Cover

Triggerwarnung

 

 

TRIGGERWARNUNG

 

„Das Vermächtnis der Moai“ enthält Darstellungen von körperlicher wie seelischer Gewalt, Selbstverletzung und Suizid, sowie Beispielen zu diesen Themen.

Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist und wende dich an die bundesweiten Selbsthilfestellen.

 

 

 

 

 

Erklärung

 

Diese Erzählung basiert auf wahren Begebenheiten. Die Personen und die Handlung dieser Erzählung sind jedoch frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Zitat

 

 

  

 

 "Was? du suchst? du möchtest dich verzehnfachen.

verhundertfachen? du suchst Anhänger?

- Suche Nullen!"

 

 

Friedrich Nietzsche, Sprüche und Pfeile, 14

 

Götzen-Dämmerung

Kapitel 1

 In meiner Erinnerung war meine Kindheit eine idyllische Zeit. Ich wuchs mit meiner Familie in einer Kleinstadt namens Hahnhausen auf. Das Hahnhausen meiner Kindheit war einer jener behüteten Orte in Deutschland, in welchem auf den ersten Blick die Welt immer in Ordnung sein würde. Als kleiner Bub erschien mir Hahnhausen riesig. Meine Heimat in Bayern war für mich,­ den Jungen mit den großen fragenden Augen, mein kleiner, heiler Nabel der Welt.

 

Das Hahnhauser Stadtzentrum, wenn man es so nennen will, bestand aus einer imposanten katholischen Zwiebelturmkirche. Im Schatten dieses mächtigen christlichen Bauwerks stand das im Stil der Neurenaissance erbaute Rathaus. Hier befand sich auch die einzige Bushaltestelle der Stadt. In Hahnhausen gab es eine Grund- und eine Hauptschule, ein Klostergymnasium von überschaubarer Größe sowie zwei größere Supermärkte und ein paar kleinere Krämerläden. Die schmalen Straßen in Hahnhausen waren nur mäßig befahren. Und wenn jemand von „der Kreuzung“ sprach, wusste jeder, dass er damit die Kreuzung mit den vier Ampeln nahe der Kirche meinte.

Die Stadt selbst lag in einem Tal, in dem man an ganz besonders klaren Tagen im Süden die Alpen finden konnte. Es gab viele Seen in der Nähe von Hahnhausen. Ehemalige Baggerweiher, die auf den Anhöhen im Osten und Westen von Bäumen umschlossen waren. Tja. Wenn ich ehrlich bin, konnte man Hahnhausen an diesen schönen Alpenblicktagen – und wenn man den imposanten Zwiebelkirchturm aus der richtigen Perspektive betrachtete – als Postkartenidylle verstehen. Und so idyllisch wie meine Heimat wirkte, fühlte sich meine gesamte Kindheit an. Damals, als ich jung war, hätte ich nie erahnen können, mit welcher Inbrunst ich als Heranwachsender meine Heimat einmal verachten würde.

 

Alles, was mir als Kind richtig und gut erschien, fühlte sich als Jugendlicher falsch und deplatziert an. Ich wollte. Nein. Ich musste raus aus Hahnhausen. Weg von diesem Ort, der mir mit jedem Tag weniger zu bieten hatte. Hahnhausen zwängte mich regelrecht ein. Es stieß mich ab, wie ein neu transplantiertes Organ, das nicht zum altehrwürdigen Körper der konservativen Mehrheit passen wollte. Die Postkartenidylle war ein erdrückendes Gefängnis geworden. Ich verlor die Luft zum Atmen. Mit jedem Tag, der verstrich, kam mir Hahnhausen zunehmend wie einer dieser arabischen Staaten vor, in dem meine Art zu lieben als ein Verbrechen an der Gesellschaft angesehen wird. Sie mussten es nicht aussprechen. Der Konsens war eindeutig. Und wenn die Hahnhauser dann doch ihre Meinung zu meiner Sexualität Kund taten, geschah es mit diesem gewissen herabwürdigenden, geradezu diabolischen Grinsen. Sie wussten längst, wie sie mit „verdammten Schwuchteln“ umzugehen hatten. 

 

Mein Name ist Daniel. Aber alle nennen mich nur Dani.

Doch um mich soll es in dieser Geschichte nur am Rande gehen. Das hier ist die Geschichte von Niki. Ich bitte es mir aber nachzusehen, wenn ich meine Erzählung und die von Niki nicht ganz trennen kann. Niklas Heilmann, den selbst seine Familie nur „Niki“ rief, war ein straßenköterblonder Junge in meinem Alter und eine Zeitlang hätte ich ihn wohl als meinen besten Freund bezeichnet. Nicht, dass ich mir viel aus Niki gemacht hätte. Wenn ich ehrlich bin, war dieser kleine picklige, oft schlecht gewaschene Junge nur deswegen mein bester Freund, weil ich fast keine anderen Freunde hatte. Die Ausgrenzungsverfahren der coolen Kids haben Niki und mich über Umwege zusammengeschweißt. Das war peinlich für mich. Denn wie Niki, bei aller Liebe, so war und wollte ich ja nun wirklich nicht sein. Es mag hart klingen, doch wenn ich ehrlich bin, war Niki für mich emotional nur so eine Art Platzhalter. Ich brauchte ihn nur, bis ich selbst endlich zu den coolen Leuten dazu gehören würde. Keine Ahnung ob Niki das kapierte oder nicht. Immerhin schien er mich zu mögen und womöglich war es so, dass er das Gefühl hatte, meine Freundschaft würde ihn in den Augen der anderen in unserem Alter ein wenig aufwerten; nur leider wertete er mich im gleichen Maße ab. Vielleicht täusche ich mich auch bei dieser Einschätzung. Vielleicht. Niki war kein Plappermaul. Und bei den eher stillen Leuten glaubt man ja oft schnell, dass man sich da einen Idioten eingehandelt hat. Ganz so schlimm war es mit Niki nicht. Man musste ihn dafür nur etwas besser kennenlernen. Wenn man ihn denn besser kennenlernen wollte.

