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Giftkinder

Giftkinder


Amiz füllte die dampfende, grünlich schimmernde Flüssigkeit in eine verrostete Bierdose, der er den Deckel abgeschnitten hatte. Er wusste was als nächstes kommen würde und setzte sich vorsichtshalber auf den Steinboden. Kalt stach es ihm durch die dünne Stoffhose, die er anhatte. Dann hielt er sich mit der linken Hand die Nase zu und setzte die Dose an die Lippen. Er nippte vorsichtig, nicht, dass er sich schneiden könnte. Der erste Schluck brannte immer fürchterlich im ganzen Gesicht. So widerlich das auch war, Amiz kam nicht mehr ohne aus. Seit Wochen schon, hatte er nichts anderes mehr im Sinn, als sich Grüne Wolken zu besorgen. Kaum, dass ihm der erste Schluck die Kehle zuschnürte, blitzten die Synapsen zwischen seinen Schläfen in wildem Feuerwerk. Schwerelos erhob er sich im Schneidersitz und seine Augen verdrehten sich nach hinten. Mit dumpfen Orgeltönen stampften die rußgeschwärzten Kellerwände an ihm vorbei. Sein Bewusstsein nahm immer mehr an Fahrt auf, die Sinne wechselten in wildem Rausch die Farben und eine Leichtigkeit durchflutete seinen ganzen Körper. Amiz war die blutrote Sonne über einer schimmernden See, deren schäumenden Wellenkämme an Erinnerungen brachen, die gen einen fernen Horizont rollten. Langsam senkte er sich wieder und ein dunkler Nebel umschlug ihn. Ohne Willen reichte ihm seine Hand den nächsten Schluck. Wieder trieben ihn entfesselte Kräfte an.

 

Er streckte sich. Sein Körper dehnte sich wie ein gespannter Bogen in Richtung Decke. Wie gleißende Lava strömten alle seine Schmerzen aus jeder Pore seines zitterenden Leibes. Dieser Schub des grünen Gifts war immer wieder von solch überwältigender Kraft, die ihn süchtig machte. In einem Zustand, der nicht zu begreifen war, fand er sich jedes Mal irgendwo zwischen allen Farben eines Universums wieder, das ihn umgab. Vollkommen entfesselt von allem, war er dennoch bei vollem Bewusstsein. Trieb gegenwärtig zwischen Galaxien, vorbei an sich aufblähenden Sonnenstürmen und Supernovas. Alte Welten starben in demselben Augenblick, wie neues Leben wilden Sternenhaufen entsprang. Er spürte die kahle Kälte des Kellergewölbes um ihn herum, seine Finger tasteten blind nach der rauen Deckte aus Beton, die sich über ihm spannte. Der bittere Geschmack in seinem Mund schüttelte ihn, dass ihm schlecht wurde. Er war sich klar darüber, was er sich damit antat, wenn er sich mit den grünen Toxinen in ein nächstes Universum schoss. Er hatte Consumers gesehen, die bei lebendigem Leibe verfaulend in den ausgebrannten Straßen lagen. Blut aus den Augen strömte, während sich röchelnd ihre Lungen mit den sauren Dämpfen einer totbringenden Abenddämmerung füllten. Er wusste, dass sich eines Tages auch bei ihm die Ratten durch seine perforierten Gedärme fressen würden, wenn er so weiter machte. Doch er wusste auch, dass er schon lange eines von ihnen war. Eines dieser Geschöpfe, die überlebt hatten. Wesen einer fernen und fremden Welt, die sich schon vor einer Ewigkeit in glühenden Strahlenwolken in den Orbit ergossen hatte.


Der beißende Druck in seinem Kopf ließ langsam nach, und seine Augen wechselten von einem matten Weiß in ein tiefes Grün. Kraftlos, erschöpft doch von flackernden Endorphinen durchflutet, ließ er die leere Dose klappernd auf den staubigen Boden fallen. Ein letzter Tropfen des grünen Gifts leckte wie eine labernde Zunge aus dem Gefäß. Seine Reise näherte sich dem Ende. So wie jedes Mal. Die Zeit verlor alle Farben, die ihn in den letzten Zügen eben noch so sanft getragen hatten, so dass ihm alles gut erschienen war. Er verspürte ein letztes Brennen in seinen Adern wie das Knistern eines versiegenden Feuers, und er wurde plötzlich traurig. So sehr er sich immer wieder nach diesem galaktischen Rausch sehnte, letztendlich blieb ihm nichts. Nichts Greifbares, nichts, das er in seinen Händen halten konnte, nichts, das ihn satt machte. Nichts, das seinen Durst hätte stillen können.

