Das ist mein Fenster. Eben
bin ich so sanft erwacht.
Ich dachte, ich würde schweben.
Bis wohin reicht mein Leben,
und wo beginnt die Nacht?
Ich könnte meinen, alles
wäre noch Ich ringsum;
durchsichtig wie eines Kristalles
Tiefe, verdunkelt, stumm.
Ich könnte auch noch die Sterne
fassen in mir; so groß
scheint mir mein Herz; so gerne
ließ es ihn wieder los
den ich vielleicht zu lieben,
vielleicht zu halten begann.
Fremd, wie niebeschrieben
sieht mich mein Schicksal an.
Was bin ich unter diese
Unendlichkeit gelegt,
duftend wie eine Wiese,
hin und her bewegt,
rufend zugleich und bange,
daß einer den Ruf vernimmt,
und zum Untergange
in einem Andern bestimmt.
–Rainer Maria Rilke
Tanzen im Mienenfeld …
»Wach auf!«
Vor nicht allzu vielen Jahren war es die dreizehnjährige Leenie, die gerade ihren alten Füller niederlegte und den soeben geschriebenen Text noch einmal Korrektur las. Während sie versunken war in einem aufbrausenden Meer aus Gefühlen und imaginären Szenen, fuhr der abendliche Sommerwind durch ihre hellen, fast weißen Haare und ließ sie tanzen. Blätterrascheln und Tierstimmen umgaben sie, doch all das nahm sie nicht wahr, wenn sie ihrer großen Leidenschaft nachkam und sich Geschichten ausdachte, ganz wie die Mutter.
Leenies schmale Lippen, die sie selbst als unförmig und hässlich empfand, verzogen sich zu einem schiefen Lächeln, als sie sich das letzte ihrer schriftlichen Wörter auf der Zunge zergehen ließ. Sie hob den Blick ihrer grauen Augen in den bereits dunkelviolett gefärbten Himmel und dachte über das Ende nach. Stellte sich vor, was die Gehirne fremder Leser wohl nun für Schlüsse aus ihrer Geschichte gezogen hätten. Ihr Lächeln intensivierte sich, als sie ihren letzten Satz, den Abschluss einer für ihr Alter sehr tiefgründigen Kurzgeschichte, noch einmal laut aussprach und dabei auf den Klang ihrer Worte achtete.
»Wach auf«, schien der wispernde Wind zu echoen.
Beflügelt von dem funkensprühenden Gefühl, das sie jedes Mal unaufgefordert überfiel, wenn sie etwas vollendet hatte, sprang Leenie von ihrer kirschroten Picknickdecke auf, bedacht darauf, die beschriebenen Blätter dabei nicht versehentlich aus ihrer Mappe zu fegen. Sie gab dem Bedürfnis ihrer Kehle nach und ihr lautes, herzliches Lachen übertönte auch die Klaviermusik, die leise aus ihrem Elternhaus kroch und quer über die Wiese zu ihr drang.
Der Chor der Vögel sang ein Lied des Triumphs für sie und der Wind schickte einen ehrfürchtigen Applaus durch die knöchelhohen Gräser, die sich im Takt bewegten. Sie fröstelte ein wenig in dem entengelben Kleid, das sie trug, doch das hielt sie nicht davon ab, mit ihrem Herzschlag als Metronom durch die vielen Farben zu tanzen.
… ist wie Schwimmen in Scherben.
Nur Sekunden später stolperte Leenie plötzlich und fiel zu Boden. Ihre ausgestreckten Hände fingen die Wucht des Aufpralls ab, aber sie bewahrten sie nicht vor dem Feuerwerk in ihrem Kopf, als sie sich die Stirn an einem Steinchen wund schlug.
Als sie ihr Kinn hob, hielt die Natur um sie herum den Atem an. Auch das Klavierspiel ihrer kleinen Schwester war verstummt. Doch rebellisch wie es war, widersetzte sich ein Instrument dem gedrückten Schweigen. Ihr Herz pochte weiter, wenn auch in viel hastigerem Takt als zuvor.