 

Niki lebte mit seiner Familie nur eine Straße von mir und meiner Familie entfernt. Überflüssig zu erwähnen, dass die Straßen in einem 5000 Seelen Ort wie Hahnhausen nicht besonders lang sind. Hätten wir in einer Großstadt gelebt, wären Niki und ich vermutlich niemals Freunde geworden. Unsere Eltern kamen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. Meine Eltern sind eindeutig dem Bildungsbürgertum zuzuordnen, während Nikis Eltern für meine Begriffe unter der Verallgemeinerung „gut bürgerlich“ am einfachsten zu beschreiben sind. Auf dem Land ist es nichts außergewöhnliches, wenn sich die Gesellschaftsschichten stärker vermischen als in der Großstadt. Die Schnittpunkte zwischen den Berufen unserer Väter waren gering.

 

Mein Vater verdiente sein Geld als verbeamteter Englischlehrer an einer Realschule in der 11 Kilometer entfernten Kreisstadt. Nikis Vater hingegen war ein einfacher, angestellter Koch in Hahnhausen, der wie so viele andere von seinem eigenen Geschäft tagträumte. Meine Mutter hatte ihr Studium der Philosophie für mich und meine Schwester abgebrochen und arbeitete ebenfalls in der nahegelegenen Kreisstadt. Sie ist noch immer Lektorin für einen kleinen Verlag, der selbst im Internetzeitalter gedruckte Reiseführer herausgibt. Nikis Mutter war Heilpraktikerin und betrieb ihr Geschäft von zu Hause aus.

An all diesen Berufen war nichts auszusetzen. Und doch glaube ich nicht, dass Niki und ich uns in einer Großstadt angefreundet hätten. Zumal ich auf die Realschule ging, an der auch mein Vater unterrichtete, während Niki schon auf der Hauptschule an seinem Unterricht zu knabbern hatte. Aber wir waren im selben Alter und in der Nähe aufgewachsen. Das hatte zu reichen. Und das tat es auch. Wir spielten zusammen als wir klein waren (schon damals wollten die coolen Kids nicht viel mit uns zu tun haben) und ertrugen uns während unserer Pubertät. Ich war oft bei Niki zu Hause und hätte mich damals jemand danach gefragt, welche mir persönlich bekannte Person Jahrzehnte später eine Person des öffentlichen Lebens sein würde, hätte ich niemals auf jemanden getippt, der bei den Heilmanns alle paar Wochen ein- und ausging.

 

Nikis Mutter war eine schöne Frau. Außerordentlich schön sogar, wenn man sie im Kontext ihrer gleichaltrigen Konkurrenz in Hahnhausen betrachtete. Sie war blond, drahtig und von mittlerer Größe. Ihr Gesicht war fröhlich und sanft. Sie war kein Model, nein. Doch auffallend genug, damit sich alle männlichen Hahnhauser beim Spazierengehen vor der Hauseinfahrt beiläufig kurz in die Richtung des Hauses Heilmann wandten, um vielleicht doch einen kurzen Blick auf die Hausherrin zu erhaschen. Frau Heilmann bat jeden sie ungezwungen nur „Tanja“ zu nennen. Das galt auch für die kleinen Freunde ihres Sohnes wie mich. Wobei ich lieber bei „Frau Heilmann“ blieb. Schließlich wollten alle anderen Erwachsenen in meiner Kindheit so angesprochen werden und nicht einfach nur bei ihren Vornamen. Frau Heilmann nannte mich deswegen immer „sehr höflich“.

Denke ich heute an „Tanja“ zurück, sehe ich eine auf seltsame Art arme Frau vor mir, die mehr vom Leben verdient hätte, als nur die Hauptrolle in den Phantasien der Kleinstadt-Männer zu spielen. Ich erinnere mich noch genau an jene furchtbar peinliche Begebenheit, als Markus – den wir nur „Mark“ riefen – einmal zu Besuch bei den Heilmanns war. Mark war ein paar Jahre älter als Niki und ich und hing nur hin und wieder mit uns ab, um Nikis Mutter zu treffen. Das war offensichtlich. Denn kaum hatte sie den Raum verlassen, interessierte sich Mark einen Scheiß für Niki und mich. Auf jeden Fall erinnere ich mich in allen Details an jenen bestimmten Tag. Es war heiß und die ganze Stadt luftig angezogen, und Mark zu Besuch bei den Heilmanns.

 

Wir standen zu viert in der Küche von Frau Heilmann herum; die Erwachsene, Mark, mit seinen vielleicht 15 Jahren; Niki und ich mochten damals so um die 12 gewesen sein. Es war wie erwähnt sehr heiß. Wir schwitzten und tranken eine von Nikis Vater selbstgemachte Limonade in der kühlen Küche, in der bei jeder Tageszeit das Licht nur hereindämmerte. Ich weiß noch genau und werde es nie vergessen, wie Tanja Mark sein Glas mit der kühlschrankkalten Limonade reichte und Mark darauf in einem megaekeligen Tonfall, der aus einem Softporno hätte stammen können, „Danke... Tanja…“ säuselte. Nahezu stöhnte. Und ich weiß nicht wie es Niki ging, doch mir und Nikis Mutter, die ein buntes, enges Top trug, wurde in diesem Augenblick bildlich klar, dass sich der kleine Mark auf sie regelmäßig einen herunterholte. Es war ein weirder Moment der Selbstentblößung. Auch wenn Mark es selbst gar nicht zu checken schien, dass er sich gerade offenbart hatte. Denn der grinste nur dumm weiter vor sich hin. Und um dem Ganzen noch die Krone der Perversität aufzusetzen, tat Frau Heilmann plötzlich ganz mädchenhaft verschämt, spielte mit ihren blonden Haaren und hauchte ein „natürlich“ zurück. Futter für Marks Hose. Ich hätte fast kotzen können.

