Manchmal fühlt sie: Das Leben ist groß,
wilder wie Ströme die schäumen,
wilder wie Sturm in den Bäumen.
Und leise läßt sie die Stunden los
und schenkt ihre Seele den Träumen.
–Rainer Maria Rilke
Mila, der Tag des Aufbruchs
Einmal noch wollte sie ihm nahe sein, ihn küssen und spüren.
Einmal noch wollte sie bei ihm die Nacht verbringen und so tun, als wäre er immer noch das Zentrum ihres Denkens und Handelns. Das letzte Mal, bevor sie ihn für immer verlor.
Und Mila schlief bei ihm, geborgen in einer heißen, verschlungenen Geste der Zuneigung. Doch als sie erwachte, befreite sie sich mühelos von der körperlichen Umarmung, die sie zusammen gehalten hatte. Sie ließ einen kleinen Teil ihres Herzens in den Bettlaken und starken Armen dieses Mannes, der ihr einst ewige Verbundenheit geschworen hatte. Bedacht darauf, ihn nicht zu wecken, schlich sie ans Fenster und öffnete den Vorhang, um zu sehen, wie die Sonne gerade aufging. Das Laken knisterte und ein raues Brummen erreichte sie, doch er verweilte in seinem friedlichen, schwerelosen Zustand. Sobald er erwachte, würde er den Brief vorfinden, den sie für ihn verfasst und dabei geweint hatte.
Sie musste ihn verlassen, sofort, oder sie würde daran zerbrechen.
Es fiel ihr so schwer, ihm in der gestrigen Nacht ihre Liebe zu gestehen und anschließend mit ihm zu schlafen. Es hatte sich anders angefühlt, so fremd, kühl und distanziert. Tatsächlich hatte Mila schon lange gewusst, dass es Zeit wurde, endgültig zu gehen. Sie hatte nur auf eine Möglichkeit gewartet, das Ziel ihrer Reise auf einen weit entfernten Ort festlegen zu können. Heute schlug sie ein neues Kapitel ihres Lebens auf.
Mila, vierzehn Tage zuvor
Liebe begegnet uns leise, schleichend. Sie legt sanft ihre Arme um uns und wir erfahren plötzlich Geborgenheit und Wärme.
Mit siebzehn begann Mila, an die Liebe zu glauben. Denn die Liebe fand sie erst, als sie bereit war, sich auf sie einzulassen und alle Zweifel niederzulegen.
Es war ein warmer Sommerabend gewesen. Mila hatte eine Schwäche für helle Augen, und Mickeys waren blau. Die Art, wie er sie ansah, ließ sie erschauern. Ganz alleine hatte sie am Ufer des Sophia Lakes gesessen und ihr Lieblingslied auf ihrer Gitarre gespielt, ehe leise, bedachte Schritte Gesellschaft ankündigten. Lange Zeit hatte der Junge nur geschwiegen und ihrem Spiel gelauscht, bis er sich schließlich als Michael vorstellte, denn sein Spitzname Mickey entstand erst im darauffolgenden Jahr. Es schien, als sei so viel Zeit vergangen seither, dass sie beinahe vergessen hatte, weshalb sie sich in Michael Robinson verliebt hatte. Denn der Mickey, zu dem er sich in den folgenden drei Jahren entwickelte, wurde ihr immer fremder und fremder.
Trotzdem glaubte sie an die Liebe. Sie glaubte daran, dass ihr Leben kein Gefängnis sondern ein Zuhause war, auch wenn ihr Herz dagegen rebellierte. Tag für Tag lebte Mila im Hier und Jetzt, konzentrierte sich nur auf den Moment, da die Vergangenheit zu bittersüß war, um nostalgisch zu werden, und die Zukunft zu unbestimmt. Aber sie lebte, jeden Moment bereit dazu, eine Chance zu ergreifen, etwas zu verändern.
Es war Dienstag. Mila hatte Kopfschmerzen. Als sie die Gitarre niederlegte und der letzte Ton verklang, sah Frances sie mit zorniger Grimasse an. Auch Mickey schien, als würde er gleich explodieren, und er hielt sich nicht zurück. Mila senkte den Kopf. Sie erwartete das Unwetter bereits.
»Wann kapierst du es endlich?«, platzte schließlich aus ihm heraus. »Du spielst völlig falsch! Das macht dein improvisiertes Solospiel auch nicht besser. Wir sind eine Band, schon vergessen? Wir müssen einander vertrauen können, sonst spiegelt sich das in der Musik wieder! Wenn du dich nicht bald anstrengst –«
»Verdammt, Mickey! Reg dich mal ab, so schlimm war sie nicht«, warf Nico dazwischen. Auf seinem Nasenrücken glänzten Schweißperlen und seine Wangen glühten in sattem Purpur.
»Ihr kennt den Song schon seit einer Woche und ich wurde erst heute Morgen eingewiesen«, verteidigte Mila sich nun auch, ermutigt von Nicos Beistand. »Du kannst doch nicht erwarten –«
»Das Aftershock Festival ist schon in einer Woche, ich muss erwarten, dass du den Song jetzt langsam mal drauf hast, sonst kann ich mir gleich eine neue Gitarristin suchen!«, feuerte Mickey zurück. Er fuchtelte wild mit den Armen herum und sah aus wie ein kleines, trotziges Kind. Seine schwarzen, fransigen Haare fielen ihm vor die geisterhaft glänzenden Augen.
»Viel Glück dabei«, knurrte Mila, gelenkt von Enttäuschung und Zuneigung, und stürmte aus Mickeys Garage. Noch unterm Laufen hatte sie sich ihre Jacke geschnappt und angezogen. Im Vorhof wartete bereits das Motorrad ihres Dads. Sie hob den Helm auf und streifte ihn über ihren Kopf, als sich von hinten Schritte näherten. Zwar wollte sie es sich nicht eingestehen, aber sie hoffte mit ganzem Herzen, dass es ihr Mickey war, der sich nun bei ihr entschuldigen und sie zum Bleiben motivieren wollte. Doch als sie herum wirbelte, stand Frances vor ihr, die kurzen blonden Haare blies der Wind ihr vor die Augen.
»Sei doch nicht so kindisch, Mimi«, seufzte sie schulterzuckend, doch in ihren Augen spiegelte sich noch immer dieselbe explosive Wut. »Wenn wir nicht üben, vergeuden wir vielleicht unsere einzige Chance, etwas aus unserem Leben zu machen.«
Deine einzige Chance, korrigierte Mila sie in Gedanken. Frances hatte mit siebzehn die High School abgebrochen und war in die Drogenszene abgerutscht, ehe sie auf einem Konzert Mila kennenlernte, die sie Mickeys Band vorstellte. Und Mickey war begeistert, weswegen er die Bassistin, Gitarristin und Sängerin sofort aufnahm. Doch im Gegensatz zu Frances hatte Mila erst vor einem Monat einen sehr guten Schulabschluss gemacht und auch schon verschiedene Universitäten in Aussicht, die sie eventuell nächstes Jahr besuchen wollte. Ungeachtet dessen, dass ihre Eltern genug Geld hätten, um sie auch ohne Arbeit über die Runden zu bringen.
»Bleib hier, bitte«, versuchte Frances noch einmal, sie zu überreden. »Oder bist du immer noch sauer, dass Mickey den Song geändert hat?«
»Nein«, log Mila. Tatsächlich war sie mehr als nur verärgert darüber, wie sich die Dinge in ihrer Abwesenheit entwickelt hatten. Eigentlich sollten sie ihren eigenen Song When the sun goes down auf dem Wettbewerb des Aftershock Festivals performen, zu dem Mila Gesang und Gitarre übernahm. Doch nach dem Besuch ihrer Tante in Kanada hatte eine böse Überraschung in Mickeys Garage auf sie gewartet. Ein völlig neuer Song, andere Instrumentaleinteilung und Frances im Rampenlicht am Mikrofon mit einem ihrer durchschnittlich guten Songs. Und all das wurde von niemand sonst als ihrem festen Freund und engsten Vertrautem Mickey in die Wege geleitet.
»Jetzt sei doch nicht so eine Diva!«, lachte Frances schnippisch. »Wir könnten Zweitausend Dollar verdienen, aber du bist dir zu schade, um nur einen blöden neuen Song zu lernen! Ich hab den anderen gleich gesagt, dass du zu viel Taschengeld bekommst, um dir der Wichtigkeit dieses Preises bewusst zu sein.«
Da platzte ihr der Kragen und sie feuerte zurück: »Du vergisst, wer hier wen aus dem Dreck gezogen und in diese Band gebracht hat! Nico, Mickey und ich wären wunderbar ohne dich und dein Herumkommandieren zurechtgekommen!«
Frances schien tief getroffen, denn ohne auch nur noch ein Wort zu sagen, wandte sie sich um und ging zurück. Somit schwang Mila sich auf das Motorrad und startete den Motor. Die Melodie des Songs noch im Ohr, fuhr sie aus der Einfahrt und folgte den Straßen. Eigentlich tat ihr der Streit mit Frances schon jetzt leid, da sie wohl ihre beste Freundin war. Doch manchmal trieb sie sie einfach zur Weißglut. Aber viel mehr tat es weh, dass Mickey so gleichgültig reagiert hatte. Früher hätte er sich anders verhalten. Michael hätte sich anders verhalten.
Sie vertrieb die Erinnerungen aus ihrem Kopf und unterdrückte die Gefühle in ihrer Bauchgegend. Wie automatisch betätigte sie das Gas und raste durch die Straße, schneller als eigentlich erlaubt. Der Gegenwind presste gegen ihr Visier, doch Mila fühlte sich unaufhaltbar. Es roch nach Regen. Sie liebte Regen.
Ich hab was verloren, auf meinem Weg hierher.
In ihrem Kopf entstand eine völlig neue, ziemlich melancholische Melodie mit lauter E-Gitarre und schnellem, harten Schlagzeug.
Ich glaub es wurde mir gestohlen, jedenfalls fehlt es mir sehr.
Jemand hält es gefangen, und ahnt nicht, von welchem Wert es ist.
Ich muss mich entspannen, will dass der Schmerz nachlässt.
Als sie Zuhause in die Einfahrt fuhr, sprang sie fast von der Maschine, um geschwind durch die Hintertür ins Haus zu gelangen und in ihr Zimmer im ersten Stock zu sprinten. Dabei beachtete sie die Rufe ihrer Mutter gar nicht, so sehr war sie »im Tunnel«. Ein Gefühl, in dem sie an nichts anderes denken konnte, ehe sie nicht die Musik in ihrem Kopf mit schwarzer Farbe auf weißem Notenpapier verewigt hatte. Ihre Eltern wollten aus ihr immer Konzertviolinistin machen, bis sie mit vierzehn anfing, Gitarre zu lernen und sich ihr Musikgeschmack von Grund auf änderte. Es folgten E-Gitarre, Schlagzeug und lauter Poster von Punkrockbands in ihrem Zimmer.
Mit schnellen Handbewegungen kritzelte Mila auf ein weißes Notenblatt, schrieb darunter ein paar Textzeilen, die sie noch in Erinnerung hatte. Als ihre Gedanken schließlich vollständig niedergeschrieben waren, fühlte sie sich so erschöpft, als hätte sie soeben ein Kind geboren.
Mit vor Aufregung zitternden Fingern griff sie nach ihrer Westerngitarre, denn dieser Song war kein Punkrock, sondern ein melancholisches Stück voller Herzblut und Sehnsucht, und sie spielte die erste Akkordkombination an, bis sich die Melodie in ihr Herz brannte. Unterbrochen wurde sie von einem zaghaften Klopfen an ihrer Zimmertür. Nachdem sie »Herein« rief, betrat ihre Mutter mit schiefem Lächeln den Raum.
»Nur weil du jetzt fertig bist mit deinem Abschluss, musst du noch lange nicht den ganzen Tag herumstreunen und uns verschweigen, was du so tust«, fing sie an und stützte die Hände in die Hüften. Es spiegelte sich keine Wut in ihrer Erscheinung, es waren die Gesten einer besorgten Mutter.
»Mom, ich streune nicht. Ich hatte Bandprobe«, erklärte Mila mit knappem Lachen.
»Du solltest dich endlich entscheiden, an welche Uni du gehen möchtest, Liebling«, begann sie dann das Thema, über das Mila am wenigsten nachdenken und erst recht nicht reden wollte. Die Zukunft verängstigte sie.
»Ich kümmere mich schon darum, bitte lass mich jetzt alleine«, murmelte sie nur und wandte den Blick aus dem Fenster. Graue Gewitterwolken zogen vorbei. Sie behielt Recht, bald würden die ersten Tropfen gegen ihr Fenster schlagen. Wortlos aber enttäuscht seufzend verließ ihre Mutter das Zimmer. In diesem Moment wünschte sich Mila weit, weit weg. Sie wünschte sich, dass sich eine einzigartige Möglichkeit auftun würde, in ein völlig neues Leben zu fliehen. Ein Leben, wo sie den Regen genießen konnte.
Mila, neun Tage zuvor
Rena Macy, Milas Mutter, lag seit Tagen krank im Bett. Stets schob sie die Schuld für ihre plötzliche Erkrankung auf das Wetter. Dieser Regen! Soviel Regen!, echote ihre Stimme in Milas Gedanken. Es war nichts Ungewöhnliches, dass es auf Long Island vor der Küste von New York City mal regnete, aber die letzten fünf Tage schien sich das Wetter mal wieder richtig auszutoben. Weiter östlich von East Meadow, ihrer Heimatstadt, soll es anscheinend schon ein Todesopfer gegeben haben.
Doch viel quälender war die Tatsache, dass sie seit fünf Tagen Zuhause herum hing und auf einen Anruf von Mickey wartete. Übermorgen begann das Festival, auf dessen Wettbewerb ihre Band, Sleepless, spielen würde. Seit dem Streit in Mickes Garage hatte Mila kein Wort mehr von ihren Bandkollegen gehört und selbst war sie viel zu stolz, um sich bei den anderen zu melden. Die viele Zeit zuhause hatte sie dafür genutzt, sich Frances‘ Song einzuprägen, um ihn fehlerlos wiedergeben zu können. Mittlerweile fürchtete sie allerdings, dass die Arbeit vergebens sein würde. Und ihre Angst bestätigte sich am frühen Abend desselben Tags, als Nico ihr eine SMS schrieb. Nico, nicht Mickey.
er ist ein idiot. ich wollte ihn davon abhalten, aber er hört nicht auf mich, sorry! frances wird dich ersetzen
Mila hatte nicht realisiert, wie viel ihr die Teilnahme bedeutete, bis zu dem Moment, in dem sie die Nachricht las und in Tränen ausbrach. Sie war enttäuscht, fühlte sich einsam und verraten. Es war, als würde sie in ihren Tränen ertrinken, bis ihre Mutter plötzlich das Zimmer betrat und sie wortlos in den Arm nahm. Gedanklich trieb Mila auf der Oberfläche des Toten Meeres. Sie schmeckte salziges Wasser, doch irgendetwas hielt sie davon ab unterzugehen. Vielleicht war es ihre Familie, die einzigen Menschen auf die sie bauen konnte, ohne Angst zu fallen. Ihre Eltern waren stets ehrlich zu ihr gewesen, und so war es Mila. Das schätzen sie aneinander sehr. Denn es war die Basis für wahres Vertrauen.
Rena begann schwer zu husten, zückte dabei ein Taschentuch und hielt es sich vor den Mund. »Dieser elendige Regen«, fluchte sie mit heiserer Stimme. »Er ist Schuld daran, dass die Leute sich im Haus verkriechen und krank werden. So wie ich.«
»Vielleicht täte es dir gut«, murmelte Mila, während sie sich mit dem Stoff ihres Pullis über die Augen fuhr, »endlich mal das Haus zu verlassen und dich dem Regen zu stellen.«
»Damit ich am Ende an einer Lungenentzündung krepiere? Nein, danke! Dann müsste ja dein Vater ab sofort für dich kochen – und das möchte ich dir nicht zumuten.«
Ein gurgelndes Lachen kroch aus Milas Kehle.
»Du hast später noch den Termin bei Doktor Fitzsimmons, vergiss das nicht«, ermahnte Rena sie nun mit erstarrter, stoischer Miene. Dann verließ sie das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen. Mila prüfte ihr Aussehen im Wandspiegel und bedeckte die roten Flecken um ihre Augen mit einem Hauch Make-up, bevor sie sich eine dünne Jacke überwarf und sich auf den Weg machte. Zu ihrem zwanzigsten Geburtstag wollten ihre Eltern ihr einen Mercedes schenken, doch stattdessen hatte sie sich für einen gebrauchten Volkswagen Golf, Baujahr 1987, in knalligem Blutrot entschieden. Ihr Vater ging mit ihr eine Wette ein, dass sich das Auto nicht länger als ein Jahr hielt. In sechs Tagen würde er verloren haben.
Sie griff nach dem Autoschlüssel am Haken neben der Kommode, verließ dann das Haus. Die eiskalten Tropfen trafen sie hart im Gesicht und sie kniff die Augen zusammen. In diesem Moment konnte sie den Regen nicht leiden, weil er den Sturm in ihrem Herzen wiederspiegelte und sie an ihre eigenen Tränen erinnerte.