Seltsam kühles Blut rann über ihre Stirn und obwohl die dünnen Härchen ihrer Augenbraue es versuchten zu greifen, gelang es ihm hindurch, sodass sie ihre Hände zu Hilfe holen musste, um zu verhindern, dass es in ihr Auge gelang. Es war nicht sehr viel, das nun an ihren Fingern klebte, doch im Kontrast zu ihrer aschfahlen Haut erschien es ihr bedrohlich und ergreifend. Sie blinzelte, weil ihre Wahrnehmung kurz verschwamm und die Farbe verschwand, doch schließlich schien der rote Fleck doppelt so groß wiedergeboren. Schockiert über die Ausstrahlung der wenigen Tropfen versuchte Leenie, es an dem gelben Stoff ihres Kleides abzustreifen. Doch eine dünne, blassere Schicht zog sich noch immer über die hauchfeinen Fältchen und Maserungen. Als sie erneut an ihre Stirn griff, war sie zwar kochend heiß, jedoch trocken wie Sand.
Langsam senkte sie ihre Hand wieder und studierte ihre Finger. Der Tropfen, der eigentlich von dem Kleid aufgenommen worden war, reinkarnierte sich, indem er direkt durch die Haut ihres Fingers drang. Sie erkannte keine Wunde dort, nur Blut. Wie eine Träne glitt es, gezwungen von der Schwerkraft, die Rundung hinab und sammelte sich dort, bis es ein Volumen erreichte, das sich nicht mehr an sie klammern konnte. Die Blutsträne fiel schrecklich lange Sekunden hinab, ehe sie auf ihren nackten Füßen zersprang und ihre Zehennägel einfärbte.
Von diesem Moment auf den anderen stiegen nie gekannte Gefühle in ihr junges Herz und vergifteten ihr Denken. Leenie schwamm in dem imaginären Blut, das sich durch seelische Verletzungen seit Jahren in ihr aufgestaut hatte. Die Freude über die Vollendung ihrer Kurzgeschichte verblasste. Der eben noch zerrende, nagende Wind erreichte sie nicht mehr. Es kam ihr vor, als stände sie neben sich und sah sich dabei zu, wie sie dort tatenlos schwebte und sich verlor.
Ein grotesker Gedanke flammte in ihr auf. Sie fragte sich, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn sie sich nun einfach rücklings in die Wiese legte.
Es wäre so einfach, Gewissheit zu erlangen. So absurd simpel, diese Aufgabe zu erfüllen. Allerdings rebellierte auch wieder etwas in ihr. Ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen bei der Vorstellung. Sie verstand weder den Grund ihrer Schmerzen, noch den Ursprung dieses Gedankens. Er war nun mal einfach da – genau wie das surreale Blut – und drängte sie nun, sich einfach ins Gras zu legen und sich das Gefühl zu merken, das sie schon so viele Male zuvor empfunden hatte. Sie hatte nichts zu verlieren. Es würde sich nichts Weltergreifendes bewegen.
Leenie legte sich hin. Das Gras strich sanft über ihre geisterhafte Haut und verteilte das Blut auf ihrem Körper. Sie sah rot und fühlte sich, als schwamm sie in Scherben.
Die Scherben ihrer Kindheit. Scherben ihrer Familie. Scherben ihrer selbst.
Das Mädchen mit den roten Lippen …
»Wenn wir uns einsam fühlen, heißt das dann zwingend, dass wir alleine sind? Auch wenn wir uns zwar nicht in redseliger Gesellschaft befinden, so gibt es doch immer noch eine Person, deren Nähe wir deutlich spüren, deren Worte wir klar hören und deren Beistand wir fühlen können. Sind das nicht wir? Wir selbst? Ich, du – jeder für sich?
Doch wie fühlt sich Einsamkeit an, wenn wir sogar den Sinn für dieses ICH verlieren?«
Obwohl in ihrem Innern ein immer wehender Sturm tobte und taube Empfindungen durcheinanderwarf, war der Griff um ihren alten Zweitklassfüller fest und sicher. Wenn Darleen Nightingale schrieb, fühlte sie sich nie schwach. Wahrscheinlich tat sie es deshalb so oft.
Eine Zeit lang richtete sie ihren Blick auf die tintenbefleckte Spitze der Feder und studierte die feine Gravierung, die von der Besitzerin kundtat und ihn somit zu einem ganz persönlichen Gegenstand machte. Nur, um zu verfolgen, wie das Titanblau von dem monochromen Weiß ihres Blattes aufgenommen und für immer festgehalten wurde, setzte sie ihren Füller lautlos auf das Blatt und zeichnete eine schwungvolle Linie, die sie an den Bauch einer schwangeren Frau erinnerte, ehe ihre Finger sich urplötzlich verkrampften und den Tintenführer von seinem Weg abbrachten. Ein anfangs etwas wackliger, aber schließlich sehr strikter Strich führte die imaginäre Bauchdecke weiter.