Und seitdem dachte ich – ich habe viel über diesen Moment nachgedacht – ich hätte in dieser hässlichen Naturholzküche aus den frühen 80ern die Essenz und das damit verbundene Schicksal einer Frau wie Tanja Heilmann in Hahnhausen begriffen.

 

Wäre dieses Erlebnis nicht Anfang der 90er gewesen, sondern heute, in der Gegenwart des Jahres 2022, hätte Frau Heilmann – Tanja ­­­– mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit über einen Instagram-Account verfügt. Dort würde sie sich als für die Männer erreichbare, doch niemals greifbare Insta-Milf in einem engen Leopardenkleid präsentieren. Mit Mark als fleißigstem Follower am Like-Button, den sie in ihren Kommentaren als „süß“ bezeichnet hätte. Doch es waren noch andere Zeiten. Es war Anfang der 90er und zu dieser Zeit herrschte eine ganz andere Form von Scham und Direktheit, was die ganze Szene für mich nur noch verrückter machte. Als ich mir selbst noch nicht darüber im Klaren war, ob ich mich vielleicht nicht doch lieber in Frauen verlieben sollte, dachte ich oft an diesen Tag und an das Spiel zwischen Tanja und Mark zurück. In meiner Erinnerung empfand ich ihr Balzverhalten als erregend und abstoßend zugleich. Und es wäre übertrieben zu behaupten, dass mich dieser Nachmittag in meiner Überzeugung schwul zu sein bestärkt hätte. Geschadet hat er auf jeden Fall nicht.

 

Als Heranwachsender hört man mit einem Ohr viele Gespräche mit. Die Erwachsenen denken, „das Kind“ verstehe die Zusammenhänge ohnehin nicht. Doch nicht einmal bei diesen Gelegenheiten hörte ich ein schlechtes Wort über Frau Heilmann. Wobei ich mir trotzdem absolut sicher bin, dass „der Heilmann“ im Ort die eine oder andere Affäre angedichtet wurde. Hätte ich davon gehört, hätte ich diesen Gerüchten trotzdem nicht geglaubt. Denn auch wenn viele Kerle gerne bei der Heilmann gelandet wären, war und blieb sie doch unbestreitbar die Frau ihres Mannes. Sie schien mir in der Zeit, in der ich sie erlebte, ehrlich in ihren Mann verliebt zu sein. Selbst wenn ihre Liebe zueinander über die Jahre sicherlich abgekühlt und zu einer Art Routine verkommen war. Trotzdem verhielt sich das Ehepaar nach außen hin gewollt verliebt. Es lag in Tanjas Charakter, alle Probleme erst weg zu lächeln und dann anzupacken. Für mich war sie eine nette hübsche Frau ohne doppelten Boden. Sie war halt Nikis Mutter. Und Nikis Mutter konnte sehr wohl laut und böse werden, wenn sie ihre Familie bedroht sah. Als Kind betrachtete ich diesen Wesenszug an ihr als durchaus normal und stellte ihn nicht in Frage. Sie selbst hätte sich wohl als „Löwenmutter“ bezeichnet, die ihre Familie gegen alle Angriffe von außen verteidigte. Selbst wenn es oft gar keine Angriffe waren.

 

Ich selbst teilte kaum persönliche Momente mit ihr. Als ich ungefähr 10 Jahre alt war, wurde ich bei den Heilmanns zu Hause an einem Samstagvormittag von starken Bauchschmerzen überwältigt. Niki und ich spielten oben in seinem Zimmer Lego (Niki hatte die neue Edition mit den Raumfahrern), als plötzlich mein Körper von jetzt auf gleich rebellierte. Mein Unterbauch zog sich so heftig zusammen, dass ich mich schmerzgeplagt in Embryonalstellung auf den Boden sinken ließ. Ich wimmerte und weinte vor mich hin. Und Niki tat das einzig logische, was ein Junge in seinem Alter tun konnte: Er holte seine Mutter. Schließlich war seine Mutter nicht nur eine selbsternannte „Super-Mom“. Sondern von Berufswegen eine „Heilerin“. Wenigstens bezeichnete Niki sie so, wenn er mächtig stolz auf ihre Arbeit zu sprechen kam.

Tanja kam und half.

 

Sie gab mir schnell ein paar kleine Kügelchen, die ich unter meine Zunge legte, um sie dort nach ihrer Anweisung aufzulösen. Ich habe noch genau vor Augen, wie ich da auf dem Teppichboden in Nikis Zimmer lag. Mit meinen Schmerzen im Bauch. Mit diesen kleinen Kügelchen im Mund. Und wie die Familie Heilmann erwartungsvoll um mich herum stand. Nikis Vater war aus dem Wohnzimmer dazu geeilt und hatte einen mitfühlenden Blick aufgesetzt. Nikis Bruder Kevin dagegen futterte gelangweilt eine Tüte Chips leer und sah auf mich herab. Und da standen sie alle. Und sahen mich von oben interessiert an. Und dann. Oh Wunder. Ging es mir wirklich besser. Die Bauchschmerzen waren verschwunden. Fast genauso schnell wie sie gekommen waren. Ich sagte danke und lächelte müde. Und konnte sogar wieder aufstehen.