Ihr knallrotes Auto befand sich in der Garage direkt neben dem preisgekrönten, bunt bepflanzten Garten von Rena Macy. Diesen Frühling hatte sie zum dritten Mal hintereinander den ersten Platz belegt. John Macys geheime Leidenschaft bestand darin, Sudokus zu lösen.
Der Motor schnurrte und Mila spürte, wie die Vibration des Kupplungspedals eine Gänsehaut auf ihren Unterarmen hervorrief. Vielleicht war es auch das Flüstern des Windes und Prasseln des Regens auf die Windschutzscheibe. Sie hatte noch nie Angst gehabt vor Geschwindigkeit, was man an ihrem Fahrstil besonders bei nassen Straßen immer kritisiert hatte. Die Straßen schienen sich endlos vor ihrer Sicht in die Weite zu strecken, nachdem sie erst einmal auf dem Highway angelangt war. Sie bildete sich ein, das Salz der Meeresluft auf der Haut prickeln zu spüren, und genoss die frische, kühle Luft in ihren Lungen. Beinahe vergas sie den Felsbrocken an Kummer, der auf ihren Schultern ruhte. Das Radio war ausgeschaltet, denn es war schon beim Kauf defekt gewesen. Es störte sie wenig, da sie selbst ihre eigenen Melodien vor sich her summte und mit den Fingern auf den ledernen Ring des Lenkrads trommelte.
Und irgendwann war Mila angekommen. Als das Geräusch des Motors erstarb, fühlte sie sich plötzlich wieder einsam. Deshalb beeilte sie sich auch, nach einem prüfenden Blick auf die Uhr, schnell durch den Regen zu rennen und gerade so rechtzeitig durch die Haustür von Doktor Fitzsimmons zu treten.
»Fräulein Macy!«, begrüßte eine tiefe, ruhige Stimme sie, die wie zähflüssiger Honig in ihren Ohren kleben blieb. »Pünktlich wie die Uhr selbst!«
Doktor Fitzsimmons war noch nicht zu sehen, während Mila durch den Gang lief und Magdalena freundlich begrüßte. Er erblindete vor einigen Jahren und hatte sie eingestellt, um ihm das Leben in der Dunkelheit zu erleichtern. Sie putze, wusch, kochte und hatte stets ein Auge auf ihn.
»Er hat gerade so viel Kaffee getrunken, dass ich Angst habe, er verwandelt sich gleich selbst in eine Bohne«, scherzte Magdalena ausgelassen, während sie Mila ins Wohnzimmer führte. Dort saß er am Flügel und klimperte tiefenentspannt auf den schwarzweißen Tasten. Sie warteten noch etwa eine Minute, ehe er das Spiel beendete und seinen Arm ausstreckte, damit Magdalena ihm vom Hocker aufhelfen und zu seinem Gast führen konnte. Mila und er tauschten erneute, nette Begrüßungen und einen Händedruck, ehe sie sich auf zwei Sesseln vor dem Kamin niederließen. Bei ihrem allerersten Besuch vor einigen Monaten hatte Feuer ihnen Wärme gespendet, doch heute war das nicht von Nöten. Magdalena verließ den Raum.
»Wieso sind Sie hier, Fräulein Macy?«, begann Doktor Fitzsimmons wie jede Stunde. »Wieso sind Sie hier?« Er behauptete, wenn man sich den Grund für das Aufsuchen eines Therapeuten ständig wieder ins Gedächtnis rief und wie ein Mantra wiederholte, um ihn zu verinnerlichen, könnte man sich besser auf den Lösungsweg konzentrieren.
»Wegen meinen Schlafstörungen«, seufzte Mila bedrückt. Sie beobachtete, wie der Mann ihr gegenüber sich über den dichten Bart streichelte. Er trug eine abgedunkelte Brille, die perfekt mit seinem altmodischen, aber trotzdem noch schicken, gestreiften Anzug harmonierte. Seine braunen Haare richteten sich nach keinem physikalischen Gesetz und trugen an den Schläfen bereits einige silbrig schimmernden Strähnen.
»Nein, Sie sind hier wegen Ihren Träumen«, widersprach Doktor Fitzsimmons und schmunzelte in seinen Bart hinein. Als Rena und Mila sich auf die Suche nach einem geeigneten Therapeuten gemacht hatten, wurde er ihnen empfohlen. Offiziell war er nicht mehr arbeitsfähig wegen seiner plötzlich eingetretenen Blindheit vor einigen Jahren. Das war auch der Grund, wieso er seine Praxis in New York City aufgeben musste und nur noch für eine Hand voll Stammkunden seiner Tätigkeit von Zuhause aus nachging. Magdalena hatte ebenfalls vor Mila angedeutet, dass die Krankheit ihm wohl langsam den Verstand raubte. Trotzdem unterhielt sich Mila gerne mit ihm, weil er eine wirklich interessante Persönlichkeit war – und weil sie der festen Überzeugung war, dass er ihr helfen konnte.
»Erzählen Sie mir noch einmal von dem Baum und dem Raben«, bat Doktor Fitzsimmons sie.
»Ich befinde mich auf einer Wiese, sie reicht unendlich in die Weite. Es regnet. Irgendwie rotiert die Welt um mich herum, und sie friert erst in ihrer Bewegung ein, als ich diesen Baum sehe. Zeitgleich höre ich den Schrei eines Vogels, ich nehme an, es ist ein Rabe. Und dann … pulsieren schwarze Flecken in meinem Sichtfeld und das Bild verschwimmt«, endigte Mila mit galoppierendem Herzschlag. Sie fühlte sich, als wäre sie eben erst erwacht, so greifbar nahe waren die Erinnerungen an ihren Traum noch. Nacht für Nacht war es derselbe. Manchmal bildete sie sich ein, auch am Tag Rabenschreie hören zu können.
»Sehr interessant«, murmelte Doktor Fitzsimmons. »Sie wissen ja, dass Träume sich aus den Gefühlen unseres Unterbewusstseins entwickeln. Ich hatte neulich das Vergnügen, eine köstliche Kirschtorte probieren zu dürfen. Offenbar war ich so berauscht von dem Geschmack, dass ich in der Nacht davon geträumt hatte, dass es Kirschen regnet.«
»Aber dieser Traum ist anders als alle, die ich zuvor hatte«, entgegnete Mila. »Es ist keine fiktive Szene … zumindest fühlt sie sich nicht so an. Es ist mehr so, als wäre ich schon einmal dort gewesen, auf der Wiese bei diesem Baum.«
»Natürlich können es auch Erinnerungen sein, die wir in unseren Träumen zu verarbeiten versuchen«, bestätigte er mit zustimmendem Nicken. »Mögen Sie Katzen, Fräulein Macy?«
»Katzen?«, wiederholte sie irritiert. »Nicht wirklich.«
»Ich auch nicht. Haben Sie jemals von sprechenden Katzen geträumt?«
»Wieso fragen Sie?«, wollte Mila wissen, begleitet von einem nervösen Lachen. Doch Doktor Fitzsimmons Miene blieb erstarrt, abwartend. Deshalb antwortete sie knapp: »Nein.«
»Letzte Woche träumte ich, dass eine streunende Katze mich nach einer Zigarre und etwas Milch bat«, erzählte er ruhig. »Als ich ihr diesen Wunsch erfüllte, bedankte sie sich und lief davon. Ein paar Tage später, im wachen Zustand meine ich, begegnete ich einer Katze im Park. Sie schnurrte und strich um meine Beine, als ich gerade dabei war, mein Fischbrötchen zu essen. Wäre dieser Traum nicht gewesen, hätte ich sie fortgejagt. Aber so habe ich meinen Fisch fallen lassen und sie ist mit ihm davongelaufen.«
»Aber … was hat das mit mir zu tun?«, zweifelte Mila zaghaft.
»Vielleicht dient Ihr Traum als Wegweiser, wissen Sie?«, fuhr er fort. »Träume haben eine sehr große Macht über uns. Sie beeinflussen uns und unsere Gefühle stark.«
Sie dachte ein paar Sekunden darüber nach. Irgendwie klang es plausibel, dass der Traum über den Baum und den Raben eine große Wichtigkeit hatte, schließlich begleitete er sie schon seit geraumer Zeit. Doch eigentlich glaubte sie nicht an Schicksal, sie glaubte an den Zufall. Und was würde es für ein Zufall sein, eben dieser Szene außerhalb von ihren Träumen zu begegnen? Und was war es für ein Zufall gewesen, dass ihr blinder Therapeut einer Katze seinen Fisch gab?
»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«, begann sie höflich. Er nickte nur gelassen. »Wie träumen Sie?« Es herrschte kurz Stille, ehe sie ihre Frage noch einmal korrigierte. »Ich meine, sehen Sie in ihren Träumen? Sehen Sie das Bild einer Katze, die zu ihnen spricht?«
»Das hat mich seltsamerweise noch nie jemand gefragt. Dabei ist die Frage sehr berechtigt«, lächelte er vergnügt. »Eigentlich kehrt die visuelle Fähigkeit im Traum nicht wieder, wenn man sein Leben lang blind war. Doch da ich nicht so geboren wurde, ernähren sich meine Traumszenen von Erinnerung, geformt durch meine Fantasie. Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich sehe in meinen Träumen. Allerdings merke ich, je länger ich blind bin, desto mehr entgleiten mir auch die Bilder vor meinem inneren Auge. Ich kann mich nicht mehr an die verschiedenen Farben erinnern, Fräulein Macy. Das ist ziemlich deprimierend, nicht einmal zu wissen, ob ich schwarzweiß träume oder die Farben einfach nur nicht erkenne. Und auch die Umrisse der Individuen verwischen und verbleichen langsam. Ich fürchte, dass ich auch hier bald meine Sehkraft verlieren werde.«
»Das muss furchtbar sein«, flüsterte Mila. Sie fühlte sich schrecklich, als sie sich vorstellte, hilflos zusehen zu müssen, wie Bilder verblichen und schließlich verschwanden.
»Also ich verspüre jetzt einen Hauch von Appetit. Ich werde Magdalena fragen, ob sie uns einen Tee macht und ein bisschen Gebäck serviert«, begann er plötzlich.
»Oh nein, vielen Dank, aber ich habe weder Hunger noch Durst«, lächelte Mila höflich. Trotzdem erhob er sich aus seinem Sessel und tastete sich mit seinen Händen durch den Raum, was ihm nicht allzu schwer fiel, da er ja seit Jahren hier wohnte und die Räume auch blind kannte. Er drehte sich noch einmal zu ihr um, bevor er aus dem Raum verschwand.
»Ich möchte aber, dass Sie etwas im Magen haben, wenn ich Ihnen gleich sage, dass das unsere letzte Sitzung vor meinem Tod sein wird«, erklärte er seelenruhig und ging. Mila fühlte sich, als hätte er soeben einen Witz gerissen, den sie nicht verstand.
Mila, drei Tage zuvor
Als sie aus dem Schlaf erwachte, war es noch mitten in der Nacht. Regen fiel gegen ihre Scheibe. Es war, als blinkten noch immer tiefschwarze Schatten vor ihren Augen. Mila atmete schwer. Dieser Traum war anders gewesen. Die Erde rotierte, es regnete und sie entdeckte diesen großen, pathetischen Baum, doch dieses Mal waren seine Äste kahl und schwarz. Er hatte seine Baumkrone völlig verloren, trockene tote Blätter umgaben ihn auf der Wiese. Ein Rabe schrie, sie erwachte.
Ein Blick auf die Wanduhr sagte ihr, dass sie seit einer Minute erwachsen war. Einundzwanzig, und doch fühlte sie sich wie ein Kind, als sie nach ihrem Kuscheltieraffen mit dem einzelnen Auge griff und ihn fest an sich drückte. Heute war außerdem der Tag, an dem ihr Therapeut, Doktor Fitzsimmons, sich in ein Auto setzte und nach Washington zog, um dort einen Antrag auf Euthanasie zu stellen. Er hatte ihr vor einigen Tagen anvertraut, dass der Tumor, der ebenfalls einst seine Sehkraft geraubt hatte und operativ entfernt worden war, nun wiedergekehrt war. Und dieser Samstag war ebenso der Tag, an dem sie ihr Auto ein Jahr lang gefahren hatte und somit die Wette mit ihrem Vater gewann.
Mila schloss ihre Augen, und als sie sie wieder öffnete, war die Sonne bereits aufgegangen. Die restliche Nacht war traumlos an ihr vorbeigezogen und der Tag brach an. Der Regen hatte ein Ende gefunden. Völlig lethargisch und verschlafen griff sie nach ihrem Handy auf dem Nachttisch und öffnete zwei Nachrichten, die sie kurz nach Mitternacht empfangen hatte. Eine war von ihrer Tante aus Kanada, die ihr herzlich gratulierte, und die andere von Frances.
HAPPY BIRTHDAY
sei mir nicht böse wegen neulich bitte,
lass uns heute abend einfach feiern gehen und auf dich anstoßen,
ich lade dich ein!
fühl dich ganz fest gedrückt
Ein Lächeln schlich sich auf Milas Lippen und Wärme in ihren Bauch. Sie richtete sich im Bett gerade auf und tippte ein Danke, ja gerne! zurück. Mit neugeschöpftem Mut und erweckter Aufregung stand sie auf, um zu duschen und sich ihrer Familie zu stellen. Nachdem sie mit ihrem Äußeren zufrieden war und ihr vor Freude galoppierendes Herz zügeln konnte, stieg sie die Treppen hinab in den Essbereich. Es roch wunderbar nach Pfannkuchen, der Tisch war bereits gedeckt. Ehe sie sich auf die Suche nach ihren Eltern machen konnte, vernahm sie auch schon ein freudiges Glucksen, bis sie plötzlich von hinten umarmt wurde.
»Oh, Mäuschen! Alles, alles Liebe zum Geburtstag!«, rief Rena erquickt und drückte ihre Tochter fest an sich. Sooft hatten sie sich schon umarmt und jedes Mal hatte Mila sich geborgen gefühlt. Auch ihr Vater umarmte sie, drückte ihr danach einen weißen Umschlag in die Hand. Geld, wie jedes Jahr. Wahrscheinlich sogar noch ein wenig mehr als üblich, da heute schließlich ein besonderer Geburtstag war. Ohne ihn zu öffnen legte sie ihn auf den Tisch neben ihr Besteck.
»Komm setz dich, ich hol die Pfannkuchen«, forderte Rena ihre Tochter auf und verschwand im nächsten Moment auch schon in der Küche. Mila gehorchte und beobachtete danach ihren Vater, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Bevor sie nachfragen konnte, räusperte er sich.
»Ich helfe deiner Mutter«, murmelte er schnell und undeutlich und floh quasi aus dem Raum.
Aus der Küche drang ein Rascheln zu ihr, das sich nach Geschenkpapier anhörte. Ihre Vermutung bestätigte sich, als Rena und John wieder zurückkehrten und dabei eine längliche Kiste trugen, jeder an einem Ende. Auf dem Papier prangten bunte Luftballons und eine silberne Schleife war herum gewickelt, auf der Musiknoten aufgeklebt waren. Eindeutig Renas Idee, denn sie liebte es, überall Details und Feinheiten einzubauen. Mila musste das Papier und den darunter versteckten Koffer nicht öffnen, um herauszufinden, dass es die E-Gitarre war, die sie sich seit geraumer Zeit gewünscht hatte. Sie tat es dennoch. Und sie tauschte noch einige Umarmungen und nette Worte, ehe die Familie sich schließlich zum Essen am Tisch zusammenfand.
»Du siehst genauso aus wie deine Mutter damals!«, platzte plötzlich aus John heraus, als er sich bereits den dritten Pfannkuchen auf den Teller hievte und ordentlich Ahornsirup darüber kippte, so wie er es von seiner Schwester aus Kanada in frühster Kindheit bereits beigebracht bekommen hatte. Er liebte Sirup.
»John«, sagte Rena. Ihre Stimme klang völlig fremd, beinahe robotisch und nicht mehr menschlich. Und ebendiesen Ausdruck vermittelte auch ihre Mimik. Es war eine unausgesprochene Verwarnung, die ihre Gesichtszüge wiederspiegelten, doch Mila sah keinen Grund dafür. Sie beschloss dennoch, sich nicht in diese Angelegenheit einzumischen.
»Also …«, fing ihr Vater noch einmal an, starrte dabei aber strikt auf seinen Teller. »Wie läuft’s mit deiner Band? Sheepish?«
»Sleepless, Dad. Und es läuft ganz gut«, log Mila und lächelte, während etwas in ihr drin vor Schmerz schrie. »Ich werde ihnen morgen mein Geburtstagsgeschenk vorstellen und ich wette, sie erblassen vor Neid!«
»Oh«, antwortete er nur kleinlaut. Er trug dieselbe tiefe Falte auf der Stirn, die sich in den letzten Jahren nur gebildet hatte, wenn etwas Schreckliches geschehen war. Der Tod seiner Mutter, seine plötzliche Erkrankung an Asthma, die erste und einzige Note F, die Mila jemals nach Hause gebracht hatte.
