihr die Ehre zuteil, eine Rolle in diesem Drama zu spielen. Fuck you, Leben.
»Du zitterst ja, ist dir kalt?«, fragte Ivan und zeigte gleichzeitig auf die bedrohlich wirkende Tür, die aussah, als würde sie wie ein riesiges Maul alles für immer verschlingen. »Wir sind gleich da.«
»Genau das befürchte ich.«
Er legte seinen Arm um ihre Schultern. »Mein Hausmädchen wird doch nicht etwa seinen unerschütterlichen Mut verloren haben?«
»Du verlierst gleich noch viel mehr, wenn du nicht aufhörst, mich zu ärgern«, knurrte Maxine und schritt mit ihm gemeinsam auf das Tor zu. Was dahinter wartete, nein eher lauerte, wusste sie nicht.
»Du brauchst keine Angst haben«, raunte er ihr ins Ohr, »ich pass auf dich auf.«
»Irgendwie«, meinte Maxine und sah ihn von der Seite an, »hört sich das aus dem Mund eines Entführers nicht sehr vertrauensvoll an.«
»So?« Er wirkte enttäuscht, ohne dass Maxi sagen konnte, was ihn derart traurig machte. »Das ist schade.«
»Was, dass ich dir nicht traue?«
Seine Miene wurde noch eine Spur melancholischer. »Ja.«
»Ähm, dir ist klar, dass unsere Beziehung recht unkonventionell angefangen hat, oder? Ich brauche Zeit, um mich an dich und deinen Berufstand zu gewöhnen.« Hmm…was redete sie denn da? Das klang ja fast, als würde sie ernsthaft in Betracht ziehen, bei Ivan bleiben zu wollen. Wie absurd. Was ihr Mund schon wieder für ein Eigenleben entwickelt hatte…Ihr Verstand und ihre Lippen mussten sich unbedingt besser synchronisieren. Aber es war zu spät, mit ihren unbedachten Worten hatte sie schon ein Schlamassel angerichtet, denn die Augen des Halbrussen leuchteten hoffnungsvoll auf. »Das heißt, du könntest dir vorstellen, mit mir zusammen zu wohnen.«
Mit ihm zusammen zu wohnen. Wie nett er immer noch ihre Gefangenschaft umschrieb. »Nicht ganz.«
»Unter welchen Bedingungen dann?«
»In Deutschland. In meiner Wohnung. Und du klingelst brav und fragst mich, ob ich mit dir einen Kaffee trinken will.«
»Wenn wir Deutschland durch Russland und deine Wohnung durch mein Haus ersetzen würden, dann frage ich dich auch, ob du einen Kaffee möchtest…«
Sie senkte ihre Augenlider und schaute auf den schneebedeckten Boden. »Du wirst mich also nicht freilassen.«
»Das kann ich nicht, Maxine, dass weißt du. Es tut mir leid, aber du bist tot.«
Ach ja, dieses entscheidende Detail hatte sie wieder verdrängt. Oh nein, jetzt marterte sie der Verlust ihrer Sozialversicherungsnummer wieder. Das würde ein Aufwand werden, die wieder zu besorgen, ein fast größerer als die Flucht aus diesem Albtraum.
»Wenn ich tot bin, dann bist du ganz schön pervers. Nennt man das nicht Nekrophilie?«
»Dafür mein liebes Hausmädchen, müssten wir Sex miteinander haben. Meine Eier sollst du ja inzwischen schon haben, aber meinen Schwanz leider noch nicht.«
Sie sprang nach vorne, entriss sich seinem Arm und trottete einen Schritt hinter seinem Rücken. Er verdrehte seinen Hals, um sie sehen zu können. »Was machst du denn jetzt schon wieder?«, fragte er leicht seufzend.
»Mich so benehmen, wie du es gern hättest. Wie eine Sklavin eben.«
Seine Miene wurde rabenschwarz, selbst seine Stimme fiel um einige Oktaven. »Du weißt gar nicht, was eine Sklavin ist. Und bete dafür, es auch nie erfahren zu müssen. Aber heute…« Er richtete seinen Blick auf den Betonklotz, »wirst du sicherlich deine Unschuld verlieren. Dann reden wir weiter.«
Hopla? Was hatte er damit gemeint. Ganz untypisch für eine artige Sklavin schloss sie zu ihm auf und packte ihm am Ärmel. »Wie soll ich das verstehen, ich verliere meine Unschuld?« Ihre Tonlage konnte richtig hysterisch klingen. Fast wie die ihrer Nachbarin, wenn Maxi wieder zu laut Musik gehört hatte und Frau Petterhof schlafen wollte. Ihr Gekreische war schrill und vorwurfsvoll durch die hellhörige Wand gedrungen, Maxine hatte das Gebrüll nur durch den Lautstärkenregler ihrer Anlage übertönen können. Ach, sie war schon ein Miststück gewesen, ob das jetzt das Karma war, von dem allen sprachen?
»Du wirst heute Dinge sehen, die dich verändern werden. Wir sind hier auf einer Auktion für menschliche Ware. Und die Käufer, die hier sind, stehen manchmal auf echt abartiges Zeug.«
Maxi wurde noch kälter, sie zog den geborgten Mantel dichter um ihren Körper. »Warum muss ich dabei sein? Ich will das nicht sehen.«
Statt zu antworten, nickte er zu Jonny hin, der vor ihnen ging. Und sie verstand, der Killer wollte ihr vorführen, an welchem seidenen Faden ihr Leben hing. Schade, dass sie aus dem Faden keinen Strick für seinen Hals drehen konnte, sie würde es machen und ihn damit würgen, bis sein überhebliches Grinsen erlöschen würde. Ivan musste ihre Gedanken gelesen haben, denn er durchkreuzte ihre Pläne mit einem sanften Warnton. »Er ist zu mächtig, Maxine…«
»Auch für dich?«
Erstaunt sah er sie an. »Wie meinst du das?«
»Ihr seid Brüder, bist du ihm nicht ebenbürtig?«
Er blieb so abrupt stehen, dass sie beinahe mit ihm kollidiert wäre. Atemwölckchen stiegen in einer schnellen Abfolge auf, als er hastig sprach: »Du verdammt neugieriges Hausmädchen. Hast du wieder gelauscht?« Er schüttelte heftig seinen Kopf und packte sie an den Schultern. »Verrate niemanden, was du erfahren hast! Er würde dich auf der Stelle umbringen, selbst ich könnte ihn davon nicht mehr abbringen. Er hält seine Identität geheim, ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der weiß, dass wir verwandt sind.« Er stöhne inbrünstig auf. »Und jetzt gibt es einen zweiten, sehr Unschlauen dazu.« Er schüttelte sie leicht und sah sie eindringlich an. »Versprich mir, es niemals zu erwähnen. Nie. Nie. Niemals.«
Eingeschüchtert über seine Ernsthaftigkeit nickte sie Ivan zu, dann hob sie ihre Hand nach oben. »Ich schwöre es.«
Er packte ihre Hand und drückte sie wieder nach unten. »Wir sind hier nicht vor Gericht. Zieh doch keine Aufmerksamkeit auf uns mit deinem seltsamen Verhalten.«
Und tatsächlich im Lichtkegel des Eingangsbereichs sah sie, wie Jonny sich interessiert herumgedreht hatte und sie aus der Distanz musterte. Er sah ein bisschen aus wie ein schwarzer Engel, umrahmt vom gleißenden Licht, der dunkle Wollmantel wie Schwingen ausgebreitet. Ein Todesengel. Maxi würgte die aufkommende Angst in ihr herunter. Sie war weder auf den Mund noch auf den Kopf gefallen, sie würde einen Ausweg aus dieser vertrackten Situation finden. Sicherlich. So sicher, wie sie die Uniprüfungen versemmelt hatte.
»Komm«, murmelte er leise, »man erwartet uns.«
»Kann ich nicht im Auto bleiben?«
»Sicher, ich denke Jonny reserviert dir ein Plätzchen im Kofferraum.« Sein Sarkasmus konnte herrlich unpassend, aber auch lebensrettend sein. Sie musste sogar ein bisschen schmunzeln ob seiner trockenen, aber leider wahrscheinlich wahren Aussage.
»Da bin ich doch komfortableres gewohnt«, erwiderte sie und hob ihr Kinn an. Jonny sollte nicht sehen, wie er sie einschüchtern konnte. Der Killer, der auf der Empore auf sie wartete, nahm es mit einem lässigen Lächeln hin. Er durchschaute sie, zu oft musste er wohl Frauen in ihrer Lage gesehen haben.
Gemeinsam kamen sie bei Ivans Bruder an, sodass sie schließlich alle drei gleichzeitig durch das Höllentor gingen. Sie wurden von bulligen Männern empfangen, die sie mit grimmigen und gruseligen Mienen zu einem Saal begleiteten, der voller Menschen war.
Mit pochendem Herzen schaute Maxine zu der beleuchteten Bühne und den roten Sitzreihen, die sie an Kinositze erinnerten.
»Ivan, was passiert hier?« Ihre Stimme klang ängstlich und schockiert zugleich.
»Eine Versteigerung von Ware«, wisperte er zurück und ihr gelang es nicht, hinter seine Fassade zu schauen. War er angeekelt, neutral, interessiert? Seine Augen, seine Mundpartie, seine ganze Miene blieben unbewegt und ausdruckslos. Prinzipiell konnte Ivan auch gerade eine Dokumentation über Topfreiniger sehen…sein Gesichtsausdruck wäre nicht anders.
»Von…von…Menschen?« Erstens: Warum stotterte sie? Zweitens: Warum fragte sie nach offensichtlichen Dingen?
Er schien der gleichen Meinung zu sein, denn ein genervtes Seufzen verließ seine Lippen. »Alien werden es wohl kaum sein.«
»Darf ich gehen. Ich will das nicht sehen.«
Er drehte sich ihr nicht zu, sondern fixierte sie mit einem nachdenklichen, musternden Seitenblick. »Ja. Okay.«
Dankbar erwiderte sie seinen Blick, eher er sich abwandte und Maxine dabei an der Hand packte und durch die Menschenmenge, die gierig und voller Nervosität auf die Versteigerung der Sklaven wartete, manövrierte. Doch ein Schatten sprang ihnen in den Weg und versperrte den rettenden Ausgang.
»Ivan«, kam es abgeklärt und Jonny baute sich vor ihnen auf. Im Schlepptau ein Mann im dunkelblauen Anzug, mit Sonnenbrille – was aufgrund der gedämpften Beleuchtung völlig absurd war – und Zigarre. »Armin Russow möchte gerne neben uns sitzen und…« Jonny machte eine unheilvolle Pause und seine Augen wanderten von Ivans Gesicht zu Maxis hin, »sie kennenlernen.«
Maxine konnte sich gerade noch zurückhalten, beinahe wäre ihr ein erschrockenes Aufstöhnen über die Lippen gekommen, aber sie hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, unbeteiligt zu wirken, bevor die Umstehenden Verdacht schöpfen konnten. Sie hätte nun seeeehr ungern zugeben müssen, gelauscht zu haben. So aber tat sie, als wäre ihr der Name Russow absolut nicht geläufig.
Ivan hatte hingegen eine ziemlich verkniffene Miene, wie Maxi fand, und er musste nicht so tun, als hätte er von nichts eine Ahnung. »Mhm. Gerne. Aber Maxine ist leider übel und ich bringe sie auf ihr Zimmer. Ich will…«, er lächelte seinen Halbbruder gezwungen an, »hier keine unschönen Eskapaden. Es wäre unprofessionell, wenn die Kleine mitten in der Versteigerung kotzen würde. Das könnte dem einen oder anderen Käufer den Appetit verderben und das Geschäft schmälern. Nicht wahr, Jonny?«
Der Killer lächelte gedämpft und ebenfalls sehr gespielt zurück. »Wie umsichtig von dir.«
»Ja. Immer ein Schritt voraus.«
Jonnys Lächeln wurde noch kälter, es war das erste Lächeln, was Maxine in einer so grotesken Verzerrung sah, dass es eher furchteinflößend als freundlich war. »Hauptsache keinen zu viel. Das wäre ungünstig, falls man am Abgrund wandelt.«
»Nicht jeder, der am Abgrund steht, fällt. Manche springen auch. Mit einem Fallschirm.« Tadaaa und herzlich Willkommen zurück. Ihr Mundwerk war aus seinem kurzen Schlafmodus aufgeweckt worden. Alle Blicke, Plus zwei dunkle Gläser, waren auf sie gerichtet.
»Ihr geht es furchtbar schlecht«, murmelte Ivan und schob sie zügig an den Männern vorbei, »sie halluziniert schon…«
»Also von Halluzinieren wäre die Definition aber eine andere, nämlich, dass…« Der Halbrusse hatte ihr seine breite Hand über den Mund gelegt und beförderte sie schnellen Schrittes aus der Hör- und Reichweite von Jonny. »Für dich hat man das Sprichwort „Sich um Kopf und Kragen reden“, erfunden«, stöhnte er, während er sie durch einen breiten, mit roten Teppich ausgelegten Flur führte.
Er schloss das Zimmer zu einer luxuriösen Unterkunft auf, die schon mehr als ein 5-Sterne-Niveau hatte. Genauso stellte Maxine sich die Präsidenten-Suite eines Luxus-Hotels vor. Erstaunt trat sie ein, aber ihr Erstaunen wandelte sich schnell, als sie nur ein Bett entdeckte. »Ähm«, sie zeigte darauf, »wo schläfst du?«
»Süß, wie du die Frage falsch formulierst«, sagte er ironisch und streichelte ihr mit seiner Hand verwöhnend durchs Haar. Dann ging er zu dem Bett. »Ich schlafe hier.«
»Äh…ich schlafe nicht mit dir im gleichen Bett.« Soweit war ihre stürmisch begonnene Beziehung noch nicht. Inzwischen wusste sie schon einige intime Details über ihn, zum Beispiel, dass er auf Masken, Fesseln und auf kranke Freunde stand, aber sie war noch nicht bereit, einen Schritt weiterzugehen. »Das geht mir zu fix. Und ich bin mir auch unsicher, ob wir auf die gleichen, sexuellen Vorlieben stehen.«
»Ich weiß nicht«, er zuckte lässig mit seinen Schultern, »so, wie du dich benimmst, stehst du darauf, geknebelt und gefesselt zu werden. Andere Schlussfolgerung habe ich nicht. Daher meine Süße«, er lehnte sich grinsend zu ihr herüber, »werden wir uns in den sexuellen Vorlieben schon einig werden.«
»Wage es nicht«, keuchte sie und drückte ihre Hände gegen seine Brust. Er schien die Schamesröte in ihrem Gesicht zu genießen, seine Mundwinkel zuckten verräterisch nach oben. Dann packte er das Bettzeug und drückte es ihr in ihre verdutzten Hände. »Geh rüber, im Wohnzimmer kannst du auf dem Sofa pennen.«
Sie blickte langsam auf die Decke in ihren Händen, dann wieder in Ivans belustigtes Gesicht. »Dachtest du wirklich, ich tue mir das an? Mit dir in einem Bett?«
»Nein«, stammelte sie, dann drehte sie sich roboterhaft um und marschierte zu der Tür hin. Nachdem sie durchgegangen und bei der Couch ihre federleichte Last abgeladen hatte, drehte sie sich zu Ivan um, der wartend im Türrahmen stand. »Ich muss dich leider einsperren, die Auktion geht erfahrungsgemäß ein paar Stunden, also schlaf oder schau Fernsehen. Die Zimmer sind eigentlich für die Damen und Herrschaften eingerichtet, daher wirst du hier alle Annehmlichkeiten finden, die eine Minibar so zu bieten hat. Aber bevor du in Jubelschreie verfällst, lass die Hände vom Alkohol, ich kontrolliere das nachher.«
»Mal sehen.«
Er rutschte ein Stück mit seinem Oberkörper in ihr Zimmer herein, ansonsten blieb er im Rahmen stehen. »Das wirst du. Du wirst sehen, was ich mit unartigen Mädchen mache. Ganz sicher.« Dann ging er und die Tür wurde abgeschlossen.
Verdrossen und ein wenig versucht, die Flaschen der besagten Minibar gegen die Tür zu werfen, nahm sie auf dem Sofa Platz. Ganz wider ihrer Natur blieb sie aber brav. Manchmal hatte ihr Verstand eben auch gute Momente.
Die Auktion schien zu Ende zu sein, denn Maxine schreckte schlaftrunken durch Schritte auf der anderen Seite der Tür hoch. Aufgewühlt setzte Maxine sich auf. Die Tür, die ihres und Ivans Zimmer voneinander trennte, war immer noch abgeschlossen. Er bestand also tatsächlich darauf, dass sie getrennte Schlafzimmer hatten – selbst hier und dem Gespött der anderen Menschenhändler zum Trotz.
Wenigstens konnte man ihm nicht vorwerfen, inkonsequent oder ein Heuchler zu sein. Er bleib seinen Standpunkten treu, auch wenn es für ihn vielleicht ein Gesichtsverlust in der Unterwelt bedeutete und auch Jonny ihn dafür verabscheute. Ein wahrer Gentleman eben.
Vorsichtig näherte sie sich der Tür. Sie setzte ihre Fingerspitzen auf der verzierten Tür ab. Was Ivan dort drüben machte? Entkleidete er sich gerade und bereute es, ihr sein Bettzeug überlassen zu haben? Sie trat näher. Ein nackter, entblößter, muskulöser Ivan…beinahe hätte sie gesabbert. Erschrocken über ihre unpassenden, erotischen Fantasien schüttelte sie ihren Körper.
Dann hörte sie die flüsternden Stimmen von Ivan und seinem Bruder. Neugierig legte sie ihr Ohr auf das Holz. Als dies nicht den gewünschten Effekt brachte und die Worte immer noch undeutlich verschwommen blieben, schnappte sie sich ein Glas und hielt es zwischen ihr Ohr und die Tür. Jetzt konnte sie die beiden ungleichen Brüder besser verstehen.
»Was macht die Russow-Familie hier?«, wollte Ivan sehr aufgebracht wissen, auch wenn er versuchte, seine Lautstärke zu zügeln. »Du hast mich belogen, oder? Der Auftrag wurde gar nicht fallen gelassen, nicht wahr? Deswegen sollte ich sie mit auf die Auktion bringen.«
»Ivan«, sagte der andere ruhig, »es war die einzige Möglichkeit, dass du sie mitbringst. Ansonsten hättest du dich geweigert. Aber es ist nun mal so, dass die Russows darauf bestehen, dass der Auftrag, den wir bekommen haben, auch beendet wird.«
Beendet? Maxine wäre beinahe vor Schreck das Glas aus der Hand gefallen. Sie kannte aus Krimiserien sehr wohl alle Arten von Begriffen, die einen Mord umschrieben: Eine Sache abschließen, beenden, eine Person verabschieden…
Die Russows. Sie kannte weder die Familie noch diesen Namen. Natürlich hatte sie ihn inzwischen mit Toms wahrer Identität in Zusammenhang gebracht – aber er hatte sich damals nicht mit dem Nachnamen vorgestellt. Eigentlich – wenn sie ehrlich war – hatte er sich wahrscheinlich nicht mal mit seiner wahren Persönlichkeit vorgestellt. Tom war ein Phantom. Ein Phantom ihrer Vergangenheit nun.
»Der Auftrag ist zusammen mit Tom Russow gestorben«, grollte Ivan in einem Tonfall, der Maxine Gänsehaut machte. So zornig und eiskalt hatte sie ihn ja noch nie erlebt. Es würde sie nicht verwundern, wenn auf der anderen Seite gleich ein Handgemenge ausbrechen würde. Schließlich fand Jonny Respektlosigkeit bei seinen Untergebenen nicht gerade reizvoll.
»Der Vertrag mit den Russows besteht weiterhin, Ivan«, ertönte die Stimme seines Bruders, jedoch gegen Maxis Annahme, gelassen.
»Seit wann können Aufträge vererbt werden?« Aus dem Grollen wurde immer mehr ein Brüllen. Gleich würde Ivan ungeachtet der negativen Konsequenzen explodieren.
»Ich werde nicht mit dir diskutieren, Ivan. Du wirst den vier Russow Brüdern morgen die Ware übergeben, so wie es vor dem Tod von Tom vereinbart worden war.«
»Aber Tom ist tot«, setzte der andere wieder an, wurde aber schneidend unterbrochen. »Morgen früh wirst du sie zu den Brüdern bringen, das Geld, welches du mir für sie bezahlt hast, bekommst du natürlich wieder.«
»Ich will das verfluchte Geld nicht!«
»Sondern?«
»Ich will Maxine.«
»Maxine, die du angeblich nicht liebst?«. Kam es lauernd. »Weißt du eigentlich«, jetzt wechselte die neutrale Tonlage doch ins ärgerliche, »dass du unseren Clan in Verruf bringst? Alle lachen sie über dich, wie du dich von einer Sklavin beherrschen lässt. Nicht einmal Sex habt ihr, weil sie es nicht will. Du bist weich geworden, Ivan.«
»Es entspricht nun mal nicht meinen Vorlieben mit Frauen Sex zu haben, wenn sie es nicht wollen. Dir mögen ja ihre Tränen und Schreie gefallen, mich turnt das ab.«
Irgendwie – zum völlig unpassenden Augenblick – kamen bei Ivans Ansprache romantische Gefühle in Maxi hoch. Manchmal klang er so vernünftig und so anti-kriminell, schade nur, dass seine Taten da eine ganz andere Geschichte erzählten. Aber trotzdem, seine sexuellen Vorlieben fand sie deutlich netter als die von Jonny.
Dessen Stimme schallte nun rau und warnend durch die Holztür: »Ivan, Ivan, Ivan«, tadelte er, »was soll ich mit einem solchen Weichei machen? Auch wenn du mein Bruder bist und durch uns das gleiche Blut fließt, habe ich das Gefühl, dass du für meine Organisation ungeeignet bist…«
»Oh, drohst du mir, Eric?« Woher nahm er diese Eiseskälte in seiner Stimme. Selbst Maxi, die auf der anderen Seite lauschte, wurde bitterkalt. Gleich würde es mitten im Zimmer anfangen, zu schneien. »Das solltest du nicht tun, denn so verweichlicht, wie du mich darstellst, bin ich nicht. Ich könnte es dir auch beweisen, indem ich dir hier und jetzt in den Kopf schieße.«
»Ivan, du dreckiges…« Päng.
Jonnys Stimme erstarb mitten im Satz und gleichzeitig setzte Maxis Herzschlag für Millisekunden aus. O Gott, oh Gott, er hatte ihn erschossen. Jetzt waren sie geliefert. Die romantischen Schmetterlinge waren plötzlich alle ausgeflogen.
Die Tür, an der sie immer noch erstarrt saß, wurde aufgesperrt und aufgerissen. Und zwar so schnell, dass sie nicht reagieren konnte und sie Ivan, ihres Halts beraubt, vor die Füße plumpste. Er schaute von oben mit einer Mischung aus Verwunderung und Missfallen auf sie herab. »Ich nehme an, ich kann mir lange Erklärungen ersparen«, sagte er leicht schimpfend und beugte sich hinab, um ihr aufzuhelfen. »Mir scheint, du bist auf dem neusten Stand.«
»Ist…er tot?«, wollte Maxi wissen, ohne auf seine rhetorische, sarkastische Frage einzugehen.
»Nein, er ruht sich immer in seinem eigenen Blut auf dem Boden aus, Maxine. Jetzt stell bitte keine dummen Fragen und komm endlich, die Zeit rennt uns davon.«
Nicht nur die Zeit. Auch Maxines Verstand wollte sich langsam, aber sicher verabschieden. Ihm wurde das alles zu viel. Gerade musste sie noch die menschenunwürdige Auktion verdauen und nun befand sie sich auf der Flucht vor einem ganzen Kartell, weil ihr durchgedrehter Entführer den Boss dieser besagten Organisation erschossen hatte. Das passierte einem durchschnittlichen Mädchen doch nicht, sei denn man trat so begabt in jedes Fettnäpfchen der Erde, wie Maxine es tat. Angefangen damit, dass sie sich in den falschen Typen verbliebt hatte und nun drauf und dran war, den gleichen Fehler wieder zu begehen. Bei Tom sprach sie aber der Umstand frei, dass sie nichts von seiner wahren Persönlichkeit gewusst hatte, während sie Ivans dunkle Seite gleich zu Beginn kennenlernen durfte – bereits an diesem ersten, verhängnisvollen Tag, an dem sie lieber ihre Wohnung nicht betreten hätte. Also Ausreden gab es in seinem Fall keine.
»Wohin gehen wir denn nun?«, wollte sie ängstlich wissen, als sie von ihm nach oben und auf die Beine gezogen wurde.
»Zu Freunden«, war die knappe, nichtssagende Antwort. Dennoch wunderte es Maxine, dass Ivan so etwas wie Freunde besaß. Sie hatte ihm eher ein Leben als Einzelgänger zugeschrieben, dementsprechend machte sie ein ratloses Gesicht, das er richtig interpretierte: »Ja, Maxi, auch ich habe Freunde.«
»Und sind die so wie…«, sie suchte nach den richtigen Worten, denn ihr kam es nicht klug vor, einen Mann, der gerade einen anderen getötet hatte, zu beleidigen, »ähm…du?«
»Wie ich?«, scherzte er, während er vorsichtig die Tür zum Gang öffnete und sich versicherte, ob die Luft rein war. »Also ob sie genauso gut gebaut, attraktiv und intelligent sind?«
Eher, ob sie ebenso Psychopathen waren, aber das sagte sie nicht. »Nein. Seid ihr im ähnlichen Berufswesen«, spezifizierte sie ihre Frage.
»Ja.«
Maxine rollte mit ihren Augen. Sie kam wirklich immer vom Regen in die Traufe. »Aber sie können uns helfen, ja?«
»Uns?«, er lächelte frech, »mir bestimmt. Ob dir mit deiner vorlauten Klappe noch zu helfen ist, weiß ich nicht.«
Sie knuffte ihm in die Seite und er unterdrückte ein Kichern, wurde dann aber aufgrund ihrer Situation schnell wieder ernst. »Maxi, wir rennen jetzt den Gang entlang. Wenn uns jemand entgegenkommt, geh langsamer und verhalte dich unauffällig. Draußen steht mein blauer SUV, das ist unser erstes Etappenziel.«
Naja, wenigstens schien er einen Plan zu haben, auch wenn es sicherlich zu den größten Dummheiten überhaupt gehört hatte, den Boss einer Organisation getötet zu haben – auch wenn er es für sie getan hatte. Bei dem letzten Gedanken wurde ihr wieder warm ums Herz.
»Wieso wollen mich die Russows?«, flüsterte sie, als sie den Flur entlang huschten.
»Keine Ahnung? Vielleicht geht es ihnen ums Prinzip, vielleicht wollen sie dich auch für den Tod ihres Bosses verantwortlich machen, schließlich musste er wegen dir seine Tarnung aufgeben.«
»Darum habe ich ihn weder gebeten«, knurrte Maxi, »noch wusste ich überhaupt etwas davon.«
Er schüttelte seinen Kopf, als würde er damit sagen wollen, dass sie wirklich gar nichts von der Welt, in der aufgewachsen war, verstand. Und damit lag er nicht falsch. Sie kam sich wie eine Außerirdische vor, nur, dass sie nicht die Bedrohung darstellte! »Es geht hier auch nicht um Fairness, das ist eine emotionale Angelegenheit und die wird je nach Clan anders gelöst. Und ich will nicht herausfinden, was sie in deinem Fall in Betracht ziehen. Du etwa?«
»Nein«, wisperte Maxi gepresst zurück.
»Dann weiter«, schnaubte er.
Sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Jeder Clan ging also anders mit Problemen um und er erschoss seinen Bruder. Eine wirklich vortreffliche Problembeseitigung. »Wieso hast du ihn erschossen? Nur wegen mir?«
»Nimm dich nicht so wichtig«, zischte er zurück und zog sie vorwärts. Die rettende Haustür war nur noch wenige Schritte entfernt. »Du warst nicht der Grund dafür.« Da hatte Maxine aber etwas anders gehört. »Sondern?«
»Er hat meine Eltern umbringen lassen, um an die Macht zu kommen, er wollte nicht warten, bis er an der Reihe war. Und jetzt…«, Ivan verzog seine Mundwinkel gehässig nach oben, »war leider seine Zeit gekommen, abzutreten.«
Maxine holte tief Luft. Sie erfuhr Dinge, die sie nicht verarbeiten konnte – noch nicht. Vielleicht entwickelte sie noch das Talent, Mörder und Entführer besser verstehen zu können. Aber aktuell hinterließ sie die Situation rat- und hilflos.
»Guten Abend.«
Sowohl Maxine als auch Ivan wirbelten herum, als die leicht amüsierte Stimme hinter ihnen erklang.
»Jack Russow«, hauchte Ivan und Maxi bemerkte, dass er genauso bleich wie sie wurde. Was sicherlich kein gutes Zeichen war.
»Sieh an, ist das das kleine Wildkätzchen, das dich nicht rann lässt?«, brummte der Mann und umrundete Maxine. »Jonny hat mir schon viel von dir erzählt und auch mein Bruder meinte, du wüsstest nie, wann man besser schweigt.«
»Dito«, fauchte Maxi und drückte sich enger gegen Ivan. Er war also der Bruder von dem Sonnenbrillenträger. Tom schien eine recht große Familie zu haben. Ob sie wirklich alle genetische Brüder waren oder ob das nur so ein „Bro-Gangster-Ding“ war?
»Ah, genau darüber hat er geklagt, er meinte, dein Mund sei immer offen. Selbst wenn kein Schwanz zum Lutschen in der Nähe ist.«
Bevor Maxi in die Luft gehen konnte, wurde sie von Ivan hinter seinen Rücken geschoben. Beschützend stand er nun vor ihr und schirmte sie ab. »Was willst du Jack?«
»Was ich will…«, der große Mann mit dem rötlichen Vollbart fixierte ihn, »ist hier nicht von Bedeutung, aber erklär mir doch, wohin du mit unserer Ware willst?«
»Sie gehört euch nicht«, grollte Ivan.
»Oh«, der andere zog seine Augenbrauen gespielt nach oben, »hat Jonny dich nicht informiert, dass wir Anspruch auf sie erhoben haben?«
»Warum? Sie ist wertlos für euch, außerdem ist sie nicht erzogen. Es ist besser ihr behaltet mein Geld und überlasst sie mir. Seit wann wollen sich die Russows Ärger ins Haus holen.«
Der Rotbart lachte. »Wir nicht, aber Claire schon.«
»Claire«, echote Ivan, »Was will Toms Frau von ihr?«
Toms Frau? Oh no, dachte Maxine. Plötzlich konnte sie sich sehr gut vorstellen, warum die Russows sie haben wollten. Es war nie gut, die Geliebte eines Bosses zu sein, auch wenn man bis dato keinen Schimmer gehabt hatte, dass er erstens ein Krimineller und zweites ein verheirateter Krimineller gewesen war. Aber wer rechnete denn mit so etwas? Jetzt sollte sie also einer rachsüchtigen Ehefrau ausgeliefert werden, das konnte ja heiter werden. Ihr Schicksal fand doch immer einen Weg noch eins auf ihre beschissene Lage draufzusetzen.
»Ich hatte keine Ahnung«, stotterte Maxi rasch eine Entschuldigung, »dass er eine Frau gehabt hat. Bitte, ich wollte sie nicht hintergehen.«
Der Fremde sah sie lange an, aber er erwiderte auch nichts auf ihre Entschuldigung, dann streckte er seine Hand nach ihr aus. »Ivan, geh zur Seite, sie gehört jetzt uns.«
»Jonny ist tot«, raunte Ivan trocken, »und du wirst der nächste sein, der stirbt, wenn du deine dreckigen Pfoten nicht bei dir lässt.« Oh Gott, er wurde immer mehr zu Maxines Held. War er am Anfang für sie eine widerliche Kakerlake gewesen, mutierte er immer mehr zu ihrem Ritter. Unter anderen Umständen wäre er sicherlich das eklige Insekt geblieben, aber so bekam er in ihrem Herzen eine Chance.
»Du hast Jonny erledigt?«, fragte er andere fassungslos und trat einen Schritt zurück. Anscheinend war Maxine nicht die Einzige, die ihm eine solche Gräueltat nicht zugetraut hätte. Schön, dass sie mit dieser Fehleinschätzung also nicht alleine war.
»Ja. Und damit bin ich nun der Geschäftsführer, mit wem man verhandeln muss, wenn man etwas möchte. Und Maxine steht nicht zum Verkauf.«
An dem Begriff Geschäftsführer hätte Maxi nun doch etwas zum Aussetzen gehabt, aber in der aktuellen Lage zeigte sie sich großzügig und sah darüber hinweg, ohne Ivan darauf aufmerksam zu machen, dass er eher ein Untergrundboss als ein ehrbarer CEO war.
Der Rotbart holte tief Luft, dann schüttelte er seinen Kopf. »Mensch, Ivan, du weißt doch, dass mit uns ebenfalls nicht zu spaßen ist. Warum also machst du solche Scherze?«
»Es ist kein Scherz. Sie gehört mir.«
Der andere Verbrecher musterte erst ihn, dann Maxine. Schließlich musste er sich wohl eingestehen, dass Ivan ihm eher eine Kugel in den Kopf jagen würde, als Maxi herzugeben.
»Sag Claire, sie kann mich auf meinem Handy erreichen, wenn sie über die Bedingungen verhandeln will, aber Maxi zu bekommen, ist keine Option.«
»Das mache ich, Ivan, das mache ich.« Es klang wie eine Drohung, nicht wie eine Zustimmung.
Maxine wurde von Ivan gepackt und zügig Richtung Ausgang gezogen, während der Rotbärtige ihnen finster, aber tatenlos nachblickte. Ob er weiterhin den regungslosen Obelisken mimen würde, bezweifelte Maxi.
»Ivan«, keuchte sie, während sie durch das Tor und an verwunderten Wachmännern vorbeirannten. »Sind die Russows gefährlich?«
»Nö, Maxine, das hier ist der anonyme Kuschelverein von Männern aus dem Untergrund.«
Okay. Sie waren also am Arsch. »Und wieso hast du dann keinen besseren Plan als deinen blauen SUV?«
»Ich bin ein spontaner Planer.«
»Erinnere mich daran, dass ich dich unser Haus nicht planen lasse. Das geht schief.«
Im Seitenprofil von ihm zeichnete sich ein leichtes Lächeln ab. »Sind wir schon beim Häusle bauen?«
»Im Moment planen wir eher unsere eigene Beerdigung«, erwiderte sie zischend, während er sie atemlos auf den Beifahrersitz des Wagens schob.
»Keine Sorge, dass musst du nicht planen, darin sind die Russows Profis. Vor allem hast du da einen Vorteil, du wurdest schon mal beerdigt.«
Sie verdrehte ihren Hals, sah zu Ivan auf, dann weiteten sich ihr Pupillen, denn drei dunkle Gestalten tauchten hinter ihm auf. »Ivan«, schrie sie hysterisch, »hinter dir.«
Aber die Warnung kam zu spät. Er wurde von der Beifahrertür gerissen und Maxine von starken Händen aus dem Wagen gezerrt.
»Ich kann selber gehen«, protestierte sie, als man sie an den Armen gehalten durch den Schnee schleifte. »Wenn ihr mal genau hinschaut, habe ich da unten zwei gesunde Beine. Das ist keine Deko.«
»Halt dein Maul.«
Ui. Die gehörten nicht zu der Kategorie charmante Verführer. Und die ungehobelten Kerle sollten Toms Brüder sein?
»Maul ist die korrekte Bezeichnung für die Mundöffnung eines Tieres, bei Menschen nennt man es Mund.« Ob die Russows belehrbar waren? Der größte von allen, der Jack hieß, blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Maxine wurde unter seinem Blick ganz klein. »Aber es ist natürlich auch okay, das Wort als Beschimpfung zu verwenden.«
Jack nickte mit seinem Kopf zu einem Wagen hin, der den anderen Autos wie einem Ei dem anderen glich. Individualität wurde in dem Metier nicht gerade großgeschrieben.
Sie suchte mit ihren Augen nach Ivan, konnte ihn aber nirgends finden. Verdammt, wo war er, was hatten die Russows mit ihm gemacht?
»Ivan?«, fragte sie zaghaft.
»Ist verhindert«, kam es prompt.
»Ich denke, wir könnten nicht auf ihn warten, oder?«
Der Rotbart holte tief Luft, dann befahl er seinem Bruder. »Ben, bring sie in unser Quartier. Ich komme nachher mit der Familie nach.«
Nun, das war nicht die Antwort, die sie hatte hören wollen. Besser gesagt, man hatte sie einfach ignoriert. Eine Frechheit.
Sie landete auf dem Rücksitz der Limousine. Ben folgte ihr, während ein schmächtiger Fahrer herbeieilte und den Wagen startete. Hier schien wirklich niemand selbst fahren zu müssen. Ein Luxus den Maxine gerne in ihrem früheren Leben auch gehabt hätte – hier aber darauf verzichten konnte. Denn nun saß sie neben diesem Ben. Ein schweigsamer Kerl, wie sie herausfinden musste. Wenigstens trug er keine affige Sonnebrille.
»Was wollt ihr von mir?«
»Mhm.«
»Bist du auch Toms Bruder?«
»Mhm.«
»Jünger oder älter?«
»Mhm.«
»Oh, das tut mir Leid, du hast eine Sprachentwicklungsstörung. Das wusste ich nicht, muss schwer für dich sein.«
»Mhm.«
Super. Provozieren ließ er sich nicht. Oder man hatte ihm wirklich die Zunge rausgeschnitten.
»Es tut mir wirklich sehr, sehr Leid, dass Tom tot ist. Das wollte ich nicht.«
Ben rutschte herum. Nun war sie im Fokus seiner ungeteilten Aufmerksamkeit und es gefiel ihr ganz und gar nicht. Aber sie hatte es ja so gewollt. »Ich kneble dich, wenn du nicht deinen Mund hältst.« Wenigstens hatte er die höfliche Version genommen und nicht Maul gesagt.
Sie überflog ihn. »Und womit?«
Fassungslos blickte er sie an. Ja, was dachte er denn, dass sie seine Drohung nicht überprüfte? Ihre Beobachtungsgabe war schon immer genauso gut wie ihre vorlaute Klappe gewesen. Das bekam er nun zu spüren.
»Tja«, meinte sie gedehnt, »vielleicht kommen wir ja noch an einer Tankstelle vorbei und du kannst Tape kaufen. Aber im Moment ist das wohl eine leere Drohung.«
Er wandte sich wortlos wieder ab und schaute aus dem Fenster. Maxine hatte also mit ihrer Vermutung recht gehabt. Irgendwie freute sie das und es stachelte sie zu mehr an.
»Ich mochte Tom«, begann sie den erneuten Versuch, eine Bindung zwischen ihr und Mr. Schweigsam herzustellen. »Er war wirklich nett.« Doch ihr Gegenüber blieb seinem Kurs genauso treu, wie sie dem ihren. Und irgendwie befürchtete Maxine, dass sie sich auf Kollisionskurs befanden. Und wie das ausging, konnte man gut an den Dinosauriern sehen. Naja, beziehungsweise nicht mehr sehen – nur noch ausgraben. Vielleicht war es besser für sie, ihn nicht weiter zu reizen, nicht, dass man sie am Ende auch noch ausbuddeln musste.
Maxine widmete sich wichtigeren Dingen: »Lebt Ivan noch?« Ihre Stimme hatte leicht gezittert. Vielleicht war dieses Vibrieren der Anlass dafür, dass Ben plötzlich antwortete: »Sein Tod bringt uns nichts.«
»Und…ähm meiner?«
»Deiner?« Er sah sie nicht an, sondern starrte weiter hinaus ins dunkle Nichts der Nacht.
»Ja, bringt euch mein Tod etwas?« Er konnte doch nicht so schwer vom Begriff sein.
»Nein.«
Nein, was? Hieß, dass jetzt, dass sie überleben durfte oder dass ihr Tod lediglich Verschwendung war? Wieso wurden denn immer nur Verbrecher mit einem eindeutigen Hang zum Schweigen rekrutiert. Stand das in der Stellenanzeige für angehende Kriminelle? Zuverlässiger Handlanger gesucht, mit Hang zur Gewalttätigkeit, Mutisten werden bevorzugt eingestellt.
»Werde ich überleben?«
Er lächelte sarkastisch. »Mit der frechen Schnauze?« Dabei schüttelte er seinen Kopf. »Wird es schwer werden.«
Das war nichts Neues. Das hatte ihr schon ihr Direktor prophezeit. Unschön war es, diese Prophezeiung aus dem Mund eines Schwerverbrechers zu hören.
Sie zog es nun vor, ebenfalls dem Stumm sein zu frönen. Mit Tränen schaute sie aus dem Fenster. So viele Zwischenstopps hatte sie auf ihrer Reise nicht gebucht, schien es aber als besonderes Extra zu geben.
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Aktuell (aber nur noch bis zum 22.1) gibt es bei Amazon „Entführung der Wochentage“ kostenlos. Aber vorsichtig, dass Buch ist absolut Dark-Romance und anders als diese Geschichte hier!
Maxi war wirklich nicht erpicht darauf, die Gastgeberin kennenzulernen, aber man ließ ihr diesbezüglich keine Wahl. So stand Maxi mit dem schlechten Gewissen - eine unwissende Geliebte gewesen zu sein - vor Claire, die sie sich irgendwie anders vorgestellt hatte. Wahrscheinlich hatte Maxine zu viele Actionfilme geschaut, denn sie hatte tatsächlich eine verruchte Frau in einem engen Lederkleid erwartet. Stattdessen saß ihr das Modell „adrette Hausfrau“ gegenüber: Geblümtes, knielanges Kleid, helle Pumps, brünettes Haar, unauffällige Schminke, große Augen, normale, weibliche Figur. Fast züchtig langweilig.
»Sooo«, sagte Claire und nippte an ihrem Kaffee, »du bist also Maxine.«
Maxine wäre jetzt gerne nicht Maxine. Aber ihre Identität stand für alle fest. »Mhm. Ja.« Unsicher schaute sie der Frau in ihre grün-braunen Augen. Sie fragte sich, ob sie vorpreschen und sich als erstes für ihren Ehebruch entschuldigen sollte.
»Du bist also die Geliebte meines Mannes?«
Okay, Claire war ihr zuvorgekommen. »Unbeabsichtigt. Ich wusste nicht, wer er war und dass er eine Frau hat.«
»Ein dummes Missgeschick also?« Sie sah sie über den Rand ihrer dampfenden Tasse hinweg an, während Maxine, die vor ihr wie ein Schuldmädchen stand, immer kleiner wurde.
»Unwissenheit trifft es mehr, ich bin ja nicht ausversehen in eine Beziehung mit ihm gestolpert.«
»Ist das so?«, hakte Claire nach und drehte die Tasse in ihren zierlichen, manikürten Händen. Dann lächelte sie und stellte die Tasse ab. »Ist er gut im Bett? Konnte er dich befriedigen?«
Um Himmels Willen. Was war das für eine Frage – oder eine Falle? Konnte man einer betrogenen Ehefrau überhaupt die richtige Antwort geben? Unwohl trat Maxine einen Schritt zurück, wurde aber sofort von Mr. Schweigsam zurück an den Tisch gedrängt. Es gab kein Entkommen.
»Ging schon.«
»Hat es dir kein Spaß gemacht, ihn zu ficken?«
»Äh.« Maxines Kopf leuchtete heller als jeder Leuchtturm.
»Oh, mir den Mann wegnehmen, aber jetzt schüchtern tun.«
»Das war nicht absichtlich«, verteidigte Maxine sich wieder. »Er erwähnte dich nicht.« Maxi sprach den letzten Satz aus und dachte noch im gleichen Moment, dass das eine Information war, die eine Ehefrau sicher nicht hören wollte – und erst recht nicht aus dem Mund einer vermeintlichen Geliebten. Um Schadensbegrenzung bemühte, setzte sie daher schnell hinterher: »Ich habe ihn aber auch nie gefragt. Und ich komme dir ganz sicher nicht mehr in die Quere, ich will Ivan…und das möglichst weit weg von euch.«
»Du kommst mir nicht in die Quere«, sagte Clair und hob ihre Tasse wieder zu ihrem Mund.
Glück gehabt, dachte Maxine und ein Stein fiel ihr vom Herzen. Sie merkte, wie ihre angespannte Muskulatur langsam lockerer wurde.
Claire trank ein, zwei Schlucke, dann meinte sie: »Du bist mir schon im Weg.«
Der Stein knallte mit voller Wucht auf ihre Füße. »Aber…«, stotterte sie, doch Claire winkte ab. »Anders als du denkst…« Dann nickte sie Mr. Schweigsam zu. »Bring sie zu ihm, er erwartet sie bereits.«
»Was…wer? Ivan?«, fragte sie irritiert, als sie an den Schultern genommen und nach draußen auf den Flur geführt wurde.
Sie gingen eine gigantische Treppe mit grünem Teppichläufer hinauf, dann klopfte ihr Begleiter an eine prächtige Tür und ein gutaussehender sowie gut gutgelaunter Mann öffnete die Tür.
Tom.
Sie fiel aus allen Wolken. Entweder litt sie an Halluzinationen oder die Geschichten über Toms Ableben entsprachen nicht den Tatsachen, denn vor ihr stand ein quicklebendiger Mann.
»Hallo Maxine.« Sein Tonfall war immer noch so schmeichelnd ruhig wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte.
»Du lebst…«, hauchte sie nur konsterniert.
»Enttäuscht darüber?«, hakte er belustigt nach und nahm sie mit offenen Armen in Empfang.
»Nur verunsichert, ob du ein Zombie bist…«
»Untot?« Er stich sein gebügeltes Hemd glatt. »Dafür sehe ich zu gut aus.«
Nun denn, an Überheblichkeit mangelte es ihm nicht. Eine unverkennbare Eigenschaft von ihm und damit der Beweis, dass tatsächlich Tom vor ihr stand. Leibhaftig. Oder wie der Leibhaftige?
»Es hieß, du seist ermordet worden.«
Er legte seinen Arm um ihre zitternden Körper. »Ich nicht, mein armer Doppelgänger schon, aber bis ich meine Mörder gefunden habe, bevorzuge ich es, weiterhin inkognito und vermeintlich tot zu bleiben. Also, so ganz unrecht hast du mit deiner Zombievermutung nicht.«
»Und wann willst du wieder auferstehen wie Christus?«, hakte sie lakonisch nach, denn es gefiel ihr ganz und gar nicht, wie lässig er sein Ableben inszeniert und sie mit Kummer und Unsicherheit zurückgelassen hatte.
»Naja, meine Maria Magdalena, die meine Rückkehr bezeugen könnte, ist ja inzwischen da. Nicht wahr, Liebling?«
»Leider heiße ich immer noch Maxine. Und du bist ein echtes Arschloch. Ich dachte, du seist tot und dann lässt du mich auch noch ein zweites Mal verschleppen, zudem bist du verheiratet und hast Ivan…« Sie sprach nicht weiter, denn plötzlich wurde ihr schamvoll bewusst, dass sie ein winziges Detail Namens Ivan komplett verdrängt hatte. Das war jetzt ein wenig egozentrisch und peinlich. Rasch und recht schroff für ihre weiche Stimme, fragte sie daher – dieses mal ohne Umschweife: »Was hast du mit Ivan gemacht?«
»Oh«, er verzog sein markantes Gesicht, »mir war nicht bewusst, dass du so an ihm hängst. Aber keine Sorge, er hat lediglich eine kleine Abreibung bekommen, mehr nicht. In gewisser Weise verdanke ich ihm ja, dass du noch am Leben bist.«
Sie sah den unverschämten Kerl, der sie erst belogen, dann ihr Herz gebrochen und schließlich entführt hatte, bitterböse an. Schon eine der Aufzählungen reichte, um ihn zu hassen und sie hatte noch viel mehr parat.
»Ich will zurück zu ihm«, sagte sie kühl und zeigte Tom mit ihrer kalten Schulter, was sie von ihm hielt. Nämlich nichts. Sie wollte mit dem verheirateten Blender nichts mehr zu tun haben.
»Und ich will die Weltherrschaft. Manche Dinge im Leben laufen nicht so, wie wir es uns wünschen, Maxine.«
Oho. Er wollte einen philosophischen Diskurs mit ihr starten? »Soweit du es mir erklärt hast, bist du tot. In deinem Leben läuft nichts mehr.«
Er drückte sie eng gegen seine Brust. »Vergiss nicht, Maxine, du bist mir da ebenbürtig. Wir haben beide unsere eigene Beerdigung – wie soll ich sagen – überlebt.« Er seufzte gespielt auf. »Im Tod vereint. Wie Romeo und Julia.«
»Das Theaterstück hat mir noch nie gefallen.«
»Mir auch nicht. Schon wieder eine Gemeinsamkeit. Wenn wir noch länger so vertraut plaudern, finden wir bestimmt noch etliche weitere.«
Er ließ sie los, dann winkte er den Typen heran, der regungslos an der Eingangstür verharrt hatte. »Leider habe ich im Augenblick keine Zeit, auch wenn es wieder ein Genuss war, mit dir liebevolle Worte auszutauschen.« Er wandte sich direkt an den Herbeigeeilten: »Gib ihr Wasser und Essen, dann bring sie in unseren Sicherheitstrakt.«
»Was? Wieso?«, fluchte Maxine auf, die irgendwie den Status einer Gefangenen langsam, aber sehr sicher - hundertprozentig sicher - leid wurde. Nicht, dass es nicht nett war, mal ein All-Inklusive-Programm der Rundumversorgung zu haben, aber dies hatte sie lieber im 5 Sterne Hotel am Strand…und auch gerne mit mehr Selbstbestimmung.
»Schau mal, Schätzchen. Ich wurde wegen dir schon mal erpresst, das kann und darf ich kein weiteres Mal zulassen. Ich nehme dich in Schutzhaft, wenn du es so nennen willst.«
»Ich bin nicht dein Schätzchen. Und schon gar kein Schatz, der weggeschlossen werden muss. Ich will nicht länger von dir beschützt werden.« Der letzte Satz war ihr schwerer über die Lippen gekommen als jedes Bitte. Denn sie empfand seine Aktion sicherlich nicht als Rettung, sondern eher als unschöne Belastung.
Sie musterte ihn. Wie hatte sie den Kerl jemals lieben können. Jetzt, wo er vor ihr stand, kam er ihr profan und kaltherzig vor. Da war Ivan die deutlich bessere - wenn auch leider eine momentan verhinderte - Partie. Hoffentlich hatte er die Abreibung gut überstanden.
»Du bleibst.«
Tom konnte erschreckend dominant werden, aber sie konnte erschreckend mädchenhaft und genauso penetrant sein. »Warum? Wieso tust mir so etwas Schreckliches an, obwohl du sagst, dass du mich liebst?« Sie quetschte ein paar Krokodilstränen aus ihren Augenwinkeln und sah ihn mit diesem flehentlichen Püppigesicht an. Der besagte Püppi-Ausdruck war das Endergebnis jahrelanger Übung, vor dem Spiegel, bei Freundinnen oder bei den gelegentlichen Partnern. Ein bisschen war sie stolz darauf. Es sagte: Ich-bin-so-lieb-und-du-so-gemein. Habe-jetzt-ein-schlechtes-Gewissen-sofort. Es funktionierte ganz gut. Bis jetzt jedenfalls.
Denn Tom gehörte zu keiner ihrer Kategorien und stand daher – zu ihrer Ernüchterung – meilenweit drüber. »Ich liebe dich nicht, Maxine. Man nimmt mir nur nichts weg. Auch nicht dich. Das hat nichts mit Liebe zu tun.«
Die falschen Tränen wurden von echten verdrängt. Jetzt musste sie nicht mehr so tun, als sei sie tief verletzt. Erzürnt über ihn und seine selbstgefällige Art trat sie wie eine fünfjährige, die nicht das bekommen hatte, was sie wollte, mit dem Fuß auf. »Ich bin kein Ding, ich bin ein Mensch und ich werde jetzt gehen…«
»Wenn du ein Mensch bleiben willst, solltest du bleiben.« Er klang schmeichelnd, aber sie konnte auch deutlich zwischen den Zeilen die unverhohlene Drohung lesen.
»Sonst was?«, fragte sie dennoch provokativ nach.
»Nun. Sonst mache ich dich zu einem Objekt. Ganz einfach.«
Baff und völlig ohne Gegenargumente – wobei wohl auch kein einziges gezogen hätte, seien sie auch noch so plausibel gewesen – starrte sie Tom feindselig an.
»Das perfekt Sklaven-Schweigen beherrscht du schon«, lobte er sie spöttisch, dann nickte er dem Mann an ihrer Seite zu. »Bring sie fort.«
»Was ist mit Claire, willst du ihr das antun? Wie findet sie das, dass du mich hier behältst?«, triumphierend dieses Ass aus dem Ärmel gezaubert zu haben, sah sie ihn an. Jetzt musste er zugeben, ein schrecklicher Mann zu sein. Doch anstatt ein reumütiges Gesicht zu machen, brach er in schallendes Gelächter aus. »Claire? Hat sie wirklich wieder diese Ich-bin-seine-liebe-Ehefrau-Nummer abgezogen?« Er schüttelte amüsiert seinen Kopf. »Sie ist grandios. Ich wette, du hattest richtig schiss. Und wahrscheinlich Schuldgefühle.«
Maxine runzelte ihre Stirn. Waren Tom und Claire beide irre oder nur er? Naja, ob das wirklich eine Rolle spielte…
»Claire ist weder von mir abhängig, noch eine betrogene Frau.«
»Aber…«
»Sie wollte dich nur erschrecken. Glaubst du, ich könnte dich einfach hierbehalten, wenn sie es nicht wollen würde? Sorry, Kleines, aber Claire ist die Chefin des Clans, nicht ich oder einer meiner Brüder.«
Das süße Blümchen-Kleid-Tragende-Mädchen sollte die Anführerin einer Verbrecherorganisation sein? Maxine musste ein paar Vorurteile und Klischees dringend in ihrem Kopf neu ordnen und ein paar aussortieren, vielleicht auch alle. Auf nichts war mehr verlass, weder auf das Aussehen noch auf das Geschlecht von Kriminellen. Sogar das Verhalten manch einer – besagter Ivan wäre ein passendes Beispiel – entsprach nicht dem Bild eines Standardverbrechers.
»Seid ihr dann gar nicht verheiratet?«
Wieder glomm Belustigung in seinen charmanten Augen auf. »Doch, natürlich.«
»Und sie will, dass ich hierbleibe?«
»Sie will es nicht, Maxine, sie besteht darauf.«
Sie holte Luft, aber ihr Gegenüber schien der Meinung, dass sie genug geredet hatten, denn er schnitt ihr mit einer knappen Geste und einem mahnenden Brummton das Wort ab. »Wir sind hier nicht bei der Eheberatung. Und es geht dich auch nichts an.« Dann nickte er seinem Bruder zu. »Schaff sie jetzt fort.«
»Nein, nein«, wehrte sie sich, was den Mann an ihrer Seite nicht beeindruckte. Von „Nein-heißt-Nein“ schien hier in dem Kreis noch niemand was gehört zu haben. Eine Schulung diesbezüglich war bitternötig.
»Nein, Tom, verdammt, nein!«
»Doch, Maxine, doch.« Seine höhnische Gegenantwort verfolgte sie bis auf den Flur. Wütend stapfte sie mit dem schweigsamen Mann an ihrer Seite ihrem Schicksal entgegen. In der großen Halle, die sie durchquerten, kam ihnen Claire entgegen. Sie lächelte Maxine freundlich zu, dann verschwand sie hinter einer großen Flügeltür.
»Ist sie wirklich der Boss hier?«, versuchte sie ihr Glück bei dem Halbstummen und sie stieß anscheinend ausnahmsweise nicht auf taube Ohren.
»Ja.«
»Tötet sie auch?«
»Warum fragst du?« Der Mann lachte leise. »Angst, dass sie dir den Seitensprung mit ihrem Mann übelnimmt?«
So ganz abwegig war ihre Vermutung nicht, sie wusste nicht, was es da zum Lachen gab, aber sie schien Toms Bruder köstlich zu amüsieren. »Tut sie es denn nicht?«
»Sicher nicht.«
Konnte denn keiner in ihrer Umgebung in seiner Rolle bleiben? Nicht mal die betrogene Ehefrau? Maxine wünschte sich ihre Gelassenheit, denn ihr eigenes Herz schlug ihr bis zum Halse. »Und warum nicht?«
»Maxine, die Strukturen und intimen Details unseres Clans gehen dich nichts an, also hör auf, zu fragen. Tom wird dich aufklären, wenn er es für richtig oder passend hält. Im Moment hast du den Status einer Sklavin – damit bleiben dir nicht viele Privilegien, also mach es nicht schlimmer.«
Aha. Wollte er sie in den April schicken? Was war denn bitte schlimmer als eine Sklavin zu sein. »Ach, es gibt noch eine Stufe unter Sklavin?«
»Feindin. Gefangene. Opfer«, zählte der Mann trocken auf, »all diese Bezeichnungen würden deine körperliche Unversertheit drastisch gefährden.«
Schön, er konnte ja doch ganz redselig sein, leider war nichts dabei, was sie hören wollte.
»Wieso darf ich nicht einfach wieder gehen, ich habe ihm doch gesagt, dass ich weder sein Schutz noch seine Fürsorge brauche.« Schutz und Fürsorge. Sie hatte sich extra besonders gewählt und charmant ausgedrückt.
»Und er hat dir unmissverständlich gesagt, dass es ihm auch nicht darum geht. Du musst dringend lernen, zuzuhören, Sklavin.«
Bevor sie gegen seinen neuen, herabwürdigen Kosenamen protestieren konnte, wurde sie in einen kahlen Raum geschubst und die Tür hinter ihr geschlossen. Sei seufzte auf. Die Zimmer auf ihrer Reise ließen stark zu wünschen übrig – und der Service wurde auch immer schlechter. Und ihr Reiseleiter Ivan war nicht da, damit sie sich beschweren konnte.
Was für eine blöde Situation.
Maxine war so schrecklich langweilig, dass sie sich sogar den Lateinkurs aus der 11. Klasse herbeisehnte. Alles wäre aufregender als in diesem leeren Kasten zu sitzen, der sich laut Tom Sicherheitstrakt nannte. Man behandelte sie tatsächlich wie Diamantschmuck – aufbewahrt und vergessen im Safe.
In Maxi wuchs eine tiefgreifende Frustration heran, die durch nichts zu tilgen war, auch nicht durch das wirklich delikate Essen, das man ihr kredenzte. Selbst Champagner stellte man ihr mit auf das weiße Tablett. Aber ohne Gesellschaft schmeckte selbst die saure Luxusbrause schal, sodass sie nur aus reinem Zeitvertreib daran nippte.
Sollte das ihr Ende sein? Ein Schatz verwahrt in der Schatzkammer eines reichen Kriminellen? Sie hatte sich immer gewünscht, einem Mann so viel zu bedeuten, dass er sie Schatz nannte, aber doch bitte nicht, dass er sie auch so behandelte.
Bevor sie weiter mit ihrem Schicksal hadern konnte, hörte sie, wie die Tür zum Tresor geöffnet wurde.
Tom stand breitbeinig vor ihr. »Maxine«, seine Tonlage duldete keinen Widerspruch. »Mit dem Gesicht zur Wand, Hände hinter den Rücken. Bock nicht rum, denn ich habe keine Zeit für ungehorsame Mädchen.«
»Ein Bock ist eine männliche Ziege«, konterte sie und starrte ihn aus blitzenden, hellwachen Augen an. »Soweit ich weiß, findest du den hier nicht.« Sie machte eine ausladende Handbewegung. »So, wie du überhaupt nichts in diesem kargen Raum findest. Es mangelt ihm an Einrichtung, Geschmack und Gastlichkeit.«
»Nichts? Soweit würde ich nicht gehen, Maxi. Niemals würde über meine Lippen kommen, dass du ein Nichts bist.« Er hob seine Augenbrauen leicht an. »Aber was die Ausstattung des Zimmers betrifft, muss ich dir Recht geben, sie ist ein bisschen puristisch angehaucht.«
Puristisch angehaucht. Die Untertreibung des Jahrhunderts.
Er kam mit geschmeidigen Schritten näher. »Und wenn du nicht weiter die gradlinigen, schlichten Vorzüge dieses Ambientes genießen möchtest, tust du, was ich dir aufgetragen habe.«
Sie sah die Handschellen in seinen Händen. Er machte sich auch nicht die Mühe, sie zu verstecken, sondern hielt sie fast provokativ vor seiner Körpermitte.
Sie nickte zu den Schellen hin. »Was hast du vor?«
»Dich fesseln.«
Das war eine präzise Antwort auf ihre Frage, aber nicht das, was Maxine eigentlich hatte wissen wollen. »Nein«, stellte sie nun ihre Nachfrage genauer, »warum willst du mich fesseln?«
Wieder tauchte ein süffisantes Lächeln auf seinen Lippen auf. »Damit du mir weniger Probleme machst…« Und er lachte leise. »Mir keine aufs Maul haust. Mein attraktives Gesicht verträgt Blessuren nur so schlecht, weißt du.«
Himmelherrgott. Gleich ließ sie auf seine Befürchtung Taten folgen und zerschmetterte mit ihrer Faust sein Grinsekatzengesicht. »Du hast mich schon verstanden«, knirschte sie, »also, wozu die Fesseln?«
»Habe ich dir doch schon erläutert«, er stieß einen Pfiff aus, »aber meine Zeit ist mir zu kostbar, mich dauernd zu wiederholen.«
Und ehe Maxine es sich versah, traten, durch das kurze, knappe Pfeifen herbeigerufen, Toms Lakaien herein und sie lag schneller gefesselt auf dem Boden, als sie bis Drei zählen konnte. Die Wächter mussten Mutanten sein, denn sie war sich sicher, eigentlich nur geblinzelt zu haben und in diesem Bruchteil von einer Millisekunde war es ihnen gelungen, zu ihr zu eilen, sie mit groben Griffen auf den Boden zu befördern und ihre Hände auf den Rücken zu fesseln. Ein Wimpernschlag. Ein verdammter Wimpernschlag, mehr Zeit hatten sie nicht gebraucht.
»Aua«, jammerte sie, da sie durch die rabiate Behandlung Kratzer davon getragen hatte. Ihr Kinn war leicht aufgeschrammt und an den Oberarmen fühlte sie ihre gequetschte Haut pulsieren.
Tom beugte sich zu ihr hinab. »Setzt ihr den Chip ein, ich will immer orten können, wo sie ist.«
Bewegung kam in Maxines gefesselten Körper, als sie seine widerlichen Worte vernahm. Sie war doch kein Köter, den man einfach chippte.
»Schon mal an Therapie gedacht?«, knurrte sie ihn kehlig an und klang damit doch mehr wie ein Tier als ein zivilisierter Mensch. »Mir scheint dein Kontrollzwang etwas übertrieben.«
Ein Knie in ihrem Rücken zwang sie bäuchlings auf den Boden, während Tom mit unbewegten, neutralen Gesichtsausdruck vor ihr stand. »Ich denke«, sagte er hinterhältig, »auf die örtliche Betäubung könne wir verzichten.«
»Ja. Boss.«
Seine Art an ihren Worten Rache zu nehmen, war nicht fair. Sie kämpfte immerhin mit Worten, er vergolt es ihr hingegen mit Taten. Sie roch das Desinfektionsmittel, bevor es überhaupt ihre Haut benetzte, dann spürte sie einen brennenden, beißenden Schmerz, als sich die dicke Kanüle ihren Weg in den Schultermuskel bahnte. Augenblicklich verspannte sich ihr ganzer Bewegungsapparat, was das Eindringen des Senders noch schmerzvoller werden ließ.
Sie stöhnte leise auf.
»Bleib locker, Böckchen«, scherzte Tom und ging in die Knie, um ihr dann über den Kopf zu streicheln. »Ist ja gleich vorbei und dann hast du auch wieder genug Kraft, zu meckern.«
Sie hätte ihm lieber seine Hand abgebissen, die ihr keck über den Hinterkopf fuhr, anstatt zu meckern. Aber beides war ihr gerade nicht möglich. Sie brauchte die Luft, um den Schmerz wegzuatmen und die Handschnellen hinderten sie an einem kleinen Massaker an ihm und seinen Kumpanen. Daher beließ sie es, bei einem kurzen, missbilligenden Schnaufen und rollte wütend mit ihren Augen.
Endlich stieg der Kerl von ihrem gepeinigten Rücken und sie sprang auf.
Die Männer traten in weiser Voraussicht einen Schritt zurück, um nicht gleich ihrem Zorn heimzufallen.
»Scht«, versuchte Tom sie zu beruhigen. Doch der Zischlaut brachte sie nur mehr auf die Palme.
»Nix scht«, fauchte sie angriffslustig und wäre wohl Tom auch an die Kehle gegangen, wenn sich der Schrank von Mann, der sich Wächter schimpfte, nicht dazwischen gegangen wäre. Nun war sie es, die an der Kehle gepackt wurde. Aber der Mann drückte nicht zu, sondern hielt ihren Hals lediglich locker umklammert und nutzte seine enorme Armspanne, um sie auf Abstand zu halten.
»Was für ein Raubkätzchen«, staunte Tom amüsiert, dann winkte er seinen Kollegen zu. »Lassen wir sie in Ruhe schmollen.«
Die Schrankwand vor ihr hielt sie weiterhin in Schach, bis ihre Handschnellen aufgeschlossen waren und sich der Trupp entfernt hatte. Dann gab er ihr einen Schubs, der sie auch aus seiner Reichweite taumeln ließ, bevor er sich ebenfalls zügig zum Gehen wandte.
Die Tür fiel zu. Maxi starrte mit wilden Augen auf die Panzertür, dann auf das Essenstablett. Kaum war sie alleine in dem Raum, nahm sie die Gabel und stocherte mit zusammengebissenen Zähnen in der Wunde herum. Sie hatte auch schon mal bessere Einfälle gehabt, aber der Zorn vernebelte ihren Verstand.
Zurück blieb eine entzündete, klaffende Wunde, die ungeheuerlich schmerzte und Maxine verdeutlichte, dass sie keine grandiose Chirurgin, sondern eine grobschlächtige Metzgerin war. Der Berufsweg der Ärztin fiel damit schon mal flach – wenn das Mama wüsste, sie wäre enttäuscht. Chirurgin hätte ihr als Beruf ihrer Tochter gefallen. Endlich hätte sie bei Nachbarin Hedwig angeben können, anstatt die Tochter schmallippig zu verleugnen.
Aber jetzt musste Maxi sich mit der Lage befassen, dass es ihr A. verdammt dreckig ging B. sie auf ganzer Linie versagt hatte und C. dass sie ihr Malheur unbedingt vor Tom und seinen Leuten verstecken musste. Denn sie waren bestimmt nicht begeistert davon, wie sie versucht hatte, ihre Arbeit zu sabotieren.
Sobald jemand den Raum betrat, drückte Maxi ihren brennenden, glühenden Rücken gegen die kalte Wand. Dabei lächelte sie krampfhaft, um dem pulsierenden Schmerz in ihrem Rückgrat entgegenzuwirken, denn am liebsten hätte sie geheult und geschrien.
Mr. Schweigsam war es dieses Mal, der ihr Essen brachte.
Zügig und mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck trat er herein, doch dann blieb er stockend stehen. Sein Blick fiel auf Maxi, ruhte auf ihrer Stirn.
»Du schwitzt«, sagte er verwundert.
»Das tun Menschen«, presste sie hervor. »Wenn ihnen heiß ist und mir ist warm!«
»Der Raum ist klimatisiert«, wandte er ein und ging einen weiteren Schritt auf sie zu. Gereizt verfolgte sie mit, wie er unbeirrt seinen Weg fortsetzte, anstatt das Tablett hinzustellen und zu verschwinden.
»Nicht für meine Klimazone, ich bin eher der nordische Typ.«
»Aha. Sieht man dir nicht an«, brummte Toms Bruder und stand nun direkt vor ihr. Er umklammerte ihre Schulter, zwang sie mit einer Hand von der Mauer weg, während er mit der anderen das Tablett balancierte, dann hörte sie ihn, laut ausatmen.
»Bitte«, sie sah ihn flehentlich von unten an, als er vor ihr stand. »Sag es Tom nicht.«
»Wie hast du den Chip entfernt?«, wollte er wissen.
Sie schaute ihn stumm an. Sie verriet doch nicht ihr Werkzeug. Jeder Chirurg hatte doch seine Geheimtechnik.
Doch Mr. Schweigsam machte seine Einsilbigkeit wohl durch Gehirnzellen wett, denn plötzlich wanderte sein Blick zu der Kuchengabel, dem einzigen Besteck, dass man ihr samt einem Löffel gönnte. »Du bist wirklich total bescheuert«, keuchte er. Dann stellte er das Tablett endlich ab.
»Ich hole Alexander.« Es klang nicht wie eine Information, sondern wie eine Warnung. Und Maxi schrumpfte in sich zusammen.
»Ich sehe dich öfter, als mir lieb ist«, tat der Arzt seine Wiedersehensfreude in trockenen Worten kund, als er am Abend zu ihr in den Schutzraum kam.
»Die Einschätzung kann ich teilen«, schimpfte Maxi und verschränkte ihre Arme. »Wo ist Ivan, wie geht es ihm?«
»Besser als dir auf jeden Fall«, seufzte der Arzt und packte seinen Koffer aus. »Sein IQ überschreitet deinen deutlich. Wie kann man denn so blöd sein, mit einer Gabel in einer frischen Wunde rumzustochern?«
»Das nächste mal frag ich dich nach sterilen Operationsbesteck«, meinte Maxi zynisch, »aber ich habe da den Verdacht, dass meine Anfrage ins Leere laufen würde.«
Die Augen des Mannes wurden eine Spur weicher. »Na wenigstens sagt dir das Wort steril etwas. Vielleicht ist bei dir doch noch nicht alles verloren.« Er zog sich Gummihandschuhe über, dann ließ er eine klare Flüssigkeit auf einen Lappen aus Stoff laufen. Unsanft rieb er damit ihre Wunde ab, entfernte Schmutz und Blut, bis die Wunde ausreichend gereinigt war. Achtlos warf er den dreckigen Stoff weg und verteilte eine brennende Salbe, ehe er einen Schnellverband darüber klebte. »Deine grenzenlose Dummheit wird Konsequenzen haben.«
»Körperliche?«, hakte sie ängstlich nach. Denn sie war eigentlich eine kleine Hypochonderin und malte sich schon schreckliche Szenarien eines Wundbrandes aus. Sie würde elendig verrecken, nein, dahinsiechen...
»Ja.«
Ihr stockte der Atem. »Wie schlimm ist es?«
»Die Wunde?« Alexander trat hinter ihrem Rücken hervor. »Die wird heilen, aber ich schätze Tom wird dich deinen Ungehorsam spüren lassen.«
Sie brauchte einen Moment, bis sie verstand, dass er nicht von der Wunde, sondern von Bestrafung redete. Ihr normaler, alltagsbezogener Geist, der ansonsten nicht mit körperlicher Bestrafung in Kontakt gekommen war, hatte diesen Aspekt erst gar nicht in Betracht gezogen.
»Wie bitte?«
»Tom wird dich bestrafen«, wiederholte er ruhig. »Ich kenne ihn, er hält nicht viel von Rebellion, meist erstickt er sie im Keim.«
»Er ist der Keim«, fauchte sie, »mir fehlt nur das Antibiotikum dazu.«
Alexander lachte leise. »Lass ihn lieber nicht wissen, was du über ihn denkst. Er ist rasch kränkbar und ihn eine Bazille zu nennen, ist schon eine grobe Beleidigung.«
»Glaub mir, ich habe noch schlimmere Wörter für ihn parat«, tröstete sie den Arzt mit einem schmalen Grinsen. »Das ist mein Kosename für ihn.«
»Genau meine Befürchtung«, stöhnte Alexander. Dann legte er plötzlich vertraulich seine Hand an ihre Halsbeuge. »Ivan will dich unversehrt wissen, tue wenigstens ihm den Gefallen, dein aufbrausendes Wesen etwas zu zähmen.«
Ivan. Der Name war wie der Schlüssel zu ihrer Seele. Sofort wurde sie ruhiger und auch ein Stück zugänglicher.
»Kann ich nicht zu ihm? Wo ist er…?«, wollte sie aufgeregt wissen und plötzlich konnte der Arzt nicht nah genug an ihrer Seite stehen. Wie schnell sich ihre Körperwahrnehmung doch ändern konnte.
»Du musst Geduld ha…« Der Arzt unterbrach seinen Satz, sah sie an und schüttelte dann resigniert seinen Kopf. »Was rede ich denn da? Du bist kein geduldiger Mensch. Das wird alles in einer verdammten Katastrophe enden.«
Ach, es war so erfrischend einen zuversichtlichen Menschen an ihrer Seite zu haben. Endlich jemand, der die Dinge positiv sah und ihr Mut machte. Sie rollte innerlich mit ihren Augen.
»Es ist schon eine verfluchte Katastrophe für mich«, flüsterte sie aufgebracht und zornig, »das muss es nicht erst werden.«
»Trotzdem kein Grund es noch schlimmer zu machen«, argumentierte er gegen ihre Einschätzung der Lage und hielt ihr eine Tablette hin. »Hier, das hilft dir, ruhiger zu werden.«
»Bring mich zu Ivan, dann werde ich zum Lämmchen.«
»Lämmchen? Selbst bei ihm warst du ein Wolf im Schafspelz.« Er drückte ihre Finger über der Pille zusammen. »Nimm sie, ich werde währenddessen versuchen, deine Lage zu verbessern.«
Was er genau damit meinte, ließ er offen. Seine Worte waren genauso undeutlich, wie die Unterschrift eines Arztes. Er blieb seinem Berufsstand in allen Dingen treu – naja, nicht ganz. Ob er den Arzteid wirklich so gewissenhaft auslegte, war fraglich.
Da er sie aber anschaute, als müsse sie den Deal mit der Einnahme der Tablette besiegeln, schluckte sie das Zeug. Er überzeugte sich – zu ihrer Verwunderung – nicht, ob sie ihm ihre Kooperation nur vorgaukelte, sondern ging einfach.
Sie spuckte die Tablette wieder aus und zerdrückte sie in ihrer Hand, bis nichts mehr davon übrig war. Übermüdet von den Ereignissen der letzten Tage würde sie so oder so Schlaf finden.
In der Nacht kam das Fieber. Ihr wurde heiß, dann wieder eiskalt. Verschwitzt wälzte sie sich auf dem Boden. Plötzlich schwebte sie in der Luft. Stöhnend versuchte sie ihre Umgebung zu fixieren. An ihrem Rücken spürte sie ein kühles Laken, dann wie jemand ihren Puls maß.
Alexander saß neben ihr, irgendwas sagte er zu ihr, denn sein Mund bewegte sich, aber sie konnte ihn nicht verstehen. In ihren Ohren piepte es unerträglich. Die Nacht war grauenvoll, aber der Tag wurde noch schlimmer, denn als sie ihre Augen aufschlug, saß der Arzt bereits neben ihr. Nicht Ivan. Nur er.
Der Mann packte sie an der Schulter, sein Griff war hart und schmerzhaft. »Du bist sein Eigentum, Maxi, und hiermit habe ich dich offiziell verwarnt. Solltest du weiterhin gegen Tom oder mich rebellieren, wird das bitterböse Konsequenzen für dich haben.«
Sie hob provokativ ihr Kinn an. »Wird er mich dann wieder zurück in die Resteverwertung packen, hm?«
»Nein, aus seinem Haus gibt es kein Entkommen. Du wirst bleiben. Aber die Art deines Aufenthalts könnte sich gravierend ändern. Finde lieber nicht heraus, was meine Funktion in dem System ist, ich bin hier eigentlich nicht als Helfer angeheuert.«
Sie sah ihn fassungslos an. »Nicht?« Ja, sie musste es zugeben. Sie hatte da schon eine leise Vermutung gehabt. »Und…«, sie schluckte, »was ist dein Aufgabengebiet?«
Er grinste sie unverschämt an: »Ich würde ja jetzt sagen, lass dich überraschen, aber ich werde mal den Spielverderber spielen, damit du erst gar nicht auf die Idee kommst, Detektiv sein zu wollen: Ich bin hier der Zuchtmeister.«
Maxis Augen wurden kreisrund. »Du arbeitest als...« Beinahe hätte sie Folterer gesagt. Aber das Wort kam ihr nicht über die Lippen. Was man nicht aussprach, existierte auch nicht. Ganz einfach. Ganz. Einfach! Kinderlogik. Maxi-Logik.
Sein Lächeln verschwand auf seinen geschwungenen Lippen. »Richtig erkannt, wenn ich es auch eher als Vermittlerarbeit sehe. Ich helfe, Informationen zu vermitteln. Person A möchte etwas von Person B. Und ich wiederum helfe, Person B zu überzeugen, es A zu sagen. Also«, er durchbohrte sie mit seinen Augen, die nun nicht mehr so weich aussahen, »wirst du dein Verhalten jetzt unverzüglich einstellen.« Er hatte seinen Satz nicht als Frage formuliert, es war eine direkte Aufforderung und Maxi nickte schnell. Aus dem Urlaub war schlagartig ein Horrortrip geworden.
»Ivan«, sie musste ihre Tonlage kontrollieren, damit diese nicht ins Kreischende abdriftete. »Lebt er noch? Oder hast du…habt ihr…?«
»Ach Maxi«, seine Stimme klang ehrlich pikiert, »du weiß nichts, nichts von dieser Welt und sollst dich doch darin zurecht finden. Du tust mir wirklich leid, Kleines.«
Kruzifix. Herrgott. Wenn man sie ließe, würde sie ja diese verkommene Welt ja auch gerne wieder verlassen, aber irgendein Idiot - Kosename: Bazillus Maximus - hatte sich ja entschieden, sie in diesem Paralleluniversum gefangen zu halten. Ihr ungewolltes Debüt war etwas holprig verlaufen und sie fremdelte doch stark mit den Gepflogenheiten jener zwielichtigen Gesellschaft, aber man hielt einfach an ihr fest – und sie sehnte sich doch nur danach, fallengelassen zu werden.
»Ich will doch nur wissen, ob es Ivan gutgeht.«
»Tom und seine Frau haben vor, mit dir eine Reise zu machen«, sagte Alexander ohne auf ihre flehentliche Frage einzugehen, »sobald es dir besser geht. Ich soll dafür sorgen, dass dies bald der Fall ist und dass du den neuen Sender nicht mehr entfernst.«
Wann? Das war die Frage, die ihr durch den Kopf raste und anscheinend auch in ihr Gesicht geschrieben stand.
»Oh«, Alexander lächelte schelmisch. »Du nimmst an, es sei erst ein Tag vergangen, oder?«
Hastig setzte sie sich auf, wurde aber von seinen Händen sanft wieder auf die Matratze gedrückt. »Nein, Maxi, deine mangelnde, ärztliche Begabung hat dich drei Tage im Fieberwahn gekostet. Zeit genug, dir einen neuen Sender zu verpassen und die Wunde zu nähen.«
Sie schnaubte. Sie hatte genug von Alexander, Tom und den Reisetouren. Aber da schien die kriminelle Organisation 1. Eine andere Meinung zu vertreten und 2.Andere Pläne zu haben.
»Bevor du wieder auf dumme Ideen kommst, Ivan wird auch mit von der Partie sein, aber nur, wenn du dich benimmst.«
Ivan. Der Schlüssel passte erneut ins Schloss. Plink. Sie war das liebste Mädchen auf der Welt. Eine Musterschülerin. Artig sank sie in das Bett zurück.
»Und Ivan…«, sie druckste herum, »kommt er freiwillig mit?«
»Wie sonst?« Alex verzog seine Augenbrauen. »Wie du? In Fesseln?« Er schüttelte seinen Kopf. »Ich wiederhole mich, aber deine Unwissenheit ist wirklich bedauernswert. Du erkennst die Zusammenhänge nicht, obwohl du im Mittelpunkt des Netzes stehst…«
»Solange ich die Spinne bin.«
»Die Fliege, mein Schatz, du bist die Fliege. Ivan ist die Spinne.«
»Tom ist nicht…« Moment mal?! Hatte sie sich verhört? Alexander hatte ausversehen den falschen Namen gesagt.
»Tom«, korrigierte sie ihn. Sie mochte seinen Fehler nicht einfach stehen lassen.
»Wie schon gesagt, du weißt nichts«, wiederholte er nur stoisch und zog seinen Versprecher nicht zurück. »Und jetzt ruhe dich noch ein bisschen aus.«
»Guten Morgen, die Dame«, erscholl Alexanders liebreizende Stimme, die in Maxi eine starke Übelkeit hervorrief. Sein Anblick war so wundervoll wie die Erwartung auf einen Zahnarztbesuch.
»Er wäre noch schöner ohne dich«, zischte sie und setzte sich auf. Sie mochte es nicht, wenn er sie so bedrohlich überragte.
»Nun ja, ohne mich hättest du diesen Morgen gar nicht erlebt, also sei nicht so undankbar.«
Maxi überlegte, ob sie den Arzt auf seinen enormen Denkfehler hinweisen sollte, aber sie bezweifelte, dass er genug Verständnis und Empathie aufbringen würde, ihren Standpunkt zu verstehen: Nämlich, dass sie nie krank geworden wäre, hätte man ihr keinen Sender eingepflanzt. Aber in seinen Augen war sie die Schuldige.
»Danke für Nichts«, murmelte sie, wobei sie den ersten Teil laut und deutlich und den Rest leise und kaum hörbar aussprach, sodass Alexander nur das „Danke“ vernahm.
»Bitte«, erwiderte er und grinste sie an. Dann reichte er ihr gewöhnliche Kleidung, die aus einem knielangen, grauen Rock, einem schwarzen Pulli und einer dicken Strumpfhose bestand.
Ratlos nahm sie das Dargebotene entgegen und wartete auf seine Erklärung, denn für die hohe Temperatur, die in dem Raum herrschte, waren das eindeutig zu warme Stücke.
»Wir fahren heute zum Flughafen, denn du bist meiner Meinung nach inzwischen wieder transportfähig.«
Transportfähig war ein passendes Wort, denn wie eine Reisende fühlte sie sich nicht, eher wie ein Stück Vieh, das verladen würde. Aber sie hatte seine Worte nicht vergessen. »Und Ivan? Wird er mitkommen?«
Alexander sah sie lange an. »Warst du denn brav genug?«
»Ja.«
Belustigt zog er seine Augenbraue hoch. »Ach, und vor wenigen Augenblicken, was war da? Ich weiß nicht, was eine größere Beleidigung ist, dass du denkst ich sei taub oder blöd«
Maxis biss sich auf die Unterlippe. Verdammt, er hatte ihr „Danke für Nichts“ wohl doch vollständig gehört. Besaß er Luchsohren, oder was?! Kein Mensch hätte das hören können. Ah, sie ertappte sich bei ihrem Denkfehler. Er war ja auch kein Mensch, sondern ein Monster. »Entschuldigung«, flüsterte sie heiser.
Er winkte ab. »Komm zieh dich an, wir müssen pünktlich am Flughafen sein.«
Nachdenklich schlüpfte sie in die Kleidung. Flughafen. Bedeutete das, dass sie fliehen konnte? »Zu welchem Flughafen fahren wir?« Sollte es ein Privatflugplatz sein, war ihre Hoffnung umsonst. Sie wollte lieber sofort als nachträglich enttäuscht werden.
»Ich nehme an, dich interessiert nicht die Architektur des Flughafens oder der Name, sondern, ob du von dort entkommen kannst«, fasste er ihre Fluchtgedanken nüchtern zusammen.
Sie sagte nichts dazu. Leugnen war zwecklos und jede Ausrede wäre sowieso unglaubwürdig gewesen. Das waren Profis, Menschenkenner, keine Idioten. Leider.
»Wir fahren tatsächlich zu einem öffentlichen Flughafen, aber zum Diplomateneingang, daher würde ich mir an deiner Stelle nicht so viele Chancen ausrechnen.«
»Diplomat? Wer von euch hat es denn dazu gebracht?«, fragte sie bissig und streifte sich als letztes Kleidungsstück den Pulli über.
»Ivan. Daher wird er auch mitkommen.«
Sie steckte erstaunt ihren Kopf durch die Pulliöffnung. »Was? Er?!«
»Ja, merkt man ihm gar nicht an, oder?«, kam die scherzhafte Gegenfrage.
»Wie so vieles nicht«, konterte sie und strich den Stoff glatt. Ihre Finger blieben an einem kleinen Aufnäher am Oberarm hängen. Verwundert neigte sie ihren Kopf und betrachtete das Patch. »Was…?«, entfuhr es ihr entgeistert, als sie das Symbol mit etwas Mühe entziffert hatte, »…soll das?«
»Das ist ein Blinden-Zeichen«, klärte er sie unnötigerweise auf.
Das sah sie auch. Oder noch? Was hatten die Verrückten vor? Wollten sie sie erblinden lassen? Ein heftiger Stich ging durch ihre Magengrube und das Gefühl, sich übergeben zu müssen, seit sie Alexander gesehen hatte, wuchs.
»Bitte…« Sofort schossen ihr Tränen in die Augen, während sie mit der linken Hand das Symbol auf ihrem Arm verdeckte. »Ich werde keine Schwierigkeiten machen. Versprochen.«
»Das wirst du nicht. Ich weiß«, sagte der Arzt, »weil ich dafür sorgen werde. Und nun komm, das Auto wartet bereits.«
Mit weichen Knien folgte sie dem Arzt durch die weitläufigen Gänge, die durch den Marmor kalt und abweisend wirkten. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse. Immer wieder musste sie heftig blinzeln, weil der Gedanke sie verfolgte, dass sie bald blind sein könnte.
Würden die Männer soweit gehen, um sie gefügig zu machen?
Eiskalte Luft schlug ihr entgegen, als man sie zum Auto geleitete. Aber selbst die eisigen Temperaturen erschienen ihr nicht so kalt, wie die Männer es waren.
Man drückte ihren Kopf nach unten und sie ins Auto hinein. Die Limousine bot Platz für zwei gegenüberliegende Bänke. Neben ihr nahmen links und rechts die gewohnt großen, bulligen Schränke Platz und keilten sie ein, während Alexander ihr gegenüber Platz nahm.
Unwohl mied sie den Blickkontakt mit dem Arzt, der sich als hauptberuflicher Folterer herausgestellt hatte.
»Wohin fliegen wir?«, startete sie einen zaghaften Versuch, aber sein knapper Zischlaut ließ sie sofort verstummen. Wie immer gab es keine Informationen für sie.
Die Fahrt dauerte für ihr Empfinden ewig lang und verging doch rasend schnell. Mit Panik und dem Schrecken, ihr Augenlicht zu verlieren, fuhren sie die Auffahrt zu dem Flughafen hoch.
Der Wagen hielt etwas abseits auf einem großen Parkplatz. Maxi konnte durch die getönten Scheiben weit entfernt das bunte Treiben des Flughafens sehen. Menschen in dicken Mänteln wuchteten Koffer durch den Schnee, Kinder hüpften aufgeregt herum oder schliefen in den Armen ihrer Väter oder Mütter. Doch was für viele ein Vergnügen oder auch ein Abenteuer war, war für Maxi der blanke Horror.
Alexander saß ihr ruhig gegenüber, während sie zwischen zwei Wachmännern eingeklemmt saß und verzweifelt ihre Augen an die Reisenden draußen heftete. Sie wusste, dass jetzt etwas schreckliches kommen würde. Es gab keine Zufälle, es war kein Versehen, dass sie genau diesen Pulli mit dem Zeichen trug.
Schwer atmete sie ein, dann aus. Sie zitterte.
»Ivan«, sie drehte leicht ihren Kopf, »wann kommt er?«
»Damit er dich rettet, Kleines?«, meinte der Arzt, während er seinen Koffer auf seine Knie wuchtete und öffnete.
»Ja«, ihre Stimmte hatte enorm gezittert. Keine Harfe konnte solche Schwingungen erzeugen, wie ihre Stimmbänder es gerade taten.
»Er wartet schon im Flugzeug auf uns.«
Sie sah Alexander mit großen, flehentlichen Augen an. »Das ist eine Lüge, nicht wahr? Bitte, ich will nicht blind werden. Bitte. Ich schwöre es bei meinem Leben, ich werde gehorchen und mit euch einsteigen, ohne Probleme zu machen!«
Nie war es ihr so ernst wie jetzt gewesen.
»Wo bleibt dein Humor?«, wollte der Arzt wissen, während er seinen Leuten zunickte, die Maxi brutal festhielten und in den Sitz pressten.
Gerade war ihr nicht nach Scherzen, sie war sich nämlich im Klaren darüber, dass dies auch durchaus ein Test sein konnte. Vielleicht wollte man ihren Gehorsam auf diese perfide Weise testen oder sie wirklich nur derart einschüchtern, dass sie sich kooperativ verhielt.
»Ich meine es ernst«, raunte sie und befeuchtete ihre trockenen Lippen mit ihrer Zunge. »Ich werde mich dieses Mal an alle Regeln halten.«
»Sicher«, meinte Alexander, »denn heute wirst du lernen, was es heißt, gegen uns zu rebellieren. Ich habe dir ja schließlich noch eine körperliche Strafe versprochen und die wirst du jetzt bekommen.«
Er beförderte eine kleine dunkelbraune Flasche aus der Tasche heraus. »Haltet sie gut fest.«
»Was? Nein!«, brüllte sie auf, aber ihre Körperkraft reichte nicht aus, um gegen die Muskelpakete anzukommen. Ein Ellenbogen drückte ihren Kopf in den Nacken und ihr gleichzeitig die Luft ab.
Alexander zog mit seinem Zeigefinger erst das linke, dann ihr rechtes Augenlider herunter und tropfte jeweils eine brennende Flüssigkeit hinein.
Maxi schrie wie am Spieß, bevor eine kräftige Männerhand ihren Mund verschloss. Sie wollte nicht blind werden, aber die Säure fraß sich durch ihre Augäpfel. Sie konnte es spüren!
Sie heulte, schluchzte, das Brennen wurde immer stärker. Ihr Kreislauf drohte zu kollabieren, doch bevor es dazu kommen konnte, beugte Alexander sich zu ihrem Ohr vor. »Jetzt übertreibst du es aber gewaltig, so schlimm ist das auch wieder nicht. Komm, öffne deine Augen, es ist nichts Schlimmes passiert.«
»Es brennt«, heulte sie, als man endlich ihren Mund wieder freigab.
»Nur ein bisschen, du Dramaqueen.«
Behutsam blinzelte sie, musste aber sofort wieder ihre Augen schließen, da selbst das dumpfe Licht im Wageninneren wie das grellste Fluchtlicht erstrahlte. Erschrocken presste sie ihre Augenlider wieder zusammen.
»Das Mittel weitet deine Pupillen extrem stark. Du wirst eine Zeitlang nichts sehen können, aber das ist ja auch der Sinn und Zweck. Aber…«, fügte er sanft und auch ein bisschen amüsiert hinzu. »Es ist reversibel, du wirst dein Augenlicht nicht dauerhaft verlieren. Das Medikament ist sicher, jeder Augenarzt setzt das ein. Meine Heulsuse.«
Augenblicklich wurde sie ruhiger. Beschämt tastete sie mit ihren Händen über ihre Wangen und wischte sich die Tränenspuren vom Gesicht. Es war ihr nun unglaublich peinlich. Es wäre ihr lieber gewesen, die coole Maxi hätte das Ruder an sich gerissen und nicht die hysterische Frau.
Sie hörte, wie alle im Auto lachten. Sie auslachten. Sie hatten sich wohl köstlich über ihre Höllenangst amüsiert, die fiesen Schufte.
»Das war gemein«, fluchte sie und versuchte, Alexander anzusehen, was ihr aber nicht gelang, da sie sich vorkam, als würde sie direkt in den Scheinwerfer eines starteten Jets schauen. Alles bestand nur aus Licht.
»Oh, das findest du schon gemein? Dabei sind wir zwei Hübschen doch noch gar nicht fertig miteinander.«
»Sollte der Titel nicht „Die Schöne und das Biest“ heißen? Ich weiß jedenfalls nicht, warum du von zwei Hübschen redest.« Jetzt, wo sie die Kontrolle über ihre Gefühle wieder hatte, trat auch ihr unbeugsamer Trotz wieder zum Vorschein.
»Schön, dass du mir jede Entscheidung so leicht machst«, lachte ihr Gegenüber und augenblicklich wurde ihr Kiefer aufgedrückt. Sie hatte keine Chance gegen den Schmerzreiz anzukommen, sodass sie fast automatisch den Mund öffnete. Ein kaltes, eklig schmeckendes Zeug wurde auf ihre Zunge gesprüht.
Maxi hustete, sie wollte dem Dreckskerl die nächste Beleidigung an den Kopf werfen, merkte aber, wie ihre Zunge immer pelziger und gefühlloser wurde. Sie brachte lediglich ein paar lallende Laute zustande.
»Endlich Ruhe«, scherzte Alexander. »Dann können wir ja los.«
Blind und stumm wurde sie aus dem Wagen bugsiert. Sie liefen durch Schnee, dann umfing Wärme und Flughafengeruch Maxi. Hilflos musste sie sich führen lassen. An eine Flucht war nicht zu denken, denn sie konnte einen bescheuerten Pfosten nicht von einem Menschen unterscheiden. Es wäre sicherlich nicht hilfreich, eine Säule um Hilfe anzuflehen oder schlimmer – mit voller Wucht gegen sie zu rennen. Sie würde sich als Erstes nur zum Gespött der Männer und später zu deren Bestrafungsobjekt machen.
Alexander, das geniale, aber schändliche Genie hatte ihr eine unsichtbare Augenbinde umgelegt.
»Guten Morgen, die Herrschaften und die Dame«, flötete einer serviceorientierte Stimme in Englisch. »Darf ich sie zu ihrem Flugzeug begleiten. Soll ich jemanden für ihr Gepäck holen?«
Maxi versuchte ihre tränenden Augen zu öffnen. Da stand ihre personifizierte Rettung und lächelte sie mit diesem künstlichen, nichtssagenden Lächeln an – was sie nur an einem weißen Fleck zwischen dunklen Umrissen erkennen konnte. Maxi mobilisierte alles, was sie hatte und stieß ein paar grunzende Laute aus, die selbst in ihren Ohren nicht schmeichelhaft, sondern nur dämlich klangen. Wie ein Wildschwein bei der Paarung.
»Das ist übrigens meine Cousine Natascha. Sie ist leider geistig behindert und zudem fast blind. Sie mag es nicht so gerne, wenn man ihre Sachen anfasst. Wissen Sie, sie ist da sehr eigen. Alles muss seine gewohnte Routine haben, sonst kann es sein, dass sie ausrastet«, stellte Alexander sie der Dame vor.
»Oh, was für ein schreckliches Schicksal. Und Sie kümmern sich um sie? Das finde ich ja reizend von Ihnen.«
Um Himmels Willen flirtete die jetzt mit ihrem Peiniger anstatt ihr zu helfen? War die Frau dämlich?
Maxi grunzte lauter und gestikulierte wie wild mit ihren Armen.
»Sehen Sie, das arme Ding wird schon ganz aufgeregt, weil eine Fremde in der Nähe ist«, sagte Alexander mitfühlend, »wir sollten uns daher beeilen.«
»Natürlich.«
Was? Nein, nichts natürlich. Maxi wollte auf die Frau zu stolpern, wurde aber von einem Schemen, der sich als Alexander entpuppte, abgefangen. Er sagte irgendwelche beruhigenden Worte auf russisch, ehe er ihr in ihrer Sprache ins Ohr zischte. »Benimm dich, oder ich schneide dir die Zunge raus. Dann hast du ein Grund, zu heulen.«
Augenblicklich wurde Maxi ruhig. Sie nickte dem undeutlichen Umriss zu.
»Komm, Mäuschen«, säuselte er und nahm sie bei der Hand. Widerstandlos ließ sie sich von ihrem führen, während sie der grauenvollen Flirtoffensive der Check-in-Dame lauschen musste.
»Ich finde das ja großartig, wie Sie sich um sie kümmern. Es ist bestimmt sehr schwer.«
»Das ist es«, seufzte der Arzt und Maxi konnte deutlich heraushören, dass er es in diesem Fall sogar ernst meinte. »Aber was tut man nicht alles für die Familie.«
»Oh ja«, kicherte die Dame übertrieben. »Aber Sie müssen halt ein besonders großes Herz haben.«
Ein großes Herz? Maxi kotzte innerlich. Der Typ war ein großer Psychopath. Dazu unglaublich gerissen. Aber er besaß sicherlich kein großes Herz, an dem Fleck war höchstens eine mechanische Eisenpumpe.
»So, hier wären wir. An ihrem Gate. Da sie mit einem Diplomaten fliegen, können sie ihr Gepäck gleich mitnehmen.«
»Danke, sie waren eine bezaubernde Begleitung«, sagte Alexander so charmant, dass Maxi nicht mehr an sich halten konnte und Würggeräusche imitierte.
»Geht es ihr nicht gut? «, wollte die Dame besorgt wissen, »soll ich vor dem Abflug noch irgendwas besorgen?«
»Nein, nein, nicht nötig«, beruhigte er sie und knuffte Maxi unauffällig, aber schmerzhaft in die Seite. »Sie fliegt nicht gerne.«
»Oh okay. Dann wünsche ich ihnen einen guten Flug.«
»Danke«, verabschiedete Alexander die Frau, dessen Stöckelschuhschritte sich bald darauf entfernten.
Maxi lauschte den verklingenden Schritten wehmütig. Da lief sie weg, ihre einzige Rettung. Und das Einzige was sie hervorbrachte, war der Paarungsruf eines Ebers.
»Endlich sind wir ungestört«, meinte Alexander lakonisch, als er sie das Gate hoch in das Flugzeug führte »und ich muss nicht mehr den fürsorglichen Onkel spielen.« Wie um seinen Worten Taten folgen zu lassen, gab er ihr einen Klapps auf den Hinterkopf. »Aber keine Sorge, ich vergesse nicht, Kleines. Ich merke mir dein Fehlverhalten genau, das nächste Mal werde ich dir nicht so viel Komfort gewähren. Denn das nächste Mal sitzt du gelähmt im Rollstuhl. Du blöde Kuh.«
Sie stieß wieder seltsame, skurrile Laute aus, doch plötzlich nahm sie einen vertrauten Duft wahr. Sie schnupperte. Und dann war da seine samtig dunkle Stimme. »Maxi, meine Maxi.«
Sie wäre ihm gerne in die Arme gefallen, aber sie konnte ihn und seinen Standort nicht sehen. Suchend drehte sie ihren Kopf. Sie kam sich wie damals als Kind vor, als sie von einer übereifrigen Mutter genötigt worden war, blinde Kuh zu spielen. Schon damals hatte das Kindergeburtstagsspiel ihr nicht gefallen.
»Hier bin ich, Blindschleiche«, neckte er sie, was sie überhaupt nicht lustig fand und daher erzürnt schnaubte.
Plötzlich legte sich seine (?) Hand auf ihre Schulter und sie zuckte unwillkürlich zusammen. »Hey«, erscholl seine Stimme ganz dicht neben ihrem Gesicht, sodass sie nun auch annahm, dass es sich tatsächlich um seine Hand handelte.
Sie verzog ihre Mundwinkel säuerlich und aus dem Off kam Alexanders ungeliebte Stimme. »Ivan, genieß die paar Minuten Stille noch, bald müsste die Betäubung nachlassen und ich schätze mal, Maxi möchte dir dann ganz viel erzählen…«, er lachte rau, »…oder an den Kopf werfen.«
Ah. Alexander kannte sie inzwischen schon zu gut. Denn tatsächlich braute sich in ihrem Gehirn schon ein Wortgewitter zusammen, dass sich über Ivan entladen wollte.
»Hier«, er schien Ivan irgendwas zu reichen, was sie nicht erkennen konnte, denn ihre Umgebung bestand weiterhin aus Licht und Schatten. »Wenn sie später den Mund nicht hält, einfach knebeln.«
Maxi knurrte den Schatten an, den sie für den Arzt hielt. Doch jener klopfte ihr nur gutmütig auf den Rücken. »Der Flieger startet gleich. Setzt euch. Und Ivan pass auf, dass sie nicht einschläft, da sie noch kein Gefühl in ihrer Zunge hat, könnte sie sonst ersticken.«
»Ich pass schon auf«, erwiderte der Halbrusse und geleitete Maxi zu einem Sitz, den sie mühsam ertastete, ehe sie sich darauf fallen ließ.
Ungeduldig nestelte sie an ihrem Sitzgurt, den Ivan über ihrer Hüfte festzog. Sie wollte ihm so viele Fragen stellen, nur ihre Zunge hielt weiterhin ein Nickerchen, anstatt endlich wieder funktionieren zu wollen. Faules Stück.
»Schön, dich wiederzusehen«, murmelte er, als er auch endlich neben ihr saß und ihr das Haar aus der Stirn strich.
Sie wich etwas zurück, denn er sollte spüren, dass sie sauer auf ihn war, auch wenn sie ihm das noch nicht ausreichend artikulieren konnte. Aber die Zeit würde kommen, denn die Oberfläche ihrer Zunge begann schon, zu kribbeln. Und dann! Dann würde er etwas erleben. Sie würde ihn mit Fragen löchern und mit Vorwürfen bombardieren. Schließlich hatte er sie wochenlang ihrem Schicksal überlassen…
»Maxi«, er stupste sie an, »nicht einschlafen!«
Erschrocken riss sie ihre Augen auf, musste sie aber gleich wieder schließen, da das Innenlicht empfindlich in ihre Augen stach. Sie war tatsächlich über ihre Rachepläne eingeschlafen.
Müde rieb sie über ihre Augen. »Ich hab nicht geschlafen«, log sie. Und als nächstes: »Ich kann wieder sprechen!«
»Nicht mehr lange«, erscholl es im zynischen Tonfall und Maxi brauchte kein Augenlicht, um Tom als Sprecher zu identifizieren. Sie hatte seine Anwesenheit entweder komplette vergessen oder ignoriert. Aber sie erinnerte sich wieder daran, dass Alexander seine Mitreise ja ebenfalls angekündigt hatte.
»Sie wird nicht geknebelt«, entschied Ivan schroff, »oder Maxi? Du wirst nicht nerven.«
Das war natürlich eine gemeine Fangfrage, denn was sollte sie schon darauf antworten? Nein, ich liebe den Geschmack von Plastik in meinem Mund. Oder etwa: Mhm. Ein bisschen Kieferschmerzen, wie wunderbar, nur her damit.
»Nein, ich werde nicht…« Maxi, hämmerte ihr Verstand auf sie ein, zügle bitte einmal deine Impulsivität und bringe uns nicht in Schwierigkeiten. Sie schluckte ihren Zorn und Stolz hinunter. »Nerven.«
»Siehst du?«, rief Ivan dem Boss zu.
»Sehen? Ich hoffe, nichts von ihr zu hören. Aber gut, sie soll ihre Chance bekommen.«
»Ivan«, flüsterte sie heiser, »wenn wir landen und alleine sind, schuldest du mir sehr, sehr, sehr viele Antworten.«
»Dann sollten wir zwei nicht alleine sein, nicht wahr?«, spottete er sanft und fuhr mit seinen Fingern ihre Kinnlinie nach. »Was hältst du von Alexander als nette Gesellschaft?«
Sie hielt davon so viel wie ein Bischof vom Teufel. »Darauf kann ich verzichten.«
»Dann solltest du auch auf deine Fragen verzichten«, riet er ihr und sein Zeigefinger berührte ihre Lippen.
Blind drehte sie ihm ihr Gesicht zu. »Wer bist du?«
Er drückte sanft mit dem Fingernagel in ihr weiches Lippenfleisch. »Die Frage ist, Maxi, wer bist du für mich?«
»Jemand, den du anscheinend nicht loswirst.«
»Pessimistisch, Schatz, du bist sehr pessimistisch«, tadelte er sie, doch zeitgleich drückte er sie an sich. »Und was soll ich sagen, ich habe es vermisst. Mein Leben war viel zu optimistisch. Manche von uns finden ihr Glück nur im Unglück.«
Sie war also seine persönliche Misere? Schön, da ergänzten sie sich ja in ihren Hobbies. »Da wir uns nun einig sind, der Sargnagel für den anderen zu sein. Würde ich jetzt gern wissen, was für ein Sarg-Typ du bist?«
»Dunkel und schwer.«
»Ich bin eher der Nagel für Weichholz…«
»Wir verbiegen dich schon, bist du passt«, lachte er sanft, aber eine dunkle Gefährlichkeit schwang in seinen Worten mit. Er ähnelte überraschenderweise immer mehr den Bossen, die sie auf ihrer Reise bereits kennengelernt hatte.
»Willst du wie dein Bruder werden?
»Nein, will ich nicht.«
Erleichtert atmete sie auf, bevor er hinzufügte. »Ich will besser werden.«
»Was?!«
»Besser als er. Und du wirst mir dabei helfen…« Seine Hand strich zärtlich über ihre Kehle.
»Ich?«
»Ja, du. Tom will dich haben und ich habe ihm alle Rechte an dich abgetreten. Jetzt müssen wir uns nur noch auf die Jagd begeben, um seine und deine Feinde zu vernichten. Denn was nutzt ihm ein Schmuckstück, dass er nicht zeigen kann, wenn er befürchten muss, dass es beschädigt wird.«
»Was?« Das waren die einzigen drei Buchstaben, die sie herausbrachte. Über ihrem Kopf stürzten die Trümmer der letzten Hoffnung zusammen.
»Das hört sich bestimmt kaltherzig an, aber mein Bruder hat ein Chaos hinterlassen. Und wenn mein Clan überleben soll, brauche ich Toms Hilfe – und man erfüllt ihm seine Wünsche besser, wenn man ihn auf seiner Seite haben will.«
»Aber er liebt mich nicht…«
»Es geht doch nicht um Liebe, Maxi. Es geht darum, dass du etwas bist, was er begehrt.«
»Aber ich dachte…«, sie schluchzte heftig, »dass du mich…« Sie konnte das Verb nicht aussprechen. Es lag ihr brennenden, aber auch falsch auf der Zunge.
»Dass ich dich liebe?«
Sie schwieg.
»In meiner Geschäftswelt wird mit Toten und Waffen bezahlt, nicht mit Liebe. Das ist keine gute Währung.«
»Aber…du…«, sie brach ihr Gestammel ab, dann straffte sie ihre Schultern, richtete sich auf und hob stolz ihr Kinn an. Wenn sie mit etwas in ihrem Leben umgehen konnte, dann waren das Enttäuschungen. Ein Mann mehr oder weniger, der sie betrog, war nun auch kein Drama. Sie krallte ihre Finger in die Polster der Lehnen. Nein, kein Drama.
»Weißt du«, sagte sie kalt, »es wäre mir lieber gewesen, du wärst früher mit der Wahrheit herausgerückt, anstatt mich derart auflaufen zu lassen. Und ich Idiotin, habe mir Sorgen um dich gemacht. Dabei hast du nu darüber nachgedacht, wie du dein Syndikat beschützen und ausbauen kannst. Wie praktisch, dass ich da in dein Planungskonzept gepasst habe.«
»Maxi«, erhob er beschwörend seine Stimme, aber sie fuhr ihm unwillig über den Mund.
»Ich will nichts mehr hören, du bist für mich gestorben.«
Ivan presste seine Lippen aufeinander, er schien irgendwas sagen zu wollen, doch dann stand er ruckartig auf und ging.
»Oh, Ärger im Paradies« Tom ließ sich ungefragt neben ihr nieder. Langsam gewann Maxi an ihrer Sehkraft zurück. Grobe Gesichtszüge konnte sie bereits erkennen, nur für Details fehlte ihr noch der Blick. »Ich schätze, er hat dir gesagt, dass er dich nicht retten wird.«
»Dass hast du doch eingefädelt«, knirschte Maxi mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ja, das habe ich äußert geschickt eingefädelt«, lachte er laut, »und dass, obwohl ich gar nicht nähen kann.« Er reichte ihr eine Colaflasche. »Ivan ist kein Mann, den man als Gegner haben will. Ich musste also etwas finden, was ihm mehr am Herzen liegt, als du es tust.«
»Und da hast du an sein Ehrgefühl als neuer Boss seines Clans appelliert anstatt an den Gentleman in ihm.« Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass sie Ivan derart schnell unwichtig geworden war. Und sie war auch ziemlich gekränkt. Schließlich wurde man nicht alle Tage von seinem Held verkauft. Man stellte sich eine solche Geschichte in Hollywood vor: Held rettet Mädchen. Mädchen und Held verlieben sich. Held fällt am Ende der Story ein, dass er doch lieber zu den bösen Kerlen gehören will und bringt Mädchen zurück zu den Kriminellen. Ende. Das wäre ein Flop. Nur in ihrem eigenen Leben war dieser Film kein Reinfall, sondern eine Erfolgsgeschichte – ausgenommen für sie selbst. Naja, wenigstens brachte sie Zufriedenheit in deren beschissenes Leben. Neues Geschäftsmodell: Rivalisierende Banden Zusammenführung by Maxi. Maximaler Erfolg.
Sie trank die kühle Cola fast in einem Zug leer, schließlich war sie stocksauer, da tat etwas Abkühlung gut.
»Sei ihm nicht böse«, meinte Tom und verschränkte lässig seine Hände hinter seinem Nacken und streckte die Füße aus. »Am Ende hat er sich richtig entschieden. Ich habe ihm keine Wahl gelassen und besonders Claire war dagegen, dass du bei ihm bleibst. Sie fand es besser, dich im Augen zu behalten.«
»Claire?« Irgendwie verschwand die Frau immer wieder von Maxis Radar, dabei schien sie eine Person zu sein, die man besser nicht vergaß.
»Ja. Sie sieht in dir eine große Gefahr, denn inzwischen bist du zu sehr mit unseren Strukturen vertraut, als dass man dich je wieder gehen lassen könnte. So eine Dummheit könnte nur einer begehen…«
»Ivan«, wisperte sie und suchte mit ihren Augen nach dem Halbrussen, der weiter vorne Platz genommen hatte und finster zu ihnen rüber starrte.
»Ja. Genau. Mir fehlt diese romantische Ader, ich will Schönheit besitzen, nicht lieben. Daher wird dein Platz an meiner Seite sein.«
»Und wenn ich nicht will?«
»Niemand fragt dich, Maxi«, erwiderte er trocken.
Das kam ihr bekannt vor. Schon ihre Eltern hatten sie nie gefragt, was sie wollte. Ihre Bedürfnisse waren schon ihrer Kindheit übergangen worden. Sie hatte daraufhin ihre ganz eigene Art entwickelt, das zu bekommen, was sie wollte: Schlechte Laune und ein Geschrei, was 130 Dezibel locker übertraf.
Tom musterte grinsend ihren entschlossenen Gesichtsausdruck. »Mhm. Ich kann dir ansehen, was du denkst, aber ich bin schon mit ganz anderen Kalibern fertiggeworden. Da schaff ich ein Mädchen, dass immer noch in der Pubertät steckt, locker.«
»Daran ist auch schon mein Vater gescheitert«, giftete Maxi und drückte ihr Kreuz durch.
»Ich bin aber nicht dein Vater und auch nicht der Weihnachtsmann, ich verteile keine Geschenke, höchstens die Rute.«
»Und in dich war ich mal verliebt?« Maxi schüttelte ihren Kopf. »Sorry, was für eine Geschmacksverirrung meinerseits.«
»Ich unterbreche nur ungern dieses liebreizende Geturtle«, meinte Alexander und beugte sich zu Tom herunter. »Aber wir haben einen Anruf über das Satellitentelefon bekommen.«
Tom nickte Maxi gespielt freundlich zu. »Du entschuldigst mich…« Dann stand er auf.
Zurück blieb Maxi, die ihre Wange gegen das kalte Fenster lehnte und der aufkommende Dunkelheit entgegenblickte. Sie nickte ein, bis eine Hand behutsam ihren Arm entlang strich. Müde und mit flatterten Augenlidern sah sie zu Alexander auf. »Wir landen«, sagte er, »auf dich wartet wieder deine Rolle als behinderte Cousine.«
Keine schöne Aussicht – im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie würde bald wieder ihrem Sehsinns beraubt sein. »Ich kann das auch gut schauspielern«, schlug sie ihm halbherzig vor, »dann sparst du Materialkosten.«
»Sehr umsichtig von dir, meine Unkosten im Blick zu haben«, scherzte er zurück, »aber mich kommt es noch teurer zu stehen, wenn du uns auffliegen lässt.«
Seine Rechnung ging wohl auf, denn so ganz abgeneigt war sie dem Gedanken nicht, ein solches Theater zu veranstalten, dass der ganze Flughafen zusammenlief. Jetzt, wo sie wusste, dass auch auf Ivan kein Verlass mehr war, musste sie wieder auf ihre Fähigkeiten bauen.
Sie war schon immer alleine klar gekommen. So würde es auch dieses Mal sein.
»Darf ich bitten«, fragte Alexander zu ihrer Überraschung beinahe freundlich und wartete, bis sie bereit war. Dann tropfte er ihr die Flüssigkeit in die Augen. Es brannte viel weniger, nachdem Maxi nun wusste, dass es keine Säure war.
»So brav?«, hakte er misstrauisch nach, als sie ihm sogar artig den Mund öffnete und ihre Zunge willenlos besprühen ließ.
»Ich habe doch keine andere Wahl«, erwiderte sie noch rasch, bevor ihre Artikulationsfähigkeit auf das Niveau eines Regenwurms fiel.
»Als hätte dich der Umstand je davon abgehalten, Blödsinn zu machen«, kommentierte er ihre Antwort und runzelte seine Stirn. Er traute ihr nicht. Zu recht.
Sie hatte nichts mehr zu verlieren.
Held rettete Mädchen. Held und Mädchen verlieben sich. Held entscheidet sich, Mädchen zu verraten. Mädchen beschließt, dem Held ordentlich in die Eier zu treten.
Eine kleine Warnung! Die nächsten zwei Kapitel werden deutlich düsterer! Lena und Kleine
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Das Austeigen aus dem Flugzeug erwies sich für Maxi als so kompliziert, dass sie schnell wieder ganz kleinlaut bezüglich ihrer imaginären Fluchtpläne wurde. Sie sah absolut gar nichts! Die Sonne war hier so viel heller, greller und erbarmungsloser, dass sie ihre Lider nicht einmal einen Millimeterbreit öffnen konnte.
Ein hämisches Lachen erfüllte ihre Ohren und dann erklang Alexanders Stimme: »Tja, anders als du es geplant hast, nehme ich an?«
Sie murrte unverständliche Worte, die zu quakenden Lauten wurden, als sie ihre Lippen verließen.
»Im Wagen wird es besser werden und wenn du höflich fragst, gebe ich dir vielleicht auch eine Sonnenbrille.«
Höflich fragen. Er beliebte zu Spaßen. Lieber verreckte sie am Sonnenlicht, als dass sie den Dreckskerl um eine Sonnenbrille bat. Außerdem blieb ihr so, seine Visage erspart. Schade nur, dass sie ihm das alles nicht direkt ins Gesicht sagen konnte. Die bescheuerte Betäubung erzwang einen geduldigen Aufschub ihrer Wut – und sie war doch so gar nicht darin geübt, einen Moment innezuhalten. Innerlich platzte sie gleich.
Eine fremde Stimme ließ Maxi aufhorchen. »Hier entlang. Hier ist der Diplomatenausgang. Die Papiere bitte.«
»Bitteschön.«
»Der Pass gehört zu ihrer Cousine?« Maxi wurde aufgeregt. Hörte sie da etwa Zweifel heraus? Sollte sie den Kopf schütteln und so die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie wurde immer nervöser. Ihr blieben höchstens noch ein paar Sekunden, die wie Wasser zwischen ihren Fingern zerrannen, um eine folgenschwere Entscheidung zu treffen.
»Ja. Hier überzeugen sie sich.« Papier raschelte.
Maxi zwang gewaltsam ihr linkes Auge auf, um die Situation etwas besser einschätzen zu können. Vor ihr saß ein kleiner, dicker Mann. Auf seinem Tisch lagen Pässe und ein riesiger Batzen Geld. Maxi wurde schlagartig klar, dass es sich um Bestechungsgeld handelte. Hier konnte sie ihre Pläne also endgültig begraben.
»Ja. Sieht authentisch aus. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.«
Nein. Nein. Nein. Das gab es doch nur in Filmen, das passierte doch nicht in der Realität! Maxi wollte es einfach nicht glauben, musste es aber, als sie unbehelligt durch die Schleuse durften.
Kaum verließen sie den klimatisierten Flughafen raubte ihr die staubige Hitze den Atem. Gefühlt befand sie sich in einer Trockensauna. Torkelnd ließ sie sich durch die Gegend führen und war heilfroh, in einem etwas kühleren Auto Platz nehmen zu dürfen.
Kannten ihre Entführer denn wirklich nur die Extremen? War sie gerade aus dem eiskalten Sibirien gekommen, wurde sie nun in der Wüste gebraten. Das Schwarz-Weiß-Denken ging ihr gehörig auf den Keks. Sie stand eher auf die ausgeglichenen Typen – die aber anscheinend nicht auf sie. Was war denn mit ihrer Ausstrahlung nicht in Ordnung, dass sie immer diese irren Männer anzog? Und jetzt hatte sie gleich drei Stück an der Hand und ob Alexander, der Folterer, Tom, der Syndikatboss oder Ivan, der Verräter, sich nun viel in ihrer abartigen Persönlichkeit nahmen, bezweifelte sie.
Sie schwitzte ziemlich, während der Jeep über die Dünenlandschaft fegte. Und hier sollten ihre Feinde leben? Lustig fand sie ja, wie die Männer ihr Problem, zu ihrem gemacht hatten. Soweit sie wusste – und da war sie sich ganz, ganz sicher – hatte sie solange keine Gegner gehabt, bis Tom in ihr Leben getreten war. Und jetzt waren es also ihre Feinde. Das mit der Verantwortungsübernahme musste die Herren unbedingt noch lernen.
Wenigstens kehrte langsam wieder Gefühl in ihren Rachenraum zurück und auch die Empfindlichkeit ihrer Augen ließ nach. Aber was sie als besonders befriedigend empfand, war, dass sie den Arzt nicht um eine Sonnenbrille angebettelt hatte. Auch wenn ihre Augen beim Öffnen noch tränten.
»Hier, trink«, befahl Alexander neben ihr und reichte ihr eine Wasserflasche. »Wir sind noch etwas länger unterwegs und es ist verdammt heiß.«
»Heiß? Ich nenne das wohltemperiert«, sagte sie sarkastisch und schob seine Hand zurück. Denn sie musste bereits jetzt auf die Toilette und wollte den Druck nicht auch noch verstärken. Und soweit sie die karge Landschaft überblicken konnte, gab es hier keinen einzigen Strauch oder Baum, der genug Privatsphäre bieten konnte – und eine perverse Peep-Show wollte sie den Anwesenden nicht gönnen.
Alexander grinste unverschämt, als sein Blick zu ihren zusammengepressten Oberschenkeln glitt. »Ich verstehe«, sagte er leicht lachend und packte die Wasserflasche weg. »Aber wir sind, wie schon gesagt, noch eine Weile unterwegs. Ich bezweifle, dass du das durchhältst, also kannst du ruhig trinken.«
»Ist das eine Challenge?«
Alexander zwinkerte ihr gutmütig zu. »Eher eine unverbindliche Empfehlung.«
Als sie ihre schmerzenden Augen hob, konnte sie Tom und Ivan, die ihnen gegenübersaßen, ebenfalls dreist grinsen sehen.
Schön, dass sich jeder auf ihre Kosten amüsierte. »Nein, Danke. Ich bin nicht durstig«, gab sie vor, während ihre Zunge schon an ihrem trockenen Gaumen klebte. Sie kurbelte das Fenster etwas herunter und genoss den Fahrtwind auf ihrem Gesicht. Doch irgendwann beugte sich Alexander über sie herüber und schloss das Fenster wieder. »Man merkt, dass du nicht viel gereist bist«, seufzte er, »sonst wüsstest du, dass du dir deine Haut innerhalb kurzer Zeit verbrennen kannst.«
»Oh, nein. Darin bin ich Expertin«, sie sah erst Tom und dann Ivan direkt in die Augen, als sie weitersprach, »ich hab mir bereits die Finger an ein paar Männern verbrannt. Mit Brandwunden kenne ich mich daher sehr gut aus.«
Ivan drehte rasch seinen Kopf weg und schaute aus dem Fenster, während Tom zufrieden schmunzelte. Er gefiel sich augenscheinlich in der Rolle des Arschlochs.
»Wohin fahren wir?«, wechselte Maxi das Thema, ohne wirklich auf eine Antwort vorbereitet zu sein. Um so überraschter war sie, als Tom sich wirklich herabließ, ihr Informationen zukommen zulassen. »Zu einem Ableger von…«, er machte eine bedeutsame Pause und Maxi verfolgte mit gerunzelter Stirn mit, wie Ivan nervös seine Finger knetete, »Ivans Clan.«
Tom genoss, wie Maxi ungläubig ihre Augen aufriss und fuhr weiter: »Ivan hat sich durch den Mord an seinem Bruder an die Spitze einer nicht unerheblich großen Organisation katapultiert. Er muss nun Ansprüche gelten machen.« Toms Mundwinkel verzogen sich weiter nach oben, bis es fast grotesk aussah. »Und das verdankt er allein dir. Aber manchmal…«, er legte seine Hand freundschaftlich auf Ivans Schulter ab, »habe ich das Gefühl, dass er sich gar nicht über seine neue Position freuen kann.«
Sie verdankte Ivan auch ganz viel: Neue Erfahrungen, auf die sie gut und gerne verzichten konnte. Da war es nur fair, dass er auch ein bisschen litt. Und außerdem, sie hatte den Mord an seinem Bruder schließlich nicht in Auftrag gegeben. Das war allein seine verfluchte Entscheidung gewesen.
»Kriege ich Provision für die erfolgreiche Vermittlung der neuen Stelle?«, wollte sie zynisch wissen und fixierte Ivan mit ihren Augen, der aber weiterhin den Blickkontakt zu ihr mied. »Es muss auch kein Geld sein. Ich würde mich auch mit einer Freistellung zufrieden geben.«
»Du bekommst doch schon bezahlten Urlaub«, konterte Tom, »all inclusive. Das ist doch besser als eine unbezahlte Freistellung.«
»Bezahlt?!«, echote sie zornig, »ja, ich bezahle mit meinem Leben, ihr investiert nichts.«
»Nein, wir schenken dir dein Leben, du verwechselt da etwas.«
Wütend darüber, wie er die Tatsachen verdrehte, verschränkte sie ihre Arme vor der Brust und schnaubte. »Ich dachte, du bist nicht der Weihnachtsmann und machst auch keine Geschenke.«
»Oh, Maxi. Du bist witzig. Ehrlich. Ich mag dich. Das wird aber nichts daran ändern, dass ich dir früher oder später Manieren beibringen muss. So bist du nicht vorzeigbar, da blamiere ich mich ja bei meinen Kollegen.«
Aus dem Augenwinkel sah Maxi, wie Ivan bei Toms letzten Worten leicht zusammenzuckte. Konnte sie in seiner Haltung etwa Unbehagen herauslesen? War es ihm gar nicht so recht, dass Tom sie als Tauschobjekt gefordert hatte.
Die Hoffnung, die bereits zertrümmert vor ihr gelegen hatte, baute sich wieder auf.
Nach einiger unendlichen Ewigkeit, die mit einer vollen Blase noch viel unendlicher erschien, hielten sie vor einem schmucklosen Steinbau, im Stil eines Atriumhauses, welches an einer kleinen Oase lag.
»Das ist das Zwischenlager, hier rasten wir«, wurde sie sogar weiterhin über die Situation aufgeklärt. Hatten die Jungs etwa Wahrheitsserum geschluckt oder warum wurde sie so großzügig mit Informationen versorgt.
Die brütende Hitze ließ Maxi unter den Wollsachen kläglich schwitzen, als sie zu dem Eingangstor liefen, wo man sie bereits erwartete. Doch Maxi hatte keine Ruhe für die Details ihrer Unterkunft, sie interessierte einzig und allein, wo die Waschräume waren und wie sie da möglichst zügig hinkam.
Hibbelig stand sie neben Alexander, der ein Einsehen mit ihrer Situation hatte. Unauffällig zog er einen Mann heran, der zum Empfangskomitee gehörte. »Die Sklavin möchte sich frisch machen, wo ist das möglich?«
Charmant. Charmant, dachte Maxi, der Arzt konnte ja richtig höflich sein, wenn er wollte. Er würde einen guten Liebhaber ausmachen, leider war er nur auf die schiefe Bahn geraten.
Der junge Mann nickte verstehend und führte Maxi zusammen mit zwei weiteren Wachen, was sie etwas übertrieben fand, sie war schließlich keine Amazone, die jederzeit etliche Männer mit einem Hieb niederstrecken konnte, zu einem fensterlosen und nicht verriegelbaren Bad.
Sie fand das Bad trotzdem himmlisch. Sie beeilte sich, denn sie hatte nicht vor, die anderen warten zu lassen. Unnötige Bestrafung heraufzubeschwören, war im Moment nicht ihr Plan. Sie musste sich erst einmal einen Überblick über die Lage hier verschaffen.
Als sie heraustrat, stand ihre dreier Eskorte schon bereit. Sie wurde zu ihren Entführern zurückgebracht und dort einem bärtigen Mann übergeben, der anscheinend die Aufsicht in diesem Haus hatte.
Der bärtige Mann mit den Bernsteinaugen zeigte auf Maxi: »Soll sie in die Sklavenräume?«
»Nein«, sagte Ivan.
»Ja«, sagte Tom und hielt Ivans bitterbösen Blick stand. Der schließlich abwinkte. »Ja, bring sie dahin, aber behandele sie gut, wie ein Gast, ich möchte später keine einzige Blessur an ihr finden.«
»Klar, Boss.«
»Ausziehen«, forderte der Mann und gähnte gelangweilt. Für ihn war das wohl Routine – und für Maxi immer noch nicht. Obwohl ja alle stets bemüht waren, ihr das beizubringen, wie sie zynisch dachte.
»Aber…«
»Hier brauchst du sowieso keine Kleidung, es ist zu heiß für Wollstrümpfe und Pulli.«
Sie klammerte ihre Hände in den Stoff. »Aber abends soll es hier doch bitterkalt werden.«
»Abends bist du im Bett, um 20 Uhr ist in den Sklavenräumen Nachtruhe, da bekommst du eine Decke.«
»Ich bin eher der Typ Nachteule«, versuchte sie zu verhandeln. Doch ihr Gegenüber blieb ungerührt. »Das wird sich hier ändern.« Er winkte ihr auffordernd und gereizt zu. »Brauchst du Hilfe oder geht es auch alleine?«
Da sie bezweifelte, dass sein Hilfsangebot freundlich gemeint war, streifte sie die Kleidung langsam ab.
»Schneller.«
Toll. Noch ein Typ, der ungeduldigen Sorte.
»Dachte, du willst es vielleicht genießen«, meinte sie spitz, erntete aber nur einen scharfen, warnenden Blick. Humor hatte er wohl auch nicht.
»Weiter«, forderte er knapp, als sie in Unterwäsche vor ihm stand.
»Ähm? Jetzt dürfte mir nicht mehr heiß sein. Das reicht mir vollkommen.«
»Hier ist keine Kleidung erlaubt, die Sklaven sollen keine Chance haben, Waffen oder andere gefährliche Gegenstände in ihrer Kleidung verstecken zu können.«
»Sorry. Mein Waffenarsenal habe ich zu Hause vergessen. Also kann ich bitte die Unterwäsche anlassen?«
»Kannst du, aber dann wird es unschön für dich.«
So? Glaubte er, dass sie schwerhörig war. Sie hatte genau gehört, wie Ivan ihm befohlen hatte, ihr kein Haar zu krümmen. Vielleicht sollte sie es darauf ankommen lassen, ob er wirklich gehorsam war und ihr nichts antat. Sie war gerade in der richtigen Laune, es auszuprobieren. Dann würden sie vielleicht beide eins auf die Fresse bekommen. Das wäre es ihr wert. »Dann bevorzuge ich es, die Unterwäsche anzulassen.«
Aber der Typ war schlau. »Klar. Deine freie Entscheidung. Dann muss ich dich leider aber in unserem Keller anketten. Gefahrenquellen müssen unschädlich gemacht werden.«
»Ich nehme an, im Keller ist es schon kühl, oder? Wäre also eine Option.«
»Ja, und du wärst auch in netter Gesellschaft mit ein paar hungrigen Ratten, Spinnen und Käfern. Du magst doch Tiere, oder?«
So schnell hatte sie sich noch nie entblättert. Sie stand jetzt vollkommen nackt vor ihm und schämte sich.
Überrascht über ihre plötzliche Kooperation lachte der Mann. »Mir scheint, du bist nicht an tierischer Gesellschaft interessiert.«
»Mir reicht es schon, die Männer an der Backe zu haben. Da kann ich auf weiteres Getier gerne verzichten.«
Die Miene des Mannes wurde dunkel. »Beleidige nicht unseren Boss, das steht dir nicht zu.«
Es war für Maxi ungewohnt, dass Ivan zum Boss aufgestiegen war. Sie hatte ihn als eigenbrötlerischen Komplizen lieber gemocht. Da hatte sie ihn noch nennen dürfen, wie sie wollte und es seinem Wesen entsprach: Scheißkerl. Jetzt aber: Boss.
»Wird nicht mehr vorkommen…«, sagte sie und fügte in Gedanken hinzu, »in deiner Gegenwart jedenfalls.«
Der Bärtige nickte ihr zu. Dann umrundete er sie. »Du hast zwei entzündete Narben am Rücken, soll ich die behandeln?«
Unwillkürlich fasste Maxi mit der Hand über ihre Schulter. Sie hatte vollkommen den Sender verdrängt, den sie dort trug. Fast dankbar schaute sie den Mann an, er hatte ihr mit seinen unbedachten Worten wieder ins Gedächtnis gerufen, wie sinnlos eine Flucht war, wenn sie das vermaledeite Ding noch unter ihrer Haut trug. Gott sei Dank war sie am Flughafen nicht einfach losgerannt.
Sie schüttelte den Kopf.
»Sicher? Ich kann es neu desinfizieren und Heilsalbe drauf tun.«
Wieder schüttelte sie den Kopf. Denn sie war zwar keine gute Ärztin – oder Chirurgin wie sie ja bereits herausgefunden hatte – aber eins war ihr klar, wenn die Wunde zuwuchs hatte sie gar keine Chance mehr, den Sender zu entfernen.
»Es soll nicht versorgt werden, es soll eine Strafe sein«, gab sie an, um den Mann abzuwimmeln.
»Wenn das so ist«, erwiderte der Mann, »dann lass ich es so, wie es jetzt ist.«
Er nahm sie bei der Hand und führte sie in einen Raum, der mit Kissen, Matratzen und einem Wasserspender ausgestattet war. »Das ist der Aufenthaltsraum der Sklaven, wir haben ihn jetzt für dich reserviert.«
»Das wäre doch nicht nötig gewesen«, Maxi seufzte, »ein bisschen normale Gesellschaft hätte mich erfreut.«
Plötzlich nahm sie ein ekliges, lustvolles Funkeln in den Augen des Bärtigen wahr. »Vielleicht komme ich ja später und leiste dir Gesellschaft.«
Angewidert und empört zog sie ihre Augenbrauen hoch. »Was hast du an dem Wort Normal nicht verstanden?«
Er lachte ein kehliges, kratziges Lachen, dann ging er.
Maxi legte sich in die weichen Kissen und vergrub ihre Nase tief in den Stoffbezügen. Sie rochen nach Lavendel. Ein beruhigender, warmer Duft. So sanft, dass sie kurzdarauf wieder einnickte.
Sie wachte auf, weil eine Hand über ihren Rücken strich. Schlaftrunken drehte sie ihren Kopf, nur um in Alexanders Gesicht zu sehen. Ihr ganzer Körper versteifte sich. Was wollte er mitten in der Nacht von ihr? Ein altes, schreckliches Gefühl stieg in ihr hoch. Finger nachts auf ihrer Haut.
»Eine Strafe, hm?«, flüsterte er leise, böse und strich mit dem Zeigefinger die Wundränder nach.
Sofort war sie wach. Wieso mussten eigentlich all ihre Lügen sofort auffliegen. »Ist es das nicht?«, sie probierte ihrer Tonlage einen festen Klang zu geben.
»Ich kann dir zeigen, was eine wirkliche Strafe ist, damit du eine Vergleichsmöglichkeit hast. Wenn du solche Probleme beim Unterscheiden davon hast, ist das vielleicht die beste Lösung.«
»Okay«, beschwichtige sie den Arzt. »Ich habe verstanden.«
»Da bin ich mir nicht sicher«, er drückte aus einer Tube Salbe heraus, hielt aber dann inne. »Wieso zitterst du?«
Das wusste Maxi auch nicht. Sie schob es auf die Kälte. »Ist Nachts etwas zugig hier.«
Alexander zog seine Hände von ihrem Rücken und griff nach einer Decke. Er deckte sie bis zu den Schultern zu, ehe er die Wunden versorgte. »Besser?«
»So gut, wie es einem bei euch Irren gehen kann«, kommentierte sie die aktuelle Lage und rollte sich zusammen.
»Solange du scherzen kannst, ist alles gut«, erwiderte der Arzt und stand auf. »Jetzt kannst du weiter schlafen.«
Den Tipp brauchte er ihr nicht zwei Mal sagen. Sie folgte ihm sofort.
Doch irgendwie war der Arzt nicht abzuschütteln. Sie hatte kaum die Augen geschlossen, da waren schon wieder seine Hände auf ihrer Haut, doch als sie ihn abwehren wollte, bekam sie einen heftigen Faustschlag in die Rippen.
Das war nun nicht Alexanders Art. Seine Foltermethoden waren subtiler. Erschrocken riss sie die Augen auf, drehte sich zur Seite, bevor der nächste Hieb sie treffen konnte. Doch er folgte ihr, riss sie nach oben, nur um sie dann wieder auf den Boden zu werfen.
»Auf deinen langsamen Tod ist ein Kopfgeld ausgesetzt«, kicherte der Mann. »Ich werde es ganz schmerzhaft für dich und sehr lustvoll für mich gestalten.«
Kopfgeld? Warum wurde sie nicht mal mit einem Lottogewinner verwechselt? Konnte ihr das nicht mal passieren? Das wäre weitaus angenehmer!
Seine Hände grabschten nach ihrem Leid und hinterließen Kratzspuren auf ihrer Haut. Keine Katze hätte solche, präzisen Steifen hinbekommen. Verbissen wehrte sie den Mann mit der Unterseite ihres Arms ab, hatte aber keine Chance gegen ihn.
Sein Geschlechtsteil ragte ihr entgegen. Während er in der rechten Hand ein Messer hielt.
Zwischen ihre Panik mischte sich auch seltsam Ruhe. So als würde sie mit der Situation umgehen können, weil sie es kannte.
Sie trat nach ihm, brüllte und fuhr nun ebenfalls ihre Krallen aus. Doch der Bärtige schleuderte sie erneut gegen die Wand, sodass ihr die Luft wegblieb. Sie stöhnte auf. Sie kam sich vor, wie der Inhalt eines Boxsackes. Völlig zerstört.
Er drückte sie auf die Knie, seine Hand mit dem Messer glitt zwischen ihre Beine, doch bevor er sie penetrieren konnte, stürzten Ivan und Tom herein. Ihr Brüllen war also doch nicht umsonst gewesen.
Die Last auf ihrem Körper wurde fortgerissen, endlich bekam sie wieder genug Luft zum atmen. Sie spürte ein leichtes Brennen an der Innenseite ihrer Schenkel. Ein schmaler Schnitt war zu sehen. Das musste passiert sein, als man den Bärtigen von ihr fort getreten hatte.
Ivan war außer Kontrolle. Nie hatte sie ihn so voller Hass gesehen. Tom musste ihn gewaltsam davon abhalten, das Leben aus dem Bärtigen zu prügeln. »Nicht, Ivan. Nimm eine Waffe, du machst dir deine Hände kaputt.«
Tom war so herrlich pragmatisch und bösartig.
Maxi hatte sich inzwischen in die hinterste Ecke gerettet und ihre Hände abwehrend zu Fäusten geballt. Alexander tauchte – für sie vollkommen aus dem Nichts – vor ihr auf. »Das ist nichts für dich«, sagte er ganz sanft, »komm wir gehen.«
Zitternd reichte sie ihm seine Hand und er half ihr auf. Sie verdrehte ihren Hals, Ivan hatte tatsächlich eine Pistole in der Hand. Das Zittern ihres Körpers wurde stärker, schwarze Punkte flirrten vor ihren Augen.
»Er darf nicht noch mehr töten…«, stammelte sie.
»Du stehst unter Schock, komm, Maxi«, beruhigte Alexander sie und legte sein Jackett über ihren nackten Körper. »Ivan macht das, was nötigt ist.«
»Nein«, beharrte sie darauf. Egal, was der Mann ihr hatte antun wollen, sollte Ivan jetzt abdrücken, hatte sie ihn für immer verloren. Dann war er wie jeder anderer in dieser Welt.
Doch Alexander schob sie einfach mit Nachdruck aus dem Raum und brachte sie in ein anderes Zimmer, das wie ein Gästezimmer aussah. »Setz dich aufs Bett«, befahl er.
Sie gehorchte. Sie hätte sowieso nicht mehr Stehen können, denn ihre Beine bebten vor Adrenalin.
Alexander kniete sich vor sie. »Ich möchte mich nur schnell davon überzeugen, dass es dir gutgeht.« Seine warme Hand legte sich zwischen ihre Knie und wollte die Beine teilen, aber sie drückte sie zu. Ihre Lippen bebten: »Alles in Ordnung. Es ist nichts passiert.«
Ihr Körper reagierte automatisch, als sie gegen seine Anweisung aufstand, und nun vor ihm stand. »Ich bin müde, ich möchte schlafen.«
Alexander sah sie zweifelnd an. Daher sagte sie leise, aber mit fester Stimme. »Bitte.«
Ein Schuss ertönte im Haus und Maxi zuckte erneut heftig zusammen. Sie hörte, wie Alexander hinter ihr aufstand und zu ihr kam. Doch sie wollte seine Nähe nicht. »Bringst du mich wohin, wo ich schlafen kann.«
»Du kannst hier bleiben, es ist Ivans Zimmer.«
Ivans Zimmer. Normalerweise hätte sich ihr Herz vor Freude überschlagen, aber jetzt empfand sie nichts, da war nur absolute Leere.
»Oder soll ich dich woanders hinbringen?«
Mit erstarrter Mimik drehte sie sich zu ihm um. »Nein. Es ist okay.«
Er sah sie an. »Du kannst mein Jackett behalten, wenn du es zuknöpfst, bedeckt es deine Blößen.«
Stumpfsinnig nickte sie. Sie wusste, dass es ein großes Geschenk von ihm war. Nicht dass sie das Jackett behalten durfte, sondern, dass er sie nicht weiter zwang, wie eine Sklavin gekleidet zu sein.
»Ich muss dich aber fesseln, das verstehst du, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie tonlos.
»Ich binde dich nur mit der Hand an das Bettgestell, dann hast du etwas Bewegungsspielraum.«
Blass nickte sie ihm zu. Und folgte seiner einladenden Geste, die auf das Bette zeigte, von dem sie gerade erst aufgesprungen war. Sie legte sich rittlings hinein und ließ es geschehen, dass er ihren linken Arm nach hinten streckte und mit Handschellen an eine dicke, stabile Strebe schloss.
»Einigermaßen bequem?«
»So viel Mitgefühl«, spottete sie mit brüchiger Stimme, »womit habe ich das nur verdient.« Doch dann nickte sie. »Ja, es geht.«
Alexander überprüfte noch mal den korrekten Sitz, dann ließ er Maxine endlich alleine. Nicht aber ohne vorher anzukündigen. »Ich schaue später noch mal nach dir. Ich werde das Zimmer von außen absperren. Nur ich und die anderen zwei haben den Schlüssel für diese Räumlichkeiten. Du bist hier sicher.«
»So sicher wie man unter Psychopathen ist«, raunte sie und schloss ihre Augen, als sie hörte, wie er die Tür hinter sich zuzog.
Sie hatte keine Angst. Sie hatte keine wirklichen Schmerzen. Beides konnte sie gut ausblenden. Selbst, was der Mann vorgehabt hatte, verschwamm immer mehr in ihren Erinnerungen, obwohl es gerade erst passiert war. Was jedoch sehr eindrücklich in ihrem Kopf hängengeblieben war, war die Waffe in Ivans Händen.
Wieder hatte ihr ihretwegen getötet. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie in Toms Besitz überging. Er war schon durch und durch verdorben, während Ivan in ihren – naiven ?- Augen noch viel seiner Persönlichkeit verlieren konnte.
Müde und mit blutigen Händen kam Ivan zusammen mit Tom ins Wohnzimmer. Alexander hatte die beiden schon erwartet.
»Zeig mir deine Hand«, wies er Ivan ohne Umschweife an und schüttelte pikiert seinen Kopf, als er die geschwollenen Knöchel betastete.
»Du bist ein Idiot«, schimpfte er und säuberte die Wunden. Doch Ivan interessierte sich nicht dafür, wie es seiner Hand ging, er hatte wichtigere Dinge, die ihm am Herzen lagen. »Wie geht es Maxi? Ist sie verletzt?!«
Alexander verband Ivans Hand, während Tom ihm einen Scotch besorgte. »Ich weiß es nicht. Sie wollte nicht, dass ich sie untersuche.«
Ivan sah den Arzt scharf an. »Seit wann nehmen wir denn auf die Bedürfnisse von anderen Rücksicht?«
»Wenn du sie komplett traumatisieren willst, sollten wir es tun. Ansonsten warten wir ab, bis sie etwas zur Ruhe gekommen ist, bevor wir handeln.«
»Aber…«, wollte Ivan entrüstet widersprechen, wurde aber von dem Arzt unterbrochen. »Sie hat augenscheinlich keine schweren, körperlichen Verletzungen. Das ist nicht das Problem.«
»Sondern?«, fragte der Halbrusse alarmiert nach. Auch Tom sah interessiert zu Alexander hin, während er Ivan ein ordentlich gefülltes Glas mit Alkohol reichte.
»Sie reagiert, als sei es ihr nicht fremd. Ihr Verhalten kenne ich von Überlebenden von schweren Straftaten.«
Ivan wirkte verblüfft, dann völlig fassungslos. »Du meinst…«, er schluckte, »sie kennt…« Er sprach nicht weiter.
Tom wirkte hingegen sehr gefasst. Er schien mehr Informationen zu besitzen, als die anderen. Und auch Ivan bemerkte rasch, dass Tom zu ruhig blieb.
»Tom?«
Der Boss trank ebenfalls einen großen Schluck.
»Tom!«
Wieder keine Antwort.
»TOM.«
Der Angesprochene stöhnte auf, dann stellte er das Glas beiseite. »Sie hat Feinde, auch wenn sie es verleugnet, das war auch der Grund, warum ich eine Affäre mit ihr angefangen habe. Ich wollte wissen, was sie weiß.«
»Ich verstehe nicht?«, flüsterte Ivan heiser und rau.
»Sie wurde missbraucht, der Täter war ihr Onkel, er war ein Mitarbeiter meiner Organisation. Er hat so Geld verdient, bis sie erwachsen und er von ihr angezeigt wurde und aufgeflogen ist. Seine widerwärtigen Nebengeschäfte mit Kindern hätten mich beinahe mein Imperium gekostet. Denn die Ermittler haben ihn auch zu seinen anderen Geschäften befragt. Doch er konnte durch Bestechung und Manipulation fliehen, seither versucht er sie als Zeugin zu beseitigen und mich mit ihr zu erpressen.«
»Du wusstest das alles und hast es mir nicht gesagt?«
»Sie war nur ein Auftrag. Wieso hätte ich dir diese Hintergrundinformationen geben sollen? Was hätte es geändert?«
»Wusstest du von den, scheiße, wie hast du es so verharmlosend genannt, Nebentätigkeiten, deines Mitarbeiters?«
»Nein. Ich toleriere sehr viel und bin ein vielfacher Mörder, aber das ist etwas, was ich nicht erlaube. Wenn wir ihn kriegen, wird er erst leiden müssen, bevor er stirbt.«
Ivan atmete geräuschvoll ein. »Deswegen sollte sie vergiftet werden, damit es wie ein natürlicher Tod oder wie ein Unfall aussieht? Damit er nicht verdächtigt werden kann.«
»Richtig.«
»Und sie ist die einzige Zeugin?«
Tom zuckte mit seinen Schultern. »Die Einzige, die noch lebt.«
»Was hast du herausgefunden, als du ihr vorgespielt hast, ein Mann zu sein, der sie liebt?«
»Oh«, Tom überhörte die Spitze geflissentlich, »das sie ein bewundernswerter Mensch ist. Unnahbar, verborgen hinter einem undurchdringlichen Schild von Sarkasmus. Wenn ich nicht die Beweise hätte, würde ich denken, sie ist ein normales, bisschen zickiges Mädchen.« Er griff wieder nach dem Glas. »Aber ich weiß es besser.« Er nippte daran. »Auch wenn sie es nicht zugeben würde.«
Eine bedrückende Atmosphäre legte sich über das Zimmer.
Alexander klebte den Verband zu. Er hatte es geahnt. Der Einzige, der wirklich komplett überrumpelt schien, war der Halbrusse.
»Warum willst du sie haben?«, insistierte Ivan weiter auf Erklärungen.
Tom stand auf. »Weil es gefährlich für dich ist, sie in deiner Nähe zu haben. Und für sie auch. Nur ich kenne die Männer, die hinter ihr her sind, du nicht. Es wäre ein Leichtes, dass sie sich unter deine Gefolgsleute mischen. Du bist jetzt kein Einzelgänger mehr, du bist der Anführer einer der drei größten kriminellen Organisationen der Welt.«
»Ich würde auf sie aufpassen! Niemand dürfte sich ihr nähern.«
»Ach ja. Du kannst niemanden mehr trauen, es wird viel Zeit in Anspruch nehmen, bis du herausgefunden hast, wer dir wirklich wohlgesonnen ist. Ich hingegen bin schon lange zusammen mit Claire ein Boss. Ich kenne meine Leute, ich weiß, wer mir gefährlich werden könnte und wer loyal ist.«
»Dann verzichte ich darauf, ein Anführer zu sein und kehre zu meinem Einsiedlerleben in Russland zurück.«
»Dann hättest du Johnny nicht umbringen dürfen. Dafür ist es also zu spät.«
Ivan verzweifelte vor den Augen der beiden Männern immer mehr. »Aber ich muss ihr doch helfen!«
»Sie kann sich selbst sehr gut helfen«, mischte Alexander sich ein, als er die wachsende Hilflosigkeit seines Freundes bemerkte, »sie hat gute Überlebensstrategien entwickelt.«
»Verdrängen ist keine gute Strategie«, knurrte Ivan aufgebracht.
»Humor aber schon«, widersprach Alexander, »und den besitzt sie neben ihrer Fähigkeit, unangenehme Dinge auszublenden, auch.«
Ivan gab sich vorerst geschlagen. »Okay. Wie machen wir jetzt weiter?« Er wandte sich direkt an den Arzt. »Kannst du wirklich ausschließen, dass sie ernsthaft verletzt ist?«
»Nein. Aber ich werde ihr später ein starkes Beruhigungsmittel geben, das auch dafür bekannt ist, Amnesie auszulösen. Sie wird sich am anderen Morgen nicht mehr an die Untersuchung erinnern.«
»Nein, auf keinen Fall! Sie hat schon genug Zeug in ihrem Unterbewusstsein, da packen wir nicht noch mehr drauf.«
Alexander hob seine Hände. »Wenn du es anders machen möchtest, probiere es. Mir gegenüber ist sie nicht zugänglich.«
Tom wandte sich zum Gehen: »Ivan, ich gebe dir eine Stunde, um mein Eigentum zu überzeugen, Alexander nach ihr schauen zu lassen. Sonst machen wir es so, wie er es vorgeschlagen hat. Denn wir sollten zügig weiter reisen. Das Haus ist nicht sicher.«
Mein Eigentum. Tom hatte sein Revier und Besitzverhältnisse mit zwei simplen Wörtern markiert. Auch Ivan verstand die Anspielung sehr gut. Maxi gehörte bis auf dessen Widerruf Tom. Verhandlungen waren derzeit unerwünscht und würden rigoros abgeblockt werden. Und er hatte sich als Neuling in der Hierarchie der Untergrundbosse zu fügen.
»Hallo«, sagte sie freundlich, als Ivan eintrat. Ihr fiel sofort die geschwollene Hand auf, die er versuchte, vor ihr zu verbergen.
»Hallo«, erwiderte er und ging zwei Schritte auf sie zu, um dann dekorativ in der Mitte des Raumes stehen zu bleiben. Wie eine lebensechte Statue. Leider genauso unbrauchbar.
»Seit wann bist du so schüchtern, Ivan?«, kommentierte sie sein Zögern mit einem schrägen Grinsen. »Komm doch her.«
Er runzelte seine Stirn, ansonsten kam er ihrer Aufforderung aber nicht nach. Er schien zu überlegen, aber über was er grübelte, blieb sein Geheimnis, denn er machte keine Anstalten, sie über seine Gedanken aufzuklären.
Maxi war keine dumme Frau, sie wusste, dass ihn ihr Verhalten irritieren, vielleicht auch verstörten musste, aber sie hatte sich einst geschworen, nie wieder schwach zu sein. Daher lächelte sie ihn an, obwohl ihre Lage wirklich zum Heulen war. Vor allem ihr Arm schmerzte, der durch die Fesseln in die immer gleiche Position gezwungen wurde.
»Du musst nicht mit mir reden«, stöhnte sie und drehte ihr Kinn zu den Fesseln hin, »aber du könntest mich losbinden.«
»Kann ich das?«, fragte er leise nach und sah sie forschend an, als würde er gleich einen Nervenzusammenbruch von ihr erwarten. Aber da täuschte er sich, denn davon war sie meilenweit entfernt.
»Ja, du hast gesunde Finger, oder? Dann kannst du das auch.«
Er verzog säuerlich sein Gesicht. »Ich meine, kann ich dich losbinden. Geht es dir gut?«
Als würde es ihr mit Fesseln besser gehen. Grandiose Logik. »Ich vermute mal, dass es jedem Menschen grundsätzlich besser geht, wenn er nicht wie ein Tier angekettet ist«, meinte sie spitz und zog demonstrativ an der Fesselung. »Also, wenn du meinen Zustand optimieren möchtest, würde ich mich freuen, wenn du mich losmachst.«
Wieder starrte er sie fast entgeistert an. Was brachte ihn denn so aus dem Konzept? Sie war es doch, die angegriffen und verletzt worden war? Genervt erwiderte sie seinen ratlosen Blick. »Komm schon«, insistierte sie. Und tatsächlich kam langsam Bewegung in den Kerl. Er ging auf sie zu und setzte sich dann neben sie auf die Matratze.
»Was passiert ist…«, er umfasste ihre Schulter mit seiner Hand, »…ich hätte besser auf dich aufpassen müssen.«
Hörte sie da etwa Reue heraus?
»Ich bin doch dein Beschützer.«
Naja, ob sie ihm diese Aussage so einfach glauben wollte? Es schien ihr doch recht selbstgefällig und absurd, was er da behauptete. Aber eine Diskussion war im Moment nicht zielführend, denn sie wollte endlich befreit werden und nicht über den Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Wahrnehmung debattieren.
»Ich habe da eine etwas andere, differenziertere Ansicht…« Sie rollte mit ihren Augen bedeutungsvoll zu ihrem festgebunden Arm, »…aber als Beschützer wäre es deine Pflicht, mich endlich von diesen Fesseln zu erlösen.«
»Darf ich mir vorher deine Wunden anschauen?«
»War das eine Frage?«
Er nickte.
Gut, auf eine Frage gab es auch die Möglichkeit, sie mit »Nein« zu beantworten, was sie dann auch tat.
»Dann bleibst du hier liegen, bis du deine Meinung geändert hast.« Seine Miene wurde kühl und unnachgiebig. »Denn dann komme ich deiner Bitte auch nicht nach.«
Na, dass nannte sie mal eine multiple Persönlichkeit. Vom Beschützer zum Diktator von Null auf Hundert. Es hätte auch ein wenig komplizierter Mann getan. Sie vermutete aber, dass er genau das gleiche von ihr dachte. Sie machten sich beide das Leben schwer. Tonnenschwer. Dreadnoughtus-Dinosaurier-schwer. Jedenfalls meinte Maxine sich daran zu erinnern, dass dies der schwerste Dino war, der je gelebt hatte.
Zwischen Ärger und Unglaube schwankend schnaufte sie: »Dass kannst du nicht tun!«
»Oh doch«, er streichelte mit seinem Zeigefinger über ihren Unterarm. »Und du kennst mich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich all meine Drohungen wahr mache.« Sein Finger verharrte auf ihrer Haut. »Und falls es dir hilft, eine Entscheidung zu treffen, Alexander hat ebenfalls vorgeschlagen, sich um dein Wohlbefinden kümmern zu können.«
Kümmern... Sie schluckte. Die Warnung in den wohlformulierten Worten war deutlich. »Aber es ist doch nicht passiert«, versuchte sie ihn zu überzeugen. Sie verstand nicht, warum er darauf beharrte, ihr sei etwas Schlimmes widerfahren. Sie lebte. Das war doch die Hauptsache.
»Das stimmt nicht«, sagte er ernst. »Es ist was passiert. Du wurdest angegriffen.« Er machte eine kurze Pause, holte tief Luft und atmete dann aus. »Und du wurdest verletzt.«
Sein Timbre ließ sie erschaudern. Er war nicht zu Scherzen aufgelegt. Trotzdem verstand sie seine Intention nicht. Schließlich war ihr schon durch die Gefangenschaft deutlich mehr Leid zugefügt worden.
»Okay«, lenkte sie schließlich ein, auch wenn es ihr gar nicht danach war, zu kapitulieren. Aber sie wusste, wenn eine Schlacht verloren war. Ivan war ihr persönliches Waterloo. »Wenn du darauf bestehst.«
»Felsenfest«, sagte er gewohnt trocken und seine Finger glitten zwischen ihre Beine. Sie hielt die Luft an, während er sie nachdenklich musterte.
»Gut«, sagte er nach einer Weile, in der sie bald erstickt wäre, »es ist wirklich nur der Schnitt.«
Sie keuchte mit hochroten Kopf auf und atmete schließlich ganz viel Sauerstoff ein, als er endlich von ihr abließ. »Hab ich doch gesagt«, maulte sie.
Wieder streifte sie dieser nachdenkliche, unerträgliche Blick von ihm. Was starrte er sie denn an, als sei sie das letzte Einhorn? Konnte er das denn nicht bitteschön unterlassen, sie waren hier nicht im Zoo. Obwohl, resümierte Maxi, eigentlich war sie ein Vogel im goldenen Käfig. Und zu allem Überdruss auch noch unter Geiern gefangen.
»Du lässt deine Deckung nie fallen, oder?«, meinte er, während er die Fesselung löste.
»Warum sollte ich? Die Deckung fallen lassen, bedeutet getroffen werden zu können.«
»Du bist hier nicht im Krieg…«
»Ähm«, erinnerte sie ihn, »mich beschleicht der Verdacht, dass du das auf jeden Fall bist. In einem Bandenkrieg!« Vergesslicher Kerl, gut, dass sie ihn daran erinnert hatte. Amnesie war schon tückisch.
Er sagte gar nichts. Biss sich stattdessen nur auf seine schönen Lippen und schüttelte den Kopf, dann zog er sie hoch. »Wir wollen weiterreisen, hier ist es nicht sicher.«
»Und hier ist es nicht sicher, weil alles zu friedlich ist, hm? Oder wie war das?«
»Maxine«, wieder dieser ernste Tonfall, »ich meine, die Fassade, die du mir gegenüber hast. Wieso darf ich nicht sehen, wer du wirklich bist? Wie es dir geht, was du denkst und fühlst?«
»Weil du ein Krimineller bist«, knurrte sie und setzte sich auf die Bettkante, »ich denke, dass müsste als Argument reichen.«
»Ich dachte, ich sei inzwischen mehr für dich.« Aus dem ärgerlichen Gesichtsausdruck wurde ein trauriger. Na toll, sie hatte die Gefühle ihres Entführers verletzt. Wer rechnete denn mit sowas? Jetzt hatte er es doch tatsächlich geschafft, dass sie sich ihm gegenüber schuldig fühlte. Wie absurd. Sie sah schon die Titelschlagzeile in einer Klatschzeitschrift: Herzloses Entführungsopfer quält Schurken mit emotionaler Kälte. Man, sie war schon ein Biest, da war sie einfach grundlos gemein zu dem Kidnapper.
»Wohin gehen wir denn nun?«, wechselte sie das Thema, was ihr absolut lächerlich vorkam. Ja, sie empfand etwas für den bescheuerten Kriminellen, aber das war noch lange kein Grund, ihn zu mögen.
»Das geht dich nichts an«, sagte er etwas bockig.
»Dann sind wir ja in dem Punkt einer Meinung, mir geht es nämlich so mit meinem Leben. Das geht dich nichts an.«
»Schon wieder Stress bei euch beiden?«, durchbrach Tom den Disput und schob die Tür zu Ivans Zimmer ganz auf. Maxine wollte gar nicht wissen, wie lange er schon dort gestanden, sie belauscht oder noch schlimmer eventuell beobachtet hatte.
»Nein«, kam es gleichzeitig aus Ivans und Maxines Mund. Na wenigstens hielten sie gegenüber Tom zusammen. Sie warfen sich jedoch noch mal giftige Blicke zu, ehe sie Tom erwartungsvoll anschauten.
»Wie sieht es aus?«, wollte Tom wissen und machte eine Kopfbewegung zu Maxine hin, »muss ich Alexander reinschicken, oder hast du es klären können?«
»Außer dem Schnitt sind keine Verletzungen zu eruieren.«
Tom grinste. »Naja, außer eurem verbalen Duell, da habt ihr wohl beide gravierende, mentale Verletzungen davon getragen…« Dann ging er auf Maxine zu und legte seine Hände unter ihr Kinn. »Mit mir wirst du nie so respektlos sprechen. Verstanden?!«
Sie drehte ruckartig ihr Kinn zur Seite, befreite sich so aus seiner Umklammerung und stand auf. »Werden? Sicher nicht. Ich tue es bereits. Warum sollte ich dich besser behandeln als Ivan? Ihr seid doch alle gleich.«
»Weil ich schlagende Argumente habe«, sagte Tom und tätschelte grob ihr Gesicht. Sie wusste, dass er damit nicht seine verbale, sondern seine körperliche Überlegenheit meinte. Seine Bestrafungsmethoden waren sicherlich sehr eindrücklich.
Seufzend erhob sich Maxine, wich dabei dem strengen Blick ihres zukünftigen Besitzers aus und schlenderte zum Bad. Doch Tom verstellte ihr den Weg. »Ivan geht mit dir rein.«
Sie starrte ihn an, als hätte er verlangt, dass sie nackt Flamenco tanzend ins Bad gehen sollte. »Ivan?«, hauchte sie empört, »wieso?«
»Weil meine Anwesenheit dir noch etwas unangenehmer sein könnte.«
Nein. Das war nicht die Antwort auf ihre Frage. Jedenfalls nicht die, die sie hatte hören wollen. Wie immer waren ihre Entführer geschickte Wortakrobaten. Sie stieß ein lautes Aufstöhnen aus, um ihr Missfallen zu artikulieren. »Nein. Wieso muss er denn mitgehen?«
»Oh mir fallen ganz viele Gründe eine, aber der wichtigste ist, dass man das Bad hier von innen abschließen kann«, er zwinkerte ihr zu, »und ich keine Lust habe, in eine neue Tür investieren zu müssen, nur weil die Dame dann nicht mehr aufsperrt.«
Und Maxine hatte im Gegenzug keine Lust in ihr Schampotential zu investieren. Es musste doch einen Weg geben, ein bisschen Privatsphäre zu haben. Sie hätte nämlich gerne ein bisschen geweint, denn wie Ivan ihre Gemütslage richtig erspürt hatte, ging es ihr dreckiger, als sie zugeben wollte. Aber sie weinte nicht vor den Männern, vor niemanden. Supergirls weinten nicht, höchstens unter der Dusche. »Gibt es da gar keinen Verhandlungsspielraum?«
»Oh, in meiner Villa gibt es einen Spielraum, aber normalerweise wollen dort meine Sklaven nicht so gerne freiwillig rein.« Das Grinsen des Mannes vor ihr wurde noch größer und abstoßender. »Aber wenn du ihn mal sehen und seine Einrichtung später kennenlernen möchtest, dann diskutiere ruhig weiter mit mir. Ich freue mich darauf, ihn mit deinen Schmerzensschreien einweihen zu dürfen.«
Ne. Wollte sie nicht. Das entzückende Angebot von Tom passte nicht zu ihrer Lebensplanung. Wieder seufzte sie, dann griff sie nach Ivans Hand und zog ihn schweigend hinter sich her und ins Badezimmer. Dort knallte sie die Tür zu. Vorher bedachte sie aber noch Tom, der davor stehen geblieben war, mit einem Todesblick.
Jetzt stand sie gezwungenermaßen mit ihrem Entführer in dem Bad. Sie setzte sich auf die geschlossene Toilette. »Wann geht er?«, wollte sie aus taktischen Gründen wissen. Und Ivan – sonst für ihre Belange nur schwer zu gewinnen – zeigte sich erfreulicherweise kooperativ.
»Lass das Wasser laufen, dann geht er schon…«
Müde erhob Maxine sich und stellte die Dusche an, dann warteten sie gemeinsam in dem immer dampfiger werdenden Raum.
»Meinst du, er ist weg?«
Ivan deutete ein Achselzucken an. Er schien genauso unsicher wie sie zu sein. Sehr sympathisch. Sprach dafür, dass er sich nicht unbedingt in ein psychopathisches Gehirn, wie in das von Tom, hineinversetzen konnte.
»Würdest du mich alleine duschen lassen?« Es war eine 50 zu 50 Chance. Normalerweise traf Maxine immer das falsche Los. Doch dieses Mal war ihr das Schicksal hold. Denn Ivan sagte tatsächlich »Ja«.
Vor Freude wäre sie ihm beinahe um den Hals gefallen, doch ihr Großhirn wies sie freundlich darauf hin, dass sie grundsätzlich auf ihn sauer sein sollte. Es war nämlich ganz und gar nicht angebracht, einem Täter dankbar zu sein.
»Aber du sperrst nicht ab!«, mahnte er sie noch und sie nickte eifrig. Vorsichtig öffnete er die Tür, schaute hinaus und ging dann tatsächlich hinaus. Das erste, was sie tat, war absperren. Sie fühlte sich dem Versprechen einem Verbrecher gegenüber nicht gebunden. Und sie wollte wirklich ungestört sein, wenn sie ihren Tränen freien lauf ließ.
Rasch entblätterte sie sich und schlüpfte unter das schon laufende Wasser. Das gleichmäßige Pochen an der Tür ignorierte sie geflissentlich. Das Schreien empfand sie hingegen als etwas störend, aber wenn sie ihren Kopf direkt unter den Wasserstrahl hielt, wurde auch das angenehm abgedämpft. Ivan sollte sich nicht so haben, in zehn Minuten würde sie die Tür wieder aufmachen und wieder seine Gefangene sein. Jetzt aber genoss sie die kurze Autonomie.
Ein Krachen, was sich leider aus zwei Gründen nicht mehr ignorieren ließ – 1. Weil es extrem laut war 2. Weil ein wutentbrannter Ivan plötzlich im Bad stand – führte bei Maxine zur akuten Unwohlsein.
»Bist du irre?«, schrie sie ihn an, bevor er es tun konnte.
»Bist du denn irre?«, brüllte er zurück und ignorierte einfach ihr Copy-Right. Fiel ihm denn kein eigener Satz ein?
Wenig später erscholl ein noch lauteres Grollen, welches alles übertraf: »Seid ihr denn komplett irre?!«
Tom und seine Leibgarde standen bewaffnet vor ihnen. Sie hatten wohl einen Angriff oder dergleichen erwartet, fanden aber nur eine nackte Maxine und einen aufgebrachten Ivan vor. Sowie – und Toms heißer, intensiver Blick darauf, ließ Maxines Puls in die Höhe schnellen – eine demolierte, aus den Angeln gerissene Tür.
Toms Augen wurden schmal, Maxines hingegen groß. »Äh«, brachte sie nur sinnlos hervor. Dann bemerkte sie, dass die Leibwache sie interessiert anschaute und aus dem »Äh« wurde ein erschrockenes »Ah«. Rasche bedeckte sie mit ihrem linken Oberarm ihre Brüste und mit der rechten Hand ihre Scham.
»Das mit der Tür…«, wollte Maxine sich entschuldigen, doch Tom schnitt ihr das Wort ab.
»Die Tür«, zischt er, »wird dein kleinstes Problem sein, die werde ich dich abarbeiten lassen, aber dein Ungehorsam und…« Er wendete seinen Blick von der herausgerissenen Tür ab und fixierte stattdessen Ivan, »…deine Arglist gegenüber Ivan wird dich teuer zu stehen kommen.«
»Wie teuer denn? REWE zu ALDI teuer? Goldschmuck zu Silberschmuck teuer oder welche Preisklasse schwebt dir da so vor?«, hakte sie nach. Schließlich hatte jeder ein anderes Verständnis für teuer. Und sie konnte sich vorstellen, dass Tom eine ganz andere Kategorie als teuer bezeichnete, als sie es tun würde. Besser war es, informiert zu sein.
Komischerweise schien Tom ihre Nachfrage nicht so gut anzunehmen. Denn seine Gesichtsfarbe wurde ziemlich rot.
»Ich wollte ja nur abstecken, ob wir das gleiche Preisverständnis haben«, beschwichtigte oder erzürnte sie ihn noch mehr, denn Tom verlor vollständig die Fassung. »Ivan«, knurrte er, »schaff sie mir aus den Augen, ehe ich mich vergesse…«
Ivan nickte sehr hastig und sprang förmlich zu Maxine hin, um sie dann am Oberarm zu packen und hinter sich herzuziehen. Leider wurde so auch ihr notdürftiger Sichtschutz entfernt und Maxine verfolgte mich wachsenden Groll, wie die Wächter sofort anfingen, wieder zu grinsen.
»Pass doch auf«, herrschte sie den Halbrussen an und versuchte, ihren Arm trotz seines Zerrens wieder um ihre Brüste schlingen zu können.
Er warf ihr einen warnenden Schulterblick zu. »An deiner Stelle würde ich lieber aufpassen. Tom steht kurz vor der Explosion. Und wenn du nicht Zeuge werden willst, wie eine menschliche Kernschmelze aussieht, stellst du dein Schamgefühl hinten an. Du wirst dich sowieso daran gewöhnen müssen, als Toms Besitz nackt begafft zu werden. Das ist deine verdammte Funktion!«
Sein letzter Satz hatte sich beinahe traurig und verzweifelt angehört. Maxi blickte ihn an. Er machte sich Sorgen, wie es ihr bei Tom ergehen würde. Na, dann waren sie da ja schon zu zweit.
Breitwillig folgte sie ihm, als sie durch die prachtvollen Gänge liefen. Nur schien es Maxi etwas ziellos, daher wagte sie die vorsichtige Frage: »Wohin gehen wir denn?«
Ivan blieb abrupt stehen. Und seine Antwort kam überraschend ehrlich. »Keine Ahnung. Tom ist in meinem Zimmer. Vielleicht laufen wir einfach solange im Haus herum, bis wir wieder zurückkönnen.«
Das unverhoffte Sportangebot amüsierte Maxi ein bisschen. »Und wie lange, meinst du, müssen wir das noch tun? Hier herumlaufen.«
Ivans schönes Gesicht drehte sich zu ihr herum. Seine braunen Augen glommen leicht auf, es war für Maxi schwer zu erkennen, ob es ein warmherziges oder kaltes Funkeln war.
»Wieso? Jetzt schon müde?« Er tippte mit seinem Zeigefinger auf ihren Brustkorb. »Dann sollten wir uns demnächst um deine sportliche Fitness bemühen.«
»Oh, mein personal Fitness-Entführungstrainer. Ist das nicht ein Nischenjob?«
»Sehr. Ganz exklusiv für dich erschaffen«, meinte er.
Schön. Sie wollte schon immer eine Sonderbehandlung haben. Jetzt war sie also ein VIP. Die Umsetzung gefiel ihr nur nicht so gut. Sie atmete laut ein und aus. »Du…«
Erwartungsvoll hob sich seine linke Augenbraue. »Ja?« Viel Skepsis schwang in seiner Gegenfrage mit.
»Lass uns was essen, okay? Unser Walking-Programm können wir später fortsetzen.«
Der Vorschlag schien ihn als erstes zu irritieren, dann aber zu gefallen. Seine Augenbraue rutschte an ihren ursprünglichen Platz zurück und ein versöhnlicher Ausdruck erschien in seiner Mimik. »Die Küche ist ein guter Ort, zu der Zeit sind wir ungestört dort.«
Aha. Im Bad gab es also weniger Privatsphäre als in der Küche. Gut, zu wissen.
Gemeinsam gingen sie durch das Labyrinth an Gängen, ehe er die Tür zu einer tatsächlich gemütlichen Küche öffnete. Direkt in dem großen Erker mit dem großen, offenen Fenster war eine gepolsterte Sitzbank eingelassen. Doch bevor Maxine darauf zu stürmen konnte, hielt Ivan sie zurück. »Warte…«
Zu ihrem Erstaunen knöpfte er sein Hemd auf und reichte es Maxine. Verlegen nahm sie es entgegen, während Ivan ihr jetzt nur noch mit einem weißen Unterhemd und Jeans bekleidet gegenüberstand. Ihr Blick fiel auf seine bandagierte Hand, leise schluckte sie.
»Hast du ihn getötet?«, wollte sie wissen und streifte mit ihrem kleinen Finger den weißen Verband.
»Ja.«
Sie presste resigniert ihre Lippen aufeinander, während sie seine Leihgabe zuknöpfte. Sie hatte sich eine andere Antwort erhofft, hatte aber gewusst, dass es keine andere geben würde. Mit einem müden Lächeln, welches keins war, ließ sie sich auf die Bank plumpsen. Ihr war der Appetit vergangen, aber das Ivan zu sagen, traute sie sich auch nicht.
Er runzelte leicht seine Stirn, als er ihren anklagenden Blick auffing, sagte aber nichts weiter dazu, sondern begann, den Tisch zu decken. Sie war ganz froh, dass er kein opulentes Mahl kredenzte, denn ihr Hunger kehrte nicht zurück, so gab sie sich mit den Käse- und Brotscheiben zufrieden, die er auf Tellern auf den Tisch stellte.
Als er sich neben Maxi auf die Bank sinken ließ, bemerkte sie seinen schmerzerfüllten Gesichtsausdruck.
»Was hast du?«, wollte sie alarmiert wissen. Es gelang ihr nicht, desinteressiert zu wirken. Selbst die Sorge war deutlich aus ihrer Stimmer herauszuhören. Ja, um Himmels Willen, warum war es ihr denn nicht möglich, ihn zu verabscheuen! Er war ein Killer!
»Schmerzen.«
Wieder eine präzise und zugleich nichtssagende Antwort. Als Politiker wäre er so fabelhaft, wie sie immer wieder feststellen musste.
»Das sieht man dir an. Aber woher kommen sie?«
Er lachte ein leises, aber abfälliges Lachen. »Primär von dir. Sekundär von der Tür, die ich wegen dir aufbrechen musste. Ich glaube, ich hab mir meine Schulter geprellt.«
Entrüstet legte Maxi die Brotscheibe, in die sie hatte gerade beißen wollen, zurück auf den Teller. Jetzt machte ihr Entführer ihr schon wieder Schuldgefühle. Ziemlich unverfroren von ihm.
»Nun, ich würde sagen, primär bist du selber Schuld an deinen Schmerzen.« Die Richtigstellung der Tatsachen bescherte ihr ein noch finsteres Gesicht des Halbrussen.
»Klär mich auf.«
»Du hast mich entführt. Hättest du das nicht, müsstest du keine Türen rammen. Ganz einfach.«
»Dann«, resümierte er und führte ihre Hand, die das Brot umklammert hielt, zu ihrem Mund, »ist Tom an allem Schuld. Hätte er keine Affäre mit dir begonnen, wärst du nicht hier.« Er biss von seinem Brot ab, schluckte und sagte dann. »Sondern auf dem Friedhof.«
»So ein Quatsch!«, befand Maxi,
»Ach ja? Dein Onkel hätte dich umgebracht!« Plötzlich hielt er inne.
Maxine ließ die Hand samt Scheibe sinken. In ihr drehte sich alles wie in einem Karussell. Rauf und runter. Auf- und abwärts. Eine große Leere gefolgt von einem heißen Gefühl übermannte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Woher weißt du das?«, ihre Frage war ein heiseres Flüstern, das zum Ende hin in ein Krächzen mündete.
»Maxine, ich…«, versuchte Ivan sich zu retten, doch sie war schon aufgesprungen.
»Du«, keuchte sie, »du weißt überhaupt nichts!« Sie wirbelte herum und rannte mit tränenverschleierten Sicht zur Tür. Sie wollte nur weg, wohin war ihr egal. Doch ein flinker Schatten war ihr gefolgt und schnitt ihr nun den Weg ab. Doch es war keine Geste der Dominanz, denn Ivans Arme waren weit ausgebreitet und er fing sie ab.
Sie sträubte sich, doch er hielt sie fest umschlungen. »Lass mich«, quäkte sie und drückte ihre Hände gegen seine Brust. Doch er drückte sie nur näher an seinen Oberkörper heran. Ihr Gesicht wurde gegen den Stoff seines Unterhemds gedrückt.
»Es stimmt, Maxine, ich weiß nichts über dein Leben, aber ich weiß sehr viel über den Schmerz. Schon vergessen? Ich habe meine ganze Familie verloren. Ich kenne die Trostlosigkeit, den Wahnsinn, den Hass, die Resignation und den Wunsch, es niemanden zu zeigen!«
Sie lauschte seinen Worten mit geteilter Aufmerksamkeit. Einerseits hörte und verstand sie ihn, andererseits wollte sie seine Nähe nicht akzeptieren. Sie war noch nicht bereit dazu.
Sie kämpfte sich mit Gewalt aus seiner Umarmung, drückte ihn schlussendlich ganz weg und starrte ihn mit rotgeränderten Augen an. Er war ohne ihre Erlaubnis in ihren Abgrund hinabgestiegen! Das konnte sie ihm nicht verzeihen.
»Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen und wie ein ganz normaler Entführer sein?«, fauchte sie ihn an und wollte sich an ihm vorbeidrängen. Doch er hörte nicht auf ihren Vorschlag, sondern blieb seiner Rolle als besorgter Entführer treu. Seine Hand schlang sich sanft, aber unnachgiebig um ihr Handgelenk.
»Maxine«, sagte er ruhig, »ich mache mir Sorgen. Weißt du, warum ich die Tür eingetreten habe?«
»Weil du keinen Regelverstoß duldest«, tippte sie schnippisch darauf und wischte zeitgleich die letzten, verräterischen Tränenspuren weg.
»Nein«, kam es ernst von seiner Seite und mit einem beherzten Ruck zog er sie erneut zu sich heran. »Weil ich dachte, du tust dir etwas an.«
Waren vorher ihre Tränen das größte Problem gewesen, war es nun ihr knallrotes Gesicht. Puderrot stand sie vor ihm und wäre am liebsten im Boden versunken. Das war wirklich das Schlimmste, was eine Person von ihr denken konnte. Sie wollte nicht als schwaches, fragiles Opfer gesehen werden. Nicht umsonst hatte sie die Kunst des Verdrängens perfektioniert. Und jetzt stand dort dieser dreiste Typ und machte ihre ganze Arbeit zunichte. Das war so schreiend ungerecht. Gerade ein Mann, der selbst so viele Gesichter hatte, wollte ihr wahres Ich erkennen. Es war zum aus der Haut fahren.
»Dann unterlass das Denken«, grollte sie und schubste ihn weg. Sie war so wütend auf ihn, ohne sagen zu können, warum genau. Vielleicht, weil er sie enttarnte, vielleicht, weil er das so leichtfertigt zerstörte, was sie sich jahrelang und mühsam aufgebaut hatte: Eine andere Identität. Die, der lustigen, unnahbaren, unbezwingbaren Maxine. Und das stand ihm einfach nicht zu, nicht ihm, ihrem Entführer. Er war kein Entführer, er war ein Einbrecher, brachial hatte er ihren inneren Tresor aufgebrochen. »Und außerdem, diesen Gefallen«, rang sie sich mühsam beherrscht ab, »würde ich euch nicht tun.« Sie rüttelte an seinem Griff, aber er ließ sie nicht los. Böse starrte sie auf seine Hand, dann gab sie auf. »Können wir nun endlich zurück in dein Zimmer?!«
»Ja, ich nehme nur schnell die Brote mit«, sagte er emotionslos. Ihre Zurückweisung schien ihn zu treffen. Und lustigerweise reagierte er, wie sie es tat: Mit Abstand.
»Keinen Hunger.«
Ihr Einwand kümmerte ihn nicht, er zerrte sie zum Tisch und erst dann wieder zurück zum Gang. »Da du uns ja deinen Tod nicht gönnen willst, solltest du essen.«
Warnung, Sarkasmus und Fürsorge vermischten sich in diesem Satz. Sie stieß einen verächtlichen Laut aus. Stimmte ihm aber mit einem halbherzigen Nicken zu. Er sollte ja bloß nicht auf die Idee kommen, dass sie aus Kummer vielleicht nicht aß.
Scheiß Einbrecher. Wäre er doch einfach nur bei seinem Metier geblieben.
Als sie zurück in sein Zimmer kamen, standen dort ihre gepackten Koffer und Alexander, der die Ankömmlinge verdrießlich empfing. »Tom tobt, manchmal habe ich das Gefühl ihr beiden seid die Zündschnur zu einer gefährlichen Bombe. Und leider habt ihr beide ein Wackelkontakt.«
Ivan trottete zu den Koffern, immer noch Maxine in seinem Gewahrsam habend. Doch dann löste er plötzlich seinen Griff und schob sie zu Alexander hin.
»Bring sie in Toms Auto, sie ist schließlich sein Eigentum.«
Oha. Ivan musste wirklich stocksauer und verletzt sein, wenn er es ihr so heimzahlen wollte.
»Ach?«, fragte Alexander leicht lakonisch, »seit wann kümmern dich diese Besitzverhältnisse.«
»Seit heute.«
»Obwohl es mich erfreut, dass du endlich zu diese Einsicht gekommen bist, muss ich dir leider sagen, dass sie nicht bei Tom mitreisen kann.«
»Warum nicht?«
»Oh«, sagte Alexander und deutete ein gespieltes Schulterzucken an, »er murmelte etwas davon, dass ihm die zwei Irren heute besser nicht mehr unter die Augen kommen sollten.« Der Arzt griff nach einem Koffer. »Und da ich annehmen, dass es sich bei den besagten zwei Personen um euch handelt und ich zusätzlich davon ausgehe, dass dies eine ernsthafte Warnung seinerseits war, habe ich beschlossen, dass wir alle in verschiedenen Autos reisen werden. Nicht, dass sonst plötzlich einer weniger am Zielort ankommt, wäre irgendwie schade…«
Ivan verengte die Augen. »Jeder alleine?«
»Nein. Nur du. Maxine kommt mit mir mit. Tom fährt mit seiner Leibwache.«
Maxine war deutlich anzusehen, was sie von dem Vorschlag hielt, mit dem Arzt die Reisezeit verbringen zu dürfen, aber das hatte sie sich wohl selber eingebrockt. Und irgendwie war es auch eine gute Idee, weder dem beleidigten Ivan noch dem erzürnten Tom dauerhaft gegenübersitzen zu müssen. Da nahm sie auch in Kauf bei dem verrückten Arzt zu bleiben – den sie sonst wie den Zahnarztbesuch gemieden hätte.
Ivan nickte, dann trat er an den Arzt heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was Maxine nicht verstehen konnte, was sie aber ärgerlich werden ließ. Denn es war unmissverständlich klar, dass es dabei um sie ging. Alexanders Blick schweifte sie nachdenklich, während er den Worten von Ivan lauschte.
Maxine wäre am liebsten dazwischen gegangen, aber da sie nicht auch noch ihren letzten Reisepartner vergraulen wollte, blieb sie standhaft, obwohl ihre Wut danach schrie, ausgelebt zu werden. Stattdessen ballte sie nur ihre Hände, was Alexander ebenfalls aufmerksam verfolgte.
Was gab es denn da zu Glotzen und zu Flüstern?!
»Was hat er gesagt?«, war ihr erster Satz, als Alexander endlich zu ihr nach hinten ins Auto stieg.
»Maxi, in diesem Satz fehlen so viele, wichtige Wörter…«
»Die da wären?«
»Guten Tag. Herr. Bitte. Danke und noch vieles mehr«, zählte der Mann lakonisch auf.
Sie starrte den Arzt feindselig an. Er sollte sie nicht erziehen, er sollte ihr Antworten geben. Aber anscheinend gab er keine Auskunft, ohne die gewünschten, verbalen Zutaten. Daher formulierte Maxi– unter größter Qual – den Satz neu: »Herr Alexander, wenn du mir bitte sagen würdest, was der Herr Ivan von sich gegeben hat, wäre ich dir sehr dankbar. Hochachtungsvoll, deine Maxine.«
»Liebe Maxine«, begann er ebenfalls äußerst liebenswürdig, um dann den Satz mit einem klaren, harten »Nein«, abzuschließen. »Denn das geht dich nichts an.«
Sie hätte es besser wissen müssen. Nun gut, der Scherz ging auf ihn. »Lustig«, meinte sie trocken und drehte ihr Gesicht dem Fenster zu. »Darf ich wissen, wohin wir fahren?« Sie fing seinen tadelnden Blick auf und schob widerwillig ein »Bitte« hinterher. Die Zeit bei ihren Entführern ersetzte jedes Elite-Internat, bald war sie besser erzogen als die Schwiegertöchter der Queen.
»Zu Ivans Familie.«
»Ich dachte, seine Familie sei tot?«
»Nicht die Familie…der Clan. Wir nennen es Familie, verstehst du?«
»Und dann?«
»Dann fahren wir vor, steigen aus, unterhalten uns.«
Präzision war das Schlüsselwort, welches sie dauernd missachtete und man rieb es ihr auch deutlich unter die Nase. »Was passiert dann mit mir!« konkretisierte sie ihre Frage.
»Ich schätze, Ivan wird dableiben müssen und ein bisschen dort aufräumen müssen.«
»Du meinst, Leute umbringen?« Warum verwendeten harte Kerle eigentlich immer harmlose Begriffe fürs Morden?
»Ne, ich meine, er fährt da hin, um den Haushalt zu schmeißen und zu putzen«, grinste Alexander süffisant. »Ivan, die Putzfee. Was für eine groteske Vorstellung.«
Maxi wollte sich nicht länger vorführen lassen und kam daher wieder auf das eigentliche Thema zurück, ohne das Kopfkino ihres Gegenübers zu kommentieren. »Was soll mit mir geschehen, wenn wir da sind?«
»Was soll schon passieren? Nach der Säuberungsaktion von Ivans Clan gehst du in Toms Besitz über. So war der Deal, so wird es sein.«
»Nein«, blieb Maxine standhaft, »das glaube ich nicht! Ivan liegt etwas an mir, ich weiß es!«
»Natürlich, Maxine, das merkt sogar der unsensibelste Idiot, aber eins darfst du nicht vergessen, Ivan ist in erster Linie ein Geschäftsmann, danach erst Gentleman. Dass heißt, er kann sehr wohl Geschäftliches von Privaten trennen.«
Maxine schaute den Mann ihr gegenüber zweifelnd an. Das letzte Gespräch mit Ivan war ihr nahe gegangen, er hatte sich für sie interessiert, auch wenn sie es nicht zugelassen hatte. Und jetzt sollte er all diese Emotionen einfach über Bord werfen können?
»Und warum sollte ihm etwas an dir liegen, wenn du es doch gar nicht erwiderst?«
»Ich kann und darf es nicht erwidern«, sagte sie streng.
»Warum?«
»Weil er mich entführt hat. Ich kann doch nicht die Gefühle gegenüber meinem Entführer erwidern. Wer wäre ich denn dann?!«
»Er ist auch dein Retter. Warum erkennst du nicht auch diesen Teil an?«
Maxine verschränkte die Arme vor ihrer Brust. »Nur durch Zufall. Wenn ein Perverser mich bestellt hätte, hätte er mich doch auch entführt. Also, das nenn ich keinen Helden, sondern einen berechnenden Kriminellen.«
Alexander sah ihr direkt in die Augen, dann raunte er: »Du hast es erfasst. Er ist ein Geschäftsmann.«
Sie kniff ihre Lippen aufeinander. Sie hatte es tatsächlich geschafft, der Argumentation des Arztes Recht zu geben. Und viel bitterer wog die Erkenntnis, dass er wohl auch im Recht wahr.
»Wie ist es…«, sie stockte und sammelte ihren Mut für die Nachfrage, »…Toms Sklavin zu sein?«
»Kommt darauf an, wie die Sklavin sich verhält.« Er schenkte ihr ein Stirnrunzeln. »Wenn du aber von dir redest, ahne ich nichts Gutes. Tom mag keinen Widerstand, keinen Widerspruch und erst recht keine unartigen Mädchen. Und Claire sowieso nicht.«
»Sie wendet sich gegen ihr eigenes Geschlecht?«
Alexander schüttelte den Kopf. »Nein, nur gegen eine andere Zugehörigkeit. Das Geschlecht ist ihr egal. Da sind Tom und sie neutral. Es geht grundsätzlich darum, dass die Rangfolge und der Platz in der Organisation akzeptiert und respektiert wird.«
»Und ich bin auf dem letzten Platz?«, seufzte Maxi, die sich wie bei den Bundesjugendspiele vorkam, wo sie nie, wirklich nie eine Urkunde bekommen hatte.
»Sagen wir es nett, du bist nicht auf dem letzten Platz, aber schon hinterste Reihe.«
»Und wie lebt es sich dann in dieser Position?«
»Gut, wenn man sich einfügt«, seine Augen fixierten ihre verschränkten Arme, »…und sehr schlecht, wenn man das nicht tut.«
Maxine wollte etwas erwidern, als der Wagen abrupt stoppte. Hart schlug sie mit dem Hinterkopf an der Kopfstütze auf.
Schüsse fielen. Jedenfalls hörte es sich für Maxine an, als würden Schüsse fallen. Aber als dann auch Alexander seine Waffe zog, wurde ihr klar, dass sie sich nicht verhört hatte.
»Bleib im Wagen, duck dich«, wies er sie scharf zurecht, »und um Himmels Willen, renn jetzt nicht davon. Du könntest mitten in den Kugelhagel geraten.«
Maxi dachte gar nicht daran, aus dem Auto zu gehen. Verängstigt duckte sie sich und rutschte auf den Wagenboden, während Alexander nach draußen stürzte. Der Fahrer und Beifahrer taten es ihm gleich.
Wieder Schüsse und Maxine zuckte zusammen. Sie machte sich ganz klein, winzig klein.
Plötzlich wurde die Fahrertür aufgerissen, Maxine konnte nicht sehen, wer es war und traute sich auch nicht, ihre Deckung aufzugeben.
Der Wagen startete mit quietschenden Reifen und Maxi saß mit rasendem Herzen auf dem Fußboden, direkt hinter dem Fahrersitz.
Sie versuchte, nicht laut zu schluchzen, solange die Identität des Fahrers nicht geklärt war und sie noch in Lebensgefahr schwebte.
Doch dann vernahm sie eine wohlbekannte Stimme. »Maxi, ich bin‘s, hab keine Angst.«
»Tom?«, hakte sie sinnloser Weise nach und krabbelte behutsam aus ihrem Versteck.
»Ja.«
Hastig schaute sie auf den Beifahrersitz, aber er war leer. Eisige Kälte umwehte ihre Seele. »Wo ist Ivan, wo ist Alexander?«
»Ich bring dich in Sicherheit.«
Das war nicht die Antwort, die sie hatte hören wollen. »Wo ist Ivan???!!«
Sie stürzte nach vorne über die Mittelkonsole und griff ohne Verstand und Vernunft ins Lenkrad hinein. Der Wagen geriet augenblicklich in eine gefährliche Schieflage und schlingerte bedrohlich. »Wir müssen umkehren und ihnen helfen!«
»Nein«, brüllte Tom sie an. Und versuchte, gleichzeitig zu lenken und Maxis Hände vom Lenkrad zu bekommen. »Lass los, du bringst uns nur beide um!«
»Ich spring aus dem Auto, ich schwöre es dir…«, drohte Maxi und kletterte zur Beifahrertür, als sie sah, dass ihr Eingreifen zu nichts führte.
»Sie sind hinter uns, dein Fahrzeug war das einzige, das nicht gepanzert war. Wir mussten uns aufteilen und sie ablenken, denn jeder Schuss wäre durch das Blech wie Butter gegangen.«
Sie sah Tom ungläubig an. Hieß das etwa, dass alle Männer ihr Leben riskiert hatten, um sie zu retten?
»Wieso seid ihr nicht in euren Autos geblieben?« Ihre Hand lag schlaff und tatenlos auf dem Türgriff.
»Ohne die Angreifer auszuschalten, wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie deinen Wagen zerlöchert hätten.« Mit dunkler Miene grollte Tom weiter. »Ab jetzt wird niemand mehr in einem nicht gepanzerten Wagen fahren. Egal ob Sklavin oder Boss. Mir reicht’s!«
Maxi reichte es auch schon lange. Ihr Wellenessurlaub wurde immer mehr zum Horrortrip…auf diese Art von Abenteuerurlaub konnte sie verzichten. Plötzlich fiel ihr etwas an Tom auf.
»Du blutest«, rief sie entsetzt.
»Ja«, kam es belanglos von links. Und er drückte lediglich die Oberschenkel dichter aneinander, woher das Blut zu kommen schien.
Um Himmels Willen, er war getroffen und mehr als einen schnödes Ja fiel ihm nicht ein?
»Wie schwer ist es? Wo wurdest du getroffen?«, schrie sie ihn förmlich an und geriet an seiner Stelle in Panik. »Wo ist das nächste Krankenhaus?!«
»Hier gibt es kein Krankenhaus, und auch wenn es eins gäbe, das wäre der letzte Ort, wo ich hinwollte. Hier geht man nur zum Sterben ins Krankenhaus. Wir fahren zu dem Haus, wo wir hinwollten, dort gibt es beste medizinische Versorgung.«
»Aber dein Blutverlust…«
»…ist nicht so schwer«, unterbrach er sie unwirsch und machte eine harsche Kopfbewegung. »Setz dich jetzt bitte wieder ruhig auf deinen Sitz, ich muss mich konzentrieren.«
Maxi tat zum ersten Mal, wie ihr befohlen wurde, ohne weitere Proteste einzulegen. Sie hoffte nur inständig, dass Tom sie nicht anlog und Ivan und auch der bescheuerte Arzt überlebt hatten und ebenfalls auf dem Weg zu ihrem Lager waren.
Aus den Augenwinkeln notierte sie, wie Tom immer häufiger blinzelte und Mühe hatte den Wagen unter Kontrolle zu behalten.
»Tom?«, fragte sie zaghaft nach. »Geht es dir gut?«
»Ja«, erwiderte er und knallte mit voller Wucht kopfüber auf das Lenkrad.
So viel zu seiner Definition von Gut. Entsetzt warf sie sich auf die Fahrerseite und drückte den Bewusstlosen in den Sitz. Dann kletterte sie auf seinen Schoß und übernahm den Wagen von ihm. Ein Blick in die Rückspiegel zeigten ihr keine Wagenkolonne, sie fuhren alleine. Tom musste gelogen oder von der vereinbarten Route abgekommen sein, jedenfalls waren hinter ihnen nicht Alexander oder Ivan. Hinter ihnen war niemand.
Holprig gab sie Gas und raste ins Nichts hinein. Solange, bis sie auf eine Ansammlung von Zelten stieß, die mitten im Sand standen. Sie hatte keine Ahnung, ob diese Menschen Freund, Feind, neutrale Personen oder Räuber waren, aber sie wusste, dass Tom Hilfe brauchte.
Sie stoppte den Wagen, rannte mit wilder Gestik auf die Männer und Frauen zu, die neugierig und auch mit skeptischen Gesichtsausdruck näher kamen.
Ein älterer Mann und ein Junge waren die ersten beim Wagen. Der Ältere sprach sie in einer Sprache an, die sie nicht verstand. Ratlos sah sie ihn an, zeigte dann auf Tom und das Blut im Wagen.
Wieder erntete sie nur unverständliche Worte und ihn Maxi wuchs die Verzweiflung. Doch dann geschah ein Wunder und der Junge übersetzte die Worte des Älteren ins Englische: »Mein Vater will wissen, was passiert ist.«
»Ein Jagdunfall«, log Maxi, die gar nicht wusste, warum sie das überhaupt für Tom tat. Das beste für sie wäre doch gewesen, ihn verrecken zu lassen.
Mann und Junge sahen sie misstrauisch an und wechselten ein paar Worte, bevor der Junge sprach: »Wenn wir ihm helfen sollen, möchten wir das Auto haben.«
Das Auto? Sie drehte ihren Kopf zu dem Wagen hin. Bis auf zwei Schusslöscher war er intakt. Und damit ihre Fahrkarte in die Freiheit. Sie konnte es nicht weggeben.
»Ich brauch es«, flüsterte sie.
»Genauso wie dein Freund Hilfe braucht…«, sagte der Junge, der erstaunlich viel Skrupel für sein junges Alter besaß – oder eben Geschäftssinn.
»Aber ich muss hier weg. Fährt hier denn dann ein Bus?«
Schallendes Gelächter. Der Junge übersetzte ihre Worte anscheinend, denn nun fingen auch die Umstehenden an zu lachen.
»Nein«, grinste er, »der fährt hier nicht. Ein Kamel könnten wir dir anbieten. Hat mein Cousine aus einem Zirkus bekommen.«
Sie war doch keine erfahrene Kamelreiterin. Wie lenkte man denn so ein Tier? Wieder wanderte ihr Blick zum Auto hin, dann zu Tom, der blass und schwitzend vor ihr lag. Sie könnte innerhalb weniger Sekunden zwei Probleme lösen. Sie könnte Tom sterben lassen und mit dem Auto fliehen. Dann wäre ihre Sklaverei und Gefangenschaft beendet.
Es wäre so verdammt einfach. Doch als sie ihren Mund öffnete, sagte sie etwas ganz anderes: »Okay, ihr bekommt den Wagen. Ich nehme das Kamel.«
Der Junge hielt seine kleine Hand auffordernd auf und Maxi brauchte ein bisschen, um zu verstehen, dass man hier im Voraus bezahlte. Mit einem leisen Knurren händigte sie ihm die Schlüssel aus.
»Hier.«
»Danke«, flötete der Junge schelmisch. Dann rief er etwas in der anderen Sprache und mehrere Männer halfen, den verletzten Tom in ein Zelt zu tragen.
Verdrießlich folgte Maxi ihnen. Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade eben getan hatte. War sie denn wirklich so ein verblödeter Gutmensch? Warum legte sie sich nicht gleich selber einen Sklavenring um den Hals – oder besser sofort einen Strick.
»Komm«, der Junge winkte ihr, »wir brauchen deine Hilfe.«
Auch das noch. Sie wollte eigentlich mit ihrem versprochenen Kamel Richtung Freiheit reiten. Ganz klassisch, dem Sonnenaufgang entgegen.
»Ich will mein Kamel«, beharrte sie und musste miterleben, wie der junge Mann erneut lachte. Sie fand das nicht so lustig.
»Ich hab gedacht, ihr haltet eurer Versprechen«, zischte sie ihn wütend an, doch dieser blieb cool und zwinkerte ihr zu. »Tun wir auch. Aber, wenn du nicht in der Wüste aufgewachsen bist, nützt dir auch ein Kamel nichts. Du würdest im Kreis reiten, die Orientierung verlieren und verdursten.«
»Dann habt ihr mich reingelegt!«
»Nein, du kannst es haben, aber ich an deiner Stelle würde damit nicht losziehen.«
Jetzt musste sie sich auch noch von einem Dreikäsehoch belehren lassen. Ihre Entscheidung, die sie getroffen hatte, schmeckte immer fahler.
Sie folgte dem Jungen mit Wut im Bauch ins Zelt, doch der Anblick von Tom ging ihr dann doch nahe. Sie war eben keine blutrünstige Killerin oder abgebrühte Geschäftsfrau, wie so manch anderer, der hier im Zelt lag. Sie war Maxine, sie war exzentrisch, manchmal auch eine Einzelgängerin, aber eben auch eine mitfühlende Frau. Ihr gelang es nicht, das Leid anderer einfach abzustreifen.
Leider.
»Wir haben die Kugel entfernt. Die Wunde müssen wir mit einem glühenden Stab schließen, du musst ihn beruhigen, wenn er zu sich kommt.« Der Junge fasste nach ihrer Hand. »Und das wird er. Aber wir haben hier keine medizinischen Geräte und den Weg in die nächste Stadt wird er nicht schaffen.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte sie verunsichert.
Der Kleine zog sein Hemd hoch und Maxi konnte kreisrunde Narben sehen. »Bürgerkrieg«, meinte er emotionslos und ließ dann das Hemd wieder über seinen Körper gleiten.
»Oh.« Maxi hätte gerne irgendetwas schlaues erwidert, aber ihr fehlten einfach die Worte.
»Schon gut«, winkte der Junge ab. »Der Krieg ist nun vorbei. Schauen wir, dass es deinem Freund bald besser geht.«
Deinem Freund. Der da lag und mit dem Tod rang, das war nicht ihr Freund, das war ihr Feind. Der Teufel höchstpersönlich. Und sie stand hier und bangte um sein Leben. So gut war die Affäre mit ihm auch nicht gewesen, dass sie jetzt nicht ging, aber der Junge, der wohl ihre Ambivalenz spürte, packte sie an der Hand und zerrte sie zu Tom auf den Boden.
»Sprich mit ihm.«
»Aber er ist ohnmächtig«, weigerte Maxi sich, der Anweisung nachzukommen.
»Nicht mehr lange«, prophezeite der Junge und nickte zu dem Mann mit der glühenden Eisenstange hin. »Die Wunde so zu verschließen, ist wirklich schmerzvoll und vielleicht auch sinnlos, aber trotzdem das Einzige, was ihn vielleicht noch retten kann.«
Maxi wurde bei dem Anblick des glühenden Metalls schlecht. Bestimmt hatte Tom, der Killer, genau eine solche Behandlung verdient und würde dieses Martyrium in der Hölle noch etliche Male nach seinem Tod genießen dürfen, aber jetzt dabei sein zu müssen, war ihr zu viel der Ehre.
Trotzdem blieb sie neben ihm knien. Fast manisch konzentrierte sie sich auf seine Gesichtszüge, um nicht mitzubekommen, wie die Wunde auf brutalste Art und Weise am Bein geschlossen wurde.
Tom lag regungslos vor ihr, nur sein Brustkorb senkte sich rasch, aber flach. Feine Schweißperlen zierten sein markantes, attraktives Gesicht, welches nun blass und müde wirkte.
Ein Schrei von ungeahnter Intensität riss Maxi aus ihrer Anspannung. Sie zuckte zusammen, als Tom sich unter ihr aufbäumte und völlig orientierungslos und schmerzgeplagt um sich schlug. Es brauchte gefühlt das ganze Dorf, um ihn auf den Boden zu drücken.
»Rede mit ihm…«, brüllte der Junge hinter ihr.
»Hallo…To..mm«, stammelte sie. »Ich bin’s.« Wow, sehr beruhigende und hilfreiche Worte, dachte sie zynisch bei sich selbst. Sie war die geborene Notfallseelsorgerin.
»Rede weiter.«
»Du bist in Sicherheit«, sagte sie schon etwas intelligenter, »sie mussten die Blutung stoppen.«
Geistlos starrte er sie an. Er verstand sie nicht. Der Schmerz und der Blutverlust mussten seinem Verstand ordentlich zugesetzt haben. Sanft umfasste sie sein rasiertes Kinn, hielt es fest umschlungen und säuselte in sonorer Stimmlage: »Ruhig, Großer. Ruhig.«
Tatsächlich kam er etwas zur Ruhe, seine Extremitäten stellten ihr Zucken ein, wenn auch sein schmerzverzerrter Gesichtsausdruck blieb. Wenn Maxi gewusst hätte, dass man mit ihm nur wie mit einem Pferd sprechen musste, um ihn zu beruhigen, hätte sie das schon früher getan.
»Ruhig«, murmelte sie immer wieder und strich ihm mit ihren Händen über die Schläfen, bis er wieder regungslos zusammensackte.
Die Männer entfernten sich nach getaner Arbeit, bis auch der Junge ging, der einzige, mit dem sie sich verständigen konnte. Sie blieb alleine mit Tom zurück und mit ein paar Anweisungen, wie sie ihn zu versorgen hatte.
Jetzt war sie also im Kapitel der Krankenschwester angekommen. Es war wirklich unglaublich, was dieser Trip alles für Wendungen bot. Nun ja, Krankenschwester, der Beruf kam ja angeblich bei Männern richtig gut an, überlegte Maxi und versuchte sich mit diesem Gedanken aufzuheitern.
Sie lehnte sich erschöpft zurück und beobachtete ihren unfreiwilligen Patienten.
Seine Augenlider flackerten. Sie wechselte die kühlen Umschläge und legte frische nach, als er zu sich kam.
»Maxine?«, fragte er benebelt nach, »was machst du in meinem Bett?«
Ähm. Seinem Bett? Litt er an Halluzinationen? Anscheinend, denn er lag auf einem Zeltboden. »Das hättest du wohl gerne«, knurrte sie und rückte den Lappen auf seiner Stirn zurecht.
Erst jetzt begann Tom, seine Umwelt wahrzunehmen. Ratlosigkeit zeichneten seine Gesichtszüge, dann Panik und schließlich Erkenntnis. »Verdammt, ich wurde angeschossen und du…« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Maxi. »Hast mich hierher gebracht?«
»Ja. Du wolltest ja nicht ins Krankenhaus«, erwiderte sie beleidigt, da sich der letzte Satz sehr vorwurfsvoll angehört hatte.
»Um Gottes Willen! Ich kann ja nicht erahnen, dass du mich dann zu verrückten Schlächtern schleppst.«
»Aber du lebst.«
Er sah sie pikiert an. »Die Frage ist wie lange noch.«
»Mhm.« Zu der Anschuldigung fiel ihr jetzt auch nichts mehr ein. Der Bastard sollte froh sein, dass sie ihn überhaupt irgendwo hingebracht hatte. Er wusste schließlich genau, dass dazu keine Sklavin moralisch verpflichtet war.
Er richtete sich stöhnend halb auf. »Man, mir tut alles weh. Was für ein Scheißtag.«
Das fand Maxi auch. Und nun war es auch an der Zeit, nach Hause zu gehen. »Meinst du, du überlebst, bis deine Männer uns gefunden haben?«, fragte sie sicherheitshalber nach. Nicht, dass ihre ganze Mühe umsonst gewesen war.
»Denke schon. Das Auto besitzt einen Satellitensender.«
Das war eine wichtige Information, die er ihr wahrscheinlich unbeabsichtigt mitgeteilt hatte. Denn jetzt wusste Maxine, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Hastig rappelte sie sich auf.
»Wohin gehst du?«, fragte Tom und seine Miene wurde leicht schattig. Was mit der Blässe zusammen ziemlich unheimlich aussah. Ein bisschen wie aus einem Zombiefilm.
»Raus.«
»Bleib.«
Kaum erwacht, dachte er also, er könne ihr wieder Befehle geben. Es hatte sich also nichts zwischen ihnen beiden geändert.
»Nein. Ich gehe jetzt.«
»Ich werde dich suchen lassen«, er machte eine unheilvolle, drohende Pause, »…und dich finden.«
»Ersten Punkt habe ich mir bereits gedacht, beim zweiten Punkt will ich dir mal lieber nicht zustimmen.« Sie zeigte ihm den Mittelfinger. »Weißt du, du bist ein echt undankbares Arschloch.«
»Maxine«, sprach er sie beim vollen Namen an. »Bitte, bleib.«
»Um deine Sklavin zu werden? Niemals.« Sie drehte sich zum Zelteingang um. »Wir sind jetzt quitt. Du hast mir angeblich mein Leben gerettet, ich dir deins. Ich schulde dir somit überhaupt nichts mehr.«
»Es geht nicht um schulden«, meinte er in einen tiefen Tonlage, »sondern darum, dass du mir gehörst. Ich entscheide, wann ich dich gehen lasse.«
»So?« Sie winkte ihm über ihre Schulter hinweg zu. »Dann sieh jetzt genau hin und staune: Ich werde ohne dein Einverständnis gehen. Auf nimmerwiedersehen. Tschüssi. Ciao.«
Sie schlug die Zeltplane zurück, hinter sich hörte sie, Tom zetern und fluchen, es fielen sogar ein paar Beschimpfungen rund Drohungen, aber er war zu geschwächt, um seinen Worten auch Taten folgen zu lassen.
Zielstrebig steuerte sie auf den Jungen zu, der mit anderen Halbstarken neben dem neu erworbenen Auto rumlungerte. »Wo ist das Kamel?«
»Bist du verrückt?«, wollte er wissen, »ich hab dir doch gesagt, dass du dabei sterben wirst.«
»Gib mir das versprochene Kamel!«
Der Junge schaute ungläubig, doch dann zuckte er mit seinen Achseln. »Dein Leben, deine Entscheidung.«
Na endlich jemand, der dies erkannt hatte. Genau, es war ihr verfluchtes Leben und darüber wollte sie bestimmen können.
»Tue es nicht, bitte«, kam es sehr schwach hinter ihr und ein taumelnder, schwankender Tom stand hinter ihr. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Eher aus Reflex, als aus Mitgefühl sprang sie zusammen mit dem Jungen nach vorne, als Tom sein Gleichgewicht verlor und einknickte.
Mit vereinten Kräften hielten sie ihn aufrecht.
»Der Junge hat dir gesagt, dass du dabei sterben wirst«, keuchte ihr zukünftiger Besitzer, wenn sie nicht bald floh, mit rasselndem Atem. »Hör auf ihn.«
»Nein.«
»Sture Zicke«, schnaufte Tom, den sie aus Protest losließ, sodass dieser auf einer Seite zu Boden sackte. Er musste sich nun mit beiden Händen in den Arm des Jungen krallen, um nicht komplett den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Aber gut, ich mach dir ein Angebot. Du bleibst und ich lasse dich frei, sobald wir bei Ivans Clan sind.«
»Du lässt mich frei?«, hakte sie äußerst misstrauisch nach. Tom war kein Mann, der Geschenke verteilte. Und schon gar kein so großes. Er nahm lieber, anstatt zu geben.
»Ja«, kam es klar und deutlich aus seinem Mund.
Sie legte ihm vorsichtshalber ihre Hand auf die Stirn.
»Was tust du da?« Er runzelte ärgerlich seine Augenbrauen.
»Temperatur abschätzen. Ich will später nicht, dass du auf Unzurechnungsfähigkeit plädierst. Klar?!«
Seine Augen wurden zu kleinen Schlitzen. Maxi konnte aber nicht abschätzen, ob dies die Anzeichen einer neuen Ohnmacht oder Ausdruck seines unverhohlenen Hasses ihr gegenüber waren.
»Also, bleibst du?«, wollte er nur schroff wissen.
»Ja.« Was blieb ihr auch anderes übrig. Lieber hatte sie den Spatz auf der Hand, als die Taube auf dem Dach. Oder in ihrer Situation: Lieber verbrachte sie noch ein paar Tagen bei dem Irren, als sich in der Wüste zu verirren.
»Danke«, murmelte er und dann griff er plötzlich nach ihrer Hand. Sie zuckte zusammen, denn damit hatte sie nicht gerechnet und er wiederholte »Danke, dass du mich gerettet hast.«
Sooft hatte Tom das Wort Danke bestimmt noch nie in seinem ganzen Leben benutzt. Es musste ungewohnt für ihn sein, dieses Wort korrekt anzuwenden. Aber sie wollte ihn gerne dabei unterstützen, dieses neue Wort in seinen Wortschatz zu integrieren.
»Bitte«, wiederholte sie nur. »Gern geschehen.«
Wieder dieses kurze Flackern in seine Augen. Eine Warnung? Hinterlist oder nur das voranschreitende Fieber, das seinen Blick trüb werden ließ? Jedenfalls behielt Maxi dabei ein ungutes Gefühl und vielleicht wäre der Todesritt auf dem Kamel doch die bessere Wahl gewesen. Irgendwie beschlich sie das Gefühl, dass der Tod auf dem Kamel gnädiger als Tom selbst sein könnte.
Er ließ den Jungen los und sank kniend in den Sand. »Dann warten wir hier jetzt gemeinsam auf dein neues Leben.«
Seine Art, sein Tonfall und seine Wortwahl behagten ihr nicht, daher fragte sie ein letztes Mal nach: »Und du wirst mich frei lassen. Ehrenwort?«
»Bei meiner Ehre, ja.«
»Gut, dann warten wir.« Sie setzte sich neben Tom, während der Junge sich kopfschüttelnd entfernte. Er musste sie für komplette Idioten halten.
»Ivan«, durchbrach sie die Stille, »konntest du sehen, ob er getroffen worden ist?«
»Nein, ich glaube nicht. Er hat mir Feuerschutz gegeben, als ich zu deinem Wagen gerannt bin.«
»Warum du, warum nicht er?«
Tom holte schwer Luft. Ohne richtige medizinische Versorgung würde er bald wieder kollabieren, man konnte es deutlich an dem Keuchen hören, dass er ausstieß, wenn er redete. »Erstens, weil du mein Besitz bist. Zweitens, weil ich näher an deinem Wagen dran war.«
»Warst. Du warst mein Besitzer«, flüsterte Maxi heiser.
Wieder dieser bedeutungsvoller Blick, der eigentlich viel erzählte, wenn man sich die Mühe machte, ihn zu entziffern. Doch dazu war Maxi von dem Tag selbst zu aufgewühlt, ihr fehlten die feinen Antennen, die sie sonst immer hatte.
»Und noch solange sein werde, bis wir bei Ivans Clan sind.« Stellte er richtig und sein Versprechen klar.
»Und Alexander?«
Sie bekam keine Antwort. Erst schlug ihr Herz aufgrund des Schweigens schneller, bis sie begriff, dass Tom bewusstlos geworden war und daher nicht antwortete.
Sie legte seinen Kopf in ihren Schoß und starrte in die Wüste hinein. Hoffentlich kam bald die angekündigte Rettung.
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2016
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