Ich sollte erst sehr viel später lernen, was Globuli wirklich sind und welche Art von Leuten sie empfahlen und einnahmen. In diesem Moment aber, als ich schmerzverzerrt auf dem Boden lag, hatten sie mir scheinbar wirklich geholfen. Und als ich Jahre später als Teenager viel mit Niki über seine Mutter und ihren „Schamanismus“ ulkte, erinnerte er mich stetig wie trotzig immer wieder daran, dass sie mir damals wirklich geholfen hatte. Mit ihren kleinen Kugeln, die man unter die Zunge nimmt. Darauf kann ich nichts erwidern.

 

Nikis Vater erlebte ich als einen großen und entschlossen wirkenden Mann. In meiner Kindheit hatte ich immer ein wenig Angst vor ihm. Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich ein überaus schüchternes Kind war und in neuen Situationen schnell in Sorge geriet. Trotzdem blieb mir dieses Fünkchen Angst, das ich später lieber Respekt nannte, in Bezug auf den alten Heilmann mein ganzes Leben lang erhalten.  Es war weniger seine Körpergröße als seine direkte Art, die mich einschüchterte. Arthur Heilmann war schon immer einer von jenem Schlag, der ohne große Umwege direkt auf den Punkt kommt. Ein durchaus angebrachter Ton, wenn man eine Küche leitet und man die eigenen Leute schnell auf Linie bringen muss. Vermutlich. Wahrscheinlich lag es zum größten Teil daran, dass Heilmann dem Charakter meines Vaters so gar nicht entsprach. Der Kontrast zwischen ihnen war sehr groß. Mein Vater lächelt im Zweifelsfall vor einem drohenden Streit lieber, um es dann dabei bewenden zu lassen; „bringt ja nichts“, wie mein Alter gerne sagt. Und auch hier habe ich erst sehr spät begriffen, dass das weniger ein Zeichen von Schwäche ist, sondern eine direkte Aussage darüber, dass man die Intelligenz des Gegenübers als zu begrenzt bewertet, um ein Gespräch fortzusetzten. Was nicht bedeuten soll, dass Nikis Vater ein dummer Mensch gewesen wäre. Aber ohne Zweifel zählte er zu denen, die ihre Prinzipien auch dann vertreten, wenn sie anderen Menschen auf den Schlips treten. Oder gleich in ihr Gesicht. Manche hätten ihn als einfachen, ehrlichen Mann verstanden. Andere als brüskes Arschloch. Vermutlich war dieser Wesenszug eines dieser Dinge, die man sich in der Jugend aus der Not antrainiert und schließlich niemals wieder ablegt. Denn glaubte ich Arthur Heilmanns Erzählungen, musste er sich als Jugendlicher ständig gegen andere durchsetzen. Vermutlich redete er deshalb mit Niki und Nikis älterem Bruder Kevin andauernd so, als würde er mit Boxern in einer Rundenpause sprechen. Meine Erinnerung mag mich täuschen, doch für mich ging es in seinen Geschichten gebetsmühlenartig darum, anderen oder sich selbst etwas zu beweisen; „Lass dich nicht unterkriegen!“

 

Einmal waren wir zum Fußballtraining unterwegs. Niki und ich saßen auf der Rückbank des noblen, doch auf der Rückbank sogar für uns Kinder engen BMWs der Heilmanns. Sein Vater fuhr uns. Ich weiß nicht mehr, wie er auf das Thema kam, doch Heilmann erzählte uns aus dem Nichts heraus, wie er als Jugendlicher von den anderen „Rabauken“ wegen seiner im Verhältnis zu anderen Deutschen etwas dunkleren Hautfarbe für einen Türken gehalten wurde. Und „für die Türken gab es damals noch ordentlich Dresche“. Deswegen wäre es ja wohl kein Wunder, wenn er „die Kanaken“ heute nicht besonders leiden könnte und er sich von niemandem etwas gefallen ließ. Das Leben hatte ihm diese Lektion erteilt. Er hatte sich das nicht ausgesucht. Niki und ich, wir müssten die gleichen Lektionen lernen. Wenn wir mal jemand werden wollten. Und wie ich da so saß. Eingeklemmt unter meiner Sporttasche auf dem Rücksitz des noblen, sauberen BMWs der Heilmanns. Erschien mir diese Erkenntnis aus dem ständigen verprügelt werden als außerordentlich sinnvoll. Denn. Wer will schon gerne verhauen werden?

Warum er aber nicht diejenigen hasste, die ihn vermöbelt haben, weil sie ihn fälschlich für einen Türken hielten, sondern die anderen, habe ich nie kapiert. Davon abgesehen finde ich es immer noch lustig, dass der Traum dieses polternden, schweren, großen Mannes ausgerechnet darin bestand, einmal ein eigenes veganes Restaurant zu eröffnen. Irgendwie passte das nie zu seinem Alpha-Mann-Getue.

 

Davon abgesehen steht es für mich außer Frage, dass Nikis Vater es gut mit seinen Söhnen meinte. Trotzdem wirkte er immer ein wenig unentspannt auf mich. Getrieben. Grob. Darüber hinaus hatte er ein charmantes, herzliches Lachen und liebte ohne Zweifel seine Familie. Arthur Heilmann war nur so fundamental anders als mein eigener, sanfter, großzügiger Vater, der aus einem ganz anderen Holz geschnitzt war. Denn mein Vater war schon immer einer von denen, die abends gerne zur „Kulturzeit“ auf 3sat ein Glas guten Whisky trinken und dadurch in eine überaus melancholische und vergeistigte Stimmung wechseln. An seinen guten Abenden zitierte er sogar recht ordentlich Samuel Beckett. Heilmann hingegen war ohne Zweifel das polternde Gegenteil. Der hatte keine Zeit auf Godot zu warten.