 

Es waren wie immer die längsten zwei Stunden seines Lebens. Ohne nur eine Ahnung zu haben, ein Gefühl für ein Jetzt, für ein Früher und Gestern. Das zukünftige Morgen war im so fern wie ein Kuss unter rauschenden Pappeln im Sommer. Er war hier. In diesem Keller und ließ das Bewusstsein wieder in sein karges Leben. Ihm war klar, dass es so sein musste. Diese Gabe an die Sucht, dieses Opfer an die Zeit. Die ihm schon lange nicht mehr kostbar war. Er war ein Kind des Gifts. Schon lange, schon so wahnsinnig lange…

Als er kurz von seinem Notizblock aufsah, bemerkte er, dass Claudia zwischen seinen Zeilen eingeschlafen war. Ihr flacher Atem hob die gesteifte Krankenbettdecke gleichmäßig auf und ab. Sie war ihm so ein Geschenk, so eine Bereicherung in allem. Ohne je eine Berührung war so eine Nähe zwischen ihnen. Doch der Tod, er konnte so hinterhältig sein, nahm sich was er wollte, denn weniger was er durfte oder sollte. Eigentlich hatte er den Gedanken, sie zum Abschied auf die Stirn zu küssen, ließ aber davon ab. Es sollte nun mal so sein, wie es war – eine Gabe an die gemeinsame Zeit. Ein Seufzen holte ihn aus seinen Gedanken. Er sah, dass sie lächelte. Gerade in diesem Augenblick, in dem ihr das Heroin das Leben aushauchte. Er stand auf, und gab ihr doch noch einen Kuss. Nicht für sie, sondern für sich – und nicht zum Abschied.

Vor der Tür des Zimmers empfing ihn der sterile Atem eines Krankenhausflures. Raschelnde Ärztekittel rannten an ihm vorbei, Schwestern mit großen, weit aufgerissenen Augen stürmten zwischen Krankenhausbetten hin und her. In diesem Stress aus Leben und leben lassen.

 

„Sind Sie der Bruder?“, fragte eine Stimme hinter ihm. Als er sich umdrehte, musste er seinen Blick senken, denn vor ihm stand eine – so konnte er auf dem Namensschild lesen – Assistenzärztin -, die keine einssechzig groß sein konnte.

 

„Nein, nicht der Bruder“, antwortete er und kassierte einen skeptischen Blick.

 

„Sondern?“

 

„Ich?!“

 

„Ja…!“

 

„Ich war ein Freund von ihr.“

 

Die noch junge Ärztin wollte gerade Luft holen, um ihm augenscheinlich ein paar erklärende Worte zu den Besuchsregularien mit auf den Weg zu geben. Ohne abzuwarten, huschte plötzlich ein liebevolles Lächeln über sein Gesicht.

 

„Stimmt nicht. Ich bin ein Freund von ihr“.

 

Zügig verließ er das Krankenhaus in Richtung Parkplatz. Auf dem Weg dorthin rauchte er noch eine Zigarette, und überlegte, wie ihm Krankenhäuser eigentlich zuwider waren. Er mochte sie einfach nicht. Der Geruch, das fahle Licht, die ganze Geräuschkulisse. Denn er fand, dass es immer ein wenig nach Tod roch. Sterbende Menschen riechen immer besonders. Einerseits, dieser süße, unschuldige Geruch, wie ihn Babys an sich haben, und dann dieser bitter-herbe Hauch von etwas, das sich das Leben nahm. Desinfektionsmittel, Trockenhaarwaschschaum, Kamillentee und Urin lagen in der Luft. Als er im Auto saß öffnete er alle vier Fenster und fuhr los.

 