Mila widerstand dem Drang, ihn nach seiner aktuellen Sorge zu fragen. Nach einigen Momenten setzte sie neu an, lächelte dabei dezent. »Ich hab übrigens die Wette gewonnen. Dass mein Auto nach einem Jahr noch lebt.«
»Oh«, wiederholte er und zwang sich ebenso zu einem Lächeln. »Ich hatte gehofft, dass du die Wette bereits vergessen hättest und mir die Schande ersparst.«
»Hast du dir schon Gedanken gemacht, auf welche Universität du gehen wirst?«, warf Rena auf einmal ein. Ihr Gesicht war ein weißes Blatt Papier, nichtssagend und abwartend. Als Mila nur seufzte, redete sie weiter: »Du solltest die Columbia University wirklich in deiner engeren Wahl behalten. Du weißt doch, dort –«
»Jaja, ich weiß! Dort haben Dad und du euch getroffen«, fiel Mila ihr bissig ins Wort. »Architektur ist nicht so schlimm, wie ich immer behaupte und Dad spielt mit einigen meiner baldigen Professoren Golf. Ich könnte etwas aus meinem Leben machen und erfolgreich werden, so wie ihr.«
»Ich verstehe nicht, wieso du dich jetzt so kindisch verhältst«, tadelte Rena kopfschüttelnd. »Wenn du all die Argumente, die dafür sprechen, schon kennst, wieso schreibst du dich nicht endlich ein?«
»Schon mal daran gedacht, dass ich ein eigenes Leben habe, und keine Kopie von eurem haben möchte?«, zischte Mila härter als beabsichtigt. »Ich möchte glücklich werden!«
»Und wir halten dich davon ab?«, schlussfolgerte John Macey mit enttäuschtem Ausdruck im Gesicht, worauf die Wut in Mila verpuffte wie eine ausgebrannte Kerze. Erdrückendes Schweigen hing in der Luft zwischen ihnen, und diese Stille, gefüllt mit der Enttäuschung ihres Vaters, war eine Last, die sie nicht ertragen konnte.
Die Türglocke schellte in just dem Moment, in dem sie zum Sprechen angesetzt hatte. Sie sprang so schnell von ihrem Stuhl hoch, dass er drohte, nach hinten umzukippen. Mit schnellen Schritten floh sie vor der angebrochenen Diskussion und durchquerte den Flur, um dem Besucher zu empfangen. Ihr stockte der Atem, als ihr schließlich Mickey gegenüber stand – oder wohl eher kniete, um seinen Schuh zu binden.
»Äh, hi«, stammelte sie überrascht. Sofort richtete er sich wieder auf, griff dabei nach den Blumen, die er zuvor auf dem Steinboden abgelegt hatte. Sein Gesicht erleuchtete Milas Gefühlswelt. Sie fühlte sich stark hingezogen zu diesen eisigen, hellblauen Augen.
»Ich liebe dich!«, rief er plötzlich und zog sie in eine innige Umarmung, legte dabei seine Lippen auf ihre. Es roch nach Rosen, und er schmeckte nach Pfefferminz. Sie fühlte sich zuhause in dieser Blase voll Luft und Liebe.
»Du bist süß«, lachte Mila, als sie sich voneinander trennten und er ihr noch einen Kuss auf die Nasenspitze hauchte.
»Nein, ich bin ein riesig großes Arschloch und habe jemanden wie dich nicht verdient«, korrigierte er sie mit wehleidiger Miene, schloss sie noch ein weiteres Mal fest in die Arme. All die Wunden, die die Bandkrise vor einigen Tagen bei ihr hinterlassen hatte, schienen schockverheilt.
Sie konnte ihn nicht aufhalten, da stürmte er schon ins Haus, mit ihr an der Hand. Er lief gezielt in Richtung Esszimmer und entschuldigte sich herzlich bei Milas Eltern für die Störung – übergab dabei den Blumenstraß an ihre Mutter – und verkündete, dass er sie nun entführen müsste. Ihre Eltern lachten nur und wünschten ihnen viel Spaß, obwohl Mila ganz genau wusste, dass sie Mickey nicht leiden konnten. Immerhin verkörperte er das Klischee eines bösen Rockers, der ihrer Tochter das Herz brechen würde – was in den vergangenen drei Jahren ihrer Beziehung aber nicht vorgekommen war.
Er bat sie, eine Jacke und ihren Helm zu holen, und sie gehorchte mit einem Kribbeln im Bauch. Sie liebte das freie, unbändige Gefühl beim Motorradfahren, besonders wenn sie mit Mickey Rennen fuhr. Doch an diesem Tag verband er ihr draußen in der Einfahrt erst die Augen, bevor sie den Helm über ihren Kopf zog. Er half ihr, blind auf den Rücksitz seiner Maschine zu klettern und legte ihr ans Herz, sich gut an ihm festzuhalten.
Blind mit Mickey zu fahren war für Mila ein Schuss pures Adrenalin in ihre Adern, der ihr Herz so schnell antrieb, dass es drohte, aus ihrer Brust zu springen. Doch die Fahrt dauerte nicht lange, und als er ihr vom Motorrad herunter half, erschrak sie, weil ein anderes nur wenige Meter neben ihnen startete und davon rauschte.
»Ruhig, das war nur Nico, der während meiner Abwesenheit auf die Sachen aufgepasst hat«, erklärte Mickey und sie hörte sein amüsiertes Grinsen, während er sprach.
»Kann ich endlich Helm und Tuch abnehmen?«, fragte sie nur, gespannt auf die Überraschung, die er wohl für sie vorbereitet hatte. Anstatt einer Antwort half er ihr direkt dabei. Als ihre Augen sich an die plötzlich eintreffende Helligkeit gewöhnt hatten, erkannte sie das Ufer des Sophia Lakes, an dem Mickey und sie sich vor einer gefühlten Ewigkeit kennengelernt hatten. Seine Akustikgitarre lag unberührt im Gras neben ihnen, als wäre sie ein Teil der Natur um sie herum. Nachdem er sie sich umgehängt hatte, spielte er einige Akkorde an und trällerte in seiner rauchigen, wunderbaren Sängerstimme Happy Birthday.
Das war es. Genau das war der Mann, in den sie sich damals verliebt hatte.
»Das ist einfach wunderbar«, säuselte sie verträumt und wollte ihn küssen, doch er wies sie ab, bedeutete ihr, sich umzusehen.
Und tatsächlich, als sie sich um hundertachtzig Grad drehte, erblickte sie erst die eigentliche Überraschung. An einem der Bäume glänzten unzählig viele gläserne Glühbirnen im Sonnenlicht, aufgehängt an feinen Drähten. Ihre Welt schien für einen Moment stehen zu bleiben, gefangen in diesem emotionalen Moment, doch als sie ausatmete, erschien Mickeys Silhouette direkt neben ihr, legte einen Arm um ihre Hüfte.
»Es sind genau einundzwanzig«, erklärte er stolz. »In zwanzig stecken Bilder von uns, in einer … du wirst es gleich herausfinden.«
Sie näherte sich dem Baum und war plötzlich umgeben von schönen Erinnerungen und Bildern von sich und ihrem Freund. Jede hohle Glühbirne war mit Edding nummeriert. Auf dem Foto von Nummer Sieben, bei dem sie laut lachen musste, hatten beide sich feuerrote Haare gefärbt und grinsten schielend in die Kamera. Das war kurz nachdem sie zusammen fanden, Mila war siebzehn gewesen. Auf Nummer Vierzehn trug er sie auf Händen; dieses Bild entstand an ihrem Geburtstag letztes Jahr.
»Autsch«, stieß sie aus, als sie mit dem Kopf gegen Nummer Einundzwanzig stieß. Das Glas umgab einen kleinen Gegenstand, den sie auf den ersten Blick nicht identifizieren konnte.
Ohne jegliche Erklärung zückte Mickey plötzlich eine kleine Zange und durchtrennte den Draht. Die Glühbirne fiel, fiel, fiel – und zerbrach auf dem harten Boden. Mila schnappte überrascht nach Luft, dann hob sie das dünne, schwarze Plättchen zwischen den Scherben auf. Es war ein Plektrum, und als sie es umdrehte, waren ihre Initialen in kräftigem Rot – ihrer Lieblingsfarbe – auf die Oberfläche gedruckt.
Sie blickte zwischen dem Geschenk und dem Schenker hin und her, dann fiel sie ihm in die Arme.
»Heißt das, es gefällt dir?«, flüsterte er in ihr Haar und sie drückte ihn noch enger an sich.
»Ich liebe dich, Michael«, wisperte sie zurück und bestätigte es sogleich mit einem weiteren, leidenschaftlichen Kuss.
»Dann bin ich ja erleichtert«, lachte er und niedliche Grübchen bildeten sich in seiner Wangengegend. Er streichelte zärtlich mit seiner Hand über ihre Wange und wischte somit auch jeden Zweifel über diese Beziehung weg, den sie in den letzten Wochen gehegt hatte.
»Ich dachte, mein diesjähriges Geburtstagsgeschenk sollte etwas Besonderes sein«, begann er zu erklären. »Nicht nur, weil du jetzt ein großes Mädchen bist, sondern auch, weil es vielleicht dein letzter Geburtstag sein wird, den ich mit dir feiern kann.«
Schockiert stieß sie ihn von sich, sah ihn wortlos an, doch ihr Blick flehte nach einer harmlosen Erklärung.
»Naja«, zögerte er, offensichtlich war er sich nicht mehr so sicher, ob er das Thema lieber fallen lassen sollte. »Du gehst bald aufs College. Und meine Band hat vielleicht einen richtigen Plattenvertrag. Denkst du, wir sind da noch fähig, eine Fernbeziehung zu führen?«
Sie wusste einige Sekunden nicht, was sie antworten sollte. Innerlich wartete sie noch darauf, dass er die Sache auflöste und alles nur als sehr uncharmanten Witz enttarnte. Doch er schien es ernst zu meinen.
»Deine Band«, echote sie. »Bin ich denn kein Mitglied mehr?«
»Naja«, wiederholte er sich zaghaft, kratzte sich am Hinterkopf. »Beim Wettbewerb warst du nicht dabei, und wir dürfen danach keine Änderung in der Besetzung mehr machen. Außerdem bist du doch eh viel zu beschäftigt mit studieren, wenn du erst mal aufs College gehst und –«
»Wieso erwartet jeder, dass ich Studieren gehe?«, keifte sie ihn an. »Offensichtlich hast du keine Ahnung, was mich glücklich macht, Mickey.« Als sie ihn beim Namen nannte, klang es, als redete sie mit jemand ganz anderen als vor zwei Minuten. Und wenn sie noch einige Momente darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass sie recht hatte. Michael war nicht gleich Mickey.
»Ich bitte dich«, lachte er spottend auf. Seine Stimme klang so scharf, dass sie ihr Herz ganz leicht zerschneiden könnte. Und er war kurz davor, sie ernsthaft zu verletzen.
»Als ich dich kennenlernte, warst du noch nicht so zynisch«, murmelte sie, vielleicht redete sie auch nur laut mit sich selbst.
»Ich war jung, ich war kindisch und unreif. Aber irgendwann müssen wir alle erwachsen werden, so wie du heute, Mila«, erklärte er, und es klang wie ein Befehl. »Also bitte verhalte dich jetzt erwachsen und mach kein Drama daraus.«
Es überraschte sie, dass sein Gesichtsausdruck einen Wimpernschlag später wieder zu sanft und verliebt gewechselt hatte, und er sich zu ihr herunter beugte, um sie zu küssen. Sie zweifelte an der Echtheit seiner Gefühle, nur für einen kurzen Moment, und es genügte, um sich aus seinem Griff zu befreien.
»Ich hab plötzlich ganz fiese Kopfschmerzen, Mickey«, seufzte sie, und es war nicht mal eine Lüge. Sie betrachtete das Plektrum in ihrer Hand. »Bitte fahr mich nach Hause, damit ich mich ausruhen kann.«
»Na gut«, gab er nach. »Ich habe auch Kopfschmerzen. Das kommt bestimmt von diesen vielen Regentagen. Es liegt meistens am Regen.«
Ohne weitere Worte zu wechseln brachte er sie nach Hause. Zwar fragte er sie an der Haustür noch, ob er nicht mit reinkommen sollte, doch sie lehnte ab. Als er ging, hinterließ er tiefe Narben in ihrem Herzen. Kaum schloss sie die Tür hinter sich, fielen die ersten, salzigen Tränen.
*
Mehr, war das einzige, was sie an diesem Abend dachte, als sie sich den nächsten Drink bestellte. Die stickige, nach Schweiß und Rauch riechende Luft und die klaustrophobische Enge störten sie nicht mehr, nach dem vielen Schnaps, den sie mit ihren Freundinnen bereits getrunken hatte. Der Wodka Lemon prickelte auf ihrer Zunge, brannte aber nicht mehr in ihrer Kehle, da der Alkohol sie betäubte. Etwas taumelnd bahnte sie sich ihren Weg zurück zu dem Tisch, an dem ihre Freundinnen saßen. Ruby und Aileen saßen engumschlungen aufeinander, während hinter ihnen eine kleine Gruppe Männer starrte und gaffte. Beide schworen darauf, dass sie sich so immer und überall einen Mann angeln konnten. Frances aber stand teilnahmslos dabei und spielte Luftgitarre zu dem Song, der den ganzen Raum erdrückte unter seinem harten Klang. Mila war ihrer Einladung nachgekommen, mit ihr feiern zu gehen. Allerdings konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, wie viele Runden dem Geburtstagskind zu Ehren bereits getrunken wurden.
Als Frances sie bemerkte, erstarb ihr imaginäres Gitarrenspiel und sie kam mit breitem Grinsen auf sie zu. »Ich hab noch eine letzte Überraschung für dich, komm mit!«
Ohne Widerrede ließ Mila sich von ihr an der Hand aus dem Raum zerren, in der anderen noch den halbleeren Drink. Frances zerrte sie vorbei an Menschengruppen und tanzenden Individuen, bis ihr plötzlich die kühle nächtliche Sommerbrise von New York um die Ohren pfiff.
»Du wirst mich dafür hassen«, hörte sie Frances murmeln, ehe beide einen Block weiter innehielten und Frances den Mann, der sich als Robin vorstellte, innig begrüßte.
Mila konnte dem Gespräch nicht ganz folgen, da ihre Gegenüber sehr leise redeten, bis Robin sie plötzlich kritisch ansah und fragte: »Bist du sicher? Sie sieht nicht so aus, als könnte sie …«
»Psst, gib einfach her!«, entgegnete diese allerdings sofort, woraufhin er einen Flachmann und drei weiße Pillen aus seiner Umhängetasche zog und Mila reichte. Als diese nicht reagierte, machte Frances ihr vor, wie sie die kleine weiße Kugel schlucken und mit dem Getränk herunter spülen sollte. Doch immer noch machte Mila keine Anstalt, ihr nachzueifern, weshalb Frances ihr schlicht und ergreifend den Mund öffnete und Robin ihr die Pille auf die Zunge legte.
»Schluck«, sagten beide.
Mila schluckte.
»Trink«, sagten beide.
Mila trank.
»Folg mir«, bat Frances sie. Mila folgte.
Mila tanzte. Mila weinte. Mila schrie. Die Welt drehte sich langsamer als sonst. Die Zeit schien zäh und dehnbar in ihrer Hand wie ein zerkauter Kaugummi. Die Lichter schienen greller als sonst wie eine weitere, kleinere Sonne. Sie stellte sich vor, sie blickte in den Sternenhimmel, näherte sich ihnen und berührte sie.
Ihr wurde heiß, dann kalt. Ihre Zunge war trocken wie Sand und rau wie Schmirgelpapier, obwohl sie literweise kühles Wasser trank. Ein fremder Mann fragte sie nach einem Tanz. Sie bejahte. Sein Gesicht wurde plötzlich blau, dann violett. Es transformierte sich.
Als seine Nase schließlich gerade wurde, blickte sie Mickey aus treuen Augen an.
Dann rannte Mila in Zeitlupe aus dem Club heraus, weil die Erde noch immer viel zu langsam rotierte. Schatten, dann Lichter und tiefer Bass. Sie verlor die Orientierung und
Als sie ausatmete, saß sie auf ihrem Motorrad und fuhr durch die Nacht. Zwei Autoscheinwerfer blendeten sie, ein Hupen versuchte sie zu warnen. Doch Mila erkannte die Gefahr nicht, und das nächste Bild, das sich in ihre Erinnerung fraß, war das viele Blut, das an ihr klebte, und Schmerz.
Mila, zehn Stunden zuvor
Als Mickey sie aus dem Krankenhaus abholte, fühlte sich Mila benebelt von den Schmerzmitteln, die man ihr verabreicht hatte. Die letzten Tage waren gefüllt mit Wörtern wie Schmerz, Fraktur und Entlassung auf eigene Verantwortung. Als sie mit dem Pkw kollidierte, hätte ihr Herz eigentlich aufhören müssen zu schlagen, doch unerklärlicher Weise lebte Mila. Zwar trug sie etliche Schnitt- und Schürfwunden mit sich, sowie Hämatome, einer oberflächlichen Prellung ihres linken Auges, einer Rippenfraktur und einer leichten Gehirnerschütterung, doch sie atmete fast schmerzfrei dank dem Analgetikum. Sehr viel mehr tat es weh, über das Gespräch mit einem Arzt und ihren Eltern am gestrigen Tag nachzudenken.