 

Insgesamt passten die Heilmanns gut zueinander. Der anpackende Vater. Die gutmütige Mutter. Der stille Niki. Und ja, okay. Nikis großer Bruder Kevin war schon immer ein Arschloch. Doch welcher große Bruder ist für den kleinen denn kein Arschloch?

Niki ging seinem drei Jahre älteren Bruder wann immer er konnte aus dem Weg. Aus gutem Grund. Für Nichtfamilienangehörige ist es immer schwer zu sagen, wann ein Bruder den anderen nicht nur aus Spaß ein wenig ärgert. Sondern ihn nach Lust und Laune verhaut. Würden wir Kevin heute fragen, hätte er sicherlich selbst keine Antwort auf diese Frage. Schätzungsweise folgte Kevin nie einer bösen Absicht, wenn er Niklas aus Langeweile abwatschte oder in aller Öffentlichkeit und in bester Gesellschaft seinem kleinen Bruder die Hose samt Unterhose bis zu den Schnürsenkeln herunterzog. Das hat er wirklich gebracht. Einmal. Sogar in der Kirche nach einer heiligen Messe. Nikis einziges Glück bestand darin, dass die Zeit der Smartphones noch nicht gekommen war und nicht irgendein Trottel die kurze und doch eindrückliche Szene auch noch als MP4 festhielt. Kevin lachte während seines Anschlags bis er nicht mehr stehen konnte. War doch alles nur Spaß! Alles nicht so wild! Denn wie konnte es denn kein Spaß sein, wenn die ganze Kirchengemeinde über den unfreiwilligen Nudisten Niki noch Wochen später amüsiert lächelte? Dieser Moment der ultimativen Entblößung seines Bruders dauerte vielleicht 5 Sekunden (so lange brauchte der alte Heilmann, um Kevin am Schlafittchen zu packen). Ganzheitlich betrachtet blieb er jedoch ein Moment für die Ewigkeit und der Urgrund dafür, dass Niki seinem Bruder nie wieder das Vertrauen entgegenbrachte, das sich seine Heile-Welt-Mutter für ihre ganze Familie so sehr wünschte.

 

Natürlich waren die Heilmanns und ihre Kinder viel mehr als die schlimmen Erinnerungen, die ich an sie habe. Aber die schlimmeren Momente sind meistens die, an die wir uns am besten erinnern. Sie haben so gut wie gar nichts damit gemein, wie unser aller Alltag beschaffen war. Niki war nicht nur ein stilles Kind. Kevin nicht nur ein Arschloch (aber meistens). Frau Heilmann nicht nur unbesorgt und naiv. Und auch Herr Heilmann kein lächerlicher Knecht Ruprecht in Vollzeit. Sie waren eine nette, kleine Familie, mit der ich eine harmonische Kindheit und teilweise auch Jugend verbrachte. Zwar waren meine und Nikis Eltern nie so cool und vermögend wie die Eltern der Kinder, die um mich und Niki einen großen Bogen machten. Aber es war ein beschütztes, ordentliches Leben.

Im Sommer schwammen wir überall Abenteuer witternd unter den prächtigen Laubbäumen in den nahen Baggerseen. Im Winter rodelten wir vor Lachen nassgeschwitzt in unseren Schneeanzügen die Hahnhauser Hänge hinab. Das Leben war einfach. Doch gütig und beschützt. Bei den Gedanken an unsere unbeschwerte Kinderzeit, wie Niki und ich stundenlang samstagmorgens vor der Glotze saßen und uns japanische und amerikanische Zeichentrickserien ansahen, kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Der Morgen gehörte uns Kindern.

 

Da lagen wir also und sahen uns die großen Erzählungen von wilden Space-Cowboys an, die mit ihren coolen Mecha-Robotern das Universum retteten. Tatsächlich ist es aus heutiger Sicht ein wenig peinlich zu behaupten, dass der Röhrenfernseher unser Tor zur Welt war. Und doch war das Fernsehprogramm unser dritter Freund. Denn die Wahrheit des Röhrenfernsehers war für uns mehr als nur Unterhaltung oder Ablenkung vom Alltag. Das Fernsehen war immer auch eine Art Versprechen. Denn im Fernsehen und in den Videospielen ging es immer um Gerechtigkeit und Freiheit. Hier wussten wir immer, wer die Guten und wer die Bösen waren. Und es wäre gelogen, würde ich behaupten, dass wir diese Weltsicht nicht wie eine Formel auf unsere kleine Welt legten. Das war der Way-of-Life, wie uns die Gesellschaft stillschweigend erzog: Es gibt die Guten. Und es gibt die Bösen. Und dazwischen existieren nur noch die umgekippten Überläufer, die sich auf dem Pfad zur Tugend verlaufen haben. Jene. Die gerettet werden müssen. Natürlich wurden wir erwachsener. Natürlich lernten wir dazu. Und selbstverständlich mussten wir auf die harte Tour lernen, dass das Leben nicht so einfach zu kategorisieren ist. Aber doch. Der harte Kern dieser Heile-Welt-Fernsehphilosophie blieb für immer in unseren Köpfen. Besonders, wenn man sich Nikis Geschichte genauer ansah. Doch wer war dieser Niklas Heilmann aus Hahnhausen eigentlich? Und weshalb ist gerade er, aus dem ich mir seit vielen Jahren nichts mehr gemacht habe, mir plötzlich so wichtig geworden, dass ich mich nun schon den zweiten Abend in Folge nach der Arbeit in der Galerie an mein MacBook setze, um seine Geschichte zu erzählen? Dafür muss ich ein wenig ausholen.