Jetzt freute er sich auf einen guten Kaffee. Unten an der Elbe in der milchigen Sonne des nahen Hafens würde er diesen Tag ausklingen lassen. Er kannte ein kleines Café am Falkensteiner Ufer, das ihm als passend in Erinnerung kam. Hoffentlich hatten sie noch geöffnet. Dann wurde im mit einem Mal klar, dass einem Abschied nicht immer ein Ende innewohnen muss. Dass alles einen Sinn bekommt, wenn man irgendwann zu der Erkenntnis kommt, dass es in Ordnung ist, wenn man seinem Herzen folgt, oder folgen kann – ganz egal wann. Das beschloss er für heute – und den Rest seines Lebens, der in diesem Moment begann. Eigentlich hätte in ihm eine so furchtbare Trauer brennen müssen, ein versiegender Schrei über den Verlust, der sich in seinem Körper ausbreitete wie ein siedendes Höllenfeuer. So wie es jedes Mal war, wenn Menschen, die ihm nahe gestanden hatten, die Seite wechselten, alles mitnahmen, was zwischen ihnen war. Es war kaum auszuhalten, wenn seine Seele zu toben begann. Bei Claudia war das alles anders und er verstand nicht warum das so war. Lag es daran, dass sie tatsächlich nur Freunde waren? Oder Partner, Lebensgefährten, die irgendwie auf einem anderen Level, wenn man es überhaupt so nennen konnte gelandet waren, die all die körperlichen Begehrlichkeiten hinter sich gelassen? Lag es daran, dass sie sich in dieser Zeit so viel, vielleicht alles gegeben hatten, zu dem sie beide, einstimmig in der Lage gewesen waren. Jeder auf seine Weise. Daher spürte er eher eine Wut unter der Oberfläche seine Zuneigung. Die Wut auch darüber, dass all seine Hoffnung, all sein Mut und Hingabe nicht dazu gereicht hatten, ihre Sucht erfolgreich zu bekämpfen. Er hatte immer so fest daran geglaubt, er könne an ihre Stelle treten, sie aus dem Leben seiner Freundin – ja das war sie – vertreiben. Ihr etwas bieten, das so stark war, so voller Kraft und Energie sein sollte, dass es gut werden würde. Ein Gefühl des versagt zu haben, machte sich in ihm breit. So, wie er es eigentlich sein Leben lang schon kannte. Ohne sie, sollte alles anders werden, das wusste er. Nie hatten sie beide es verstanden, was sie sich gegenseitig gaben, denn es war nicht erklärbar, aber es war so wertvoll, dass es sich wie ein Band zwischen ihnen spannte, und sogar den Tod überstand, wie er gerade feststellte. Wie gut, dass er sie doch noch geküsst hatte.

Es dauerte nicht lange, da fand er in den verwinkelten Straßen des Falkensteiner Ufers einen Parkplatz, was nur zu selten vorkam. Eine kühlende Brise empfing ihn, als er das Auto verließ, Wunderbarer Elbgeruch, so einmalig, wie alles, an das er die letzten Minuten auf der Fahrt hier her gedacht hatte.

 

Ein wackeliger Kellner, mit breitem Haarkranz um eine glänzende, fast poliert erscheinende Glatze, brachte seinen Kaffee. „Vierfufzig!“ schnodderte er ihm entgegen. Das kehlige Dröhnen eines Schiffshorns verschluckte sein „Stimmt so!“, als er einen Fünf-Euro-Schein auf den Tisch legte. Der Kaffee schmeckte furchtbar. Bitter und scharf. Unmöglich die Tasse ganz auszutrinken. Sein Blick schweifte über die silbrig glitzernden Wellen, die von einem Containerfrachter an den schmalen Strand gerollt wurden.

 

„Claudia“, seufzte er leise, stand auf und ging zum Wasser hinunter. Dieser Geruch hier war ihm so vertraut. Wie alles, das ihn gerade umgab. Er blieb kurz stehen, um seine Schuhe auszuziehen. Dieser kühle, leicht feuchte Sand fühlte sich immer wunderbar an. Irgendwie erdeten ihn diese Spaziergänge immer auf besondere Weise. Warum er Claudia in den letzen Momenten ihres jungen Lebens diese Geschichte vorgelesen hatte, verstand er nicht, als er begann darüber nachzudenken.

Eigentlich hatte er ihr ein Gedicht geschrieben. Doch als er sie so furchtbar geschwächt hat liegen sehen, war er plötzlich wütend geworden. Sie hatte nichts dafür getan, dass ihre gemeinsame Zeit hätte weiter gehen können. Immer wieder hatte sie sich an den Teufel verkauft. Da halfen all die Anrufe nichts, wenn sie sich völlig vollgedröhnt bei ihm entschuldigte, in Krämpfen weinte und schrie. Versprach, dass sie sich bessern wolle. Immer wiederholte, sie wolle ihm nicht zur Last fallen, ihn nicht mit hineinziehen in diese Hölle zwischen Strich und Drogen, der Sucht, die sich alles griff und nicht mehr losließ.

Doch seine Treue, diese zerbrechliche Zuneigung zu ihr, ließ ihn so viel verzeihen, lehrte ihn Demut und Dankbarkeit an das Leben. Er wusste, dass sie ihn eines Tages verlassen würde, nicht, weil sie es wollte, sondern weil sie es musste. Er beteuerte, wie sehr er sie mochte, er immer versuchen würde, für sie da zu sein. Gab sich alle Mühe, einen Ausweg zu finden. Ließ sie nie spüren, wie nahe ihm das alles ging, ließ nichts unversucht, ihr irgendeine Last abzunehmen. Es gab Zeiten, in denen es ihr besser ging. Da lachte sie viel, hatte Ideen, Visionen, Pläne und kindliche Träume, von denen sie ihm unbedingt erzählen musste. Sie hatte die Vorstellung, dass sie zusammen aus Hamburg weggehen würden, weit weg. Weg vom Hauptbahnhof, weg von der Steinstraße mit ihrem Kinderstrich, den ganzen Freiern mit ihren perversen Vorstellungen, was man mit einem jungen Mädchen anstellen kann. Das alles hinter sich zu lassen, zusammen mit ihm.