Darleen drehte das Blatt.
Mit einem nichtssagenden Lächeln auf den schmalen Lippen setzte sie einen Punkt unter das Gezeichnete, und vollendete somit das Bild, das ihr Unterbewusstsein auf das Papier projiziert hatte. Ein Fragezeichen. Als wollte es die Gewichtigkeit der eben geschriebenen Zeilen unterstreichen.
Nachdem sie die Kapsel über die schmale Feder geschoben hatte und somit demonstrativ ihre Arbeit ruhen ließ, überfielen sie die unterschiedlichsten Gedankenfunken, doch keinem gelang es, ein Feuer in ihr zu entzünden. Also ergab sie sich und widmete sich den Dingen, die getan werden mussten und die sie nicht zu hinterfragen wagte. Da Darleens Eltern heute Abend eine Party veranstalten würden, zur Feier des neuen Kinofilms, zu dem Nightingale Entertainments das Drehbuch geschrieben und ihn produzieren hatte lassen, sollte sie sich langsam zurecht machen, so wie es ihr eigentlich schon längst aufgetragen worden war.
Das strahlende Rot des Kleides, das ihr Vater ihr extra für den Anlass schneidern hatte lassen, gefiel ihr nicht. Sie trug keine auffallenden Farben, niemals. Seit Jahren nicht mehr. Normalerweise wusste ihre Familie das auch, doch Darleen war sich sicher, dass das Kleid eine unausgesprochene Provokation ihres Vaters war. Eine Andeutung auf den Streit vor drei Tagen. Seitdem hatte sie kein Wort mehr mit irgendjemandem gewechselt, doch dieses Stück Stoff, das auf ihrem ordentlich gemachtem Bett Falten warf, war eine materielle Aufforderung, ihre Drohung wahr zu machen.
Niemand hatte ihr geglaubt, als sie in einem Moment des Zornes – es war nicht einmal ihr eigener gewesen – sich selbst versprochen hatte, dass sie das Haus ihrer Kindheit bald verlassen würde. Ihr Vater hatte über sie gelacht, ihre Geschwister hatten es ihr nicht zugetraut. Und ihre Mutter war in Tränen ausgebrochen.
Als der weiche, leichte Stoff des Kleides sich an Darleens Körper schmiegte, spürte sie ihn kaum. Es fühlte sich an, als trug sie nichts. Ihr brustlanges, platinblondes Haar band sie im Nacken zu einem geflochtenen Dutt, ehe sie ihre bleichen Füße in weiße Absatzschuhe bettete und mit steifen Bewegungen aus ihrem Zimmer trat.
Im Flur des ersten Stockwerks begegnete sie zu ihrer Überraschung ihrer Mutter, die in einem knöchellangen, nachtblauen Abendkleid hinab in die Empfangshalle hetzen wollte. Als sie aber ihre verspätete Tochter erblickte, verlangsamte sich ihr Schritttempo. Mit prüfendem, kritischem Blick blieb sie vor ihr stehen und ermittelte sich ein Gesamtbild über ihre äußerliche Erscheinung. Ohne mit einer Wimper zu zucken sprach sie ihre Gedanken aus und teilte Darleen mit, dass die strahlende Farbe ihres Kleides sie nur noch bleicher machte und sie wie ein Gespenst aussah. Da schlimmer kaum möglich war, so ihre Worte, sollte sie wenigstens noch passenden Lippenstift auftragen.
Und plötzlich wusste Darleen genau, wie sie ihrer Erscheinung und ihrem Versprechen gerecht werden konnte. Die Welt um sie herum verwischte wie das Bild hinter einer verregneten Fensterscheibe, als sie das großräumige Badezimmer betrat und sich auf den Rand der quadratischen Eckbadewanne niederließ. Als sie nach der Rasierklinge griff, zitterte ihre Hand. Anders als die Momente, in denen sie ihren Füller zwischen den Fingern hielt.
Dennoch ohne zu zögern schnitt sie sich durchs linke Handgelenk. Rechts hätte sie das niemals gewagt, da ihre rechte – die Schreiberhand – ihr heilig war. Eine feine, nicht sehr lange Öffnung klaffte auf und eine Flüssigkeit rann über ihre Haut, so rot wie ihr Kleid. Ein paar Sekunden saß sie einfach da und beobachtete, wie das Weiß des Marmors befleckt wurde. Dann legte sie ihre Lippen an die Wunde, ohne etwas dabei zu fühlen, und der bittersüße, metallische Geschmack von Blut erfüllte ihren Mund, doch es war, als schmeckte sie Wasser. Es machte ihr keine Angst mehr, dass ihre Sinne sie zu verlassen schienen, denn als sie aufstand und sich ihren Weg hinab in die Eingangshalle bahnte, waren ihre Gedanken noch kräftig genug, um sie in ihrem Vorhaben zu unterstützen.