Kapitel 2

Unser Jugendtreff haben wir „Kiga“ getauft. Ohne das Kiga wären weder Niki, ich, noch all die anderen Hahnhauser meiner Generation zu denen geworden, die wir schlussendlich wurden. In diesem Jugendtreff verbrachten wir die wenn nicht beste, doch ohne Zweifel prägendste Zeit unseres Lebens. Das Kiga (die Erklärung liegt im Namen) war ein ehemaliger Kindergarten, den wir Mitte der 90er Jahre selbst zum Jugendtreff umfunktionieren durften.

Als kleiner Junge bin ich noch selbst in diesen Kindergarten gegangen. Auch Jahre später wusste ich noch genau wo sich einmal die Spielecken befunden haben. Oder an welcher Wand die niedrigen Sitzbänke in Zwergengröße gestanden sind, auf denen wir Kinder es uns gemütlich gemacht haben, um von unserer Straßenkleidung in die Kiga-Kleidung zu wechseln. Und an welchen Ecken die Schränke mit den Boxen voller fantastischer Spielsachen zu finden waren. Schon komisch. Die Decken, die mir schon als Kind als beängstigend hoch erschienen sind, schrumpften selbst in meiner Jugend um keinen Zentimeter. Als wären die glatten kalten Wände all die Jahre mit mir in die Höhe gewachsen.  All das finde ich in einer warmen, melancholischen Erinnerung in mir wieder. Wann genau die bereits in meiner Kindheit veraltete Kindergarten-Einrichtung aussortiert wurde, weiß ich nicht.

 

Heute befindet sich der neue Hahnhauser Kindergarten auf der Anhöhe im Osten der Stadt. Ein netter im Grünen liegender Wald-Kindergarten, der durch seine massive Balkenkonstruktion eher an eine Berghütte erinnert, als an eine pädagogische Anlage. Es ist schön dort. In der Nähe ist ein locker bepflanzter Mischwald, an den eine Pferdekoppel angrenzt. Eine Vorzeigeeinrichtung, die sich perfekt in die Hahnhauser Kleinstadt-Idylle einfügt. Hier könnte man gut Kinderbücher verfilmen, denn der neue Kindergarten wirkt wie einem dieser schmalseitigen, großbebilderten Bücher entsprungen, in dem die Welt noch in Ordnung ist.

 

Unser ehemaliges Kiga war ein Altbau aus den 40er Jahren, mit drei Meter hohen Decken und schätzungsweise einen Meter dicken Bunkerwänden. Das Jugendtreff nahm dabei nur das Erdgeschoss ein. Im ersten Stock war ein seit langem vergessenes Heimatmuseum untergebracht, für das sich groteskerweise niemand zuständig fühlte. Weiß Gott was im Stock darüber verstaubte. In all den Jahren wurde von uns keine einzige Person dabei beobachtet, wie sie diese auf der Rückseite des Jugendtreffs befindlichen Räume betrat. Und wir waren oft im Kiga. Täglich, um genau zu sein. Von außen betrachtet konnte niemand leugnen, dass es sich bei dem ehemaligen Kindergarten um ein imposantes alleinstehendes Gebäude handelte.

 

Nicht weniger verschwenderisch in ihrer Größe war die nahezu unüberschaubare Gartenanlage, die zum ehemaligen Kindergarten gehörte. Dieser Garten war ebenso groß wie ungepflegt. Wir jungen Leute machten uns nicht viel aus Gartenarbeit. Es sah mehr als nur verwildert, sondern geradezu abenteuerlich aus. Das Gras wuchs meterhoch und wenn im Herbst die überreifen Früchte von den Apfel- und Pflaumenbäumen fielen, vergammelten sie unbemerkt in dem Nirwana der unter ihnen wimmelnden Halme und Blüten.

Mitten in diesem Dschungel aus Bäumen, Farnen und Gräsern stand ein etwa zwei Meter hohes Klettergerüst. Von vorne konnte man über eine Leiter hinaufklettern. Links ging eine vor Schmutz schmierige Plastikrutsche ab. Schätzungsweise war die Rutsche einmal rot gewesen. Der Zahn der Zeit knabberte nicht erst seit gestern an der verwaisten Spielkonstruktion. Das Holz war dunkel verwittert und brach im Laufe der Jahre an vielen Stellen ab. Darunter der vermoderte Sandkasten, zu dem man vom Plateau hinabrutschen konnte. Der Sandkasten war schon zu Beginn unserer Jugendtreffzeit weitestgehend von Käfern und anderem Getier zurückerobert worden und hatte sich längst in ein Eldorado für Katzenscheiße verwandelt. Trotzdem kletterten wir gerne auf die „Burg“, wie wir den ehemaligen Kinderspielplatz im Garten freundschaftlich nannten.

 

Auf der Burg konnten wir in Ruhe unsere Vier-Augen-Gespräche führen. Ein perfekter Ort, um uns ungestört von den anderen Jugendtreff-Besuchern zurückzuziehen.

Das Plateau der Burg maß etwa eine Fläche von drei oder vier Quadratmetern; in der Erinnerung erscheint mir die Sitzfläche als groß und klein zugleich. Vor allem im Sommer saßen und lagen wir dort oft herum und tauschten uns aus. Hier wurden die größten Geheimnisse angedeutet oder sogar verraten, was noch viel schlimmere und geradezu gigantische Dramen nach sich ziehen konnte. Ich muss zugeben: Mir stiehlt sich ein Lächeln auf meine Lippen, wenn ich daran denke, wie banal unsere damaligen Gedankengänge auf mich als Erwachsenen heute wirken. Doch damals. In unserer Jugend, gab es nichts wichtigeres als diese Gespräche. Jeder Satz entsprach einem Gefühl. Und jedes Gefühl war wiederum ein Spiegelbild unserer im Wachstum befindlichen Seele. Kleine Kinder im Kindergarten lernen durch Beobachtung voneinander. Wir. Die großen Kinder. Lernten hier voneinander durch das Zuhören.