Mila hatte sehr, sehr viel Blut verloren. Der Arzt erklärte in ruhigem Tonfall, dass sie wohl einen Schutzengel gehabt hatte. »Wir haben in letzter Minute noch einen Spender mit passender Blutgruppe 0 gefunden hatten.«
Da Mila im Biologieunterricht aufgepasst hatte, wusste sie, dass jede andere Blutgruppe als Spender nicht in Frage kam, da es sonst zur Verklumpung geführt hätte. »Aber was ist mit meinen Eltern?«, fragte sie. »Wieso konnten sie nicht spenden?«
»Beide Ihrer Elternteile haben Blutgruppe A, Frau Macey«, erklärte er und zupfte an seinem Kittel herum. Urplötzlich schien er nervös.
»Das kann nicht sein«, protestierte sie. »Meine Eltern A, und ich 0, das passt nicht.«
Natürlich passte es nicht, doch es war nicht der Arzt, der einen Fehler gemacht hatte. Als sie kurz darauf Rena und John zur Rede stellte, beschloss sie, die beiden nie wieder Mum und Dad zu nennen.
Mickey führte sie gegen ihren Willen zurück in das Haus ihrer Adoptiveltern. Zum Glück hatten diese sich bereits im Schlafzimmer verkrochen, da sie dem Mädchen, das gestern noch ihr Kind gewesen war, nicht mehr ins Gesicht sehen konnten. Überraschenderweise hatte Mila noch nicht geweint. Bislang verspürte sie nur diese flammende Wut und tiefe Enttäuschung.
Das Haus schien ihr fremd, so fremd wie ihre einstigen Eltern, so fremd wie ihre einstige große Liebe Michael. Sie fühlte sich nicht Zuhause.
Er hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt, als er sie durch die Haustür führte und beide ins Wohnzimmer gelangen. Die Sonne stand bereits tief und schickte ihre letzten Strahlen durch das große Fenster auf der Westseite. Sie ließ sich kraftlos aufs Sofa fallen. Auf dem Couchtisch klebte ein gelber Zettel, daneben stapelte sich Papierkram. Die Nachricht war nicht lang, dafür aber direkt.
Ein Fotoalbum, eine Geburtsurkunde, eine Adresse.
Oak’s Island
Es war wie ein plötzlich aufbrausender Sturm, der ihre Gefühle durcheinander warf. Die ersten Tränen fielen auf ihre zitternde Hand. Mickey, den sie völlig ausblendete, saß nur neben ihr auf dem Sofa und betrachtete das Geschehen still.
Das Album wiegte schwer in ihrer Hand wie das Herz im Käfig ihrer Rippen. Mila erkannte es wieder. Rena hatte sämtliche Erinnerungen an die Kindheit ihrer einzigen Tochter als Bilder festgehalten und in dieses Album geklebt. Doch schon seit Mila es zum ersten Mal gesehen hatte, barg die erste Seite ein Geheimnis, denn sie war nicht mehr vollständig vorhanden. Nur noch die untere Ecke hing am gebundenen Rücken, der Rest war entfernt worden, irgendwann, von irgendwem. Nun setzten sich die Puzzleteile in Milas Kopf fast wie von selbst zusammen. Die abgerissene Hälfte lag lose neben ihrem Endstück. Auf der Seite, die zwei Jahrzehnte vor Milas Blick geheim gehalten wurde, befanden sich drei Bilder. Eines zeigte ein Baby in einer hölzernen Krippe, die auf einer Seite ein großes M trug. Das zweite war leider etwas verschwommen, doch man konnte das Profil einer Frau erahnen, die ein Bündel im Arm trug. Das dritte Foto ließ Milas Atem versiegen.
Eine Eiche. Ein Mann, eine Frau, ein Kind. Eine Familie.
Sie weinte, als gäbe es kein Morgen mehr.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Mila sich wieder gefasst. Sie fand sich in ihrem Zimmer wieder. Die Gitarre war ihr vertraut wie ein alter Freund, als sie die ersten Akkorde wahllos zusammenstellte und dabei leise weinte. Mickey war zu seiner Wohnung gefahren und wartete dort auf sie, da sie versprochen hatte, nach zu kommen. Er wartete und ahnte nichts von ihrem Plan.
Sie atmete tief ein und legte sich im Kopf einige Phrasen zusammen, die sie leise zur Gitarrenbegleitung vor sich her summte. Danach schrieb sie sie mit schwarzer Tinte auf graues Papier.
Vielleicht in einem anderen Leben
Vielleicht zu einer anderen Zeit
Aber das zwischen uns beiden
Im Morgengrauen ist es vorbei …
Mila, der Tag des Aufbruchs
Einmal noch wollte sie ihm nahe sein, ihn küssen und spüren.
Einmal noch wollte sie bei ihm die Nacht verbringen und so tun, als wäre er immer noch das Zentrum ihres Denkens und Handelns. Das letzte Mal, bevor sie ihn für immer verlor.
Und Mila schlief bei ihm, geborgen in einer heißen, verschlungenen Geste der Zuneigung. Doch als sie erwachte, befreite sie sich mühelos von der körperlichen Umarmung, die sie zusammen gehalten hatte. Sie ließ einen kleinen Teil ihres Herzens in den zerknitterten Bettlaken und starken Armen dieses Mannes, der ihr einst ewige Verbundenheit geschworen hatte. Bedacht darauf, ihn nicht zu wecken, schlich sie ans Fenster und öffnete den Vorhang, um zu sehen, wie die Sonne gerade aufging. Das Laken knisterte und ein raues Brummen erreichte sie, doch er verweilte in seinem friedlichen, schwerelosen Zustand. Sobald er erwachte, würde er den Brief und den Songtext darauf vorfinden, den sie für ihn verfasst und dabei geweint hatte.
Sie musste ihn verlassen, sofort, oder sie würde daran zerbrechen.
Es fiel ihr so schwer, ihm in der gestrigen Nacht ihre Liebe zu gestehen und anschließend mit ihm zu schlafen. Es hatte sich anders angefühlt, so fremd, kühl und distanziert. Tatsächlich hatte Mila schon lange gewusst, dass es Zeit wurde, endgültig zu gehen. Sie hatte nur auf eine Möglichkeit gewartet, das Ziel ihrer Reise auf einen weit entfernten Ort festlegen zu können. Heute schlug sie ein neues Kapitel ihres Lebens auf.
Mila, Tag 2 und 3
»Henry Foster«, sagte Mila und ihre Zunge rollte dabei das R. Sie sprach den Namen noch einmal aus, um den Klang auszutesten. Er hörte sich in ihren Ohren anders an als nur in ihrem Kopf. Sie fröstelte.
»Glenda«, klang allerdings ganz genauso wie gedacht. Dieser Name kam ihr sogar seltsam vertraut vor.
Sie fragte sich mit einem Knoten im Herzen, ob sie diese Leute bald Mum und Dad nennen würde.
Mila Macey hätte eigentlich Mila Foster werden sollen. Da stellte sich ihr nur die Frage, warum sie zweiundzwanzig Flugstunden von ihrem Elternhaus entfernt bei Fremden aufgewachsen war.
Sie wusste, es war ungerecht, Rena und John als Fremde zu bezeichnen, doch nach allem was geschehen war, fühlte sie sich zu tief betrogen von den Menschen, denen sie am meisten vertraut hatte.
Auf ihrem Schoß lag das Fotoalbum. Die Geburtsurkunde steckte zwischen den Seiten, auf denen Mila Macey an ihrem ersten Schultag abgelichtet worden war. Die Adresse mit den Namen ihrer wahren Eltern hielt sie in der rechten Hand.
Henry & Glenda Foster
43 Main Street
Oak’s Island, 8013
NEW ZEALAND
p.s.: it’s the grand blue house
In ihrer linken befand sich eines der drei geheimen Fotografien: das Familienfoto. Das Kind war noch zu klein, um sich mal daran zu erinnern. Die Eltern schätzte sie auf ihr heutiges Alter, wobei es schwer war, sich festzulegen, da die Personen unter einer Eiche posierten und der Fotograf eine große Distanz aufbauen musste, um auch die Baumkrone einrahmen zu können. Die Gesichter waren sehr klein und schwer zu identifizieren, doch die Eiche war wie ein alter Freund für Mila. Zu oft hatte sie von ihr geträumt. Dr Fitzsimmons schien wohl Recht zu behalten mit der Annahme, dass sie von einer vergessenen Erinnerung träumte. Sie wunderte sich, ob er im Tod wohl wieder Farben sah.
Die ganze Sache gestaltete sich einfacher als gedacht, wurde Mila bewusst, als sie durch die Flughafenhalle irrte. Nun, da sie volljährig war, schaltete sich automatisch das Konto für ihren Zugriff frei, das John für sie einst angelegt hatte. Geld, sehr viel Geld, und sie konnte damit tun und lassen, was sie wollte. Deshalb war sie an dem Tag, an dem sie Mickeys Wohnung verlassen hatte, direkt zur Bank gefahren, um alles abzuheben und das Konto aufzulösen. Daheim warf sie anschließend eine spärliche Garderobe in ihre Sporttasche und hängte sich die Gitarrentasche um den Rücken. Von ihren Adoptiveltern verabschiedete sie sich nicht, als sie aus dem Haus stürmte, in ihren Wagen stieg und ohne Umwege zum Flughafen fuhr, um dort für zu viel Geld ein Ticket für den nächsten Flieger nach Neuseeland zu erwerben. Erst am Abend war dann Boardingtime.
Zweiundzwanzig Stunden später war sie schließlich gelandet. Die Sonne des zweiten Tages ging gerade unter. Es schien wie ein Wettrennen mit der Zeit, als sie ins Taxi stieg und dem Fahrer gehetzt ihr nächstes Ziel mitteilte. Zu viele Atemzüge hatte sie bereits verschwendet in einem Land, in dem sie sich nicht Zuhause fühlte. Zu viele Jahre hatte man sie im Ungewissen gelassen, und nun war sie ausgebrochen.
Ein weiteres Flugfeld erstreckte sich nach geraumer Zeit zu ihrer Rechten. Laut den Daten, die ihr Handy nach langer Recherche ausgespuckt hatte, war dieser kleine Flughafen der einzige, der auch eine Maschine nach Chatham Islands starten lassen würde. Der letzte Zwischenstopp vor Oak’s Island.
Ein Nachtflug brachte sie wieder einige Kilometer näher an ihr Ziel. Sie war kaum eingeschlafen, da weckte sie schon eine Stewardess. Es war so spät, dass es fast wieder früh war. Ein weiteres Taxi brachte Mila zum nächstgelegenen Gasthaus, während die aufgehende Sonne Tag drei ankündigte. Sie fröstelte. Laut dem Taxifahrer, der in starkem, heimischen Dialekt sprach, ging die einzige Fähre nach Oak’s Island Freitagabend.
Das Schicksal blieb gut zu ihr; heute war Freitag. Zufall, tat sie es ab.
Sie versuchte, ruhig und geduldig zu bleiben, doch konnte sie nicht verhindern, dass die Gedanken in ihrem Kopf zirkulierten, kollidierten und verpufften. An nichts konnte sie sich festhalten und an Schlaf war nicht zu denken. Ihre Gefühle sprenkelten Farben in das Chaos in ihrem Kopf, verwüsteten alles zusätzlich.
Im harten Bett des kleinen, urigen Gasthauses gelang es ihr schließlich, ins Land der Träume abzudriften. Sie sah eine Eiche, ihre allzu gut bekannte Eiche, und erwachte fröstelnd. Seit ihrem Geburtstag hatte ihr Traumbaum keine Blätter mehr getragen. Mila blieb keine Zeit, dies zu hinterfragen, da ein furchtbar scharfer Schmerz sich in ihrem Körper ausbreitete und sie nach Luft rang. Ihr war schwarz vor Augen und ihre Gedanken kurzzeitig betäubt. Erst nach gefühlten Stunden fand sie den Mut, sich vorsichtig im Bett aufzurichten. Ihre Muskeln völlig verkrampft vor Angst vor dem Schmerz. Ihr Schädel pochte, sie verspürte unerklärlichen Druck auf ihre Rippen.
Doch als sie an der dreckigen Tapete hoch sah und ihren eigenen Augen in einem kleinen Spiegel begegnete, erschrak sie vor ihrer Erscheinung. Die oberflächliche Prellung ihres linken Auges, sowie die Blässe ihrer Haut und ihr wegen fehlender Duschen ungepflegtes Äußeres ließ sie schaudern. Sie beschloss, sich vor dem Verlassen des Zimmers um ihre Hygienebedürfnisse zu kümmern, sich aber keine Maske des Makeups überzustreifen. Schließlich hegte sie nicht den Plan, als eine Fremde in ihre Heimat zurückzukehren.
Sie würde sich als Mila Foster vorstellen, wenn sie dort nach ihren Eltern fragte.
Ich gehe nach Hause, wurde ihr bewusst und sie lächelte.
Nach einer kurzen, kalten Dusche wechselte Mila die Garderobe. Statt das Outfit, das sie während der Reise getragen hatte, in ihre Sporttasche zu stopfen, hinterließ sie es im Mülleimer im Bad ihres Gästezimmers, als sie beim Besitzer des Hauses bezahlte, sich bedankte und ging. Sie versuchte, so wenig wie möglich aus den Vereinigten Staaten in ihre richtige Heimat mitzunehmen. Ihre dunklen Haare fielen tropfnass auf ihre Schultern, da sie keinen Föhn mitgenommen hatte und das Badezimmer auch keinen bot. Der schwarze Pullover zeichnete noch schwärzere Flecken ab, dort wo er das Wasser aufnahm.
Es roch nach Meer und Regen. Sie liebte beides.
Mila eilte nicht, als sie sich auf der schmalen Feldstraße vom schüchternen Gasthaus entfernte. Ihre Umgebung sah hinreißend aus, nun da sie sie bei strahlendem Tageslicht begutachten konnte. Chatham Islands war eine schöne grüne Insel im Pazifik, mit Lagunen und Bergen. Bäume, Wiesen, Wasser. Ein kleines irdisches Paradies mit violetten Wildblumen auf dem Wegesrand.
Sie folgte dem Weg, den der Besitzer des Gasthauses ihr zuvor geschildert hatte. Etwa ein Kilometer war der Hafen entfernt. Er hatte ihr außerdem erzählt, dass die Ureinwohner diesen Ort Rekohu nannten, übersetzt Neblige Himmel. Als Mila ihren Blick nach oben richtete, blendete die Sonne sie, umgeben von klarem Blau. Ein seltsam wolkenfreier Blick für Neuseeland. Der Wind war kühl und stark und sie glaubte, das Meer und die Vögel hören zu können.
Sie lief in gemütlichem Tempo und erfreute sich an der Schönheit des Landes. Erst als sie nach geraumer Zeit wirklich klar das Meeresrauschen hören und den dunkelblauen Horizont sehen konnte, beschleunigte sie ihre Schritte. Ihre Gitarrentasche wog schwer auf ihren Schultern und ihre Sporttasche in der Hand, doch sie hielt durch.
Die Stimmen des Meeres
Das paradoxe Gefühl von Freiheit und Gebundenheit
Der Wind in ihrem nassen Haar
Mila rannte die letzten Meter durch eine Wiese in den Sand. Kurz bevor sie das Wasser erreichte, legte sie ihre Taschen vorsichtig ab und schlüpfte aus ihren Sneakern. Die Hose bis zu den Waden hochgekrempelt, schritt sie noch einige Meter voraus, bis das kühle salzige Nass ihre Zehen und Fersen umspülte. Es war eisigkalt und sie fühlte sich, als wäre sie soeben erst aufgewacht. Die nächste Welle benetzte ihre Füße bis zu den Knöcheln. Sie atmete tief ein. Etwas Hartes stach in ihren Fußballen. Als Mila sich bückte und das Ding aus dem weichen Sand zog, entfloh ihrer Kehle ein Seufzer. Ein Teilstück einer silberblauen Paua Muschel schimmerte in ihrer Hand. Sie betrachtete es noch einige Sekunden und ließ es dann in die Tasche ihrer Jeans gleiten.
Zu ihrer linken erkannte sie nicht weit von ihr entfernt den Hafen, in dem Freitagabend das Schiff ablegen würde, das sie nach Hause brachte. Einige Vögel zogen Kreise über der Schiffanlegestelle.
Sie vertrieb sich die Stunden mit Muscheln sammeln und Steine hüpfen lassen, bis sie beschloss, ihren Weg zum kleinen Hafen fortzusetzen. Neben dem Steg war auf Pfeilern ein winziges Haus errichtet, die weiße Fassade bereits verwittert. Mila las fünfzehn Grad auf einem Thermometer direkt neben dem Eingang.
»Guten Tag, Fremde«, vernahm sie plötzlich eine raue Stimme. Sie blickte durch das halb geöffnete Fenster und begegnete den Augen eines Mannes mittleren Alters. Er verschwand aus ihrem Sichtfeld und erschien schließlich durch die Tür. Sein kariertes Hemd schien ausgewaschen und rau zu sein, die Arbeitshose war dreckig. »Kann ich dir helfen?«, fragte er mit freundlichem Lächeln, bei dem sich tiefe Falten in seine Wangengegend gruben. Sein Bart war dicht und braun, im Gegensatz zu seinen braungraumelierten Haaren, die unter einer Stoffmütze hervor lugten.
»Ich bin auf dem Weg nach Oak’s Island«, antwortete Mila und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. »Legt hier das Schiff an, das mich dorthin bringen kann?«
Beim Lachen entblößte der Mann seine krummen, aber weißen Zähne und runzelte die Nase. Es klang mehr wie ein glucksendes Kichern. »Ja, du bist richtig«, sagte er, ohne die Begründung für seine Belustigung auszudrücken. Er warf einen raschen Blick auf die große Armbanduhr an seinem Handgelenk. »Das Boot kommt in etwa einer Stunde. Du kannst hier warten.«
»Danke, das ist nett«, versicherte sie ihm und folgte ihm in das enge Häuschen. Es beinhaltete ein Regal, eine Sitzecke, einen Schreibtisch und ein Telefon. Die Dielen knackten und die Wände waren verziert mit Fischerhaken, Muscheln und verknoteten Seilstücken. Ein großer Kalender hing an der Wand direkt neben dem Schreibtisch. Termine von ein- und auslaufenden Booten und andere Daten waren markiert. Beobachtet wurde er von einer hölzernen, bemalten Tikimaske, deren funkelnde Augen auf die grauen Blätter schielten. Ein Sanddollar lag neben einem schwarzen Fineliner auf dem Tisch. Direkt daneben reihte sich eine bunte Sammlung an anderen Seeigelskeletten.
Doch woran Milas Aufmerksamkeit schließlich hängen blieb, war eine blausilberne Muschel auf dem Schreibtisch. Die schimmernde Paua Muschel war so groß wie eine Faust und trug einen mit schwarzer Farbe gepinselten Namen. Pete, stand in krakeliger Schrift darauf.
»Ein Geschenk meiner geliebten Frau«, erklärte der Mann mit tiefem Seufzer, als er Milas neugierige Blicke beobachtete. Der wehklagende Ton in seiner Stimme weckte eine schreckliche Vermutung.
»Ist sie …«, begann Mila, besann sich dann jedoch ihrer Höflichkeit.
»Vor dreizehn Jahren bei einem Unwetter auf See ums Leben gekommen«, antwortete Pete dennoch, und in seinen Augen spiegelte sich stechender Schmerz.
»Tut mir sehr leid«, murmelte Mila nur und senkte den Kopf. Sie erinnerte sich an ihren eigenen Fund und holte das abgerundete Teilstück aus ihrer Hosentasche. Das Muster ähnelte dem bunten Chaos ihrer Gefühlswelt.
»Wenn du willst, kann ich dir einen Anhänger daraus machen«, bot Pete an, trug nun wieder ein Lächeln auf den Lippen. Dankend nickte Mila und folgte seiner Bitte, in der Sitzecke Platz zu nehmen. Nachdem er es kurz in seiner Hand begutachtet hatte, kramte er aus einer Schublade im Schreibtisch eine Art Skalpell hervor, mit dem er vorsichtig und bedacht darauf, die Muschel nicht zu zerbrechen, ein Loch heraustrennte. Danach knotete er ein ledernes Band hindurch und überreichte Mila das Schmuckstück. Sie war verzaubert von seiner freundlichen Geste.
»Ich hab leider nichts, was ich zurückgeben kann«, gab sie beschämt zu und spielte mit dem Anhänger.
»Du kannst mir als Gegenleistung ein Versprechen machen«, schlug Pete vor. Das Telefon begann plötzlich zu läuten, doch er bewegte sich nicht vom Fleck. Als sie nickte, fuhr er fort: »Pass auf dein Herz auf, wenn du nach Oak’s Island gehst. Man sagt, wer einmal dort war, kommt nie wieder zurück. Und wenn, dann lässt er sein Herz auf der Insel.«
Mila fröstelte.
Finley, Tag 2
Die ganze Nacht über hatte der Mann mit den gelben Augen auf der großen Wiese gelegen und in die Sterne gesehen. Der Kosmos war so unbegreiflich groß und komplex, dass man annahm, ein Mensch alleine würde wohl niemals im Stande sein, ihn vollends zu verstehen. Doch Finley glaubte daran, dass er besonders war.
Er würde die Antwort auf das Warum? finden und in die Geschichte eingehen. Vielleicht war ihm das ja bereits gelungen, bloß in einer anderen Dimension.
Er widmete sein ganzes Leben nach dieser einen Frage, die noch so viele andere Fragen mit sich zog.
Tief in seinem Inneren wusste er, dass es keinen Gott gab. Vielmehr glaubte er an den Menschen. Er glaubte an sich, an seine eigene Fähigkeit, die ihm eines Tages Türen zu völlig neuen, unerforschten Welten öffnen würde. Vielleicht benötigte er dafür einen Hauch Göttlichkeit – oder einen Hauch Verrücktheit.
Doch auch Stephen Hawking, ein praktizierender Astrophysiker, der keiner religiösen Neigung verdächtig war, hatte einst die Frage gestellt: »Was ist es, das Feuer in die Gleichungen bläst und dafür sorgt, dass es ein Universum gibt, das sie beschreiben? Warum macht sich das Universum überhaupt die Mühe zu existieren?«
Finley war nicht der einzige, dem es nach einer Erklärung für Alles und Nichts dürstete. Und bis vor einigen Jahren war er auch nie alleine gewesen. Sein Partner Henry hegte bis zu seinem letzten Tag ebendiese Leidenschaft für die Unendlichkeit des Kosmos wie er selbst. Und bevor er starb, hatte er eine weltenverändernde Theorie aufgestellt. Nun war es an Finley, sie zu beweisen. Bislang bestand seine Forschung in Henrys Namen nur darin zu warten.
»Wenn die Eiche ihre Blätter verliert, werde ich tot sein, aber meine Theorie wird leben. Wiederhole ihren Namen wie ein Mantra, wenn du an ihrer Existenz zweifelst. Du wirst ihren Besuch wenige Tage später empfangen«, stand in Henrys krakeliger Handschrift auf dem Notizzettel, der mit einem Magneten am Kühlschrank befestigt war.
Die Stelle in Finleys Brustkorb, wo einst sein Herz gelegen hatte, glich einem metaphorischen, schwarzen Loch, seit er nach Oak’s Island gezogen war. Die extrem starke Gravitation seines Mittelpunkts rief eine Krümmung in der Raumzeit hervor, die jegliche Materie verschluckte und ihn von innen heraus auffraß.
Um seine verlorene Materie trauerte er nicht, denn metaphorisch könnte man sie als geronnene Energie bezeichnen, die es zu unzählbarer Mengen in seiner Umgebung gab. Doch er bedauerte die Fähigkeit, die er aufgab, als er nach Oak’s Island aufbrach.
Finley konnte mit den klügsten Astrophysikern der Welt fachsimpeln, er konnte jedem Kind die Welt veranschaulichen und er war imstande, einem Laien zu schildern, warum unser Universum mittelmäßig war. Doch die Existenz zweier Dinge konnte er sich nicht erklären: seiner gelben Augen, und Liebe.
Mila, Tag 3
Pete sprach ruhig und konzentriert mit seinem Anrufer übers Telefon. Dabei wandte er Mila den Rücken zu, was sie als Gelegenheit nahm, um über seine Worte nachdenken zu können.
Er warnte sie davor, ihr Herz zu verlieren. Wie hatte er nicht erwähnt. Sie war sich nicht sicher, ob nachzufragen schon unhöflich war.
Ehe sie einen Entschluss fassen konnte, legte Pete auf.
»Das Boot wird bald einlaufen«, erklärte er mit Blick auf seine Armbanduhr. Seine Laune schien angespannt. Beide redeten kein Wort mehr, bis es für Mila endlich Zeit wurde zu gehen. Sie verließ Chatham Islands in einem engen Frachtboot, das jede Woche frische Güter nach Oaks Island schipperte. Die Insel war lange Zeit nicht zu erkennen, weil das plötzlich regnerische, graue Wetter ihre Sicht trübte. Sie nutze die Fahrt, um sich noch etwas auszuruhen. Als Oaks Island schließlich am Horizont schemenhaft erschien und der Bootsführer sie weckte, war sie noch gar nicht richtig eingeschlafen gewesen.
»Es ist soweit!«, rief er, während sie sich näherten. Mila war nur noch einen Steinwurf davon entfernt, endlich nach Hause zurück zu kehren.
Das Boot tuckerte an einen schmalen Steg heran, wo bereits zwei Männer auf die Güter warteten, die sie anschließend in einem großen, weißen Geländewagen verstauten. Dass auch Besuch zwischen den Kisten voll Lebensmitteln und Hygieneartikeln saß, schien sie zu überraschen.
»Guten Abend«, sprach der Mann mit der Latzhose zu Mila, nachdem sie auf den Steg geklettert war. »Wie hast du dich denn hierher verirrt?«
»Können wir irgendwie helfen?«, bot der andere an. Beide waren bereits ziemlich alt, tiefe Falten gruben sich in ihre Gesichter.
»Ich bin auf der Suche nach einem Paar namens Henry und Glenda Foster. Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«, fragte Mila.
Die beiden Männer tauschten einen Blick, nickten und der erste begann zu lächeln. »Keine Ahnung!«, rief er. Es kochte Enttäuschung in Milas Brust, die sie zu verstecken versuchte, als sie sich bedankte und schon gehen wollte. Doch von hinten rief er ihr noch nach: »Aber ich kenne jemanden, der weiß, wo du sie finden kannst!«
»Wer?«, verlangte sie zu wissen, doch im pfeifenden Wind ging ihre Stimmer völlig unter.
»Folge der Straße ins Dorf hinein und frag dort nach Finley Abbot«, riet der Mann mit der Latzhose ihr. »Er kennt alle Geheimnisse der Insel und auch jeden Namen der Menschen, die hier einst lebten oder zu Besuch waren.«
»Nehm die Abkürzung durch den Wald und nicht den langen Weg außenherum«, empfahl der andere ihr.
Getrieben von Neugierde joggte Mila die Straße entlang, was ziemlich anstrengend war mit zusätzlichem Gepäck auf dem Rücken. Der Weg war mit Kieselsteinchen belegt, die sich in ihre Sohlen bohrten, und nicht geteert. Es war anstrengend mit starkem Gegenwind den Berg zu erklimmen, der vor ihr lag, und je heftiger sie atmete, desto mehr schmerzte die Fraktur ihrer Rippe. Sie hasste, dass es erst einen schweren Unfall gebraucht hatte, der ihr fast das Leben gekostet hat, um die Wahrheit über ihre Wurzeln zu erfahren. Dennoch versuchte sie, Rena und John zu vergeben. Vielleicht noch nicht heute, doch irgendwann bestimmt.
Steinchen knirschten und der Wind pfiff heulend um ihre Ohren. Hohe Gräser schmiegten sich aneinander und tanzten zu ihrer Rechten. Das Relief der Insel war sehr hügelreich, weshalb sie sie nicht überschauen konnte. Ihr Blick reichte nur bis zu besagtem, dichtem Wald in sattem Moosgrün, der den Kieselweg scheinbar verschluckte. Ein Vogel schrie, aber kein Rabe. Sie lief nicht sehr lange, bis sie sich inmitten des saftigen Grüns wiederfand. Die Baumstämme waren bewachsen mit Kletterpflanzen und Pilzen. Ein langer, breiter Farn kitzelte Mila im Gesicht. Beinahe hätte sie das gigantische Spinnennetz übersehen, in das sie fast reingelaufen wäre. Feuchte Tröpfchen schimmerten im spärlichen Licht und verrieten es. Als sie sich vorsichtig ihren Weg um das Netz herum bahnte, glaubte sie, Wasser zu hören. Ein Gluckern, ganz nah, das nicht dem Meer angehörte. Der dunkelgraue Steinweg führte sie weiter durch den Wald, aus dem so viele Tiere sprachen, bis ihr Weg in eine Pfütze überging. Nun verstand sie, wieso sie zuvor stets auf einer niedrigen Erhöhung gelaufen war. Der Wald schien zu einem großen Teil aus Sumpf zu bestehen, der wegen den vielen Pflanzen und dem dunkelbraunen, dreckigen Wasser erst nicht als solcher zu erkennen gewesen war.
Vorsichtiger als nötig tapste Mila auf Zehenspitzen durch die seichte Pfütze, um an ihrem anderen Ende wieder auf Kiesel zu stehen. Ihre Atmung ging schwer und sie wusste, sie musste sehr bald eine Pause machen. Man hatte sie auf eigene Gefahr aus dem Krankenhaus entlassen, allerdings mit dem dringlichen Hinweis, sich zu schonen. Der wenige Schlaf die letzten Tage und die körperliche Anstrengung der Wanderung machte ihr mehr zu schaffen, als sie zugeben würde. Sie beschloss, eine Rast einzulegen, sobald sie den Wald durchquert hatte.
Die Insel war kleiner als sie angenommen hatte. Nicht mal fünf Minuten später fand sie sich auf einer Lichtung wieder, die einem Dorfplatz glich. Es waren kleine Steinhäuser mit bescheidenen Fassaden. Der Platz war wie ausgestorben und furchtbar still. Milas Fußsohlen schmerzten und ihre Kehle war trocken wie totes Laub. Es war höchste Zeit, diesen ominösen Finley Abbott aufzusuchen. Als sie sich dem ersten Haus näherte und an die Tür klopfte, kam ihr der Zettel mit der Adresse in den Sinn.
Henry & Glenda Foster
43 Main Street
Mit lautem Knarzen öffnete sich die Holztür einen Spalt breit, ein scheinbar eingefallenes Gesicht blickte ihr entgegen, die hellen Augen völlig ohne Zeichen der Alterung.
»Wie kann ich helfen, Fremde?«, sprach sie sehr langsam und betont. Ihre Stimme klang alt und rissig wie ihre Haut.
»Ich bin auf der Suche nach jemandem«, erklärte Mila und holte noch einmal tief Luft. »Henry und Glenda Foster, kennen Sie die zwei?«
»Nein«, hauchte die alte Frau zurück. Im Haus war es dunkel, weshalb man nicht viel außer ihrem bleichen Gesicht erkennen konnte. Sie machte schon Anstalt, die Tür wieder zu schließen, da übermannte Mila Panik.
»Warten Sie!«, rief sie und stemmte ihre Hand gegen die Holztür. Die Frau wich erschrocken zurück in die Dunkelheit. Statt ihrer vernahm Mila die Stimme einer weiteren Person, die sich näherte.
Alice Moana war ein junges Mädchen, wunderschön wie das Meer. Ihre blonden Locken flossen förmlich über ihre Schultern. Die Haut war makellos und eben wie Porzellan. Ihre Augen, so grün wie die Farbe des Waldes. Sie funkelten, als absorbierten sie heimlich Sonnenstrahlen.
Sie tanzte, wenn sie ging, denn gehen alleine war ihr zu langweilig. Daher gewann sie den Spitznamen Tanzendes Mädchen auf Oak’s Island.
Mila blieben die Worte im Halse stecken, verblüfft von ihrer Erscheinung, doch Alice öffnete die Tür ganz, begrüßte sie freundlich und stellte sich vor. Ihr selbstbewusstes Lächeln gab Mila ihren Mut zurück.
»Ich heiße Mila Foster und suche nach meinen Eltern, Glenda und Henry«, fiel sie mit der Tür ins Haus. Alices Gesichtsausdruck erschlaffte zu einem großen Fragezeichen. Sie schien noch nie von den Namen gehört zu haben, und genau das beteuerte sie auch kurz darauf. »Kannst du mir wenigstens sagen, wo die Main Street ist? Dort sollen sie nämlich angeblich wohnen.«
Alice schaute verwundert drein. Dann lachte sie aus dem Bauch heraus, ein ehrliches, tief belustigtes Lachen. Mila verstand die Pointe nicht und fragte deshalb nach.
»Nun ja, du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht, fürchte ich«, erklärte Alice mit breitem Grinsen auf den rosanen Lippen. »Jede Straße ist die Main Street, Oak’s Island hat nur diese eine. Wir sind eine winzige Insel im Pazifik.«
Nun stieg auch Mila in ihr Lachen ein. »Okay, das macht die Suche vielleicht einfacher.«
Nach einem kurzen Moment erschien die alte Frau wieder im Hintergrund. Nun erkannte Mila, dass sie ganz eingekleidet in Schwarz war und nur ihr faltiges Gesicht entblößte, das sich soeben zu einer wütenden Grimasse verzerrte.
»Was will sie noch hier?«, krächzte sie und deutete mit dem Finger auf Mila.
»Ist schon gut, Paula«, wandte Alice in beruhigender Stimmlage ein. »Sie sucht nur Antworten.«
»Sie ist eine Mörderin, und du weißt das!«, fluchte Paula nun noch aufgebrachter. Mila schreckte zurück, als die alte Frau ein Messer unter ihrem Umhang hervor zückte und sich näherte. »Geh sofort weg! Verschwinde von dieser Insel! Geh!«
Ohne zu zögern lief Mila schwer atmend viele Schritte rückwärts, um der Gefahr zu entfliehen. Sie sah das Spiegelbild der Frau auf der Klinge des Messers. Ihre dunklen Augen sprachen eine Drohung aus, die man nicht hätte in Worte fassen können. Dann warf sie es.
Mila schrie und stolperte. Sie fand sich auf dem staubigen Boden wieder, gerade, als der erste Regentropfen fiel. Ihr Körper zitterte vor Angst, nicht vor Kälte.
Ein Blitz zuckte durch den wolkenverhangenen Himmel.
Die Tür war geschlossen, vom Messer keine Spur. Totenstille lag im Dorf. Es schien verlassen und doch fühlte sich Mila beobachtet von allen Seiten. Ihr Herzschlag galoppierte. Hastig richtete sie sich wieder auf, während ihr gesamter Körper von den Verletzungen des Unfalls noch schmerzte. Am schlimmsten war das Pochen in ihrem Schädel. Ganz plötzlich wurde aus ein paar Regentropfen eine ganze Menge, die auf sie hinab strömte und sie von oben bis unten durchnässte. Es donnerte. Sie eilte die Straße entlang, rutschte dabei zweimal beinahe aus, und hielt erst vor einem Gebäude mit der Hausnummer 12. Es trug ein Schild, das auf eine Gaststätte hinwies. Mila hoffte, hier wurden Gäste freundlicher behandelt als bei Paula.
Ohne zu klopfen betrat sie das Haus und stand in einem großen düsteren Raum mit Tischen und Kerzen und einem Tresen, hinter dem ein bärtiger Mann gerade Gläser spülte. Er hatte sich mit seinem Gegenüber unterhalten, doch nun blickten beide die Fremde mit den vielen Wunden im Gesicht an, die so plötzlich herein geplatzt kam.
»Ent – schuldi – gung«, stieß Mila zwischen Atemzügen aus. Ihr war etwas schwindlig, weshalb sie sich an der Wand anlehnte, während sie fortfuhr: »Ich habe das Schild gesehen … kann ich hier vielleicht ein Zimmer buchen?«
»Das Gästezimmer kostet fünfzig neuseeländische Dollar pro Nacht«, sagte der Bärtige und es klang wie eine Warnung. Willkommen fühlte sich Mila in ihrer Heimat nicht.
»Mir egal, wie viel es kostet«, keuchte sie erschöpft. »Ich brauche dringend Schlaf.«
»Sagte ich fünfzig?«, fragte der Wirt mit gespielter Verwirrung. »Ich meinte siebzig.« Sein Gesicht blieb ernst und starr, mit Ausnahme von einem kleinen Lächeln, das um seine Mundwinkel zuckte.
»Ich nehme es.«
Mila, Tag 4
Gewitterwolken verhingen den Himmel. Mila blinzelte. Ein winziges, rotbraunes Schimpansenbaby saß auf dem Fensterbrett und klopfte von außen gegen das Glas. Mit jedem dumpfen Schlag wurde Mila langsam weiter aus ihrem Traum von der blätterlosen Eiche zurück in die Realität gezerrt. Dann war sie mit einem Mal hellwach und starrte an die Decke. Sie drehte sich auf die Seite und erkannte die kleine Gestalt auf ihrem Fensterbrett, wunderte sich nicht. Erst allmählich wurde ihr bewusst, dass diese Insel keinen geeigneten Lebensraum für Affen bot. Mit der Erkenntnis kam auch Verwirrung, doch ehe sie sich versah kletterte der Schimpanse davon.
Nach einer eiskalten Dusche glaubte Mila, klar denken zu können. Erst die verpuffte Vorstellung eines Messers gestern, dann das eingebildete Tier heute, konnte sie sich einfach nur mit abwegigen Gründen erklären. Sie nahm sich vor, in der Flora der Insel nach Pflanzen Ausschau zu halten, die Gase in die Luft abgaben, die ähnliche Halluzinationen wie Rauschmittel hervorriefen.
Mila glaubte fest daran zu halluzinieren. Es gab keine Schimpansen auf Neuseeland.
Summend suchte sie in ihrer Sporttasche nach den Fotos und dem Zettel mit der Adresse. Nachdem sie ihre Haare kurz trockengeföhnt und zu einem Dutt gebunden hatte, lief sie hinab in die Gaststätte. Der Wirt, der seinen Namen nicht preisgeben wollte, murmelte eine lieblose Begrüßung.
»Kennen Sie Henry und Glenda Foster?«, fragte Mila und reflektierte seine lustlose Tonlage.
»Nein«, antwortete er nur und kritzelte auf einen Block, der vor ihm auf der hölzernen Theke lag. Er blickte ihr nicht einmal ins Gesicht.
»Kennen Sie 43 Main Street?«
»Nein.«
»Kennen Sie Finley Abbot?«
Und plötzlich hob er sein Kinn, um ihr in die Augen zu sehen. Seine waren dunkel, sehr, sehr, dunkel. Sie kam sich vor, als hätte sie mit ihren Worten einen Fluch über beide gelegt, denn die Mimik des Wirts ließ sie schaudern.
»Folge der Straße. Es ist nicht zu verfehlen. Einfach gerade aus, bis die Straße endet«, erklärte er. Sie bedankte sich und ging.
Wieder schien das Dorf wie ausgestorben, weil kein Einwohner sich außerhalb seines Heims bewegte. Mila schoss der Gedanke durch den Kopf, dass all die Häuser, an denen sie vorbeiging, vielleicht gar nicht bewohnt waren und leer standen. Das nächste Mal würde sie noch nach der Einwohnerzahl dieser Insel fragen.
Der Steinweg verlief in einer leichten Kurve und führte etwa einen halben Kilometer durch das Wohngebiet, wobei Mila sich Standorte von Florist, Supermarkt und Bildhauer ins Gedächtnis einprägte, um sie zu einem anderen Zeitpunkt aufzusuchen. Die Kurve endete am Waldrand, wo sich ein Weg in das Dickicht abzweigte und der andere rechts den Hügel hinaufkletterte. »Geradeaus« zu laufen, schien doch schwieriger als der Wirt beschrieben hatte.
Mila hoffte, dass Finley Abbot nicht im sumpfigen Wald lebte, und folgte dem Anstieg zu ihrer Rechten. Es war mühsam, da Mila sich noch nie wirklich sportlich fit gehalten hatte, doch nachdem sie an einem Baum kurz Halt gemacht und sich ausgeruht hatte, war sie auch schon fast da. Der Berg flachte wieder etwas ab, und der Weg war nunmehr nur noch platt getretene, ursprünglich kniehohe Gräser. Pastellfarbene Lupinen ragten zwischen ihnen hervor und orangerote Blüten malten strahlende Akzente ins saftige Grün. Als Milas Blick weit nach vorne schweifte, erkannte sie einen großen, mächtigen Baum ohne Blätter.
Mila Macey fiel auf die Knie und weinte. Umgeben von Gras und Farnen, die sich im Wind wiegten und ihren Körper streichelten, brach sie in Tränen aus. Seit langem hatte sich das Gefühl in ihrem Herzen eingenistet, dass sie auf dem besten Weg war, sich selbst zu verlieren. Sie hatte mit einem Mann zusammengelebt, den sie glaubte zu lieben. Sie hatte sich mit Freundinnen getroffen, auf die sie gut hätte verzichten können. Und seit einigen Tagen hatte sie aufgehört, ihren Adoptiveltern Vertrauen zu schenken. Sie hatte ihr altes Leben aufgegeben, um endlich ein Zuhause zu finden. Der Anblick der alten Eiche aus ihren Träumen erfüllte ihr Inneres mit Hoffnung und Wärme. Sie fühlte sich ihren wahren Eltern und ihrer Heimat ein großes Stückchen näher.
Umgeben von Gras und Farnen, die sich im Wind wiegten und ihren Körper streichelten, wischte sie sich die Tränen von den Wangen. Mila Foster erhob sich und lächelte.
Finley, Tag 4
Mit geschlossenen Augen saß Finley am Klavier, die Hände bereit zu spielen auf die Tasten gelegt. Er schlug nur das C an, hörte jedoch den Ton nicht. Frustriert fluchte er und sprang auf, lief wutgeladen durch sein überschaubares Wohnzimmer. Draußen zwitscherten die Vögel, wie jeden Samstagmorgen. Doch heute erregte etwas in ihrem Gesang seine Aufmerksamkeit. Von einem auf den anderen Moment war das Klavier vergessen und Finley schlich auf Zehenspitzen zu seinem Küchenfenster, das den Ausblick bis zur Eiche ermöglichte. Tatsächlich, es war ein Besucher auf der Insel. Und nicht nur irgendeiner. Dort unter der nackten Baumkrone lehnte ein Mädchen gegen den Stamm der Eiche. Er hoffte nur, Henry würde Recht behalten, was sie anbelangte.
Er gestand es sich nicht gerne ein, doch Aufregung kroch durch Finleys Adern. In den letzten Jahren gab es schon einige Besucher auf Oak’s Island, doch noch nie hatte er jemanden zu sich nach Hause eingeladen. Fast zitterte er schon, als er seine Hände im Bad gründlich wusch, bevor er sich auf den Weg machte. Doch als er gerade im Flur stand und vor der Haustür zögerte, sie zu öffnen, durchzuckte ein stechender Schmerz seine Brust und er sank zu Boden. Mit aller Kraft kämpfte er gegen die Ohnmacht an, während er zum ersten Mal seinem eigenen Herzschlag lauschte. Zum ersten Mal in seinem ganzen Leben. Vielleicht sogar zum letzten Mal. Wer weiß. Vielleicht war es egal. Die Dunkelheit schloss ihn in ihre Arme und raubte ihm das Bewusstsein.
***
Die Kraft, die ihn von der Realität fernhielt, polte sich urplötzlich um. Wie ein gespanntes Gummi schnallte er zurück in seinen Körper, fühlte, dass seine kalten Fingerspitzen sich langsam erwärmten. Dort, wo er gerade noch einen furchtbaren Schmerz empfunden hatte, gab es wieder nichts als Leere. Sein Herz war ihm schon vor langer Zeit abhanden gekommen. Dass er es schlagen gehört hatte, schien ihm unerklärlich.
»Ist alles in Ordnung?«, vernahm er eine sehr weiche, zärtliche Stimme. Sie klang melodisch wie ein Klavierspiel in seinen Ohren. Das Mädchen trug den Duft der Wiese mit in den Flur. Als Finley seine Augen öffnete, schenkte sie ihm ein erleichtertes Lächeln. Seine Gesichtsmuskulatur brannte zwar, doch er lächelte zurück. Jede einzelne Muskelfaser in seinem Körper schien in Flammen zu stehen, als sie ihm vorsichtig auf die Beine half. Er war nur einen halben Kopf größer als sie. Obwohl er es versuchte, konnte er nicht aufhören, in ihre grünen Augen zu sehen, was wohl auf Gegenseitigkeit beruhte. Wobei niemandem, der Finley zum ersten Mal sah, seine stechend gelben Augen entgingen. Er selbst aber betrachtete sie so lange, weil sie ein sehr schönes Gesicht hatte, obwohl es übersaht war mit Hämatomen und Schürfwunden. Ihre Haare waren schwarz, zerzaust und Gras hing zwischen den Strähnen neben ihrem linken Ohr.
»Mein Name ist Mila«, sagte sie, und Finley nickte lediglich. Er empfand diesen Namen als viel zu simpel für die Komplexität ihrer Schönheit. »Tut mir leid, dass ich einfach herein gekommen bin, aber ich war auf der Suche nach jemandem, und dann hab ich dich hier auf dem Boden liegen sehen … und dir geht es jetzt wieder besser?«
Er hielt eine Hand an seinen Brustkorb und versuchte, irgendetwas zu spüren. Dann versuchte er es ebenso erfolglos an seiner Halsschlagader. Es schien, als wäre Finley ein stiller, wellenloser See innerlich. Zeitlos.
»Was war denn los?«, fragte Mila scheinbar besorgt wegen seiner Gestik und kam ihm einen Schritt näher, was Finley sofort zurückweichen ließ wie ein scheues Reh. Er war die Nähe eines anderen Menschen einfach nicht mehr gewohnt. Panik vor einem potenziellen Kontrollverlust brodelte in seinem Innern.
»Nur Kreislaufprobleme«, log er und versuchte dabei, das Zittern seiner Stimme zu unterdrücken. »Du sagtest, du wärst auf der Suche nach jemandem gewesen«, lenkte er ein.
»Nun, äh, ja«, zögerte sie, überrascht von seiner Reaktion. »Er heißt Finley Abbot und kann mir vielleicht einige wichtige Fragen beantworten.«
»Möchtest du etwas trinken?«, bot er ihr an und steuerte sofort das Wohnzimmer an. Sie folgte ihm zwar ohne zu zögern, doch man konnte ihr deutlich ansehen, dass sie sich unwohl fühlte.
»Wasser, bitte«, antwortete sie und ließ sich auf dem schmalen, unbequemen Sofa nieder, um dort zu warten. Finley holte in der Küche zwei mit der Zeit trüb gewordene Gläser. Eines füllte er mit Leitungswasser, das andere mit Milch. Nachdem er tief durchgeatmet hatte, gesellte er sich wieder zu seinem Besuch. Doch als er sich im Wohnzimmer umsah, schien sie verschwunden.
»Das ist sehr schön«, vernahm er ihre Stimme plötzlich. Beim Umdrehen erkannte er sie vor seinem Klavier stehend. Er näherte sich ihr, achtete aber darauf, nicht zu nahe zu kommen. »Kannst du spielen?«, wollte sie wissen und nahm ihr Glas dankend an. Finley nickte und nippte an seinem eigenen Getränk. »Beweis es!«, forderte sie ihn mit breitem Grinsen auf.
»Es ist stumm, ich habe das komplette Innenleben herausgetrennt«, murmelte er mit gesenktem Blick.
»Aber – wieso denn das?«, stammelte sie sichtlich überrascht.
»Zu experimentellen Zwecken«, meinte er nur schulterzuckend.
Eine kleine Weile schwiegen sie. Finley ließ sich auf die eine Hälfte des breiten Klavierhockers nieder, Mila folgte seinem Beispiel. Ihre Schultern streiften sich, doch Finley widerstand dem Drang wegzurutschen.
»Mein …«, fing er plötzlich an und drehte sein Gesicht ihr zu. Als er jedoch bemerkte, dass auch sie ihn betrachtet hatte, versiegte seine Stimme. Er leckte sich über die Lippen und versuchte es ein weiteres Mal. »Mein Name ist Finley Abbot und ich kenne die Geheimnisse der Insel, sowie die Namen sämtlicher Besucher und Einwohner der letzten neun Jahren.«
»Und ich bin Mila Foster und suche nach meinen Eltern, Henry und Glenda«, ging sie darauf ein. Finley erschrak und zuckte zusammen.
»Henry Foster«, wiederholte er. Sie nickte verwundert. »Henry Foster soll dein Vater sein? Sag mal, wie alt bist du? Zwanzig?«
»Einundzwanzig«, korrigierte sie ihn. »Weißt du, wo ich ihn finden kann?«
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Finley handelte, bevor er sich Sorgen um die Konsequenzen machen konnte. Er packte ihre Hand und zog sie mit sich. In diesem Moment vergas er all seine Berührungsängste und zerrte Mila hinaus, umkreiste das Haus, um an der hinteren Fassade stehen zu bleiben. Die Wiese wurde hier von einem Haufen aufgeschütteter Erde bedeckt. Eine einzelne, bereits verdorrte Blume lag darauf. Mila erkannte sofort, dass es sich um ein Grab handelte und trat verschreckt zurück, schlug die Hände vor ihr Gesicht.
»Er ist tot«, dachte sie laut. Ihre Stimme klang nunmehr schrecklich wehklagend und einsam. Finley verkrampfte sich. Er verspürte den Drang, sie zu trösten, traute sich aber nicht, sie in den Arm zu nehmen.
»Er kann nicht dein Vater gewesen sein«, sagte Finn stattdessen, in der Hoffnung, dass sie nicht zu weinen begann. Als sie die Hände von ihrem Gesicht senkte und ihn mit verzerrter Miene ansah, spiegelte sich keine Trauer sondern Wut in ihrem Ausdruck.
»Wieso«, zischte sie tonlos.
»Er war mein Partner. Ich kannte ihn seit dem Kindergarten. Er hatte ja noch nicht mal eine richtige Freundin gehabt, also noch gar nie! Dafür war er viel zu versessen von seiner Arbeit«, plapperte Finley darauf los und verlor irgendwie den Faden bei den vielen Erinnerungen an Henry.
»Na und?«, blaffte Mila ihn an. Ihr Blick war streng.
»Henry Foster und ich waren gleichaltrig«, kam Finley auf den Punkt. »Er starb vor einer Woche im Alter von Sechsundzwanzig.«
»Das«, begann Mila und starrte auf das Grab. »kann nicht sein.«
Mila, Tag 4
Finley nippte an seinem Getränk. Er saß gemeinsam mit Mila wieder im Wohnzimmer, wobei sie nervös auf dem harten Sofa hin und her rutschte und er es vorzog, Distanz zu wahren und auf dem Klavierhocker Platz zu nehmen.
Unmöglich, sprach sie sich immer und immer wieder gedanklich zu.
Vielleicht hatte ihre Adoptivmutter sie belogen und diese Namen, Henry und Glenda, gehörten gar nicht zu ihren wahren Eltern. Doch wer war es dann?
Mila ließ ihren Blick durchs Zimmer schweifen, auf der Suche nach Ablenkung. Die Einrichtung wirkte überhaupt nicht stimmig auf sie, jeder Innenarchitekt hätte sich bei diesem Anblick längst Blei durchs Gehirn gejagt. Alte, teils morsche Möbel, die genauso gut vom Sperrmüll gerettet sein könnten, zu viele verschiedene Farben in Kombination und – am schrecklichsten – ein quietschpinkes Radio mit Pünktchenmuster auf dem Regal. Es erklang keine Musik, die peinliche Stille wog schwer auf ihren Schultern.
»Wieso«, begann sie dann gedankenlos, ohne Finley anzuschauen. Seine stechend gelben Augen schüchterten sie nur ein. »Wieso trinkst du Milch?«
»Ich weiß nicht so recht«, bekam sie als Antwort. »Schon immer, ich trinke nur Milch. Nur.«
Mila schloss die Augen und seufzte. Ihre Fingerspitzen massierten ihre Schläfen. Pochende Kopfschmerzen betäubten ihre Gefühle etwas.
»Wusstest du schon, dass Sterne Farben haben?«, ertönte irgendwann seine außergewöhnlich tiefe, raue Stimme. Er hatte einen starken Akzent, den Mila allerdings nicht zuordnen konnte. Sie sah ihm in die Augen und erschrak erneut, wie beim ersten Mal. Etwas Vergleichbares hatte sie noch nie zuvor gesehen. »Rot, Blau, Gelb, abhängig von der Oberflächentemperatur«, erklärte Finley und es war, als strahlten seine Augen den perfekten Beweis aus.
»Ähm, das ist cool«, stammelte Mila und verfluchte sich zugleich wegen dieser geistreichen Antwort. Den Blick wandte sie nicht von seinem ab, und ein kleines Lächeln schlich sich unbemerkt in ihr Gesicht.
»Tut mir leid, das mit deinen Eltern«, wechselte er das Thema und biss sich auf die Lippen. Er schien Angst zu haben, etwas Falsches zu sagen, das sie verletzen konnte. »Dass du so weit gereist bist, und jetzt wieder umkehren musst.«
»Ich kehre nicht um«, widersprach sie überrascht. »Sie mögen zwar nicht hier sein, aber ich bin es, und sehe vorerst keinen Grund mich von dieser Insel zu verabschieden.«
Finleys Mimik veränderte sich. War sie vorher noch angespannt und nervös, so wich der Ausdruck nun einem anderen Gefühl. War es wirklich Erleichterung, die sie glaubte, darin lesen zu können?
»Und was hat dich dazu verleitet, hier her zu ziehen? Oder bist du hier geboren?«, versuchte sie sich an einer lockeren Konversation. Ihr Lächeln wirkte ehrlich und leicht.
»Geboren bin ich in Australien. Ich werde dir zeigen, warum ich her kam und was mich hier hält, wenn ich dich zum Essen einladen und bis zum Abend hier behalten darf«, grinste er. Seine helle Haut war schon die ganze Zeit über um die Wangengegend Puterrot gewesen. Ob das normal für ihn war oder ihre Anwesenheit ihn erröten ließ, wusste sie nicht, aber sie beschloss, es herauszufinden.
»Okay«, lachte sie deshalb. »Gerne.«
Wieder trat Schweigen ein, doch dieses Mal war es nur noch halb so schlimm. Finley inspizierte fortan starr das Glas in seiner Hand und merkte es vielleicht gar nicht, dass Mila ihn genauer betrachtete. Nun fiel ihr auf, dass der Mann vor ihr trotz seiner geringen Größe und eher schmächtigen Körperbaus einen strengen, erwachsenen Eindruck machte, und das verdankte er lediglich seinem Gesicht. Gerade Nase, schmale Lippen, hohe Wangenknochen und leichter Bartansatz ließen ihn älter aussehen als er war, obwohl seine großen gelben Augen entgegen seiner harten Züge wirkten. Es sah außerdem so aus, als wählte er absichtlich nichtssagende Bluejeans und ein langweiliges schwarzes Shirt, um ja nicht aufzufallen, was sich in seiner schüchternen Haltung unmissverständlich widerspiegelte.
Ihre Blicke trafen sich. Keiner von beiden sah weg. Finley räusperte sich. »Hattest du einen Unfall?«
Erst schien Mila nicht zu verstehen, wovon er sprach, dann rief sie sich ihre äußerliche Erscheinung wieder ins Gedächtnis und schämte sich fast für ihr entstelltes Gesicht. »Ja, ein … äh, Auto hat mich gerammt.« Es wäre zu unangenehm gewesen zu erwähnen, dass sie es wegen Drogenkonsums eigenverschuldet hatte. Deshalb verschwieg sie es.
»Ich habe nie meinen Führerschein gemacht«, erwähnte Finley, und er sagte es so, als fiele es ihm nach langem Vergessen gerade erst wieder ein. »Früher habe ich mich nur auf meinem Skateboard fortbewegt. Kindergarten, Schule, Uni – alles auf vier kleinen schwarzen Rollen. Seit ich hier wohne, besitze ich ein Fahrrad, da es auf diesem Gelände sehr viel einfacher zu benutzen ist als ein Board, das für geteerte Stadtstraßen entworfen wurde.«
»Sogar im Kindergarten? Wie alt warst du dann, als du anfingst zu fahren?«
»Sechs. Ich war sechs. Mein Bruder Argon hat es mir beigebracht. Er wollte unbedingt, dass ich früh anfange, ein cooles Kind zu werden.« Finley lachte, und dabei schien er fast sorglos.
Mila stieg in sein Lachen ein. Dann fiel ihr etwas auf. »Argon ist aber kein gängiger Männername, oder?«
»Argon ist ein chemisches Element«, erklärte er. Dann, ganz plötzlich, legte sich ein Schatten über seine Mimik. In tonloser, leiserer Stimmlage formte sein Mund die Worte: »Meine Eltern sind Wissenschaftler.«
Dass seine gerade noch leichte, lockere Laune so plötzlich wieder Anspannung gewichen war, verunsicherte Mila so sehr, dass sie einfach gar nichts erwiderte. Sie leerte ihr Glas und lehnte dankend ab, als Finley ihr anbot, es aufzufüllen. Gedankenverloren betrachtete sie das Klavier und wünschte sich insgeheim, Musik machen zu können und dazu zu singen. In ihrem schäbigen Hotelzimmer ruhte ihre Lieblingsgitarre in der passenden Tasche. Sobald sie zurück kehrte, würde sie ihre Gefühle in einen Song einbinden.
Der Mann mit den gelben Augen stand plötzlich vor ihr, und erst dabei fiel ihr auf, dass sie geistig abwesend gewesen war. Er hielt ein Buch in der Hand mit dickem braunem Einband und setzte sich zaghaft neben sie auf die Coach.
»Ich habe zwar ein ziemlich gutes Gedächtnis, doch kann ich mich nicht an jede einzelne Person erinnern, die in den letzten Jahren auf Oak’s Island gewesen ist. Zum Glück beherrsche ich auch die Buchführung«, verkündete er mit schiefem Lächeln und schlug das Buch auf. Weil der Einband nicht vom Inhalt zeugte, stand auf der ersten Blankoseite in großen Buchstanden REGISTER.
Feinsäuberlich und mit Datum versehen hatte Finley tatsächlich jeden Besuch dokumentiert. Hinter einigen Namen standen sogar Beschreibungen zu Aussehen oder Charakter. Dann flogen Milas Augen bis zum Namen Ashley McNeil von vor drei Jahren. In seiner ordentlichen Handschrift hatte ihr Gegenüber als Beschreibung etwas gewählt, dass ihre Aufmerksamkeit erregte.
»Süß«, las Mila vor und grinste ihn schief an.
»Zuckersüß! Ich erinnere mich noch genau an sie«, erwiderte er. Seine strahlenden Augen schienen zu glühen, während er sprach. »Sie trug immerzu ihr Lieblingskuscheltier mit sich herum. Und sie konnte vorzüglich malen für eine Sechsjährige.«
Mit einem Mal überblätterte er einige Seiten im Buch, bis sie leer wurden. Dann schlug er die vorige auf und las für sich einige Namen durch, die aus diesem Jahr stammten. Der letzte Name wurde vor gerade mal einer Woche eingetragen, dieser aber ohne Abreisedatum und, viel wichtiger, nicht in Finleys Handschrift.
M. Foster
Er schien genauso schockiert wie Mila selbst, als sie ihn ansah. Dieser Eintrag entstand noch bevor sie überhaupt von Oak’s Island erfahren hatte.
»Wie zur Hölle ist das möglich«, murmelte Finley nahezu tonlos vor sich her, es klang nicht mal wie eine Frage. »Das ist Henrys Schrift. Laut dem Datum scheint er das notiert zu haben, kurz bevor er starb.«
»Und er hat sich geirrt, was das Anreisedatum angeht«, bemerkte Mila, doch sie war sich nicht sicher, ob Finley ihr überhaupt zuhörte. Er war tief, sehr tief, in Gedanken versunken. Wortlos schloss er das Buch nun, als würde die Verwunderung mit dem visuellen Eindruck einfach verschwinden.
»Vielleicht …«, stieß er mit der Luft aus und stand auf.
»Vielleicht meint er mich ja gar nicht.«
»Ich kenne die Fosters, kein Name fängt mit M an!« Er schlug die Hände hinterm Kopf zusammen und eilte zum Klavierhocker, dessen leichtes Polster unter seinem Gewicht in sich zusammensackte.
Mila seufzte. Finley seufzte.
Ihr Gesicht vergrub sie in ihren eiskalten Händen. Sie kam auf diese Insel, um ein Zuhause zu finden, und alles was sie nun bekommen hatte, war Verwirrung.
Ihr Nacken war verspannt und ihre Füße taten weh. Erst als sanfte, melodische Klänge sie erreichten, entspannte sie sich. Es waren leise Klaviertöne, die ihr halfen, gegen ihre konfusen Gedanken anzukämpfen. Langsam erhob Mila Foster sich und blickte sich um. Der fremde Mann, den sie so furchtbar interessant fand, schlug mit einer eingeübten Leichtigkeit einige schwarzweiße Tasten an.
»Wie heißt das Stück?«, wollte sie wissen und näherte sich ihm.
»Das ist Una Mattina«, antwortete er, ohne seinen Blick von den Tasten abzuwenden. Er spielte zwar ganz locker, doch in seinem Gesicht stand ihm klar deutlich die Sorge geschrieben, die sie auch in seiner Stimme hörte. Während sie direkt neben ihm stand, fiel ihr auf, dass er im Profil viel weichere Konturen besaß und fast bubenhaft aussah.
»Warte«, sprach sie plötzlich lauter, aufgeschreckt. »Du sagtest doch vorhin noch, das Klavier funktioniert nicht.«
»Du hast dir sehnlichst Musik gewünscht, deshalb spielt sie«, erzählte er ihr mit gewissem Nachdruck.
»Ich verstehe nicht ganz …«
»Du wirst verstehen, wenn du ein paar Wochen auf der Insel gelebt hast. Die Eiche macht nun mal, was sie will.«
»Was hat es eigentlich mit dieser ominösen Eiche auf sich? Wieso benennt man eine ganze Insel nach ihr?«
»Die Baumart Eiche existiert tatsächlich nur auf der Nordhalbkugel unsrer Erde. Europa, Nordamerika. Nicht etwa Neuseeland. Hier aber wächst eine direkt vor meinem Haus, entgegen den Gesetzen der Natur. Es gibt unzählig viele, alte Geschichten, die sich um sie und diesen Ort ranken. Viele sind bloß Märchen, andere allerdings scheinen gar nicht so verkehrt zu sein. Was man nun glaubt, sei einem selbst überlassen.«
»Und was glaubst du?«
Er ließ sich Zeit für die Antwort und überlegte sich gut, was er sagen würde.
»Ich glaube, es ist nicht so wichtig, ob man den Geschichten traut oder nicht. Dinge geschehen, die ich mir nicht erklären kann. Doch ebendiese Dinge machen das Leben hier so spannend!«
Mila war nicht zufrieden, doch sie fragte aus Höflichkeit auch nicht weiter nach. All das ließ sie sich noch einmal durch den Kopf gehen, während sie Finleys Klavierspiel lauschte. Es war ein melancholisches Stück voller starker Emotionen, doch es schöpfte auch Hoffnung.
»Mein Vater war bestimmt ein Arschloch und hat mich alleine gelassen«, mutmaßte sie trotzdem.
»Hey!«, widersprach Finn, scheinbar fühlte er sich persönlich angegriffen. Er unterbrach auch sein Spiel und starrte sie stattdessen mit einer Intensität an, die sie schaudern ließ. »Also wenn Henry Foster dein Vater war, hast du riesiges Glück, denn dieser Mann war ein fantastisches, warmherziges Wunderkind!«
»Ich dachte«, lächelte sie, »es wäre längst ausgeschlossen, dass er als mein Vater infrage kommt.«
»Ich meine … ja auch rein hypothetisch.« Doch seine Gesichtszüge sprachen anderes. Er schien die Möglichkeit trotz allem noch in Betracht zu ziehen.
Nur warum zum Teufel?
Finley, Tag 4
Lag es an den Eigenarten der Insel oder dieser Person, er konnte es nicht sagen. Es geschah ganz plötzlich und überraschend, und doch verwunderte es ihn nicht. Das Mädchen namens Mila schlief lautlos und regte sich nicht im Geringsten. Sie hätte genauso auf seiner Couch sterben können, er hätte es nicht bemerkt.
Nachdem sie lange Zeit geschwiegen hatten, beendete er das Klavierspiel und wandte sich ihr zu, und erst da bemerkte er ihren Zustand. Finley seufzte bei diesem Anblick. Ihr Mund stand ein Stück offen; gerade so weit, dass ihre Schneidezähne hervor lugten.
Dieses Mädchen, das auf seinem Sofa ruhte, wirkte extrovertiert und selbstsicher, wenn sie sprach, sowohl in ihrer Stimme als auch in ihrer Haltung. Sie war kommunikativ und leicht im Umgang, ganz im Gegensatz zu ihm selbst. Es schockierte ihn, dass er überhaupt so viel mit ihr geredet hatte. Normalerweise war er kein Mensch der großen Worte und hielt deshalb lieber den Mund. Die Rolle des Beobachters stand ihm einfach besser als die des Akteurs.
Finley vertrieb sich die Zeit mit Hausarbeit. Er wischte Staub, spülte Geschirr ab und beseitigte sämtliche Spinnenweben im Haus – wobei er die Verantwortlichen vorher stets einfing und im Garten aussetzte. Normalerweise verbrachte er seine Freizeit mit Arbeit, doch dafür fühlte er sich gerade einfach nicht fähig. Seine Gedanken waren besetzt von diesem Mädchen. Es mangelte ihm an Konzentration.
Während sich die Sonne dem Horizont entgegen neigt, wurde Finley langsam misstrauisch. Er lehnte den Besen an die Wand und ging vor dem Mädchen in die Hocke. Immer noch bewegte sie sich nicht. Zur Sicherheit prüfte er deshalb ihre Atmung, indem er sein Gesicht zu ihrem vorbeugte und zur Seite neigte. Ein schwacher Luftzug streifte seine Wange. Er sah sie wieder an und kam nicht drum herum zu denken, dass sie ohne die Wunden und blauen Flecken noch schöner ausgesehen hätte. Gleichzeitig stieg ihm ein schwacher Duft in die Nase. Noch immer rochen ihre Haare und ihre Kleidung nach der Wiese vor seiner Tür. Sie musste sich früher am Nachmittag ins Gras gelegt haben oder hingefallen sein.
Finley war nur ein lautloser Beobachter, doch er beherrschte, was er tat. Im fielen Sommersprossen auf, nur ein paar um ihre Nase herum, und ihre Hände – Hände, deren Fingerkuppen genauso wund und aufgerissen waren, wie die Verletzung an ihrem schmalen Kinn. Doch ihre Finger zeugten nicht von einem Unfall, sondern von viel Ehrgeiz und Vergnügen an der Musik. Es waren die wundgespielten Finger einer Gitarristin.
Ein kleines, vielsagendes Lächeln huschte über seine Lippen. Als sich Falten auf ihrer Stirn bildeten und ihre Atmung etwas schneller und stärker ging, erschreckte sich Finley. Er sprang sofort auf die Beine und trat vier Schritte zurück, stieß dabei mit der Ferse gegen seinen Wohnzimmertisch, auf dem immer noch das Registerbuch lag. Die Stelle an seinem Fuß schmerzte, weil seine alten Freizeitschuhe von der Zeit abgewetzt und dünner geworden waren.
Sie erwachte nicht langsam und ruhig, sondern schreckte in einem Atemzug auf. Die Luft scharf eingesogen, riss sie die Augen auf. Er konnte den fließenden Übergang in ihnen sehen, wie die Realität den gerade erlebten Traum verdrängte. Gleichzeitig richtete sie sich auf und stellte ihre Beine auf den Boden. In nach vorne gebeugter Haltung saß sie dort und rieb sich die Augen. Ihre Hände waren bläulich bleich vor Kälte und sie zitterte unverkennbar.
»Albtraum?«, traute Finley sich, sie zu fragen. Erst erreichte es sie scheinbar nicht, dann blickte sie hoch in seine Augen und er erkannte, dass das Gelb sie aufs Neue überraschte. Sie würde sich wohl nie daran gewöhnen, ihn anzusehen ohne zu erschrecken. Etwas in ihrer Mimik ließ Finley sich unwohl fühlen und deshalb wandte er sich ab, um weiter den Holzboden zu fegen.
»Tut mir furchtbar leid, dass ich … das ist mir wirklich peinlich«, murmelte sie dann vor sich her.
»Du hast ziemlich lange geschlafen, hast du Hunger?«, fragte er, ohne sie anzusehen. Es dauerte eine kleine Weile, bis sie zaghaft bejahte. Schließlich räumte er den Besen weg und bereitete in der Küche schon einmal die Zutaten vor. Er war kein begnadeter Koch, doch es gab genau ein Gericht, mit dem er sie sicher beeindrucken konnte. Er hatte erst heute Morgen die notwendigen Pflanzen gepflückt für seine auf der ganzen Insel bekannte Kräutersuppe.
In den letzten neun Jahren hatte er sein Rezept perfektioniert. Er hatte viele Pflanzen ausprobiert und einige allergische Schocks erleiden müssen, ehe er die richtigen Zutaten beisammen hatte. Hier auf Oak’s Island spielte die Flora nach ihren eigenen Regeln. Es gab Blüten, die dem europäischen Giersch stark ähnelten, allerdings hochgiftig zu sein schienen. Dann wiederum wuchs ein Schmetterlingsblütler direkt hinter seinem Haus, dessen rote Blätter zwar warnend aussahen, allerdings vorzüglich mit den anderen Komponenten seiner Suppe harmonierten. Keines seiner Kräuter besaß einen offiziellen Namen oder war in einem Sachbuch zu finden. Auch stellte er Fotos und Beschreibungen in Internetportale voller Botaniker, die sich bunt wunderten über diese schrägen Pflanzen. Einige Biologen waren sogar nur ihretwegen auf diese Insel gereist, wenn sie Finley nicht für einen Hochstapler hielten. Gehört von ihnen hatte er danach nie wieder.
Mila erschien an seiner Seite, gerade als er anfangen wollte, zwei verschiedene Blättersorten klein zu schneiden. Weil sie ihre Hilfe anbot, überließ er schließlich ihr die Aufgabe. Zeitgleich zerließ er Butter in einem Topf, gab Mehl, Gemüsebrühe, Crème fraîche und Eigelb hinzu. Als er sie das nächste Mal betrachten wollte, nur für einen kurzen Augenblick, fiel ihm auf, dass sie starr aus dem Fenster blickte. Er musste nicht nachfragen, um zu wissen, dass sie neugierig im Halbdunkel die mächtige Eiche beäugte. Sie redeten kein Wort, während er diverse Kräuter der Suppe zufügte und sie ziehen ließ. Erst später, als er Teller aus einem Küchenschrank holte, sie Gläser tragen ließ und ihr bedeutete zu folgen, versuchte er sich wieder an einer kurzen Konversation.
»Ich hoffe, du magst Rotwein?«, wandte er sich an sie und lief voraus durchs Wohnzimmer in den Eingangsbereich. Er öffnete die Tür mit dem Ellenbogen, um die Teller mit dem Besteck nicht loslassen zu müssen.
»Essen wir draußen?«, unterbrach sie ihn.
»Ich esse immer draußen«, erwiderte er lediglich und umkreiste das Haus bis zur Westseite, wo man Blick hatte auf die Sonne, die hinter der Eiche am Horizont verschwand und das Meer in blutrote Farbe tauchte. Ein eher kleiner, leicht verwitterter Holztisch stand dort und wartete, gedeckt zu werden.
Mila stellte die Gläser ab und verharrte in ihrer Position, beobachtete die Sonne beim Untergehen. Ein fasziniertes Lächeln ruhte auf ihren Lippen.
»Es musst wunderbar sein, hier zu wohnen und diesen Ausblick jeden Abend genießen zu dürfen«, bemerkte sie. Ihre Haare wehten um ihr Gesicht. Die salzigen Meeresbrisen waren heute Nacht erstaunlich ruhig.
»Eigentlich schauen wir gerade in die Vergangenheit«, erzählte Finley und sah ebenfalls Richtung Horizont. Sie antwortete nicht, scheinbar dachte sie nach. Deshalb fuhr er einfach fort: »Das Licht der Sonne braucht etwa acht Minuten bis zur Erde. Sie ist in Wahrheit zum jetzigen Augenblick schon untergegangen, wir sehen nur die Bilder, die sie uns vor acht Minuten schickte.«
»Woher weißt du das?«, staunte sie und ihre Blicke trafen sich. Sie war interessiert, das war offensichtlich.
»Magst du nun Rotwein?«, entgegnete er jedoch. Sie nickte nur.
Während sie also die Suppe nach draußen brachte, holte er aus seiner Speisekammer die letzte Flasche Wein, die er noch besaß, und wischte den Staub von ihrem Glaskörper. Das letzte Mal, dass er Alkohol getrunken hatte, war drei Jahre her. Zu jenem Zeitpunkt war ihm und Henry damals ein riesen Durchbruch in einem Experiment gelungen, worauf sie am Abend angestoßen hatten. Ein krampfhafter Schmerz durchzuckte jede seiner Muskelfasern, wenn er an seinen Partner und besten Freund Henry dachte. Seine Augen brannten wieder furchtbar bei der aufkommenden Nostalgie, doch er verkniff sich jede Träne. Bevor er nach draußen ging, stellte er das Radio an und ließ die Tür offen, damit die Lieder der Achtzigerjahre sie auch dort erreichten.
Mila genoss offenbar eine gute Erziehung. Sie drückte sich höflich aus und bedankte sich stets, wenn Finn ihr einschenkte oder sie aufforderte, sich Suppe zu nehmen. Außerdem beteuerte sie, wie gut es doch schmeckte – wobei letzteres auch ehrlich gemeint war, denn ihre Augen funkelten beinahe beim Sprechen.
Sie tranken und aßen, und alles lief gut. Obwohl Finley sich ständig Gedanken machte, etwas Falsches zu sagen oder zu tun, das sie möglicherweise vergraulen könnte. Doch Mila lächelte zurück, wenn er sie ansah.
Die leise Musik im Hintergrund verstummte und ein Radiosprecher kündigte einen Song an, den Finley nicht kannte. You might need somebody, welch Ironie. Mila allerdings strahlte und beteuerte, dass sie dieses Lied liebte.
Wären wir jetzt in einem dieser Liebesfilme, dachte Finley sich, müsste ich sie jetzt zum Tanzen auffordern. Doch weil er sich eben nicht in einem Film befand, tat er nichts als seinen leeren Teller anzustarren. Er schämte sich, weil er den Mut nicht fand, einen Schritt auf sie zu zu gehen. Doch zum Glück schien Mila sich nicht daran zu stören. Sie lachte leise und stand auf, umkreiste den Tisch, um direkt vor ihm zu verharren. Dann bot sie ihm ihre Hand an, und er verstand die Geste zwar sofort, zögerte aber einen Atemzug lang. Schließlich ließ er sich von ihr aufhelfen und in Tanzposition modellieren. Während sie seine Hände an die entsprechenden Stellen ihres Körpers geleitete und sie sich somit näher kamen, verkrampfte er sich unverzüglich. Er funktionierte wie automatisch, fast wie ferngesteuert, während er den einzigen Tanz ausführte, den er je gelernt hatte: einen Walzer. Er war leicht neben dem Rhythmus und stolperte bei der Drehung fast, doch Mila lachte voll Vergnügen, was ihn etwas entspannen ließ. Er fing gerade an, selbst Freunde daran zu finden, als sie bei einer zu hastigen Drehung das Gleichgewicht verlor und auf die Wiese segelte, dabei aber nicht ihr Lachen verlor.
»Ich, das … tut mir –«, stammelte Finley und sie unterbrach ihn sofort.
»Schon gut«, kicherte sie und bat ihn, ihr aufzuhelfen. Als er aber ihre kühle Hand ergriff zog sie so ruckartig an, dass er vor Überraschung selbst der Schwerkraft zum Opfer fiel und neben ihr auf dem Bauch landete. Er drehte sich auf den Rücken und stützte sich auf die Ellenbogen, suchte Blickkontakt.
Sobald sie endlich hersah, sprach er seine Gedanken aus: »Das war hinterlistig.«
»Bist du Astrophysiker oder so?«, wechselte sie urplötzlich das Thema. »Du weißt so viel darüber.«
»Ja«, nickte er und versuchte dabei, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Sie sah lediglich interessiert aus.
»Du wolltest mir noch erzählen, warum du auf diese Insel kamst.«
Finley lehnte sich zurück, das Gras kitzelte seine Ohren und nackten Arme. Den Blick richtete er gen Sternenhimmel. Es war, als hätte der Künstler dieser Welt plötzlich Lust gehabt, eine ganze Tube schwarzblauer Farbe auf seiner Leinwand zu verteilen, dabei aber einige weißstrahlende Punkte ausgelassen. Nahezu jede Nacht seit neun Jahren hatte er mit Henry neben der Eiche gelegen und die Sternschnuppen gezählt. Dass er nun mit einem fremden Mädchen hier lag, fühlte sich falsch an.
Auch sie schien nun endlich nach oben zu sehen, denn er hörte sie erstaunt nach Luft schnappen. Jeder, der zum ersten Mal die Sterne in einer klaren Nacht auf Oak’s Island sah, staunte. Von diesem Fleck der Erde schienen die Farben intensiver, die weißen Himmelskörper viel größer und fast zum Greifen nahe. Dieser Blick war einzigartig, wie ein Blick in eine andere Galaxie, die nicht unsere war. Der Sternenhimmel hier war genauso wie alles andere auf dieser Insel: Er spielte nach seinen eigenen Regeln.
»Henry und ich befanden uns noch im Studium, als wir das erste Mal hierher reisten. Seinem Vater gehörte dieses Haus, und als dieser starb, vererbte er es ihm. Er ist zwar hier geboren, aber mit seiner Mutter kurz darauf nach Neuseeland gezogen, weshalb er sich nicht mehr an die Insel erinnern konnte. Wir kamen also nichtsahnend her und sahen exakt dieses Bild«, erzählte Finley ruhig.
»Wie kann das sein?«, dachte Mila laut.
»Das weiß keiner so genau. Henry berichtete mir eines Tages mal von der Theorie, dass besondere Kräuter, die hier wachsen, ein Gas in die Lust abgeben, dass derartige Sinnestäuschungen hervorruft. Denn glaub mir, wir sind von hier aus genau so weit entfernt von den Sternen wie von jedem anderen Punkt auf der Welt.«
»Kann man die Hypothese irgendwie beweisen?«
»Nicht mit unseren Mitteln«, seufzte er.
»Ihr hättet an die Presse gehen können! Dieses Phänomen ist unfassbar!«
»Wir haben ein eigenes Forschungsprojekt ins Leben gerufen, Mila. Henry und ich waren hier, weil diese Insel sich wunderbar dafür eignet, im Universum nach Antworten zu suchen. Wir haben hier viele Theorien beweisen oder entkräften können, an denen andere Astrophysiker gescheitert sind, und deshalb hat die Universität, für die wir damals gearbeitet haben, uns auch auf Langzeit hierher versetzt.«
»Warte«, wandte sie ein und richtete sich auf. Er tat ihr gleich. »Du wohnst sein neun Jahren hier. Und du bist sechsundzwanzig. Heißt das, du bist mit gerademal siebzehn als Student hier her gezogen? Das funktioniert doch nicht!«
»Ich … habe mit vierzehn die Schule abgeschlossen, bin mit fünfzehn das erste Mal auf diese Insel gekommen und mit siebzehn nach meinem Abschluss in Astrophysik hier her gezogen«, erklärte er. Es war ihm höchst unangenehm darüber zu reden. Als er noch ein Kind war, wurde er gehänselt für seine Hochbegabung und entwickelte sich deshalb zu dem introvertierten, vorsichtigen Erwachsenen, der er heute war. Nur Henry war stets an seiner Seite gewesen, denn wie es der Zufall will, traf ihn dasselbe Schicksal. Er begeisterte sich mindestens genauso für den Kosmos wie Finley und hatte im IQ-Test, den sie damals gemeinsam ablegen mussten, sogar ein noch besseres Ergebnis bekommen. Auch in seinen Abschlüssen war Henry in jedem Test besser gewesen, weil er die Gabe hatte, sich für jedes Thema begeistern zu können. Er lernte den Stoff eines gesamten Schuljahres innerhalb einer Woche, weil es ihn so sehr interessierte. Finleys Ehrgeiz bestand lediglich darin, schnell Schule und Studium abzuschließen, weshalb er am Ende nur siebenundneunzig Prozent erzielte, Henry hundert.
»Das …«, entkam Milas Mund und sie starrte ihn entgeistert an. »Wow.«
»Du frierst«, fiel ihm nun auf. Es war offensichtlich, dass sie das Zitter zu unterdrücken versuchte. Kein Wunder, sie trug nur einen Pullover und die maritimen Nächte hier waren eisig. Er verfluchte sich innerlich, dass es ihm nicht eher aufgefallen war und er ihr das zugemutet hatte. Sofort stand er auf und half auch ihr auf die Beine, begleitete sie dann nach drinnen ins Wohnzimmer. Aus dem Radio trällerte noch immer Musik. Mit schnellen Schritten brachte Finley Mila aus seinem kleinen Schlafzimmer im Obergeschoss einen Pullover, bevor er das Geschirr von draußen in die Küche räumte. Als er sich zurück ins Wohnzimmer zu seinem Besuch gesellte, war sie verschlungen vom grauen Stoff des ihr zu großen Pullovers. Ihre Haare hatte sie in einem schnellen, zerzausten Dutt hochgebunden. Sie stand mitten im Raum, scheinbar auf seine Wiederkehr wartend.
»Ist alles okay?«, fragte er in besorgter Tonlage.
Sie nickte. »Danke für alles, aber ich sollte langsam mal zurück zum Hotel gehen.« Beim Sprechen sah sie ihn an, doch es wirkte, als sah sie durch ihn hindurch. Sie war weit weg in Gedanken. Mit schwachem Lächeln machte sie Anstalten zu gehen, doch Finley fühlte sich plötzlich unwohl bei dem Gedanken, alleine zu sein.
»Ich werde dich begleiten«, stellte er fest und sie erwiderte nichts. Zu zweit verließen sie abermals das Haus und er nahm das Fahrrad auf, das an der Wand neben der Tür lehnte.
»Ist das dein Ernst?«, lachte sie leise, als er sie aufforderte, sich auf den Gepäckträger zu setzten.
»Nun mach schon«, grinste er sie an. Je mehr Zeit er sich in ihrer Gesellschaft befand, desto angenehmer empfand er es. Sie brauchte keine weitere Aufforderung, ehe sie sich auf den kalten Gepäckträger niederließ und sich an seinen Hüften festhielt. Die ersten paar Meter wankten sie noch, weil er Mühe hatte, Gleichgewicht zu finden, doch schließlich verlief alles reibungslos, während sie den Berg hinab rollten und der Gegenwind ihm ins Gesicht blies. Im Tal durchfuhren sie ein kurzes Stück zwischen Büschen und Bäumen, in dem unzählig viele Glühwürmchen ihren Weg kreuzten. Ihr Leuchten war unverkennbar in einer tiefdunklen Nacht auf einer Insel, die kaum Beleuchtung hatte. Sie Strahlten mit den Sternen geradezu um die Wette.
»Wir sind gleich da«, informierte er sie, als sie die Wohnsiedlung erreichten. Als sie von Hotel sprach, war ihm sofort klar gewesen, dass sie beim alten Wirt untergekommen sein musste. Es gab keine andere Gaststädte auf Oak’s Island. Ihr Griff um seine Hüften verstärkte sich, als sie über einen dicken Ast fuhren und wieder das Wanken anfingen. Finley wurde warm innerlich und er konnte nicht sagen, ob das ihr Verschulden war oder von der körperlichen Anstrengung beim Fahrradfahren kam. Tatsächlich war es ihm egal, denn das Gefühl war gut.
Leider aber auch ziemlich schnell vorbei, als er vor der Gaststädte anhalten musste und sie abstieg. Mila verharrte vor der Tür und blickte zurück zu ihm. Lange sah sie ihm lächelnd in die Augen – genau so lange, um ihn dazu zu bringen zu fragen: »Können wir uns wiedersehen?«
Ein melodisches, wunderschönes Lachen erklang aus ihrer Kehle, gefolgt von den Worten: »Bis morgen!«
Dann verschwand sie. Schockartig wurde Finley die Kälte der Nacht bewusst, weshalb er sich sputete, zurück zu radeln. Auf dem Rückweg wäre er beinahe gegen einen Baum gefahren, weil er zu lange verträumt ins Sternenzelt gesehen hatte.
Tag der Veröffentlichung: 09.04.2015
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