Was war schon Schwäche?
War es schwach von ihr gewesen, dass sie sich die letzten drei Tage in ihrem Zimmer verschlossen hatte, aus Angst hinter der Tür in ein Gespräch mit ihren Eltern oder ihren Geschwistern verwickelt zu werden? Oder war sie schwach, weil sie sich nicht traute, die Welt in ihrem Kopf vollkommen zu verlassen?
Bedeutete Schwäche vielleicht sogar, nichts gegen die Geister unternehmen zu können, die sie das tun ließen, was sie tatsächlich tat?
Sie fühlte sich wie in einem absurden Traum, als sie von der letzten Treppenstufe hinab stieg und ihre Mutter sie mit verwaschenem Gesichtsausdruck darauf aufmerksam machte, dass ihr Lippenstift verwischt war. Irgendjemand von ihres Vaters Geschäftpartnern sprach sie mit falschem Lächeln an, begrüßte sie mit raschen Gesten. Doch sie war damit beschäftigt, in ihrem Kopf ein Lied zu summen, während sie einen roten Farbtropfen beobachtete, der auf einen ihrer blanken, weißen Schuhe fiel und dort zerschellte. Die Zeit stand eine Sekunde still und alle äußerlichen Wahrnehmungen ließen sie im Stich, als kleine Sprenkel von ihrer Leinwand auf den graumelierten Fliesenboden sprangen, um Chaos zu stiften.
Darleen liebte Chaos.
Doch noch bevor das Lied in ihrem Kopf zu Ende war, packte jemand ihr linkes Handgelenk. Weil es sich anfühlte wie eine Berührung mit Rauch, tat sie nichts dagegen. Sie sah ihrem Vater nur direkt in seine vorwurfsvollen, dunklen Augen. Ein stoisches Lächeln umspielte ihre roten Lippen.
… und der Mann mit den roten Handschuhen
Finn Maliks Blut rauschte, kochte. Die Adern an seinen Handgelenken schienen regelrecht zu pulsieren und die Hitze stieg ihm zu Kopf. Sein Kiefer mahlte unermüdlich und er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Unentwegt fluchte er vor sich hin, während er den Tränen nahe durch die Hotelsuite eilte und all seine Sachen in einen schlichten schwarzen Rucksack stopfte.
Er musste von hier verschwinden. Augenblicklich.
Gerade als er die Suite verlassen wollte – seine krampfhaft zitternde Hand lag bereits auf dem Knauf – drangen von draußen Schritte zu ihm herein. Er zögerte. Stimmengewirr kroch durch das helle Holz, doch er widersetzte sich dem und stöhnte frustriert auf, zuckte von der Tür zurück als hätte er sich die Finger verbrannt. In seiner Wut eilte er planlos durchs Zimmer, malte sich gedanklich die unumgängliche Zukunft aus, die ihn ereilen würde, wenn er nicht sofort einen Ausweg fand.
Man würde ihn sicherlich irgendwo einsperren und mit nie endenden Fragen-Antworten-Spielchen quälen, bei denen er nicht mitmachen wollte. All das wussten sie dann mit der närrischsten Ausrede Hollywoods zu rechtfertigen: »Wir wollen dir doch nur helfen!«
Doch nichts dergleichen konnte ihm wirklich helfen. Es war aussichtslos. Hoffnung war für ihn ein bizarrer, blasser Rauchring, der immer weiter in die Ferne getragen wurde, sich ausdehnte, und schließlich einfach verpuffte.
Genau wie die Menschen, die er liebte, einfach verpufft waren.
Nur wenige blieben übrig, die ihm noch Halt geben konnten, doch die Leute vor seiner Tür waren gerade im Begriff dazu, ihn von jenen zu trennen. Oder war es doch seine eigene Entscheidung gewesen, sich von seinem besten Freund und seiner langjährigen Freundin abzukapseln? Immerhin hatte er den Aufstand provoziert.