 

Hinter dem Garten begann von einer verfallenen Mauer getrennt der Wald-Friedhof. Hahnhausen verfügt über zwei Friedhöfe. Der eine war ein akkurater Betongarten mit gekiesten Wegen direkt im Stadtzentrum. Gleich neben dem Kirchengebäude. Und dann eben der am Rande von Hahnhausen gelegene Wald-Friedhof in der Nähe des Kigas.

Neben dem Wald-Friedhof und am Kiga-Gelände entlang floss der „Franz“. Der Franz war ein breiter und meist flacher Fluss, dessen Ursprung – wenigstens wurde es uns so seit Kindestagen erzählt – in den Alpen zu finden war. Das Flussbett des Franz nahm an den meisten Stellen in Hahnhausen etwa eine Breite von 10 Metern ein, auch wenn der Wasserstand nur zur Winterschmelze und in Regenzeiten höher als ein paar Zentimeter lag. Es gab zwar keinen Steg, aber genug Sitzflächen an der Unterseite des Hangs am Wasser, um dort im Sommer unsere Füße hineinbaumeln zu lassen sowie Enten und kleine Fische zu beobachten.

 

Den restlichen Platz um das Kiga herum beanspruchte eine alte, längst verlassene Brauerei. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, dass in der alten Brauerei „Stern“ jemals Bier produziert worden ist. Das war weit vor meiner Zeit. Die Schließung der unüberschaubar großen Industriebrache musste vor meiner Geburt geschehen sein. Die Fassade bröckelte in groben Klumpen ab und die Fensterscheiben waren teilweise – auch von uns – mit Steinen oder Bierflaschen eingeworfen worden. Das Areal erinnerte mich immer ein wenig an den zweiten „Mad Max“ Film und womöglich lag in der Nähe zu diesem Schandfleck auch der Grund, weshalb der alte Kindergarten schließen musste. Immerhin konnte man an der Brauerei gut parken. Und für uns Kinder blieb das weitläufige Gelände immer ein Abenteuerspielplatz, wo wir uns die eine oder andere Mutprobe auferlegten.

Da fällt mir ein: In meiner Pubertät bekam ich dort zum ersten und einzigen Mal von einem Mädchen einen geblasen. Wir waren betrunken und sie hatte mich dorthin entführt. Sie war blond und hatte eine Zahnspange… Ich kann mich wirklich nicht mehr an ihren Namen erinnern. Sie hatte eine Zahnspange. Da bin ich mir ganz sicher. Ich glaube, dass wir ein wenig herumknutschten und sie dann mein Ding in den Mund nahm. Es war sehr kalt und unbequem. Besonders ihr Mund war sehr kalt und deswegen bekam ich keinen hoch. Dann haben wir es gelassen. Ich fand es nicht schlimm, aber sie tat mir leid. Es lag ja nicht an ihr. Tja. Egal. Aber das ist die Geschichte, die ich mit der alten Brauerei verbinde.

 

Also kurz gesagt und zurück zum Thema: Das Kiga lag in einer idealen Umgebung. Wir hatten keine direkten Nachbarn und gingen dem damit vorprogrammierten Ärger automatisch aus dem Weg. Es war ein wahres Schlaraffenland für Jugendliche.

 

Die Toten störte es nicht, wenn wir mit unseren Mopeds oder die Älteren mit ihren Autos Krawall machten. Genauso wenig kümmerte es den still vor sich hin plätschernden Franz, und erst recht nicht die dumpf vor sich hin staubenden Silos der Brauerei. Niemand kümmerte sich um uns. Niemand interessierte sich für uns. Zwar schaute alle paar Wochen ein von der Stadt berufener ehrenamtlicher Stadtheini vorbei. Doch der Typ, dessen Name ich vergessen habe und bei dem ich mich nur noch an seinen für damalige Zeiten stattlichen Vollbart erinnern kann, kam nur gelegentlich vorbei um zu sehen, „ob es denn nicht brannte“, wie er jedes Mal aufs Neue scherzte. Wenn ich mich richtig erinnere, war der Typ eigentlich ein Busfahrer. Und hatte ein staatlich anerkanntes Alkoholproblem. Vielleicht gab es da einen Zusammenhang zu seiner Aufsichtspflicht. Und der Tatsache, dass er dieser Aufsichtsplicht in keiner Weise nachkam. Denn. Wir machten einfach was wir wollten. Und solange niemand dabei verletzt oder schwanger wurde, war es allen recht.

 

Das Kiga selbst bestand aus einem Haupt- und einem Vorraum, zwei übertrieben langen Gängen (in denen bis zu seiner Schließung auf halber Höhe noch diese kleinen Haken hingen, an denen die Kinder vor langer Zeit ihre Jacken aufgehängt haben), und einer Toilette, die groß genug war, um sie in „Männer“ und „Mädchen“ zu trennen. Die Pissoirs wirkten wie geschrumpft. Sie waren für kleine Kinder gebaut worden und befanden sich deswegen in entsprechender Höhe lächerlich tief über dem Boden. Ständig brachte jemand den blöden Spruch, dass man seinen Schwanz endlich mal entspannt dort hineinlegen konnte. „Genau meine Höhe. Hahaha!“

 

Der Hauptraum war vollgestellt mit einem halben Dutzend alter Sofateile, die wir an die Wände geschoben haben. Eine Seite haben wir freigelassen, dort zimmerten wir eine notdürftige aber sehr vorzeigbare Bar hin. Hinter der Bar war auch das DJ-Pult, das in den 90ern natürlich aus zwei CD-Playern und einem Mischpult bestand. Diese Anlage war unser ganzer Stolz. Denn in Kombination mit den riesigen Boxen, die einer der älteren Autotuner organisiert hatte, konnte die Anlage unerträglich laut sein; wir liebten sie.