Ein Traum blieb es. Dabei war er schon so weit, sich um eine Wohnung und um Arbeit zu kümmern. Sie hatten irgendwann einmal über Trier gesprochen, von lauen Sommernächten über dem Moseltal. Das war ihnen beiden eine wunderbare Vorstellung, zusammen dort hinzugehen. Sich gemeinsam ein neues Leben auf zu bauen erschiene ihnen nicht mehr in allzu weiter Ferne. Selbst, als sie schwanger wurde, blieb er in ihrer Nähe, wich nicht von ihrer Seite, obwohl er genau wusste, dass es nicht sein Kind war. Sie würden es auch zu Dritt schaffen. Ganz sicher.

Die späte Nachmittagssonne schob den scharfen Schatten einer rauschenden Pappel über die matten Steinplatten des Urnenfriedhofes. Helle Lichtflecken tanzten über den Boden, wenn ein leichter Wind die vollen Blätter bewegte. „Eine Disco-Kugel der Natur“, dachte er, und schmunzelte. Langsam ging er über die sattgrüne und akkurat gemähte Wiese, den Blick aufmerksam nach unten gerichtet. In der linken Hand hielt er einen zerknitterten Zettel, auf den er immer wieder einen Blick warf. Nach ein paar Metern blieb er stehen, steckte das Stück Papier in die hintere Hosentasche seiner Jeans und faltete die Hände vor seinem Bauch. In polierten Buchstaben war ihr Name in den hellen Stein graviert.

Wie sie leuchteten, ihn anstrahlten. Er erinnerte sich an ihre blauen Augen, an ihr Lachen. Ihm war so, als wollte er irgendetwas sagen, mit ihr reden, ihr etwas geben, mitgeben, doch er bekam keinen Ton heraus. Stattdessen spürte er etwas Warmes in seiner Magengegend, das ihm den Atem nahm. Es war Wut, der Ärger und die Scham, dass er nicht auf ihrer Beerdigung vor ein paar Tagen war. Dabei hatten ihre Eltern ihn eingeladen, hatten eine Kondolenzkarte geschrieben und ihn angerufen. Doch er konnte es nicht. Es war wie mit Hochzeiten – er konnte einfach nicht hingehen. Weder dieses Glück von Verliebten, noch diese nicht greifbare Trauer der Hinterbliebenen war für ihn ertragbar. Jetzt stand er da, an diesem sonnendurchfluteten Nachmittag eines traumhaften Sommers. Dem Sommer ihres Lebens. Seine Augen schimmerten, als er in den tiefblauen Himmel über sich blickte.

Zaghaft kniete er sich hin. Genau neben sie. Zärtlich strich er über den Stein, fühlte die feinen Züge der Gravur ihres Namens. Mit dem Zeigefinger zeichnete er gedankenverloren jeden einzelnen Buchstaben nach. Immer wieder berührten seine Fingerspitzen das Gras, das die Platte umrahmte. Irgendwo hinter ihm hörte er entfernt eine Kinderstimme, die näher zu kommen schienen. Er brauchte sich nicht umzublicken, um zu wissen, wer es war. Immer wieder hörte er wie sein Name gerufen wurde. Dann erhob er sich, drehte sich in die Richtung, aus der er die Stimme gehört hatte. Ihr Sohn rannte in flinken Schritten über den Rasen direkt auf ihn zu. Lachte über das ganze Gesicht und hatte die Arme ausgestreckt. Seine blauen Augen strahlten. Der Kleine war seiner Mutter so unglaublich ähnlich. Etwas weiter entfernt standen die Großeltern und winkten ihm zu. Vorsichtig schob der Knirps die kleinen Hände in seine, als er neben ihm stand, und schaute ihn aufmerksam an. Ja, er war ihr wirklich ähnlich, diese Wärme, dieses Leuchten in den Augen, diese vertraute Herzlichkeit. Diese Nähe, die von ihm ausging. Jedes Jahr um dieselbe Zeit gaben die Erinnerungen ein wenig zurück, von dem, was irgendwo ganz weit da draußen war.

 

„Mama hat dich lieb.“ hörte er den Kleinen leise sagen.

 

In diesem Augenblick, küsste ihn ein Sonnenstrahl, streichelte ihn aus dem Schatten der rauschenden Pappel heraus über die Wange.

 

„Ich hab sie auch lieb…“

 

„Sie wartet auf Dich, hat sie mir gesagt“, sagte er heiter, löste die kleinen Finger aus seiner Hand, lachte ihn noch mal an und rannte wieder zu den Großeltern.

 

Und so war sie da. in diesem Sommer ihres Lebens.

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Tag der Veröffentlichung: 30.05.2017

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