Er dachte an das Mädchen, dem er erst kürzlich sein Herz zu Füßen gelegt und ihr einen Antrag gemacht hatte. Die Erinnerung ihrer liebevollen Stimme und ihrer Berührungen erfüllten ihn mit Wärme. Er schloss die Augen, atmete tief ein und blendete das hektische Geklopfe und Rufen hinter seiner Tür einfach aus.
Gefangen in ihrem bezaubernden Antlitz vergaß er das Leid und die Schuld, die in seiner Brust wucherten und sich wie Ranken um seine Rippen flochten. Für diese wenigen Sekunden lernte er zu verzeihen. Ein trockenes, gurgelndes Lachen entkam seiner Kehle und ein Strahlen zog sich über seine aufgerissenen Lippen.
Finn spürte den Schmerz der Gegenwart erst wieder, als salzige Tränen seine Wangen benetzten und die Hitze in seinem Oberkörper zunehmend unangenehmer wurde. Er keuchte, öffnete seine Augen wieder und sah nichts als Rot. Blut klebte an Wänden, Böden und an dem Mobiliar. Als er an sich herunter sah, trug er gleichfarbige Handschuhe.
Die Zimmertür wurde durch eine Schlüsselkarte von außen geöffnet. Er sah einen der unsympathischen Typen aus seinem Plattenlabel auf ihn zu springen, wie ein Löwe auf seine Beute. Sein verzerrtes Gesicht löste einen Brechreiz in ihm aus, doch als er das Gesicht des Engels erkannte, der hinter ihm in den Raum trat, schluchzte er auf.
Sie ist so schön, dachte er still für sich, fasziniert von ihren großen blauen Augen, aus denen ebenso Tränen ausbrachen. Selbst wenn sie weinte, und er hasste es, Menschen weinen zu sehen, nahm Sarah Edwards gedanklich seine Hand und stellte sich gemeinsam mit ihm mitten ins Gewitter, ohne dass einer von beiden den Halt verlor.
Als sie direkt vor ihm stand, legte er seine schlotternden Hände an ihre Wangen und ignorierte die anderen Menschen, die den Raum betraten. Sie musste wahrlich ein Engel sein, denn als sie ihm um den Hals fiel und ihm liebliche Worte zuflüsterte, fühlte Finn sich geheilt. Er fühlte sich rein von dem seelischen Blut, das an seinen Händen und nun auch an ihren Wangen klebte.
Umso mehr zerriss es ihn, als jemand in ihre heile Utopie einbrach, indem er seinen Engel an dem Arm von ihm wegzog. Er reagierte sogleich. Ohne zu zögern rammte er seine Faust in das Gesicht des Mannes, den er im nächsten Moment als seinen Freund und Bandkollegen Nick Ferguson wiedererkannte, und umschlang Sarahs Taille mit seinen Armen, um sie wieder an sich heran zu ziehen. Sie ließ es zu, betrachtete allerdings wie jeder andre im Raum voller Schock Nick, der von der unerwarteten Wucht rückwärts gestolpert und mit einen Wandschrank kollidiert war.
Finn war es egal, dass er seinen besten Freund geschlagen hatte. Auch das dickflüssige, dunkelrote Zeug, das nun aus seiner Nase quoll und der entrüstete, enttäuschte Ausdruck in seinem Gesicht ließen ihn kalt, solange er die flammende Wärme seines Mädchens neben ihm spürte.
Doch nachdem seine Mitmenschen den Schock verdaut hatten, agierten auch sie sehr flink. Zu flink, als dass Finn es verhindern hätte können, packten ihre monströsen Klauen seine Schultern und die seiner Verlobten. Ein Loch, gefüllt mit Luft und Liebe, klaffte zwischen dem Paar auf.
Er rief ihren Namen, versuchte zu kämpfen. Auch sie wand sich in den Griffen der Eindringlinge und versuchte, die Distanz zwischen ihnen auszuradieren. Doch nichts wirkte. Bald gab sie auf, und dieses Bild erschütterte ihn so sehr, dass er vergas zu kämpfen. Auch Atmen schien ihm von nun an nur noch nebensächlich.
Doch während er sich aus dem Raum schleifen ließ und der Abstand zwischen ihren Herzen immer mehr wuchs, funkelte plötzlich ein unausgesprochener Kampfschrei in ihrem Ausdruck. Ein rotgoldenes Feuer wütete in ihren hellen Augen.
Rot war keine Farbe. Rot war die metaphorische Bezeichnung von Wut und Leidenschaft. Dem einzigen existierenden Kleber, der seine Wunden bislang hatte heilen können.
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für meine Mutter