Einige der Wände hatten wir mit Street-Art-Schablonen verziert. Da machte es auch nichts aus, wenn irgendwer in seinem Suff zwei Buchstaben an die Wände schmierte, die von einem Plus-Zeichen vereint und von einem Herz eingefasst wurden. Eine andere Wand war voller Aufkleber. Die Toilettenwände dagegen waren mit alten Comics tapeziert worden. Über der Bar hing ein verstaubtes, schon seit jeher muffiges Tarnnetz. Eine gebrauchte Lichtorgel samt Diskokugel mit einem quälend lauten Motor mühte sich an der gegenüberliegenden Deckenseite durch die Nächte. Die gesamte Einrichtung des Jugendtreffs war so inkongruent, wirr und durcheinander, wie die Persönlichkeiten, die sich dort trafen.

 

Dies war der Ort. Aber ein Ort ist nur ein Ort. Eine Ansammlung von Gegenständen, die irgendwelche Leute zu irgendeinem Zeitpunkt von A nach B geschleppt haben. Viel wichtiger als das Kiga selbst waren die Menschen, die das Kiga zu dem machten was es war. Ja. Die Menschen waren das Kiga. Das echte Kiga! Ich muss eingestehen, dass ich für meine Geschichte nicht jeden einzelnen beim Namen nennen und schon gar nicht jeden beschreiben kann, der dort dazugehörte. Es waren so viele… Ich schätze mal, wir waren um die 20, vielleicht auch 30 junge Leute, die sich über die Jahre mehr oder weniger häufig bis ständig dort aufhielten. Wir kamen und gingen. Nur die wenigsten von uns waren jeden Tag dort zu finden. Manche kamen auch nur zu den Partys, die wir dort in halbregelmäßigen Abständen veranstalteten. Und doch kannte jeder jeden und es gab kein richtiges Kernteam. Auch wenn natürlich nur einige wenige die Verantwortung trugen und einen Haupttürschlüssel besaßen.

Die Aufsicht trug ein kleiner Kreis der Älteren, wobei der Begriff „Ältere“ in diesem Fall nur diejenigen umfasste, die drei oder höchstens vier Lebensjahre mehr vorzuweisen hatten als Niki und ich. Für einen 17-Jährigen ist ein 21-Jähriger fast schon Teil einer anderen Generation. Wer 17 Jahre alt ist, für den hat das Wort eines 21-Jährigen automatisch mehr Gewicht. Was uns jedoch alle vereinte (die Jüngste von uns war 13, der Älteste konnte die besagten 21 Jahre auf die Waage bringen), war – außer dem unschlagbaren Vorteil, jung zu sein – einen Ort ganz für uns alleine zu haben.

Im Kiga konnten wir quasi tun und lassen was wir wollten. Wir waren eine Horde pubertierender Hitzköpfe, die darauf brannten, die Regeln unserer ländlichen Gemeinschaft auszutesten. Wir durften nur nicht übertreiben. Denn eine unkontrollierte Ansammlung an Jugendlichen enthält zwangsläufig eine Art „Herr der Fliegen“-Szenario. Deswegen mussten wir ein paar Verbote und Regeln aufstellen. Elementare Richtlinien, die uns unsere eigene Vernunft aufzwangen. Doch nichtsdestotrotz hatten wir mit dem Kiga eine Art geschützten Raum. Ja. Einen Versuchsraum geschaffen, in dem wir für uns ganz neue Dinge ausprobieren konnten.

 

Lange Zeit dachte ich, dass es die Partys gewesen sind, die mir im Kiga-Kontext den größten Kick verpasst haben. Und ganz ehrlich: Der Begriff „Legendär“ beschreibt unsere Partys nicht einmal ansatzweise. Würde mich jemand fragen, was ich an Filmen am unrealistischsten finde, käme ich sehr schnell auf die Bemerkung, dass die Partyszenen in Filmen immer übertrieben aussehen. In der gefilmten Realität tanzen in fast allen Filmen ausnahmslos alle Besucher wie wild oder sie haben die Hände zumindest in die Luft gehoben, wenn sie auf der Tanzfläche herumspringen, als wäre es der bedeutendste Moment ihres Lebens. Und das ist unrealistisch. Diese Augenblicke, in der die Menge kollektiv in Ekstase versinkt, gibt es, doch sie sind rar über die Nacht verteilt. Kein Mensch feiert die ganze Nacht durch. Das hält niemand aus. Und doch – und da gebe ich den Filmen recht – hat es sich im Kiga ständig so angefühlt. Gefühlt waren die Hände die ganze Zeit oben, auch wenn sie in Wirklichkeit unten waren. Bei den Partys war das Kiga mit einer jugendlich unverbrauchten Energie erfüllt, die Ketten sprengen konnte. Und unsere Partys waren fast von Beginn an gut besucht. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass es im langweiligen Kaff Hahnhausen einen Ort gab, an dem Menschen in unserem Alter einfach sie selbst

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Bernd Pilzer
Cover: Bernd Pilzer
Tag der Veröffentlichung: 16.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2538-0

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /