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Prolog

 

19 Jahre zuvor

 

Das elektrisierende Knistern in der Luft hätte ganze Himmel unter blitzendem Strom zerbersten lassen können. Kurze, furchtbar mächtige Ströme bewegter Ladung, unter denen ganze Wolkendecken in ein kurzlebiges Mosaik zerteilt würden.

  Jeder noch so kleine Muskel in Salamas Körper spannte sich schmerzhaft an, als sie den Raum betrat. Als wollte ihr Unterbewusstsein sie vor dem Kommenden warnen.

  Der Ursprung dieses gefesselten Sturms sah überraschenderweise groteskhaft klein aus, und unwichtig. Das junge Wesen schien sich seiner eigenen Kräfte – und dem damit verbundenen Schicksal – auch noch nicht bewusst zu sein, während es weiterhin die spartanisch angebrachte Glühlampe an der Decke spielerisch aufblinken ließ. Entweder es schirmte sich absichtlich vor den Blicken des Publikums ab, die es nicht im geringsten kümmerten, oder es war – und das empfand Salamas Vernunft als plausibelste Antwort – einfach seiner kindlichen Begeisterung für Spiele erlegen, die seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Nicht auszudenken, welche Folgen es mit sich zöge, falls ein vierjähriges Mädchen – denn nichts anderes als das war es – schon die klar bedachte Intention hegte, sich absichtlich von den gierigen Blicken der Zuschauer abzuschirmen.

  Ein derartiger Beweis seines viel zu hohen Intelligenzquotienten verglichen mit Gleichaltrigen würde nicht nur Erstaunen hervorrufen, sondern auch an blanke Panik grenzende Ängste schüren.

  Welch ein Fluch und ein Segen, dass das sonderbare Kind sich keiner Messung der Gehirnströme unterziehen ließ, da jedes elektronische Gerät einem bitteren Kurzschluss zum Opfer fiel, sobald es auf das Kind traf. Ob dies willentlich oder völlig unbewusst geschah, vermochte sich zu dieser Zeit noch niemand vorzustellen.

  Während Salama nun begann, ziellos und gedankenverloren durch den Raum zu stöckeln, plagte sie der moralische Zweifel an dem wissenschaftlichen Experiment, dem sie in den letzten Wochen ihre Unterstützung zugesichert hatte. Noch immer wusste sie nicht mit dieser Entdeckung umzugehen. Augenblicklich verharrte sie in der Bewegung und ließ ihren Blick durch die Gesichter der Männer um sie herum gleiten. Der Wissenschaftler aus den USA und die Kollegen des japanischen Instituts strahlten schiere Begeisterung aus für die bizarre Gabe, die in diesem Kind schlummerte. Ihr Tatendrang schrie förmlich aus ihren gierigen Augen heraus, endlich entfesselt zu werden. Der deutsche, sowie der französische Vertreter beherrschten ihr Pokerface. Wenn sie sich über diese überraschende Neuigkeit freuten, so zeigten sie es nicht. Ebenso waren Zweifel, falls sie existierten, gut bewacht in den Tresoren ihrer Gedanken eingeschlossen. Dieselbe stählerne Maske trug auch der englische Gastgeber, der sie alle hier eingefunden hatte – wenn auch ein viel zu perfektes Lächeln sich in sein Gesicht gebrannt hatte. Die Haare hatte er in einem strengen, perfekten Zopf zurückgebunden und der Anzug zeugte ebenso von seiner knitterlosen, aalglatten Perfektheit. Dieser Mann vermittelte eine Ausstrahlung, die Salama einen fürchterlichen Schauer über den Rücken schickte.

  Sie fühlte sich plötzlich hilflos wie ein Kind. Sie war heute Morgen extra aus Dubai hierher geflogen, in dieses ihr fremde Land, um sich von Ruperts vermeintlichem Durchbruch in seinen Forschungen persönlich zu vergewissern. Monatelang hatten sie angeregten Briefwechsel ausgetauscht – ihr war bereits entglitten, wer den Spuk damals begonnen hatte –, bevor er sie neulich nachts aus dem Bett klingelte um sie über neueste Durchbrüche in Kenntnis zu setzen.

  Nun stand sie hier und traute sich nicht, das Wort zu erheben. Sie fühlte sich klein und unbedeutsam unter den strengen Blicken ihrer männlichen Kollegen. Das Mädchen auf dem Holzstuhl in der Mitte des Raumes starrte weiter die blinkende Birne an der Decke an, als wäre es nicht ihr Schicksal, das soeben durch ein paar Wissenschaftler besiegelt werden sollte. Als Rupert die Meinungen aller zu seinen Plänen diesbezüglich einholte, schwelgten manche schon in naiven Tagträumereien über den glorreichen Rum, der sie erwartete, falls das Projekt gelang; Salama stimmte zuletzt ab und wollte nicht die erste sein, die sich dieser jungen Chance für die Wissenschaft in die Wege stellte. Zumindest redete sie sich letzteres ein. Tief in ihrer Brust wusste sie schon jetzt, dass das Projekt ihr vielleicht mehr Kummer bereiten würde als es je wieder wett machen könnte.

Kapitel 1

 

Heute

 

Galle und Blut lagen auf ihrer Zungenspitze und ein Würgen erschütterte ihren ganzen Körper. Sie lauschte dem wilden Pochen ihres Herzschlags. Ihre Gliedmaßen wurden langsam taub und kühl.

  Nein, dachte sie. Ich –

  »Wie geht’s?«, hallte eine weibliche Stimme durch den fremden, kalten Raum, in dem sie sich befand. Die Frage klang so absurd, dass ein erschöpftes, zynisches  Grinsen sich auf Elvyns Lippen legte. Als sie nichts erwiderte, fuhr die Stimme fort: »So wie’s aussieht, wohl wieder gut.« 

  Sie schlug die Augen auf, um sich umzublicken. Außer den weißen Fliesen an der Decke konnte sie jedoch nichts erkennen, war sie doch auf einem Tisch mit breiten Lederbändern fixiert wie auf einem Präsentierteller. Nicht mal den Kopf konnte sie drehen. Panik kroch in ihre verkrampften Glieder und setzte sie unter Strom, ihre Atmung glitt über in ein gedrücktes, schweres Keuchen. Es roch nach Destilliermittel.

  »Kein Grund zur Sorge«, redete die Frau auf sie ein. Die Worte zeigten keinerlei Effekt bei der Gefesselten. Elvyn hörte Schritte und nur Sekunden später trat die Fremde mit einem sanften Lächeln in ihr Blickfeld, lehnte sich über den schmalen Tisch. Sie war nicht sonderlich hübsch, hatte aber trotzdem etwas Spannendes in ihrem Gesicht. Schwarze, viel zu dichte Haare rahmten ihr Gesicht ein und verliehen ihren fast ebenso schwarzen Augen Tiefe. Die dunkle Haut und der Akzent zeugten von arabischer Nationalität. »Tut mir leid, das mit den Gurten. Bald machen wir dich los, versprochen.«

  »Kacke«, kroch aus Elvyns staubtrockenen, wund geschrienen Kehle. Erinnerungsfetzen blitzten vor ihrem inneren Auge. Ihre Eltern, ihr Zuhause. Der Schlag auf den Kopf und die damit verbundenen, noch immer andauernden Schmerzen. Ihr Magen spielte Karussell. Der Schwindel und die Übelkeit drängten sie an den Rand ihres Bewusstseins.

  »Sobald wir dein Gedächtnis auf Werkseinstellung zurückgesetzt haben, darfst du hier raus«, fuhr die Frau fort, doch Elvyn verstand die Bedeutung dieser Worte nicht. Sie kämpfte mit der Ohnmacht. Erst als die Araberin im weißen Kittel sich Latexhandschuhe überstreifte und eine Spritze mit einer transparenten Flüssigkeit aufzog, sickerte die Erkenntnis in ihr Bewusstsein. Erneute panische Angst ergriff sie und ein weiterer Brechreiz erschütterte ihren zittrigen Körper; Scharniere am Tisch klackerten und es klang, als schabten Klauen aufeinander.

  Der Stich tat nicht sonderlich weh. Erst als das flüssige Mittel in ihren Blutkreislauf geführt wurde und sich verteilte, entwich ein kurzer, spitzer Aufschrei Elvyns heiserer Kehle. Der unbeschreibliche Druck überfiel sie völlig überraschend und betäubte ihren ganzen Körper, der sich gleichzeitig anfühlte, als wäre jede feine Ader dem Platzen nahe. Helle Flecken tanzten vor ihren Augen. Sie verlor das Bewusstsein nicht plötzlich, sondern furchtbar langsam und zäh. Als stände sie in einem Meer aus dickflüssigem Honig und versuchte vergeblich, gegen die hinaustreibenden Wellen anzulaufen, um ans sichere Ufer zu gelangen.

 

Als sie das nächste Mal erwachte, war sie ein neuer Mensch, und sie übergab sich.

  Elvyn wandte sich zur Seite, hustete und spuckte, bis nur noch Galle und Ekel übrig blieben. Angewidert wischte sie sich den Mund am Ärmel des Pullovers ab, den sie trug. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen roten Pullover besessen zu haben. Eigentlich hasste sie Rot.

Verwundert blickte sie sich um, ihre Verwirrung wuchs mit jeder Sekunde. Sie befand sich in einem blassblau gestrichenen, kleinen Zimmer. Es gab keine Fenster und auf dem Boden waren weißgraue Fliesen ausgelegt. Abgesehen von dem viel zu harten, nach Waschmittel stinkenden Einzelbett, auf dem sie lag, beinhaltete der Raum kein Mobiliar.

  »Was zur Hölle …?«, dachte Elvyn laut und setzte sich auf, woraufhin ihr sofort schwindelig wurde. Sie fühlte sich sterbenskrank, ihr Kopf dröhnte und ihre Muskeln brannten. Im Versuch aufzustehen, setzte sie ihre Füße auf die Fliesen, achtete dabei darauf, nicht in ihr Erbrochenes zu treten. Ein Blick nach unten verriet ihr, dass sie schwarze Stoffhosen und gleichfarbige Sneaker trug. Letztere erweckten das Gefühl eines Déjà-vus. Mit Edding war auf der weißen Spitze ihrer abgenutzten Chucks ein Herz aufgemalt, doch wann und von wem schien ihr zwar auf der Zunge zu brennen, doch jedes Mal zu entgleiten, sobald sie sich fast wieder daran erinnerte. Frustriert stützte sie sich vom Bett ab und gab sich Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Sie brauchte noch zwei weitere Versuche, bevor es ihr gelang und sie einige Schritte ging. Ihre Waden verkrampften sich stichartig, weshalb sie augenblicklich zu Boden sank und mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Beinmuskeln massierte.

  In der Ferne näherte sich das hohle Klack von hochhackigen Schuhen. Elvyns Blick fiel auf die Tür, die sie bis jetzt vollkommen unbeachtet gelassen hatte. Im oberen Drittel war ein Fenster eingelassen, dass Sicht auf einen Gang freilegte.

  »Ist da jemand?«, versuchte sie zu rufen, doch ihre Stimme überschlug sich und brach. Die Schritte wurden nun schneller und unregelmäßig. Erst einige Herzschläge später erkannte sie, dass eine zweite Person sich angeschlossen hatte. Elvyn zwang sich auf die Beine und setzte einen Fuß vor den anderen. Bevor sie die Tür erreichte, erschien ein Gesicht hinter dem Fensterglas. Eine Frau mit dunklem Teint und noch dunkleren Haaren blickte besorgt zu ihr herein, strahlte dann aber und trat ein, gefolgt von einem großgewachsenen, blonden Mann, der strenger aussah.

  »Hi«, grüßte die Frau in schrägem Akzent und schritt auf sie zu. »Ich bin Salama und das ist Johnny. Wie geht es dir?« Vollkommen überrumpelt ließ Elvyn es zu, als die Frau sie am Arm packte, um sie zu stützen. »Du bist ungewöhnlich früh aufgewacht. Wir hätten mit dir erst in vier Stunden gerechnet. Komm, ich begleite dich nach draußen.«

  »Mir ist übel«, sprach Elvyn leise und schwach – worauf die Frau im Kostüm kurz zusammen zuckte –, während sie ihren Weg aus dem Raum heraus und den Gang entlang einschlugen. Johnny blieb zurück, um den Boden vom Erbrochenen zu bereinigen.

  »Kein Wunder«, lachte Salama kurz und nervös, »bei den vielen Medikamenten, die nötig waren, um dich am Leben zu halten.«

  »Was ist –«

  »Was passiert ist?«, unterbrach die exotische, fremde Frau sie. »Du hattest allem Anschein nach einen Unfall. An was kannst du dich noch erinnern?«

  Angestrengt dachte Elvyn nach. Es war, als wären die letzten drei Tage vollkommen aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Sie versuchte, noch tiefer zu graben, erhielt aber nur ein paar wenige, verwirrende Informationsbrocken.

  »Ich werde dir einfach ein paar Fragen stellen«, half Salama, die ihren Arm noch immer festhielt, während sie gerade den Gang verließen und in eine Art kleines Wohnzimmer kamen, wo sich beide auf Sesseln niederließen. Das Zimmer war völlig simpel eingerichtet, zwei Sessel, ein Sofa, ein alter Fernseher, ein Tisch mit Zeitschriften und viele, viele Pflanzen. Doch immer noch keine Fenster. »Wie alt bist du?«

  »Siebzehn.«

  Salama nahm einen Block und Kugelschreiber auf, die auf dem Tisch vor ihnen lagen. Nach einigen Sekunden, in denen sie damit die gesprochenen Worte fleißig dokumentierte, fuhr sie fort: »Wie ist dein Name?«

  »Elvyn.«

  »Dein vollständiger Name, bitte.«

  Erst zögerte sie mit erhobenen Augenbrauen, dann setzte sie an: »Mein Name ist Elvyn Lutricia Marla Vanya.«

  »Wie heißen deine Eltern?« Ein Schatten legte sich über Salamas Gesicht, während sie redete. Ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte.

  Elvyns Mund öffnete sich. Eine furchtbar lange – quälend lange Sekunde verstrich, in der nichts geschah. Dann begann ihr Kiefer, unkontrolliert zu zittern und sie blinzelte verschreckt, starrte auf den Boden. »Ich … ich weiß nicht.« Während sie grübelte, war es, als erinnerte sie sich ganz vage an ein konfuses Bild einer Frau, vermutlich ihre Mutter. Doch je mehr sie sich anstrengte, desto mehr verschwamm die Vorstellung. Sie wich einem Trugbild ohne Konturen, einem grauen Fleck auf schwarzweißem Hintergrund.

  »Woher kommst du? Wo ist deine Heimat?«

  »Das Meer«, spuckte Elvyn aus. Doch der Gedanke verflog, sobald sie ihn greifen und ausführen wollte. Das beengende Gefühl des Verlustes und der Unwissenheit überfiel sie.

  »Das Meer?«, wiederholte Salama und weitete ihre Augen voll Schreck. »Wie kommst du denn darauf?«

  »Ich weiß nicht«, gab sie nur kopfschüttelnd zurück, dachte aber insgeheim an etwas, das sie einfach nicht in Worte fassen konnte. Ein Bild – eher die Illusion einer Erinnerung, die sie damals beschlossen hatte, niemals zu vergessen. Das plötzliche Überrumpeln von Trauer und Scham, gepaart mit dem unvergesslichen Gefühl, wenn die salzige Meeresbrise ein Prickeln auf ihre Haut legte. Dann das Rauschen und das Brechen der Wellen an der britischen Küste und der Duft der See, der sie Zuhause fühlen ließ.

  Salama seufzte, legte den Block auf den Tisch und blickte auf ihre im Schoß gefalteten Hände, pulte dann an der abstehenden Haut ihres Daumennagels herum. Geistesabwesend und ohne ihre Gesprächspartnerin anzusehen, erzählte sie mit gesenkter Stimme: »Ich muss dir wohl eine schlechte Nachricht überbringen. Ich arbeite für eine Organisation, die sich um Kinder und Jugendliche wie dich kümmert. Menschen, die, wie du, ihre Eltern auf irgendeiner Weise verloren haben und zu allem Übel auch noch einen Gedächtnisverlust erlitten haben. Das Krankenhaus in London hat uns benachrichtigt, als du aufgefunden wurdest, bewusstlos und dem Tod nahe.« Kurz hielt sie inne, schluckte schwer, und hob dann den Blick in Elvyns Augen, die sprachlos zurück starrte. »Sie waren sich ziemlich sicher, dass du dich nach deinem Erwachen wohl an nichts mehr erinnern können würdest, vielleicht nicht mal mehr an deinen Namen. Und da wir auf diese Art von Fällen und die Resozialisierung der Patienten spezialisiert sind, haben wir dich sofort aufgenommen. Du hast sechs Stunden im Aufwachzimmer geschlafen, seit du hier ankamst, warst aber insgesamt mindestens zwei Tage bewusstlos.«

  Der schmerzende Drang zu weinen überkam Elvyn, doch als sie es zulassen wollte, weigerten sich die Tränen, ihren Lauf zu nehmen. Weine nicht über ein Knistern, wenn der Blitzschlag noch bevorsteht. Stattdessen atmete sie tief ein, schloss ihre Augen und fragte mit neu geschöpfter Kraft in der Stimme: »Also ist das hier ein Waisenhaus?«

  »Ich würde es eher Reha-Klinik für Jugendliche nennen«, erwiderte Salama sofort. »Sobald du dich bereit fühlst, werde ich dich mit den anderen Patienten bekannt machen. Oder ich führe dich direkt zu deinem Zimmer, in dem du dich ausruhen kannst. Du teilst es dir mit Amy und Asifa, die aber gerade im Freizeitraum sein dürften. Wenn du duschen willst, kann ich dir auch das Bad zeigen, und falls du Hunger hast –«

  »Stopp«, keuchte Elvyn, denn die vielen Informationen hatten ihre Kopfschmerzen auf ein neues Level gehoben. Stille lag im Raum, furchtbar erdrückende, dröhnende Stille. Erst jetzt, wo sie ihre Augen wieder öffnete und Salama betrachtete, wurde sie sich dem soeben Geschehenen bewusst. Während Salama mit aufgerissenen Augen und offen stehendem Mund zurück starrte, nicht mit einer Wimper zuckte, spiegelte sich Furcht in ihrer Mimik. Sie hat es auch gehört.

  Elvyns Stimme hatte, nun, da sie beladen war mit starken Emotionen, eine ganz besondere Wirkung auf ihre Umwelt. Es war, als hielt die Welt den Atem an, nur um ihren Worten zu lauschen. Eine deutlich spürbare Spannung knisterte in der Luft zwischen ihnen. Ihre Stimme war mächtig.

  Sie erinnerte sich. Das Déjà-vu klebte ein vergangenes Bild ihrer Erinnerungen aus den Papierfetzen ihres Gedächtnisses zusammen. Elvyn Vanya war das Mädchen, das stets in ruhiger, kontrollierter Tonlage sprechen musste, für die sie Jahre gebraucht hatte, um sie sich anzutrainieren. Denn andernfalls würden sich die Worte, die aus ihrer Kehle flohen, sofort in die Gedanken und Gefühle ihrer Mitmenschen fressen und sie hochgradig beeinflussen – manipulieren. Diese Gabe, das hatte ihre Mutter einst gesagt, müsste sie hüten und geheim halten, als hinge ihr Leben davon ab. Warum sie sich jedoch an diesen Rat, aber nicht an die Ratgeberin erinnerte, konnte sie nicht sagen.

  »Bitte entschuldigen Sie«, wisperte Elvyn Salama zu, die noch immer verschreckt gestiert hatte. Nun entspannten sich ihre Gesichtszüge und sie atmete hörbar aus. Als wäre just in diesem Moment von einem unsichtbaren Fluch befreit worden.

  »Deine Gedächtnislücken sind nicht der einzige Grund, wieso das Londoner Krankenhaus gerade unsere Organisation wählte«, erklärte Salama in gedämpfter Stimme. »Sie erzählten bereits, dass du eine besondere Fähigkeit hast. Aber dass sie so ausgeprägt ist, hatten wir nicht geahnt.«

  »Wie konnten sie das wissen?«, fragte Elvyn alarmiert nach. Misstrauen kochte in ihren Adern und erhitzte ihr Blut.

  »Es gab einen Moment, in dem du kurz bei Bewusstsein warst, weißt du noch?« Trotz verzweifeltem Suchen fand Elvyn keine passende Erinnerung, worauf sie nur den Kopf schüttelte. »Sie berichteten mir, du hättest nur ein einziges Wort gesagt, und damit drei der fünf umstehenden Menschen zum Weinen gebracht.«

  Eine Gänsehaut brach auf ihren Armen aus und ihr Herzschlag wurde unruhig. »Welches Wort?«

  »Du sagtest ›Hilfe‹.«

  Bestimmt eine volle Minute saß Elvyn nur da und starrte auf ihre Finger, vergrub sich gedanklich unter der dunkelblauen Bettwäsche Zuhause, die – Sie keuchte erschreckt. Elvyn wusste wieder, wie es sich anfühlte, sich in ihre Bettdecke zu kuscheln, kannte sogar deren Farbe und Geruch. Doch als sie nach mehr Informationen greifen wollte, entwischten sie ihr wieder.

  »Moment mal«, sagte sie schließlich, als hätte sie soeben eine furchtbar wichtige Erkenntnis erlangt. »Dies ist eine Klinik für Menschen wie mich, und ich bin ein Freak mit einem eigenartigen Talent – Heißt das, es gibt noch mehr?«

  Zögernd biss Salama sich auf ihre rosa bemalte Lippe. Schließlich nickte sie. »Neben dir noch fünf weitere, jeder hat eine anderes … Talent

»Fünf weitere«, wiederholte Elvyn atemlos und stand reflexartig auf, ihre Haltung war plötzlich viel sicherer als noch vor wenigen Minuten, gestützt durch Neugierde und Hoffnung. Worauf sie hoffte, war ihr nicht klar. Eine außergewöhnliche Stimmung schwang in den Tönen mit, als sie verkündete: »Ich will sie kennenlernen

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Tag der Veröffentlichung: 08.05.2016

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