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Vorwort

Für Olga

 

 

 

 

Dieser Roman basiert auf wahren Begebenheiten. Die Personen und die Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Buch 1

 

 Es war einmal in Ostdeutschland

 

 

„Daher betrachte ich mich selbst als Extremisten für die Verbrüderung der Menschen, die Paulus so edel beschrieben hat. – Es gibt weder Jude noch Grieche, es gibt weder den Unfreien noch den Freien, es gibt weder männlich noch weiblich: denn wir alle sind eins in Jesus Christus – Liebe ist die einzige Kraft auf der Welt, die in extremer Form gegeben und entgegen genommen werden kann, ohne irgendwelche Qualifikationen, ohne dass dabei der Gebende oder der Nehmende zu Schaden kommt.“

 

Martin Luther King Junior, Januar 1965, im Interview mit der amerikanischen Ausgabe des „Playboy“-Magazins.

 

 

 

 

 

 

Interlude 1

 

Am Tag der deutschen Einheit befand sich Paul Fleming in einem Techno-Club. Ausgerechnet Techno. Paul hatte diesen Techno-Raver-Unsinn schon immer verabscheut.  Diese furchtbare elektronische Nicht-Musik, die nicht einmal von denen, die sie „abfeiern“, ohne bewusstseinsmindernde Drogen ertragen werden konnte. Paul war sich sicher: Wollte man sich den unmündigen Bürger zu Gemüte führen, musste man nur in einen Techno-Club gehen, um dort in die Gesichter dieser egozentrischen Wohlstandskrüppel zu blicken. Diesen ewig Jugendlichen mit ihren panisch starrenden, schlichtweg wahnsinnig erweiterten Pupillen. Mit ihren sinnlos mahlenden Kiefern. Und ihrer unablässig verschwitzten, pickeligen Haut. Manche Menschen tragen ihren Charakter unweigerlich in ihrem Gesicht. Von dem verbalen Unsinn, den diese feiernden Egoisten von sich gaben, ganz zu schweigen. Denn wenn sie nicht wie mit sexueller Energie aufgeladene Roboter im Stakkato-Takt tanzten, erbrachen sich die „Raver“ mit ihrer ekelhaft feuchten, brülllauten Aussprache regelrecht aufeinander. Unablässig spien sie sich gegenseitig schleimige Sturzbäche geistiger Galle in ihre Gesichter. Ohne Luft zu holen. Ohne nachzudenken. Voll auf Unterbewusstsein. Doch an welchen Ort hätte Paul sich in dieser Gegend von Berlin sonst retten können? Seine Lage erlaubte es ihm nicht, wählerisch zu sein. Realistisch betrachtet war das Aufsuchen des Techno-Clubs in jener Notlage, in die sich Paul hatte hineinziehen lassen, ein perfekter wie cleverer Geistesblitz gewesen.

 

„Bumsvoll“ war der Laden. Diesen Ausdruck hatte eine halbe Stunde zuvor an der Bar einer dieser Techno-Schreiaffen Paul gegenüber gebraucht, was Paul nur fade lächelnd abgenickt hatte. Diese verdammten Feiertage. Es war an sich schon schlimm genug in diesen „Läden“, wie die Techno-Affen ihre Clubs nannten. An den Feiertagen war es umso schlimmer. Paul konnte vor lauter Touristen kaum die Hand vor den Augen sehen; was für ihn ironischerweise den Vorteil barg, mit ein wenig Glück einfach in der Menge unterzugehen. Überflüssig zu erwähnen, dass der dumme Techno-Schreiaffe an der Bar noch zwei, drei weitere Mal auf die Bumsvolligkeit des Ladens hingewiesen hatte. Atemlos schrie der Kerl Paul an, was für eine furchtbare Situation das in den Berliner Techno-Clubs inzwischen sei. Vor lauter Bumsvolligkeit traf man kaum mehr normale Menschen, in den angesagten, also guten Läden. ECHTE Berliner wie sie! Da müssten Kollegen wie er und Paul doch ein Kleinwenig zusammenhalten, lachte und spuckte der Menschenaffe weiter. Paul. Nickte dem schwitzenden Kerl, dem vor lauter Lebendigkeit jeden Moment die Augen aus dem Kopf zu springen drohten, einfach nur zu. Denn ganz egal wie schlimm sich dieser Techno-Raver-Unsinn für Paul anfühlte: Draußen, im Vorher seines Lebens, war es noch viel furchtbarer gewesen. Was konnte es da schaden mit einem ihm wildfremden Raver via Jägermeister Bruderschaft zu trinken?  Sie exten die braune Flüssigkeit ihre Kehlen hinunter. Pauls Körper reagierte auf den spendierten Schnaps mit einem angenehm warmen Schauer, der seinen Körper durchschüttelte. Paul verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Der fremde Spender lachte ihn brüderlich an. Klapste Paul mit seiner schweißnassen Hand auf die Schulter und frohlockte: „Geht doch!“

 

Der Club, in dem sie sich befanden und in welchem sich die Menschen wie Kälber in einer Schlachtanlage drängten, trug den Namen „Wilde Barbara“. Die Wilde Barbara entsprach der dritten Generation von Techno-Clubs.  Nach den verbotenen illegalen Raves und den danach legal angemieteten Industriehallen, waren komplette, ehemalige Wohnhäuser der neueste „heiße Shit“ in Club-Berlin. Die Organisatoren setzten nicht mehr auf den einen geräumigen Haupt-Floor, in dem ein überteuerter „Superstar-DJ“ die großen Scheine garantierte. Im Jahre 2014 des Herren lief es anders. Auf jeder Etage, in jeder einzelnen separierten Räumlichkeit war Party angesagt und ein neuer DJ samt Anlage am Start. In jedem Winkel des Gebäudes wurde gefeiert, getrunken und so etwas Ähnliches wie getanzt. Alles war durchzogen mit einer „Mega-Underground“-Berlin-Attitüde, die sich durch abgeklebte Handykameras und verrücktes Level-Design der einzelnen Locations wiederspiegelte. Jeder Raum musste als Event ein wenig aus dem Rahmen gefallen erscheinen, ohne zu sehr zu irritieren. Auf dem Floor, auf dem sich zum Beispiel Paul gerade befand, stand ein Alte-Leute-Sofa samt -Tisch neben einem Kachelofen in einem Folterkeller. Zudem waren klischeehafte Ketten und unbenutzbare, weil fest verschraubte Folterinstrumente an die Wände kuratiert. Dazu lief monotoner Minimal-Sound von jenem unbekannten DJ, welcher gerade durch seine Unbekanntheit diesen Räumen den Spirit eines Weltklasse-DJs anhaftete, gemäß dem Berliner Motto: Hauptsache Underground. „Nur nicht zu berühmt sein“, lautete die Devise. Die Besucher, die sich in einer Altersspanne von 18 bis 88 bewegten, saßen auf dem Sofa, dem Tisch und auf dem Kachelofen herum. Dabei schrien sie sich unablässig gegenseitig an und lachten ein Lachen, das durch den physisch spürbaren Druck aus den Boxen nirgendwo ankam. Währenddessen zeigten sich die Raver gegenseitig auf ihren Smartphones Bilder von Ecstasy, welches sie gerade im Begriff waren zu kaufen oder vor einer Stunde, fünf Tagen oder zwei Jahren gekauft hatten. Im Erdgeschoss wurde House-Music mit 70er-Jahre-Flair gedudelt. In jenem Stock, in dem sich Paul gerade befand, blubberte der Minimal-Techno. Im Stockwerk über ihnen war deswegen mit stampfendem Hard-Techno zu rechnen. Weiß Gott womit es im Dachgeschoss weiterging. Was diese Techno-Hausclubs nun von Großraumdiskotheken mit mehreren Floors und handelsüblicher Sangria unterschied, konnte Paul beim besten Willen nicht erkennen. Er war aber weiß Gott auch nicht die Zielgruppe dieses Drogenlochs, in der nun schon zum zweiten Mal ein Rudel von halbnackten Feuerschluckern durch die Gänge zog und unter dem Beifall der Touristen warme Luft verbreitete. Paul sollte es recht sein. Dies. War genau das, was er jetzt brauchte. An Orten wie diesem hier war jeder so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass Paul mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den folgenden Tagen von niemandem mehr als anwesend identifiziert werden könnte. Sicherlich nicht einmal von seinem neuen, wenn auch spendablen „Freund“, der ihm zu Pauls Unmut auch dann nicht von der Seite wich, als Paul sich einen Sitzplatz gesucht hatte. Ob er Ketamin wolle? Er mit ihm, da drüben auf der Toilette? Pauls neuer „Freund“ geiferte ihn euphorisch an.

 

„Nein, danke.“ Dies waren die ersten Worte, die Paul Fleming an diesem Ort von sich gab. Dabei fasste diese Aussage alles wofür die Wilde Barbara stand, für ihn treffend zusammen. Sein Schreiaffen-Freund erhob sich unbeeindruckt und verschwand „auf Toilette“, im Irgendwo des Hausclubs. Inzwischen schwang sich ein etwa 20-jähriger Kerl mit roten Haaren und einem Hipster-Bart voller Bartwichse auf die oberste Stufe des Kachelofens. Am höchsten Punkt angekommen, zog der Hipster sein Shirt von seinem Discopumper-Körper und brüllte lallend etwas Unverständliches in die leicht amüsierte Menge. Woraufhin der Schreihals umgehend von dem Ofen-Gebilde abrutschte und kopfüber auf den Boden knallte. Vermutlich hatte ihm ein Reiseführer-Vlog dieses Verhalten in einem Berliner Techno-Club nahegelegt. Hashtag: Echtesberlin. Die Raver dankten es dem Zirkusclown mit hämischem Gelächter. Paul schüttelte dazu nur seinen Kopf. Ein altes Zitat von Onkel Werner kam ihn in den Sinn: „Wenn der Erfolg den Wenigen Recht gibt, gibt der Misserfolg den Vielen Unrecht.“ Werner. Niti. Ronny…

 

Durch seine Gedanken aufgerüttelt verließ Paul seinen Sitzplatz und bestellte sich an der Bar von einer im kompletten Gesicht mit silbernem Glitzer überschminkten Transfrau unbestimmbaren Alters ein Bio-Bier. Der Minimal-Technobass war indessen so laut und durchdringend, dass Paul lauthals schreien musste, um sein Getränk zu ordern. Nach dem ersten Schluck aus der Flasche konnte Paul zwar nicht herausschmecken was an diesem Bier „Bio“ sein sollte, überließ aber dennoch der hier arbeitenden Transfrau einen vollen Euro Trinkgeld. Überraschenderweise zeigte sich die Dame über das Trinkgeld so extrovertiert dankbar, dass es Paul schon wieder leidtat das Trinkgeld gegeben zu haben. Allem Anschein nach war es in diesen Hipster-Kreisen nicht üblich, mehr für Andere auszugeben als nötig.  Irgendwie erwies es sich als gar nicht so einfach in einem Club wie diesem nicht aufzufallen. Dabei war es keineswegs Pauls erster Besuch in einem Techno-Club. Schließlich war Paul zu diesem Zeitpunkt schon 32 Jahre alt.

 

Er brachte zwei weitere Räume mit extravaganter Innenausstattung und einen Pulk von lachenden, schwatzenden und lauftanzenden Menschen hinter sich, bis er an einer mit grünem Flokati überzogenen Sitzecke haltmachte. Dort setzte er sich abermals zu den Techno-Raver-Leuten. Ein gutes Versteck. In der Flokati-Sitzecke hämmerte der Beat aus den digitalen Turntables nicht mehr ganz so ohrenbetäubend laut wie an seinem vorherigen Platz bei dem Kachelofen. Auch die Techno-Schreiaffen schrien sich hier kaum mehr an. Der Bass wummerte nur dumpf abgeschirmt durch die dicken Wände vom Nebenraum. Wilde Tech-House-Musik hatte den Minimal-Beat abgelöst. Eine ihrer Stimme nach schwarze Sängerin schrie vor Ekstase aus den Boxen. Die Hände gingen nach oben. Glücksschreie vom Nebenraum. Paul nahm einen Schluck von seinem Bio-Bier; der Gerstensaft tat ihm richtig gut. Vielleicht war es nicht die klügste Idee sich hier und jetzt in der Wilden Barbara zu betrinken. Doch das Bier half ihm den pochenden Stressdruck auf seinen Kopf zu verringern. Wie lange müsste er wohl hierbleiben? Missmutig blickte er umher. Die Techno-Raver würden sicherlich noch bis mindestens Montagmittag durch die Räume der Barbara stolpern. Heute war Freitag. Zeit blieb Paul somit genug. Als er seine Situation und Lage reflektierte, kam in Paul ein überwältigendes Gefühl der Ironie auf, dass er sich gerade an diesem Ort vor der Polizei und den anderen potentiellen Verfolgern verstecken musste. Bis vor 5 Stunden hätte er noch über die von einigen als „geschützte Räume“ bezeichneten Techno-Clubs Berlins nur gelacht. Dem zum Trotz war durch die unerwarteten Ereignisse dieses Tages die Wilde Barbara für ihn zu einem ebensolchen geschützten Zufluchtsort geworden. Vor 5 Stunden… Es fühlte sich an, als wären 5 Monate vergangen. Darauf gab Paul sich noch einen saftigen Schluck Bio-Bier. Auf die Ironie. Auf Berlin. Auf die Freiheit.

 

Nein. Im schlimmsten Fall würde ihn die Polizei suchen. Die Anderen hätten ihn längst gefunden, wenn sie es darauf angelegt hätten. Außerdem hatten sie ihn gehen lassen. Das machte Hoffnung.

 

„Wusstest du, dass in Ungarn. Da, wo der Bewandowski herkommt! Die meisten Pornodarsteller pro Million Einwohner sind?" Die Frage galt nicht Paul, auch wenn ihn der Kerl auf Pauls rechter Seite angesprochen hatte und dabei ansah. Ohne Frage sprach der Kerl mit Bürstenhaarschnitt und einem tatsächlich beeindruckenden Friedrich-Nietzsche-Oberlippenbart mit der jungen Frau, die eine Sitz-Etage hinter Paul saß. Doch da der Nietzsche-Bart-Träger durch seinen offensichtlichen drogeninduzierten Zustand nicht mehr fähig war, sich mit seinem Körper zu ihr umzudrehen, ohne von der Sitzfläche auf Paul zu fallen, sprach er hierfür, quasi als Notlösung, einfach Paul an. Nietzsches Drogen hatten längst zu wirken begonnen.

 

„Sollen wir…?“ Paul machte mit seinen beiden Zeigefingern eine Tauschgeste auf sich und die junge Frau hinter seinem Rücken, worauf der Kerl mit Nietzsche-Bart nur den Kopf schüttelte: „Ich glaubäää… Die Annalena macht eh gerade Pause.“ Dabei kniff der verstrahlte Technodepp die Augen zusammen, um durch angestrengte visuelle Beobachtung den Wirkungsgrad der konsumierten Drogen bei seiner Freundin zu entschlüsseln. Pauls Einschätzung nach war Nietzsche viel zu drauf, um überhaupt etwas zu erkennen.

 

Paul zögerte eine Sekunde, ob er sich zu der genannten Frau umdrehen sollte. Dann beließ er es dabei. Lieber nahm er noch einen hilfesuchenden Schluck aus der fast leeren Bierflasche.

 

„Wusstest du?“ fragte der Typ von rechts. Paul ignorierte den Nietzsche-Kerl mit seinem offensichtlichen Laber-Flash. Der Name „Bewandowski“ mit seinem für Paul russischen Klang hatte ihm einen kurzen, wenn auch lächerlichen Schreck verpasst. Nietzsche ließ sich davon nicht beeindrucken und kam mit seinem Gesicht so nahe an Paul heran, dass dieser ihn unmöglich weiterhin ignorieren konnte. Paul konnte den rauchigen Atem des Kerls deutlich an seiner Wange fühlen. Der wiederholte einfach seine Frage: „Wusstest du?“

 

„Was! Weiß ich?“ Paul hatte Nietzsche schon immer gehasst. Wieso konnte die Welt ihn nicht einfach in Ruhe lassen? War der Tag denn nicht so schon schlimm genug? Mussten die banalen Leben der anderen immer aus ihren Mündern sprudeln? Paul fühlte, wie eine Stresswelle aus seinem Herzen hinauf in seinen Kopf zog.

 

Der Nietzsche-Typ grinste ihm fortwährend zu: „Wusstest du, dass Bewandowski neunzig Prozent aller Tore beim FC München schießt? Hä? Wusstest du?“
„Nein! Ich habe es nicht so mit Fußball.“ Paul massierte sich mit beiden Händen seinen vor Stress verspannten Hinterkopf. Als könnte er dadurch den Typen aus seiner Wahrnehmung massieren.

 

„Ist aber so. Weißt du? Und ich denke mir… Ja… Ich denke mir. Ich meine“, der Typ kramte eine Zigarette hervor und bot auch Paul eine an, der mit einem Auch-schon-egal-Gesichtsausdruck die Fluppe nahm und sie sich von dem Kerl anfeuern ließ, „was ich meine. Ist“, fuhr der Nietzsche-Kerl fort, „WARUM bricht dem Bewandowski keiner die Beine? Verstehst du? Ich meine. Im Fußball steckt so viel Geld! Hat der irgendwie so Personenschützer? Ich meine. Wenn man dem die Beine bricht, wer schießt dann die Tore für den FC München? Und. Ich meine. Wo würden die dann in der Tabelle stehen? Da geht es doch um MILLIONEN! Ich meine. Ist doch krass. Neunzig Prozent aller Tore! So viel Geld! Wettmafia! Champions League! Und dann die Hertha! Hör mir auf mit der!“ Und weil das Thema Paul so unglaublich egal war nickte er nur und sagte: „Ja. Da hast du schon Recht.“ Daraufhin nickte der Fußball-Typ anerkennend. Wohlwissend eine Person gefunden zu haben, die seine Gedanken teilte. Die Beiden rauchten.

 

Währenddessen zogen die jungen Leute unaufhörlich jubelnd an den Sitzenden vorbei. Weiter durch den Club. Immer weiter. Dabei viel weniger wild und hedonistisch wirkend als sie sich in diesem Moment gerade selbst fühlten. Mit ihren Bieren in den Händen und den chemischen Substanzen in ihren Nasen. Dazu die gängigen klischeehaften Instagram-Bilder über sich und ihre Traumwelt im Sinn, die ihnen vorgaben wie sie dieses Berlin zu erleben hatten. Alle Besucher der Wilden Barbara waren offensichtlich mit den gleichen Sehnsüchten nach Sex und Hedonismus vor den Türstehern angetreten und hatten sich brav in Reih und Glied gestellt. Paul hätte gelacht, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Dies war die Hippie-Hölle. Die dunkle Seite des Mondes. In der jeder sich selbst vorgaukelte nach einer subjektiven, persönlichen Freiheit zu streben – um am Ende nur zu wollen, was jeder will. Das war nicht einmal schlimm. Nur menschlich. Und dadurch schon wieder unendlich langweilig. Eine Jugend im verdrogten Swinger-Club. Und wenn sie dann erwachsen wurden, träumten diese Leute mit der gleichgeschalteten Phantasie gerade deswegen von ihrem „kleinen Haus am See“. Die Wilde Barbara, die nach Jane Fonda in „Barbarella“ benannt worden war, füllte sich stetig weiter mit glücklich grinsenden Jugendlichen, die es „geschafft“ hatten. Sie waren drin. Der Türsteher hatte sie passieren lassen. Sie waren dem Traum ewiger und enthemmter Jugend einen Schritt nähergekommen. Die banale Ausgelassenheit der einfachen Leute bahnte sich wie ein Tsunami in die für sie heiligen Räume. Selbst Paul konnte fühlen, wie sich der Club mehr und mehr mit weltvergessener Euphorie und bedingungslosem Feierwillen auflud. Überall waren Männer, Frauen, jeglicher Ausrichtung und Bedürfnisse; Hände, Gläser, Gelächter. Alles war in Bewegung und konnte nicht die Finger voneinander lassen. Und überall: Musik.

 

„Und frohen Tag der Einheit!“, lachte ihn der Kerl mit dem merkwürdigen Bart plötzlich euphorisch an, nachdem der sich kurz um seine Freundin Annalena gekümmert hatte. „Ja, dir auch“, lächelte Paul dem Typen verkniffen zu, der ihn darauf, als wäre Pauls Antwort eine Einwilligung dazu gewesen, gleich herzlich und schweißwarm umarmte. Darüber musste Paul tatsächlich lachen. So weit weg war die dunkle, böse Welt dort draußen für ihn inzwischen. Die Bahn. Die Bullen. Die Hunde. Vielleicht ein Hubschrauber… Es war doch eh schon alles egal. Egal und unabänderlich. Was das Gleiche war… Nun war er hier. In dieser lächerlichen Form von Sicherheit. Vielleicht sollte er sich noch ein Bier holen.

 

„Deiner Freundin“, sagte Paul mit dem rechten Daumen nach hinten. „Geht es der gut?“

„Ist nicht meine Freundin! Sie ist meine Schwester!“

„Ah, okay… Geht es der gut?“

„Sie ist meine Schwester!“ brüllte der Schreiaffe und schüttelte danach dumm seinen Kopf hin und her, womöglich um seine Sinne neu zu justieren.
Daraufhin entkam Pauls Lippen wieder ein kurzes Auflachen. Eine ehrliche, unverbitterte Reaktion auf seine Umgebung. Vielleicht waren diese Techno-Clubs gar nicht mal so übel wie er immer gedacht hatte. Worüber beschwerte sich Paul eigentlich? Wahrscheinlich war es in diesen Zeiten gar nicht einmal die schlechteste Wahl vor der Wirklichkeit in die drogenbeseelte Dummheit dieser Szene zu fliehen. Auf eine verquere Art machte es Sinn in dieser verrücktgewordenen Welt einfach nur zu tanzen und Schwachsinn daherreden zu wollen. Und wenn Paul irgendwo sicher vor der Polizei sein sollte, dann an solch einem Ort. Weiß Gott: Es bestand sogar die Möglichkeit, dass ihn niemand gesehen hatte. Schließlich hatte Paul mindestens eine, wenn nicht zwei Stunden lang in der Schlange vor der Wilden Barbara gestanden. Schon da hatte die Menge ihn getarnt. Zur Erinnerung: In diesen Clubs werden am Eingang sogar die Handykameras abgeklebt! Sogar Mark Zuckerberg musste draußen bleiben. Was sollte Paul jetzt noch passieren? Das was geschehen war, konnte er ohnehin nicht mehr rückgängig machen.  Vielleicht brauchte er nur ein weiteres Bier. Und noch eines. Und noch eines. Und noch… Immerhin hatte er es bis hierhin geschafft. Auch wenn… Paul stellte sein leeres Bier auf den Boden, zu seinen Füßen. Für ihn hätte es schlimmer kommen können. Er nickte unbewusst ein wenig zu dem stumpfen Techno-Beat mit, der nicht aufhören wollte durch die Wände zu wummern. Hier und da fiel ihm eine hübsche Frau auf. Klar. Das alles war immer noch saublöd, hier. Aber. Wer nicht draußen war, war drinnen. Er dachte an sein Handy. An Marie. Wie gern er sie jetzt gesehen hätte. Was Bobby wohl gerade machte?

 

„Wir sind ja ewig angestanden“, laberflashte der Nietzsche-Imitator ihn wieder mit seiner nassen Aussprache voll.

„Ja, ich auch. Normal“, gab Paul zurück. Wieso sich nicht unterhalten? Wieso sich nicht darauf einlassen?

„Ja ne! Anna… Lena… Und ich waren… Fast! Drinnen. So richtig fast drin. Ganz vorne. Weißt du? Nur noch die Security-Schranke. Dann kamen die Bullen zu den Türstehis. Und dann war erst mal zu. So direkt vor uns. Ich meine. Da haben wir zwei richtig Pech gehabt. Halbe Stunde! Halbe Stunde noch mal. Standen wir da. Man kann schon richtig Pech im Leben haben. Ich meine. Wir waren ja fast drin.“

 

Ein kalter Windhauch zog durch das Gebäude. Paul fror. Sein Sichtfeld zog sich im gleichen Ausmaß zusammen wie sich ein Gewicht auf seinen Brustkorb legte. Unvermittelt hielt er die Luft an. Ein Gefühl von Schwindel überkam ihn. Worte. Er musste nachfragen. Mit dünner Stimme krächzte er, dabei tunlichst darauf bedacht, cool und gelangweilt zu klingen: „Was wollten die Bullen denn?“

 

„Ach!“ gab Nietzsche angewidert zurück. Dabei wedelte er benommen, genervt mit seiner schlaffen rechten Hand vor Pauls Nase herum, als wäre sie taub geworden. „Nix Wichtiges. Bullenzeug. Suchten halt irgend so einen… Vollidioten. Irgendwas mit `nem Zug. Wohl da hat sich… Da hat sich wohl irgend so ein Idiot vor den Zug geworfen. Meine ich. Irgendwo. So ein Kerl. Depressiv. Kennt man ja. Pf! Egoisten…“

 

Pauls Bewusstsein erinnerte sich explosionsartig an den Schock, der ihn überrollt hatte. Diesen Moment… Von einer Sekunde auf die Andere. Der Flügelschlag eines Schmetterlings. Wie schnell alles gegangen war. Der betrunkene Mann an der Seite… Paul fühlte noch einmal den Aufschlag. Ihm war, als würde er selbst in diesem Moment vor die Brust gestoßen werden. Dieses dumpfe Klatschen, als die Bahn…  Dabei war er sich nicht einmal sicher, ob er dieses abgründige Geräusch überhaupt gehört hatte, bei all dem schrillen Lärm, den die Maschine… Dieses Ächzen. Dieses furchtbare Ächzen…

 

„Wer…“, Paul schluckte einen Kloß in seinem Hals hinunter. „Wer hat sich vor den Zug geworfen?“ Sein Herz raste. Die Menschen tanzten und schrien mit einem Mal noch wilder, noch brutaler, noch böser ihr Leben aus ihren Kehlen. Als würden sich die Ereignisse überschlagen. Dicke Schweißperlen rannten an Paul hinab. Die heiße Club-Luft der Wilden Barbara hatte eine neue Viskosität angenommen. Er konnte kaum noch atmen. Das Blut sank ihm schlagartig in seine Zehen- und Fingerspitzen.

 

„Keine Ahnung“, Nietzsches Hände nahmen lethargisch erhoben die Ahnungslos-Haltung an. „Weiß nicht. Ich meine. Niemand kennt seinen Namen.“

 

Paul stand unvermittelt auf. Die Panik aus seinen Fingerspitzen blitzte wie ein Stromschlag in sein Gehirn. Die Raver-Welt war außer Rand und Band. Es war laut. Hektisch. Unübersichtlich. Wild. Heidnisch. Gottlos. Und in diese plumpe, laute, überdrehte, gottlose Wildheit der Wilden Barbara sagte Paul Fleming zu sich und zu niemand Anderem in den donnernden Krach des Techno-Clubs hinein: „Ich kenne seinen Namen.“

Kapitel 1

 

Paul Flemings Geschichte begann am 30. September 1989. An jenem Tag stand der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher um 18:59 Uhr auf dem Balkon des „Palais Lobkowitz“ in Prag. Es war der Abend, an dem der deutsche Außenminister unabsichtlich den mit Sicherheit bekanntesten Halbsatz der deutschen Geschichte sprach, mit welchem er nicht nur das Leben der nach Prag geflohenen DDR-Bürger von Grund auf veränderte. Der Junge Paul Fleming saß an jenem Abend mit seiner Familie vor ihrem „Chromat“-Fernseher. Er hing dabei ebenso an den Lippen Genschers, wie die restlichen Bürger des geteilten Deutschlands. Hans-Dietrich Genscher sprach seinen berühmten wie ikonenhaften Halbsatz auf dem in abendliche Dunkelheit gehüllten Balkon direkt in die Geschichtsbücher: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“ Die letzten drei Worte „…möglich geworden ist“ gingen im frenetischen Jubel der in die deutsche Botschaft geflohenen DDR-Flüchtlinge unter. Diese Rede markierte nicht nur das Ende der Deutschen Demokratischen Republik, sie steht ebenso für das Ende von Paul Flemings bislang gelebten Lebens. Paul war 7 Jahre alt. Er lebte mit seinen Eltern in Ostdeutschland. Ebenso wie sein Vater hatte der Junge blonde Haare und war der am größten Gewachsene in seiner Klasse. Wie es von einem Siebenjährigen anzunehmen ist, verstand er weder den genauen Grund noch die Tragweite dessen, weshalb seine Mutter und sein Vater sich noch während der Fernsehsendung weinend und gleichzeitig lachend in den Armen lagen. Auf dem immer gleichen Ost-Sofa. Vor den immer leeren Bücherregalen. Mit dem verstaubten Globus im Holzschrank. Das West-Fernsehen im schummerigen Röhrenfernseher jubilierte. Ausgelassen stießen Pauls Eltern mit dem Marillen-Schnaps aus der großen Flasche an, dessen Geruch der kleine Paul immer so gemocht hatte. „Der erste Schritt ist getan“, Pauls Vater gab sich siegessicher. Als Scherz fügte er an Pauls Mutter gerichtet hinzu: „Hiltrud! Du kannst schon einmal die Koffer packen!“ Paul freute sich mit seinen Eltern. Waren seine Eltern glücklich, war er glücklich. Er musste gar nicht verstehen, worin nun der genaue Grund für diese Ausgelassenheit lag. Der Junge, den so manche seiner Erzieher und Lehrer milde lächelnd als Spätentwickler bezeichnet hatten, hatte sich in seiner geistigen Entwicklung zu lange an jener Grenze aufgehalten, in der er das Leben nur als eine Ansammlung einzelner Momente betrachtete. Doch spätestens seit seiner Einschulung hatte Paul damit begonnen, nach und nach ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass die Welt einem gewissen Rhythmus zu folgen schien. Von Geburtstagen zu Weihnachten. Von Weihnachten zu Geburtstagen.  Paul war kein Junge, der viele Ansprüche geltend machte. Keiner von jenen, die zu viele Fragen stellten.  Paul mochte die einfachen Dinge. Selbst- und zeitvergessen spielte er am liebsten mit seinen Freunden. Für gewöhnlich sah man sie zwischen den Häusern herumtollen. Die trockenen Holzstöcke in ihren Händen wurden durch ihre Fantasie zu stolzen Musketen. Nicht weniger gerne und entrückt spielte er mit dem Hund des Nachbarn. Paul malte gerne. Sogar dem Schulalltag stand er nicht abwehrend gegenüber. Dabei waren seine dort gezeigten Leistungen blanker Durchschnitt.

 

Paul wusste nicht viel über seine Eltern. Ob sein Vater bei der Stasi oder Maler war, spielte im Nachhinein ohnehin keine Rolle mehr. Nicht einmal, ob beides der Fall war. Paul erinnerte sich als Erwachsener nur an unsortierte Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit. Daran zum Beispiel, wie sein Vater immer recht spät, meistens nach Sonnenuntergang, von der Maler-Arbeit nach Hause kam. Vater ging für gewöhnlich in die Arbeit, dann in die Gaststätte. Schloss Paul die Augen, roch sein Vater für ihn immer nur nach Zigaretten und Ketwurst. Oftmals war der Vater betrunken, wenn er nach Hause kam. Es war sogar der Regelfall. Doch ansonsten war der Vater ein sanfter Mann, der hin und wieder einen Farbklecks in seinen blond gelockten Haaren übersehen hatte und wegen denen der kleine Paul seinen Vater für eine Art Engel hielt. Der siebenjährige Paul liebte seinen Vater, wie die meisten Kinder ihre Väter lieben: Abgöttisch. Vater machte alles. Vater konnte alles. Vater wusste alles. Sein Vater war wie Gott. Ebenso wie seine Mutter. Zwei Seiten einer göttlichen Medaille. Ein einzelnes Wesen. Untrennbar miteinander vereint. Mutter. Die Mutter. Seine Mutter, die immer für Paul da war. Die ihm Geschichten im kalten Zimmer vorlas. Sogar die gruseligen, die der kleine Paul so sehr mochte, für die er eigentlich noch zu klein war. Was Vater nicht wusste, hatte die liebe Mutti Paul schon längst beantwortet. Schloss der ältere Paul in Gedanken an sie seine Augen, sah er noch immer aus der bodennahen Kinderperspektive die Schürze seiner Mutter wie ein Ballkleid um sie schweben. Seine Mutter hörte für ihr Leben gern ihre Schlagerschallplatten und sang dazu verträumt den Liedtext mit. Für Paul hatte sie die schönste Singstimme der Welt. Viel schöner und lieblicher, als die Frauen und Männer, deren Lieder seine Mutti nachsang. Merkwürdig, in welchem Lichte der Mensch die prägenden Personen in seiner Erinnerung behält. Gerade jene Menschen, die ihm am meisten Unrecht angetan haben. Paul liebte die Weihnachtszeit in der Kleinstadt. Deren Symbol für ihn auch in späteren Jahren immer der lackierte Nussknacker aus Holz blieb, mit dem er mit seinem Vati Nüsse knackte. Und er liebte noch mehr die Plätzchen und vor allem den Teig, von dem er kosten durfte, wenn die Mutter ihn jedes Jahr vor Weihnachten zubereitete. Dann roch die ganze Wohnung so wunderbar nach Vanille. Nicht einmal die unaufhörlichen, eigentlich alles erstickenden Rauchschwaden von Mutters „Cabinet“-Zigaretten konnten den Geruch ganz überdecken. Der junge Paul wusste nicht viel über die Zukunft. Dennoch war er sich sicher, dass in Zukunft jedes Jahr zur Weihnachtszeit ihre Wohnung nach Vanille riechen würde. Paul war davon so überzeugt, wie es nur Kinder sein können. Seine Überzeugung war stark und widerstandsfähig wie eine Burg, die von fleißigen Handwerkern in einen Felsen hineingeschlagen worden war. Was hätte auch geschehen sollen? Für das Kind war die Zukunft klar definiert. Zu seinen Großeltern, welche nur eine Straße entfernt in einer Wohnung lebten, die sich von ihrer eigenen kaum unterschied, hatte Paul ein gemischtes Verhältnis. Auch sie liebte er. Natürlich. Doch irgendetwas stand zwischen ihnen, selbst wenn Paul nicht benennen konnte, was. Unvergessen blieb für ihn jene Szene, als der Großvater eine Tafel Schokolade geöffnet hatte und allen Familienmitgliedern ein Stück davon gab. Nur Paul nicht. Seine Generation hätte es leicht genug im Leben, lautete die ein wenig zu grollend hervorgepresste Begründung des alten Mannes. Paul verstand nicht, was sein Großvater ihm damit hatte sagen wollen. Seine Großmutter war schon immer schweigsam und in sich selbst gekehrt gewesen. Seit diesem kleinen Ereignis erschienen ihm die eigenen Großeltern weniger nahbar als zuvor. Doch immer noch lieb. Paul redete sich in Folge darauf ein, er hätte hatte ohnehin keine Schokolade gewollt. Es war nur ein kleines Ereignis. Dessen Folgen zu diesem Zeitpunkt nicht abschätzbar gewesen waren.

 

Am 9. November 1989 fiel in Berlin die Grenzmauer, die 28 Jahre lang den Osten vom Westen der Stadt getrennt hatte. Die neuvereinten Deutschen lagen sich im Freudentaumel in den Armen. Die ganze Welt blickte zu diesem Zeitpunkt ungläubig auf die friedliche Revolution im ehemals so kriegerischen Deutschland. Im Hause von Pauls Familie saßen wieder alle beisammen. Zu den Eltern hatten sich die Großeltern und ein paar Nachbarn gesellt. Zu dem Marillen-Schnaps aus den stumpfen, brüchigen Gläsern wurde Flaschenbier gereicht.  Selbstverständlich lief das West-Fernsehen nebenbei, auch wenn die Familie mit ihren Bekannten und Freunden gedanklich schon einen Schritt weiter war. Das Fernsehen konnte nur die Bilder der Vergangenheit zeigen. Pauls Eltern begrüßten die Wende und das augenscheinliche Ende der DDR mit hochgehaltenen Gläsern. Hoffnungsvoll sahen sie schon goldene Zeiten auf sich zukommen. Die Großeltern und Nachbarn dagegen gaben sich skeptisch. Zu viel und zu schnell war die letzten Monate geschehen. Zu hart war die Volkspolizei gegen seine eigenen Bürger vorgegangen. Und wer konnte schon wissen welchen Plan die Genossen aus Russland für Deutschland vorgesehen hatten? Glasnost hin, Perestroika her. Wie konnten einfache Leute wie die hier Versammelten abschätzen, wie mächtig Michail Gorbatschow im eigenen Staatsapparat tatsächlich war? Und würden die sowjetischen Truppen wirklich in den Kasernen bleiben? Da konnte ein Sekretär für Informationswesen namens Günter Schabowski noch so viel von einer neuen Regelung für Reisen in das westliche Ausland erzählen. Konnte und durfte einer wie Schabowski so etwas überhaupt entscheiden? „Da könnt ihr euch noch so viel freuen und Bier trinken. Abgerechnet wird immer erst am Ende“, dozierte der Großvater. Angestoßen wurde dennoch. Pauls Mutti und Vati hörten gar nicht wirklich zu. Es wurde nur noch mehr Schnaps und Bier gereicht, gepaart mit der lautgefeierten Hoffnung, den Sozialismus endlich hinter sich zu lassen und Teil der BRD zu werden. Teil der sozialen Marktwirtschaft! Endlich würde es in der DDR vorangehen, wie im wohlhabenden Westen. Die Großeltern sollten sich doch darüber freuen so etwas noch erleben zu dürfen! Niemand müsste mehr Teil des Staatsapparats sein um etwas zu erreichen; Man könnte nach dieser historischen Nacht schlichtweg ALLES werden. Prost! Wenn sie denn ihre Karten richtig ausspielten, waren sie mit einem Schlag im Besitz völlig neuer Möglichkeiten.

 

Auch an diesem Tag verstand der kleine Paul nichts von den weltverändernden Ereignissen, die sich direkt vor ihm abspielten. Ebenso wie er die Worte Genschers in Prag nicht deuten, wie er die Diskussionen um die Anfang September begonnen Montagsdemonstrationen im Familienhaus und in der Nachbarschaft nicht entschlüsseln konnte, verstand Paul auch heute nicht was da im Fernsehgerät gezeigt wurde. Paul sah mit seinem kindlichen Verstand nur ein paar merkwürdige Gestalten auf einer alten, schmutzigen Mauer herumtanzen. Im Hintergrund war ein alter Prunkbau, den Paul schon einmal gesehen hatte. Auf einem Bild war das gewesen. Oder im Fernsehen. Paul wusste es nicht mehr genau. „Das Brandenburger Tor am antifaschistischen Schutzwall“, wie ihm der Großvater erklärte. Auf dem Tor war ein schöner Reiterwagen. Paul wunderte sich noch, warum keinem der Erwachsenen der tolle Reiterwagen auffiel. Ansonsten wurde viel gelacht im Fernseher. Nur der Nachrichtensprecher trug ein ernstes Gesicht. Im Anschluss interviewten für Paul unsichtbare Reporter, von denen er nur das Mikrofon sehen konnte, eine Vielzahl von Menschen. Einige von den Interviewten gaben sich regelrecht erschlagen vor Euphorie, während andere süffisant lächelnd angaben, dass dies nur die logische Konsequenz der letzten Wochen und Monate sei. Irgendwie wirkte die ganze Veranstaltung wie ein verfrühtes Silvester auf Paul. Mit diesen scheinbar unendlichen Menschenströmen, die durch das Fernsehbild von rechts nach links pilgerten. Und dem enthemmten Alkoholkonsum zu Hause. Es könnte auch ein großer Geburtstag oder gleich ein staatliches Volksfest sein. Dazu zeigten die Kameras immer wieder die Bilder von Trabanten und einem Schlagbaum. Es wurde viel gefahren und gehupt. Wo und wohin blieb für Paul auch nach mehrmaligen Erklärungen des Vaters unklar. In den Westen. Was auch immer das im Konkreten bedeutet. Um seinen Vater nicht zu verärgern, nickte Paul einfach dem freudigen Vati zu. Es kam nicht allzu oft vor, dass der Vater so viel Zeit bei seiner Familie verbrachte und zudem auch noch in Hochstimmung war.

 

„So oder so“, erklärte der Nachbar Schmidt mit hochrotem Marillen-Kopf, „muss man jetzt mal schauen, wie es da drüben so ist. Es gibt doch sicherlich noch Begrüßungsgeld.“

 

„Begrüßungsgeld! Stimmt!“ Pauls Familie lachte. Wenn sich jemand ein wenig Luxus verdient hatte, dann die Bürger der DDR. Dieses „Begrüßungsgeld“ wurde bereits seit den 70er Jahren Bürgern der DDR gezahlt, wenn sie es schafften in den Schwesterstaat BRD rüber zu machen. Der alte Lohmeyer hatte einmal davon erzählt. Weil der Freund von seinem Schwager hatte vor ein paar Jahren… Und letztes Jahr sollte es sogar erhöht worden sein. Auf 120 Mark! Auch wenn diese Information sich am nächsten Tag teilweise als falsch herausstellen sollte (das Begrüßungsgeld erhöhte sich nur auf 100 D-Mark), waren Pauls Eltern fest entschlossen gleich morgens in die BRD zu fahren und sich das Geld abzuholen. Dabei war es viel wichtiger, sich die BRD einmal anzusehen. Geld war schön und gut. Freiheit konnte man sich damit aber nicht kaufen. Es musste am nächsten Tag sein. Denn der nächste Tag war ein Freitag. Das musste unbedingt noch vor dem Wochenende erledigt werden. Wer wusste denn schon wirklich, an welchen Wochentagen die westdeutschen Banken geöffnet haben? „Sonntags sicherlich nicht“, gab Nachbar Schmidt zu bedenken. An Arbeiten war ohnehin nicht zu denken.

 

„Aber es sind 4 Stunden Fahrt von hier!“ wand der Großvater ein, worauf Pauls Vater nur mit glasigen Augen antwortete: „Und wenn es 40 wären! Jetzt dürfen wir endlich rüber!“

 

So stieg ein paar Stunden später die ganze Familie in das alte Auto des Großvaters. Einen „Wartburg“. Pauls Vater hatte zwar vor einigen Jahren selbst einen Trabanten beantragt, doch selbst wenn dieser bewilligt worden wäre, hätte er kaum das Geld aufbringen können, um ihn tatsächlich zu bezahlen. Doch ab heute würde ja alles anders werden. Wartezeiten sollten der Geschichte angehören. Die Bürger der DDR hatten lange genug gewartet. Da saßen sie nun, eingequetscht in den „guten Wartburg“, wie Großvater sein treues Gefährt stets nannte. Am Steuer der Herr Papa, neben ihm auf dem Beifahrersitz Pauls Mutti. Hinten die Großeltern und in der Mitte hilflos eingequetscht der kleine Paul, dessen Name damals noch ganz anders lautete. Mehrfach hatten sich die Großeltern darüber beklagt, Paul solle doch zu Hause bleiben. Es sei einfach viel zu eng auf der kleinen Rücksitzbank des Wartburg. „Das wird schon irgendwie gehen“, nickte der Vater mit seiner Zigarette im Mund nach hinten, „heute ist der Junge bares Geld wert. Auch für den wird uns die BRD Geld geben. Endlich zahlt es sich mal aus, ein Kind gezeugt zu haben.“ Da lachte die Mutti. Die Großeltern seufzten. Die Grenzen zur BRD waren geöffnet, das wussten sie. Und doch hatten die Großeltern, die fast ihr ganzes Leben in der Deutschen Demokratischen Republik verbracht hatten, Sorge, nicht mehr in das geliebt/verhasste Land zurückgelassen zu werden. Ihrer politischen Erfahrung nach waren noch keine harten Fakten geschaffen worden. Schließlich standen die Panzer der UdSSR noch vollbetankt und vor neugierigen Blicken versteckt irgendwo im Land.

 

„Nicht nach Berlin“, gab der Vater die Marschrichtung vor. Dabei wäre es für die Familie der kürzere Weg gewesen. „Denn da wollen sicherlich alle hin. Die Ost-Berliner sowieso. Und bestimmt werden auch die Berliner Wessis mal in den Osten schauen. Da kommen wir doch nicht voran. Am Ende macht der Kohl die Geldschatulle zu. Nee. Wir fahren einfach über den Grenzübergang Marienborn.“

„Wird da nicht auch total überfüllt sein?“ warf die Oma ein.

„Das ist ja noch weiter!“, entrüstete sich der Großvater.

„Schnickschnack!“ winkte Pauls Vater ab.

 

Der Wartburg hatte sich schon auf den Weg gemacht. „So viel weiter ist das nun auch nicht.“ Und so ging sie los, Paul Flemings erste Reise in den Westen.  Sein Vater und seine Mutter waren in Hochstimmung und sangen zum Hohn alte Volkslieder der DDR. Dabei rauchten Pauls Eltern unaufhörlich wie die Schornsteine des deutschen Wirtschaftswunders. Die Großeltern saßen stumm und beleidigt auf der Rückbank. Paul konnte kaum aus dem Fenster sehen vor lauter Familie und Rauch um sich herum. Dann zündeten sich wie auf Kommando auch noch die Großeltern Zigaretten an. Einerseits war es eine gute Wahl von Pauls Vater gewesen, nicht nach Berlin zu fahren, wo zu diesem Zeitpunkt Hundertausende Menschen sich über die alten und neu geschaffenen Grenzübergänge drängten. Beamte verteilten Millionen Visa und vor den Sparkassen und Banken entstanden Menschenschlangen, die über 100 Meter lang sein konnten. Das Problem mit dem Grenzübergang Helmstedt/Marienborn blieb nur: An diesem Tag sollten bis zu 14000 Autos die Grenze von Ost nach West überqueren. Dies erzeugte erhebliche Wartezeiten. Die Grenzbeamten der DDR waren heillos überfordert. Entgegen der ausgerufenen Parole, die Bürger der DDR hätten genug gewartet, tat dies der guten Stimmung von Pauls Eltern jedoch keinen Abbruch. So weit waren sie schon gekommen. Diese paar Minuten – oder sollten es Stunden sein – sollten nicht mehr ins Gewicht fallen. Den Großeltern dagegen wurde in dem Meer aus Trabanten und Wartburg mit jedem Kilometer in Richtung Westen mulmiger. Ihnen schmerzten ihre Füße und sie konnten die Euphorie der Menschen, die aus ihren Autos johlten und winkten, wenn die Autoschlange sich wieder für einige Meter in Bewegung setzte, noch immer nicht teilen. Irgendwann war es dann soweit. Ein sichtlich erschöpfter Grenzer winkte sie zu sich heran. Der Vater grinste den Beamten mit dem erschöpften Blick an. Der nickte nur und winkte sie weiter. Vater trat aufs Gas.

 

„Brauchen wir denn keine Visa?!“ Der Großvater beugte sich erschrocken zu seinem Schwiegersohn nach vorne.

„Ach, Scheiß drauf“, winkte der nur ab. „Glaubst du, hier haben alle ein Visum?!“

„Aber was ist, wenn sie uns nicht mehr zurücklassen?“

 „Vater“, Pauls Mutter drehte sich zu ihrem Vater nach hinten um und lächelte ihn an: „Die werden noch froh sein, wenn wir überhaupt zurückkommen.“

„Ach…“, seufzte die Großmutter und nahm Pauls Hand. Paul setzte ein aufmunterndes Lächeln auf. Die kleine dünne, grauhaarige Mutter seiner Mutter. Diese schweigsame, würdevolle Frau. „Es war ja nicht alles schlecht“, seufzte sie dann noch.

„Außerdem werden die uns am Auto erkennen“, zwinkerte Pauls Vater über den Rückspiegel in Richtung Rücksitzbank.

 

Pauls Familie war nicht wegen des Geldes in die BRD gereist. In Wahrheit ging es darum, endlich das tun und lassen zu können, was ein freier Bürger konnte. Das Geld war nur die beste, wenn auch peinliche Ausrede dafür, die lange Fahrt auf sich zu nehmen. Die Freiheit, die sie dabei genossen, war mehr wert als jeder Geldschein. Sie kamen sich nicht vor wie Bettler, als sie einige Kilometer nach der Grenze an einer Sparkasse in einem unüberschaubaren Menschenpulk anstanden. Dort fanden sie sofort Freunde. Bürger der wie ein Schiff leckgeschlagenen, sinkenden DDR: „Wie daheim!“ lachte ein Mann mit Schnauzbart in einem ähnlichen Alter wie Pauls Vater sie an. „Und doch ganz anders“, nickte Pauls Mutter dem fremden Mann glücklich zu. Dann umarmten sie sich. Einfach so. Der Fremde und die Frau. Im Glück vereint. Und obwohl Pauls Vater von der eifersüchtigen Sorte war, hatte er nun nichts dagegen, dass ein anderer Kerl seine Alte in die Arme nahm. Nie wieder hatte Paul sich so viele Menschen umarmen sehen wie in diesen Tagen. Zwar tat es allen Ost-Deutschen sichtlich gut das Begrüßungsgeld in den Händen zu halten, doch die Menschen waren nicht aus Gier in den Westen gereist. Tatsächlich war die Familie in dem Supermarkt, den sie nach der Sparkasse aufsuchte, ziemlich erschlagen von der Auswahl und dem üppigen Angebot in den Regalen. So etwas kannten sie nicht von zu Hause. Doch ein wenig mussten sie sich schon fragen, wozu der Westen diese riesige Markenvielfalt überhaupt benötigte. Nein. Sie waren keine gierigen Menschen. Sie waren einfach nur hungrig. Nur war ihr Hunger von jener Art, wie ihn Jugendliche verspüren, die von ihren Eltern zu lange zu Hause eingesperrt werden. Sicherlich würde im Westen nicht alles besser sein. Ihnen war bewusst, dass nicht jede Kritik am Westen nur Propaganda des Regimes sein konnte. Doch sie hatten es sich verdient, sich ihr eigenes Bild von dieser Welt zu machen. Irgendwie waren sie alle Montagsdemonstranten gewesen. Wenn viele es auch nur mit ihren Herzen gewesen waren. Sie waren keine Kinder mehr und wollten sich auch nicht mehr so behandeln lassen. Und das Geld war nur ein Symbol für aufkommende Möglichkeiten.

 

Paul war unendlich stolz, als er während der Rückfahrt seinen eigenen Hundertmarkschein in den Händen halten durfte. Es war nicht wichtig, dass Herr Papa nachts, als sie wieder zu Hause in ihrer Wohnung ankamen, Paul den D-Mark-Schein etwas zu ruppig wieder abnahm. Für Paul war es ausreichend gewesen, die Banknote überhaupt halten zu dürfen. Was hätte der kleine Paul mit solch einer für ihn unermesslichen Summe auch anfangen sollen? Der Schein war ganz neu und Paul hatte darauf geachtet, dass er an keiner Stelle zerknitterte. Der blaue Schein war wie eine Auszeichnung für Paul. Eine bedruckte Medaille. Hinten war das Brandenburger Tor. Vorne ein ernst und dennoch milde schauender Mann mit Hut. Das Westgeld hatte sogar einen besonderen Geruch.

 

„Endlich wieder daheim“, seufzten die Großeltern. Und hätten ihre Kinder sie gefragt, hätten sie zugegeben, dass der Ausflug in die BRD ein ganz besonderes Abenteuer für sie gewesen war. Es stellte ihnen nur niemand diese Frage. In den eigenen vier Wänden angekommen, umarmten sich Papa und Mama noch einmal und küssten sich lange. Dann sahen sie sich lange, vielleicht ein wenig zu lange, gegenseitig verliebt in die Augen. „Und jetzt wird gepackt!“ lachte der Vater und klapste seiner Hiltrud auf den Hintern. Ihr Sohn hatte sich gerade noch so in sein Bettchen geschleppt. Dort angekommen, fiel er in einen tiefen Schlaf. Paul war so müde, dass er es nicht mehr fertigbrachte, sich aus seiner Kleidung zu schälen.  

 

In der Zeit, in der Paul schlief, war das Haus nicht untätig. Reißverschlüsse und Schnallen wurden bewegt. Pakete geöffnet. Winkel durchsucht. Erinnerungen bewertet. Schubladen und Schranktüren aufgeschwungen, offen stehengelassen, noch einmal inspiziert. Zeitungspapier wurde um und in zerbrechliche Dinge gestopft.  Hin und wieder polterte etwas zu Boden. Paul wachte davon nicht auf. Der Junge schlief traumlos wie ein Stein. Sicher, behütet, glücklich. Zur gleichen Zeit stapften die Füße sanfter Riesen durch die Wohnung. Fröhlich wurden ausgelassene Worte hin und her geworfen. Abgewogen, was – und was nicht…? Im Zweifel wurde gegen das angeklagte Kleidungs- oder Erinnerungsstück entschieden. Diese blaue Bluse? Eine BRAUNE Krawatte? Welches Buch ist unverzichtbar? Welcher Gegenstand ist praktisch? Was bekommt man „überall“? Und was benötigt man eigentlich, um ein neues Leben zu beginnen? Eine kurze Raucherpause. Am Ende ging es schneller als beide gedacht hatten. Noch ein letztes Bier, eine letzte Zigarette, dann legten sie sich schlafen. In der letzten Nacht. Sie machten sich keinen Vorwurf überstürzt zu handeln. Denn wer würde Wasser einen Vorwurf machen, wenn es nach Jahrzehnten unter Druck und Verschluss einen Damm durchbricht? Wer könnte es nicht nachvollziehen, wenn eine jahrelang eingesperrte Hauskatze ihre erste Chance zur Flucht ergreift? Und wer würde es nicht verstehen, wenn jemand, der sein ganzes Leben lang unter einer großen Last leben und leiden musste, diese spontan und im ersten Moment abwirft? Sie waren niemandem eine Erklärung schuldig. Seit ihrer Geburt in diesem Land mussten sie sich, ihre ganze Existenz, nach fremden Maßstäben messen lassen. Sicher. Hiltruds Mutter hatte Recht: Es war nicht alles schlecht gewesen. Na und?

 

Am Morgen danach erwachte der kleine Paul gut erholt in seinem Kinderbettchen. Das Haus, das die Wohnung seiner Eltern beinhaltete, war in matte Stille gehüllt. Paul blieb entspannt liegen. Es störte ihn nicht, als er seine Kleidung an seinem Leib bemerkte. Er blieb dabei ebenso still und leise wie die Gemäuer, die ihn umgaben. Der Junge hatte aus den Schlägen gelernt, die er letztes Jahr dafür erhalten hatte, als er an einem Wochenendmorgen seine Eltern zum wiederholten Male zu früh geweckt hatte. Nun lag Paul einfach da, unter seiner Decke. Nur sein Kopf ragte hervor. Er wartete. Und lauschte. Er erinnerte sich nicht mehr im Detail daran, wie sein Vater ihn letztes Jahr in die kleine Einbauküche gebracht hatte, um ihm dort die kleine Schlaf- und danach seine Unterhose herabzuziehen. Vati hatte sich langsam, fast gemächlich auf einen der Küchenstühle gesetzt, den entsetzt schreienden Jungen um sein Knie gelegt, wo Vater ihm mit der flachen Hand den nackten Hintern verdrosch. Ebenso wenig erinnerte sich Paul daran, wie seine Mutti, nachdem Paul nicht aufhören konnte zu heulen wie ein Häufchen Elend, ihn daraufhin abermals über ihn Knie legte und mit dem Kochlöffel so lange auf seinen schon wieder entblößten Po einschlug, bis der hölzerne Kochlöffel abbrach. All dies hatte Paul vergessen. Nicht aber, wie er zum Geburtstag kein Geschenk bekam, da „der Junge ja den Kochlöffel zerbrochen hatte“. Der Mangel an Geschenken war für ihn an diesem besonderen Tag die größere Strafe als die Schläge. Nur sein Unterbewusstsein würde diesen Moment nie wieder hergeben. Den Moment, als Mutti so hart zuschlug bis der Kochlöffel zerbrach und Mutti und Vati, als sie begriffen was gerade geschehen war, darüber zu kichern begannen. Nein. Doch. Auch wenn Paul Fleming es in diesem Moment in seinem Bettchen nicht mehr wusste, würde er diese Kochlöffelszene nie wieder vergessen. Darüber hinaus wusste Paul nicht einmal den Grund, warum er gezüchtigt wurde. Wie sollte er damals auch wissen, was Blasen bedeutet? Wozu Sex überhaupt dienlich ist. Er war einfach nur morgens in das Schlafzimmer seiner Eltern gekommen. Zu früh.

 

Das Haus blieb still. Übermorgen. Am Montag war Pauls Geburtstag. Vielleicht würde er ja dieses Jahr etwas geschenkt bekommen. Zu seinem Unbehagen meldete sich nun langsam wie unangenehm, dafür umso penetranter seine Blase. Der kleine Paul verdrückte es sich noch ein wenig, bis der Drang schließlich zu groß wurde und er sich auf die Toilette schlich. Komisch. Im Gang stand der große Koffer. Der Koffer, der so groß war, dass selbst Vati ihn kaum tragen konnte, wenn er zu vollgepackt war. Bei jenem standen drei weitere, kleine Reisetaschen. Sogar einige Plastiktüten waren über Nacht mit allerlei Dingen gefüllt worden. Paul schlich sich ohne die Eltern zu wecken zurück in sein Kinderbett und kroch wieder unter die Decke. Mutti und Vati würden sicherlich bald aufwachen. Bestimmt würde die Wohnung gleich wieder nach Zigaretten riechen und Vati seine Witze erzählen, die Paul oft nicht verstand. Mit leerer Blase lag es sich wieder schön und gemütlich in seinem Bett. Seine Kleidung hatte er zuvor ausgezogen. Nicht dass es noch Ärger deswegen gab. Um ihn herum hingen Bilder an den Wänden, die Paul mit Bleistiften gezeichnet hatte. Zeichnungen von „Pittiplatsch“ und „Schnatterinchen“. Womöglich würde Paul Mutti bald fragen, ob er sie abnehmen dürfe. Schließlich war er bald 8 Jahre alt. Da war er doch schon zu alt für solche Strichmännchen an den Wänden. Nur das Herz aus Pappmaschee mit dem golden verzierten „Mirko“-Schriftzug würde er hängen lassen. Das mochte er. Den Schriftzug mit seinem damaligen Namen darauf hatte er von seinen Klassenkameraden geschenkt bekommen.

 

Es dauerte schließlich noch eine gute Weile, gegen Mittag, bis Paul die erste Zigarette in der Wohnung roch. Bald darauf erlauschten Pauls Ohren durch die Zimmerwand, dass sich Mutti und Vati unterhielten. Wie immer konnte er nicht hören was sie sprachen. Allem Anschein nach waren sie nur noch nicht bereit aufzustehen. Paul hatte Hunger, blieb aber brav liegen. „Brav sein“ hatte sich schon immer bewährt.

 

Beim mittäglichen Frühstück hatten seine Eltern gute Laune. Sie lächelten und umarmten sich viel. Auch Paul wurde immer wieder in der Arm genommen. Viel häufiger als gewöhnlich. Selbst Vati strich dem Jungen übermäßig oft, fast schon penetrant durch die Haare. Und mehr als drei Mal sagte er zu seinem Kind, dass heute ein besonderer Tag sein würde. Es gab da Dinge, die getan werden müssten. Und auf die Frage, WAS denn getan werden müsse, antwortete Vati in einem Moment der Schwäche mit einem fast schon traurigen Blick, dass sein Sohn ihn eines Tages verstehen würde. Wahrscheinlich. Vermutlich… Dann nahm Vati wieder einen Schluck West-Kaffee und goss seinem Sohn West-Kakao ein, welchen sie gestern gekauft hatten; und dieser Kakao war richtig gut. „Richtig, richtig gut“, lachte der Kleine und Mutti schmierte ihrem Kind die gute, selbstgemachte Marmelade aufs Brot. Obwohl heute noch gar nicht Sonntag war. Ein wenig merkwürdig war es schon, wie fröhlich seine Eltern zusammen wirkten. Und wie traurig ihr Blick wurde, wenn sie Paul ansahen.

 

Nach dem Frühstück wurde Paul auf sein Zimmer geschickt. Mutti hatte unvermittelt zu weinen begonnen. Paul wusste gar nicht warum. Es war kein fröhliches Weinen, wie er es die letzten Wochen häufiger gehört hatte. Wenn der Nachrichtensprecher wieder irgendeine Meldung vorgelesen hatte, die die Eltern berührt hatte. Die Töne des Radios und fröhliche Schlagermusik übertönten ihr Schluchzen annähernd vollständig, als der Junge in seinem Zimmer war. Paul verstand nicht, was geschehen war. Wieso Mutti plötzlich so traurig werden musste. Ob sie sich wehgetan hatte? Er hatte nichts in der Richtung bemerkt. Am liebsten wäre er einfach zu ihr in die Küche gegangen und hätte sie in die Arme genommen. Vielleicht würde sie das ein wenig aufmuntern. Nur ein kleinwenig. Ihm half es doch auch immer, wenn sie das bei ihm tat. Doch Paul sollte in seinem Zimmer bleiben, erklärte der Vati noch eine Zeitlang später. Sie würden ihn dann holen. So spielte Paul mit seinen Spielsachen, bis es schon wieder dunkel wurde. Ohne Ankündigung öffnete sich seine Kinderzimmertür zum letzten Mal.

 

„So dala“, lächelte der Vater gezwungen. „Jetzt müssen wir aber los.“

„Wohin denn?“ Paul war überrascht. Schon wieder ein Ausflug? Gut. Na ja… Vielleicht hatte das was mit seinem Geburtstag zu tun! Immerhin war er das ganze Jahr über so ein braver Junge gewesen. Zumindest die meiste Zeit.

„Das“, seine Mutter stand hinter dem Papa, „Ist eine Überraschung.“

„Eine schöne Überraschung?“ fragte Paul mit großen Augen. Er ließ sein Spielzeug, Spielzeug sein und stand auf. Seine Eltern wechselten einen Blick. Dann erklärte seine Mutter mit tonloser Stimme: „Sind denn nicht alle Überraschungen schön?“

„Oh ja!“ freute sich Paul unverhohlen.

„Na dann, ab ins Auto!“ Mutti versuchte zu lächeln. Dann schlug sie wieder ihre Hände vors Gesicht.

 

Paul rannte lachend an seinen Eltern vorbei, den nun leeren Flur hinaus, das Treppenhaus hinab. Er hüpfte regelrecht in seine Schuhe und eilte hinunter zum „guten Wartburg“, in den bereits die Koffer, Taschen und Tüten geladen worden waren. Die Mutter trug dem Jungen noch kopfschüttelnd seine Jacke, seine Mütze und die kleinen Handschuhe hinterher, in die sich Paul wiederwillig zwängte. Nur die Wintermütze stopfte Mutti in die Seitentasche des kleinen Anoraks. Wieder einmal schlugen die Türen zu. Heute ohne Großeltern. Dann ging es los; einen Kilometer weiter stoppte Pauls Vater den Wartburg wieder. Hatten sie etwas vergessen? Pauls Mutti drehte sich zu ihm um.

 

„Wir spielen jetzt ein kleines Spiel!“ Ihre Stimme klang fest und spröde. „Du rutscht jetzt so tief du kannst nach unten.“ Seine Mutter zeigte hinter die Rücklehnen der Fahrersitze. „Und dabei setzt du das hier auf.“ Sie zeigte ihm einen unförmigen Lappen, der sich in Pauls Händen als kleiner Mehlsack erwies. Er sah sie fragend an. „Den setzt du auf, wenn du hinuntergekrochen bist. Und dann bist du ganz brav und still.“

„Bekomme ich dann die Überraschung?!“
„Oh ja.“ Sie seufzte. Der Versuch zu schmunzeln endete in einer Grimasse. „Natürlich.“

 

So tat Paul wie es ihm von seiner Mutter gesagt wurde. Er setzte sich den nach Mehl riechenden, sogar nach Mehl schmeckenden Sack auf, und kroch wild entschlossen zwischen die Sitze. Was für ein Abenteuer! Und dabei hatten sie am Tag zuvor schon ein ganz anderes Abenteuer erlebt! So viele Autos hatten am Grenzübergang gestanden. Noch nie hatte Paul so viele Autos gesehen. Was wohl heute passieren würde? Vielleicht würde nun jeder Tag ein Abenteuer sein? Vielleicht bedeutete es genau das, erwachsen zu sein. Die Reisetaschen, zwischen denen Paul die kurze Strecke lang gesessen hatte, kippten auf die ganze Länge der Rücksitzbank um. Paul konnte es genau spüren, doch obwohl dadurch sein Raum zwischen den Sitzen, der ohnehin schon knapp bemessen war, noch enger wurde, blieb das Kind ruhig und still liegen. Er hatte auf die Anweisung der Mutter sogar die Augen geschlossen, damit er kein Mehl in die Augen bekäme. Mit der Zeit, mit den Minuten, die zu einer knappen Stunde reiften, traute sich Paul immer wieder die Augen ein wenig zu öffnen. Nur selten sah er matte Lichtscheine, die durch das Säckchen dämmerten. Tatsächlich lauschte er die ganze Zeit nur dem dumpfen Dröhnen des Wartburg, der hier, auf dem Boden des Gefährtes, noch 10 Mal lauter zu ächzen schien. Seine Eltern: Schwiegen. Nicht einmal das Radio dudelte durch die Nacht oder erzählte vom größten Tag in der näheren deutschen Geschichte. Nicht einmal vom Wetter wurde berichtet. Es herrschte eine fast greifbare, bedrückend menschliche Stille im in der Deutschen Demokratischen Republik gefertigten Wagen. Nur einmal hörte Paul seine Mutter sagen: „Ich glaube, ich pack das nicht, Walter...“ Worauf der Vater tonlos antwortete: „Das wird schon.“ Plötzlich fuhr das Auto von der Straße ab und hielt auf einem steinigen, vermutlichen kiesigen Untergrund an. Der Vater brachte den Motor zum Verstummen. Stille kehrte ein. Niemand sprach.

 

Pauls anfängliche Euphorie hatte sich inzwischen gelegt. Sein Rücken schmerzte und er hatte sich mehr als einmal verkniffen, seinen Eltern die drängende Frage zu stellen, wie lange es noch dauern würde, bis sie endlich bei der großen Überraschung einträfen. Die Luft im Sack war nach dem anfänglich angenehmen Mehlgeruch doch recht stickig geworden. Außerdem wurde ihm ein wenig schlecht als er auf dem Boden eines fahrenden Autos liegen musste. Jetzt sprach er doch aus, was er so lange für sich behalten hatte: „Mutti? Sind wir jetzt endlich da? Mir tut mein Rücken weh…“ Paul konnte nicht sehen, wie die Mutter ihre Augen schloss und damit einen Strom leiser Tränen zum Erliegen brachte. Er sah auch nicht, wie sie die Hände vor ihren Mund legte um nicht zu schreien. Ebenso wenig, wie der Vater seine Hand auf das Knie seiner Frau Hiltrud legte. Und sie nicht damit aufhörte ihre rechte Hand panisch auf den zitternden Mund zu pressen, während ihr die Tränen wie Sturzbäche über die Finger tropften. Die Eltern sahen sich nicht an. Dann atmete Pauls Vater tief ein. Es klang fast wie ein Stöhnen. Auf einen kurzen Moment der Starre löste der Vater seinen Sicherheitsgurt und öffnete die Fahrertür. Paul konnte genau fühlen, wie sein großer, schwerer Vater das Auto verließ. Die Fahrertür ließ er hinter sich geöffnet und als hätte sie jemand gerufen, trat die Novemberkälte klamm in das Auto hinein. Als nächstes öffnete der Vater die hintere Wartburg-Tür auf der Fahrerseite. Er schob die Reisetasche zur Seite und zog seinen Sohn zwischen den Sitzen hervor. Ausgesprochen sanft und vorsichtig. Er wollte dem Jungen unter keinen Umständen unnötige Schmerzen zufügen. Obwohl sein Sohn dafür eigentlich schon zu groß gewachsen war, hielt der Vater Paul wie ein Kleinkind in seinen starken Armen. Endlich wollte Paul den Mehlsack abnehmen, doch Vater meinte: „Einen Moment noch.“ Daraufhin wurde Paul auf dem Boden abgesetzt, sein Rücken tat nun in der veränderten stehenden Haltung nur noch mehr weh.

 

„Sag zu niemandem ein Wort, wer du bist und woher du kommst“, waren die letzten Worte, die sein Vater an ihn richtete. Kurz ließ Pauls Vater seine schwere Hand ein letztes Mal auf Pauls Kopf ruhen, der noch immer von dem lächerlichen Mehlsack verdeckt wurde. Dann stieg der Mann ohne Sohn ins Auto, schloss die Tür und der Wartburg fuhr davon, ohne dass sich jemand umsah. Paul riss sich den Sack von seinem Kopf und konnte in der unbestimmten Dunkelheit der Nacht, irgendwo im Nirgendwo Deutschlands, den Rücklichtern des Wartburg nur noch hinterher sehen. Bis sie nach einer Biegung nach rechts in den Wald hinein ganz verschwanden. Seine Eltern waren fort. Paul sah sich um. Links herum. Rechts herum. Da war gar nichts. Nichts. Überhaupt nichts. Nur Dunkelheit und… Bäume. Schwarze Bäume im Grafitschwarz der Nacht. Ganz weit oben glaubte das verlassene Kind die Wipfel von Tannenbäumen erkennen zu können. Es war dunkel, kalt und windig. Paul war starr vor Angst. Was geschah hier? Was lief hier falsch? Warum machten Mutti und Vati das mit ihm? Aus dem Urquell seiner Seele stieg ein ungeheurer, physischer Schmerz seine Kehle hinauf. Eine Welle aus Qualen brach aus seinem Innersten hervor, die der kleine Junge all die Jahre seiner jungen Existenz in sich selbst versteckt hatte und die nun wie aus einem geöffneten Gefäß aus ihm hervorschoss. Seine Augen begannen sich schlagartig mit Tränen zu füllen, als der Kummer wie ein befreiter Geist mit einem Urschrei gleichenden Laut aus seinem Mund explodierte.

 

Zu keiner Sekunde vermutete Paul hinter dem, was gerade geschehen war, einen Scherz. So viel Ironie hatte der kleine Junge noch nicht gelernt. Dafür war das Kind noch zu sehr in seiner infantilen Welt gefangen, in der jedes Wort wahr zu sein hatte und ewig galt. Der Gedanke daran, dass dies lustig sein könnte, kam dem Jungen zu keinem Augenblick in den Sinn. Paul. Heulte einfach nur. Er heulte und heulte heiße Tränen und sackte auf der Stelle, genau an dem Punkt, an dem ihn sein Vater abgesetzt hatte, zusammen. Er versuchte nicht einmal, dem Auto zu folgen. Er machte sich keine theatralischen Mühen, an seinem Schicksal irgendetwas zu ändern. Paul konnte es sich nicht erklären: Was hatte er Schlimmes getan? Was hatte er nur falsch gemacht, damit seine Eltern ihn hier einfach zurückließen? War er so ein schlechtes Kind gewesen? War denn nicht gerade noch alles gut gewesen? Oder nicht? Paul war doch heute Morgen so leise gewesen, als er auf die Toilette ging! Hatten sie ihn doch gehört? Oder war es etwas Anderes? Paul weinte und weinte und weinte und suchte und suchte in seinem kleinen, unerfahrenen Selbst nach dem Grund seines Vergehens und der damit verbundenen Strafe, nicht mehr Teil dieser heilen, schönen Familie zu sein. Unvermittelt stand der Junge schreiend und schluchzend auf, sein ganzer Hals tat ihm schon grausam weh und doch brüllte er so laut er konnte: „VATIiiii! MUTTIiiiii!“ in die ihn alles umschließende und verschluckende Dunkelheit. Er rannte los. Einfach geradeaus. Streckte seine kleinen Ärmchen aus. So als ob da jemand wäre. Als ob dort vielleicht doch noch seine Eltern in der Dunkelheit ständen. In deren Arme er laufen müsste. Pauls kleine Beine rannten und rannten und rannten, bis er hundert Meter weiter über einen abgeschnittenen Baumstumpf stolperte und schreiend vor Angst (vor Angst, vor Angst, vor Angst) vor der ganzen Welt in das spitze Dickicht eines Strauchs fiel, welcher mit seinen eiskalten Zweigen gnadenlos Pauls makelloses und von Tränen durchnässtes Gesicht zerschnitt. Der Junge spürte die Schmerzen kaum und blieb in dem Strauch in einer Haltung zwischen waage- und senkrecht, einfach liegen. Gehalten und aufgespießt von den Hunderten blättrigen Armen des Strauches. Hier heulte und schrie und schrie und heulte der ausgestoßene Sohn: „VATI! MUTTI! Vati… Mutti…“ Bis dem kleinen Jungen schließlich die Stimme versagte. Da hing er nun in der unangenehm stechenden und doch ironischerweise sanften Umarmung des dichtbewachsenen Busches. Ja. Einen wilden Moment lang klammerte sich das Kind Paul sogar an den Strauch, griff ganz tief in die Zweige hinein. Als ob das Gewächs ein Mensch sei, der ihn halten könnte. Damit ihn wenigstens dieser Busch umarmen, ihn trösten könnte. Wenn da schon sonst niemand mehr war, der ihn festhielt. Keiner mehr, der ihn liebte. Sie waren einfach davongefahren.

 

Da musste doch ein Grund sein! Es musste eine Erklärung dafür geben, warum Paul diese Behandlung von seinen Eltern verdient hatte... Irgendwas war passiert. Auf die schlimmste Art und Weise. Und Paul, dieses schlechte, schlechte, böse, dumme Kind hatte es nicht einmal bemerkt, wann seine eigenen Handlungen so unerträglich für seine Eltern wurden, dass sie ihn wie ein Kind aus einem Märchen verstoßen hatten. Möglicherweise lag es an dem Unfall, den er vor ein paar Monaten gehabt hatte. Dieses Ereignis war das Erste, das Paul in den Sinn kam.

 

Paul hatte an jenem Nachmittag in seinem Kinderzimmer mit dem kleinen Udo Lohmeyer gespielt. Wenigstens hatte es mit Spielen angefangen. Was zu Beginn ein harmloses „Cowboy und Indianer“-Spiel sein sollte, einwickelte sich ungewollt zu einem handfesten Gerangel über die Frage, wer von beiden Jungs Chingachgook sein durfte. Der Indianer Chingachgook, der in den Filmen von dem Serben Gojko Mitic verkörpert wurde, war zu dieser Zeit Pauls absoluter Held gewesen. Für ihn gab es keine Debatte darüber: Er MUSSTE einfach Chingachgook sein. Nur war leider sein Freund Udo der gleichen Überzeugung und nicht weniger dem Zauber des kräftigen Indianers mit den sanften Gesichtszügen verfallen. Deswegen hatte Udo überhaupt keine Lust, stattdessen den weißen Freund des Indianers namens Wildtöter zu spielen. Es war wie so oft mit den Jungs: Erst lachten die jungen Steppkes über ihre Uneinigkeit – schon rangelten sie am Boden miteinander um dadurch zu entscheiden, welcher von ihnen Beiden stärker sei und damit das Recht besäße, den tapferen Indianer zu verkörpern. Udo Lohmeyer war zwar ein halbes Jahr älter als Paul, doch Paul war größer. Aus diesem Grund endeten viele ihrer Kämpfe mit einem anderen Sieger. Mal war es Udo. Dann war es wieder Paul, der die Oberhand behielt. An diesem Nachmittag schien Udo als Gewinner hervorzugehen. Sie rangelten auf dem grünen Teppichboden in Pauls Kinderzimmer herum, ohne dabei auch nur eine Sekunde mit dem Lachen aufzuhören. Es war mehr Spaß als Ernst. Keiner wollte dem Anderen etwas Schlechtes. Hier ging es nur ums Prinzip. Um das Prinzip des Stärkeren. Schließlich hatte es Paul doch noch geschafft, den kleinen Lohmeyer niederzuringen und sich auf den Jungen zu setzen. Dies bedeutete laut ihrem Kampf- und Ehrenkodex, dass der Kampf entschieden war und der Gewinner feststand. Nur an diesem besonderen Nachmittag wollte sich Udo nicht mit seiner Niederlage abfinden. Hinterlistig stieß er Paul, dessen Konzentration durch seinen vermeintlichen Sieg bereits am verfliegen war, mit aller Kraft und der Zuhilfenahme seines rechten Knies von sich fort. Völlig unvorbereitet wurde Paul über Udo Lohmeyers Kopf nach vorne geschleudert. Er flog mit vollem Schwung, ohne auch nur die Hände zum Schutz nach vorne zu heben, gegen den am Ende seiner Flugbahn verbauten Heizkörper. Paul knallte mit seiner Stirn punktgenau gegen den Knauf der Heizung. Er spürte einen dumpfen Aufschlag gegen seinen Kopf. Der hielt ihn jedoch nicht davon ab, weiter atemlos gackernd vor sich hinzulachen.

 

„Hey! Ich hatte doch gewonnen!“ grinste Paul und drehte sich zu seinem Freund und Gegner um. Udos Augen wurden groß als er Paul sah. Jegliche Farbe glitt aus seinem Gesicht, der Mund klappte entgeistert auf. Ein wenig wirkte er wie eine überspielte Zeichentrickfigur.

 

„Dein… Dein…“, mehr brachte Udo nicht über seine Lippen und zeigte mit beiden Zeigefingern auf Paul. Paul griff verwundert hinauf an seine Stirn. An die dumpfe Stelle, die er erst jetzt bemerkte. Da waren seine Haare. Doch da war noch etwas Anderes. Er spürte etwas Nasses. Klebriges. Er führte sich die Hand wieder vor seine Augen. An seinen Fingerspitzen sah er das Blut der klaffenden Platzwunde. Paul konnte nicht anders und schrie panisch auf, was Udo dazu veranlasste, weiter von Paul zurück zu weichen. Der Junge kroch regelrecht in Pauls offenstehenden Kleiderschrank. Währenddessen konnte er den Blick nicht von Paul abwenden, dessen warmes Blut in Strömen über sein Gesicht lief. Es tropfte sogar schon von ihm herab.

 

„Was ist denn jetzt schon…“, Pauls Mutter hatte das Zimmer betreten. Mit der geöffneten Tür und der dazugehörigen Klinke in der Hand stand die Mutter in ihrer schönen weißen Schürze im Raum und ließ die perplexen Jungs an ihrem genervten Blick teilhaben. Obwohl sie ohne Zweifel sofort begriffen hatte, was geschehen sein musste, murmelte sie nur noch einmal verwundert: „Was habt ihr denn schon wieder…?“ Sie bewegte sich nicht. Sie blickte nur auf ihren kleinen Jungen. Der blutüberströmt am Boden saß. Ihr Mund klappte auf. Die Kinder sahen sie nur beide ebenso jammernd wie hilflos an, während das Blut wie frisch vom Fass aus Pauls Kopf zu sprudeln schien. „Mutti! Mutti!“ brüllte er hilflos. Er zeigte ihr das aufgefangene Blut in seinen Händen. Seine Mutter blieb völlig ruhig, sie sah zu Boden. Auf den grünen Teppichboden, mit dem Pauls kleines Zimmer ausgelegt war. „Es war keine Absicht! Das wollte ich nicht!“ versicherte der geschockte Lohmeyer aus dem Schrank heraus. „Das müssen Sie mir glauben!“ Pauls Mutter dagegen rief aufgebracht zu ihrem Kind: „Paul! Paul! Du blutest ja den ganzen Teppich voll! Pass doch auf!“ Paul sah auf den Boden, sah das Blut in den Teppich sickern und wurde dadurch nur noch panischer. Der Junge hatte gedacht, er müsste sterben. Den Teppich hatte er dabei ganz vergessen! Paul schrie durch diese Erkenntnis nur noch mehr. Unvermittelt erschien die Mutter von Udo im Zimmer, die nebenan mit Pauls Mutter Kaffee getrunken hatte. Beruhigend legte Frau Lohmeyer Pauls Mutter die Hand auf ihre Schulter und erklärte mit einem mitfühlenden Gesichtsausdruck: „Hiltrud. Mach dich nicht verrückt. Mit Zitrone geht das wieder gut raus.“ Diese Weisheit würde Paul sein ganzes Leben lang in Erinnerung bleiben. „Mit Zitrone geht das wieder raus.“

 

Daran dachte Paul in diesem Moment, als er alleine verlassen in tiefste Dunkelheit und Kälte gehüllt in einem Waldstück im Gebüsch lag. Das musste es sein. Dieser furchtbare Nachmittag. Der Unfall! Bestimmt hatten ihn seine Eltern deswegen verlassen, weil er damals den ganzen Teppich vollgeblutet hatte. Er war so unachtsam gewesen! So selbstverliebt. Es musste diese Geschichte gewesen sein… Denn auch wenn Paul die Worte Frau Lohmeyers nie wieder vergessen sollte, hatte Zitrone das Blut-Problem im Teppich nicht ganz gelöst. Sah man in einem bestimmten Winkel auf den Teppich, war noch immer ein blasser Fleck zu erahnen. Ein Fleck so hartnäckig und unauslöschlich, dass er gleichbedeutend für Pauls unendliche Schuld stand.

 

Es war seine eigene Schuld, dass er nun in dieser Situation steckte. Daran gab es keinen Zweifel. Paul. Hatte es verdient. Wieder einmal war er dumm gewesen. Unachtsam. Zu wild.  Er musste bestraft werden. Und weil er das wusste. Und weil es keine andere Erklärung für das alles gab. Weinte er und weinte und weinte. Noch nie hatte ein Mensch so viele Tränen vergossen wie dieser Junge in diesem Moment. Der Schmerz lief ihm regelrecht aus den Augen und aus der Nase. So als könnte diese Flut die Zeit zurückdrehen. Als könnte er Abbitte leisten. Als könnten die Tränen und der Rotz irgendetwas ändern. Doch niemand kam. Und keiner half. Bis der Junge schließlich keine Tränen mehr im Kopf hatte. Bis er einfach nicht mehr konnte. Und leblos in dem Gebüsch lag. Wie tot. Wie achtlos fortgeworfener Müll. Und das Allerschlimmste in dieser grausamsten Situation, die sich ein Kind nur ausmalen konnte, war, dass seine Eltern sich nicht einmal von ihm verabschiedet hatten. Dass sie ihm keine Worte mit auf den Weg gegeben hatten. Keinen Grund für ihr Handeln. Keine Erklärung. Nicht einmal dafür hatten sie ihn genug geliebt. Der Vater hatte ihn nur ermahnt, seinen Namen für sich zu behalten. Selbst sein eigener Name war zur Schande geworden.

 

Als die Tränen versiegt und sein durchnässtes Gesicht durch den Frost, der ihn umgab, immer kälter und tauber wurde, versuchte sich der Junge ungelenk aus dem hölzernen Gestrüpp zu befreien. Als ihm dies gelungen war, suchte er seinen Kinderanorak nach der Mütze ab, die eine Frau, die er vor einer Stunde noch Mutter genannt hatte, in seine Tasche gesteckt hatte. Mit der Mütze wischte sich das Kind sein Gesicht trocken. Anschließend setzte er sich die Mütze auf den Kopf. Paul sah sich in der Dunkelheit um. Etwas musste geschehen. An den Tod durch Erfrieren dachte er nicht. Der Tod war ein viel zu abstraktes Gebilde. Paul fror und dies war Grund genug um sich in Bewegung zu setzen. Übermorgen würde er 8 Jahre alt werden und als quasi 8-jähriger wusste er, dass er beim Schlittenfahren immer geschwitzt hatte, nachdem er den Schlittenhügel im Park jedes Mal aufs Neue erklommen hatte. Also musste er sich bewegen um warm zu werden. Am vernünftigsten erschien es ihm, sich die Straße entlang zu bewegen. Straßen führen zu Städten. Oder wenigstens zu Lichtungen. Er müsste Menschen finden. Irgendwen. Irgendeinen Erwachsenen. Oder auch nur eine Scheune, in der er Wärme und ein Dach finden konnte. Ob Paul wollte oder nicht. Jetzt war sein Leben ein Abenteuer geworden. Trotzig folgte er der Straße in die Richtung, in welche seine Eltern verschwunden waren.

Kapitel 2

 

In der Nacht des 11. auf den 12. November 1989 passierten drei Trabanten einen kleinen Jungen, der auf einer unübersichtlichen Landstraße durch ein dichtbewachsenes Waldgebiet marschierte. Der erste Fahrer war eine junge Frau, die einer Anstellung als Stenotypistin nachging. Sie hatte mit einer älteren Freundin – einer Arbeitskollegin aus dem Büro, in dem sie zusammen arbeiten – im Nachbarsort die „Deutsche Einheit“ noch einmal ordentlich über den Durst gefeiert. Nach einem durchtanzten Abend und der Hand von Arne Ehrenfeld, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit an einer unangebrachten Körperstelle der Stenotypistin verweilte, setzte sich die junge Frau trotz ihres Rausches selbst hinter das Steuer und fuhr mit dem Auto nach Hause.  Den Jungen auf der Straße bemerkte die Stenotypistin gerade noch im letzten Augenblick. Der plötzlich vor ihr auftauchende Wanderer in der Dunkelheit wirkte auf die betrunkene Fahrerin, als wäre er geradewegs aus einem Horrorfilm herausspaziert. Zu allem Überfluss lief der kleine Schatten auch noch auf der falschen Straßenseite in die vom nächsten Ort fort führende Fahrtrichtung. Der Stenotypistin blieb gerade noch den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um das Steuer im letzten Moment harsch zur Seite zu reißen, wodurch sie das Schlimmste vermeiden konnte. Um ein Haar hätte sie ihn überfahren. Erschrocken sahen sich die beiden Arbeitskolleginnen an und sicherten sich betrunken zu, dass „das verdammt eng war“. Sie setzten ihre Fahrt fort, ohne einen Gedanken darüber zu verschwenden, was ein kleiner Junge ohne Begleitung um diese Uhrzeit alleine im Wald verloren hatte. Es könnte ja auch ein Tier gewesen sein.

 

Der nächste Autofahrer, der den kleinen Jungen auf der Straße fast überfahren hätte, war ein 57-jähriger Mann aus Halle. Der Herr, der die letzten Jahrzehnte Karriere als hauptamtlicher Mitarbeiter im „Ministerium für Staatssicherheit“ gemacht hatte, war auf dem Weg nach Posen in Polen. Der ältere Herr hatte die Zeichen der Zeit für sich gedeutet und wollte nur noch raus aus der DDR. Der Grund dafür bestand nicht nur an der Selbstauflösung seines bisherigen Arbeitsgebers, sondern im höchsten Maße an der jungen Frau, die er vor zwei Jahren in Dresden kennen und lieben gelernt hatte. Mehr noch sogar als seine eigene Frau. Dabei wusste er nicht einmal, ob die Grenzen nach Polen geöffnet waren oder ob sie bald geschlossen werden würden. Alles war möglich. Er sah den kleinen Wanderer außerhalb eines Waldstücks in Richtung „Nirgendwo“ gehen. Hätte der Mann von der Staatssicherheit, der selbst eine Tochter und einen Sohn hatte, den Knaben an jedem anderen Wochenende in den letzten 28 Jahren um solch eine Uhrzeit in der Nacht spazieren sehen, hätte er ohne zu zögern angehalten und das Kind in seine Obhut genommen. In dieser Nacht blieb dies nur leider ein Ding der Unmöglichkeit, weshalb der Herr von der Staatssicherheit den Jungen Junge sein ließ, und nur mit einem Blick in den Rückspiegel zu sich selbst sagte: „So etwas hätte es früher auch nicht gegeben.“

 

Der dritte Trabant passierte den Junge zwar zunächst wie die beiden anderen vor ihm. Doch dann leuchteten die roten Bremslichter hell in die ländliche Finsternis und das Auto verlangsamte seine Geschwindigkeit. Im Anschluss bog dieser Trabant als einziges Gefährt in jener Nacht an den Straßenrand heran. Der Fahrer hielt auf einer freien Ebene kurz vor einem weiteren Waldstück an, gute 30 Meter von dem durchgefrorenen Knaben entfernt. Auf beiden Seiten der Ebene befanden sich zwei winterkahle Felder, über die ein eisiger Novemberwind rauschte. Der Trabant machte keine Anstalten zu dem Jungen zurückzusetzen, um den Laufweg des Knaben zu verkürzen. Der beige, fast weiß wirkende Trabbi blieb bewegungslos. Der Wagen tuckerte und schnaufte nur seinen unruhigen Trabanten-Atem vor sich hin. Als einzige Licht-  und Geräuschquelle in der Umgebung.

 

Pauls Beine waren kalt und schwer, als er sich dem Trabant langsam näherte. Der Junge hatte nicht mehr die Kraft um sich zu beeilen. Nicht einmal mit der nahenden Rettung vor seinen Augen. Er fühlte sich unendlich müde. Hätte dieser oder ein anderer Fahrer nicht angehalten, wäre Paul sicherlich früher oder später erschöpft und halb erfroren in den Straßengraben gefallen. Um nie wieder aufzustehen. Der Fahrer beobachtete Paul mit wachsamen Blick über seinen Rückspiegel. Beim beigen Trabanten angekommen schafften es Pauls mit seinen von der Kälte steifen Finger nicht die Autotür zu öffnen. Der Mann neigte sich durch sein Gefährt vom Fahrersitz hinüber und entriegelte dem Kleinen seine Tür. Paul stieg nicht sofort ein. Der Mann und der Junge sahen sich an. Der Fahrer schien im Alter von Pauls Vater zu sein, wobei alle Männer für Paul das gleiche Alter wie entweder sein Vater oder sein Großvater hatten. Der Mann, der möglicherweise Mitte 30 war, hatte ein spitzes Gesicht, schwarze Augenbrauen und einen Oberlippenbart in der gleichen Farbe. Auf dem Kopf trug er eine unscheinbare Wintermütze. In dem Trabanten war es gerade so lauwarm. Für den durchgefrorenen Paul fühlte es sich jedoch so an, als herrschten dort hochsommerliche Temperaturen. Der Mann wirkte müde. Sehr, sehr müde. „Na komm schon rein“, nickte er dem Jungen zu. „Die ganze Wärme zieht doch raus.“ Die Stimme des Autofahrers wirkte gefestigt, fast roh. Dabei nicht unsympathisch. Paul kletterte in das Auto und zog die Tür zu. Einmal. Zweimal. Dann schloss sie. Er spürte, wie der Mann ihm dabei von oben herab zusah. Paul ließ seinen Blick erschöpft im Fußraum des Trabanten hängen. Er fand dort eine leere Limonaden-Flasche, die während der Fahrt sicherlich herumgerollt war. Paul war zu kalt um Angst zu verspüren, und doch… Hatte man ihm nicht immer gesagt, niemals in das Auto eines Fremden zu steigen? Dann kam die Frage, die kommen musste. Und doch war Paul ein wenig erleichtert darüber, als der Mann sie stellte: „Wo sind denn deine Eltern?“

 

Paul hatte mit dieser Frage gerechnet. Schließlich handelte es sich dabei um genau jenes große Nichts, welches ihn selbst umtrieb. Ein kurzer Impuls aus seinen Eingeweiden, ein schmerzhafter Krampf hätte Paul fast wieder die Tränen in sein unterkühltes Gesicht getrieben. Er war nur inzwischen viel zu erschöpft und zu müde um zu weinen. Er wollte nicht mehr. Es hatte ihm bisher auch nichts geholfen.

 

„Die… Die haben mich… ausgesetzt.“

„Vergessen?“

 

Paul nahm seinen Blick nicht von dem spartanischen Fußraum des warm knatternden Trabbis. In der Flasche war wohl Limonade gewesen. „Ich sollte mir einen Mehlsack über den Kopf ziehen. Dann haben sie mich stehen lassen.“

 

Der Mann pfiff durch seine Zähne. „Harte Suppe, Kleiner… Das tut mir… Das tut mir wirklich sehr leid. Ich hab noch nie… In meinem ganzen Leben… Tut mir leid…“ Der Mann wirkte im gleichen Ausmaß überrascht wie ehrlich betroffen. Paul fühlte einen heißen, spitzen Stich in seinem Herzen. Auch dieser Mann fand es nicht normal, sein Kind einfach so im Wald zu lassen. Womöglich würde er sich gleich danach erkundigen, was Paul angestellt hatte, um diese Strafe zu verdienen. Doch der Fahrer fragte ihn nicht danach.

 

Da saßen sie nun. Zwei Fremde in einem Wagen. Irgendwo im Nirgendwo Ostdeutschlands.

„Wie heißt du, Kleiner?“

Paul schossen die letzten Worte durch seinen Kopf, die sein Vater an ihn gerichtet hatte.

„Ich… Ich soll nicht…“ Nun sah Paul den Mann zum ersten Mal an. Er wirkte sehr groß auf den Jungen. Etwas plump. Unbeholfen. Und dadurch irgendwie freundlich.

Der Mann schüttelte den Kopf: „Jetzt sei mal nicht albern hier.“

„Mirko“, Paul sagte die Wahrheit. „Mein Name ist Mirko.“

„Und dein Nachname?“

Paul schüttelte nur traurig den Kopf.

„Na. Soweit sollte es bis hierhin reichen.“ Der Mann setzte einen aufmunternden Ton auf.

„Danke, dass Sie angehalten haben.“ Paul meinte es ehrlich. Seine Stimme wollte nur nicht so klingen.

Der Mann seufzte und setzte ein merkwürdiges, ihm womöglich typisches, gezwungenes Lächeln auf. Es wirkte ein wenig zu schief. Etwas zu verkrampft, als dass man es als „natürlich“ bezeichnen konnte. „Wenn man schon kein ganzes Land retten kann, dann vielleicht wenigstens einen kleinen Jungen…“ Paul hatte keine Ahnung, was der Mann mit der Mütze ihm damit sagen wollte. „Also gut. Mirko. Ich nehme dich jetzt mal mit zu mir nach Hause. Da ist dir eine schlimme Sache passiert. Das sind die Zeichen der neuen Zeit. Früher hätte es so etwas nicht… Obwohl… Wer weiß. Auf jeden Fall geht’s jetzt mal zu meiner Wenigkeit.“ Der Mann legte den Gang des Trabanten ein und gab Gas. „Die Vopos sind in diesen Tagen eh total überfordert. Oder besoffen. Oder Beides. Anschnallen wäre gut.“

 

So fuhren die Beiden durch die Nacht. Paul, der in einem früheren Leben „Mirko“ hieß. Und der Mann, der seinen Namen nicht genannt hatte. Nach und nach kehrte in Pauls Körper das Leben wieder zurück. Die Wärme tat ihm gut. Mit jeder verstrichenen Minute fühlte Paul sich wohler. Doch mit der der Wärme kam auch die Müdigkeit.

 

„Das mit dem Sack“, fuhr der Mann nach ein paar Minuten fort. „Das ist schon eine sehr harte Geschichte. Aber weißt du, Mirko. Ich glaube, das haben deine Eltern nur zum Schutz gemacht. Um dich zu schützen. Vor allem aber, na ja, um sich selbst zu schützen. Das ist schon schlimm. Das sind die Vorboten von ganz üblen Tagen, die auf uns zukommen. Noch feiern und schreien sie im ganzen Land. Aber wart mal ab! Die Bilder im Fernsehen hast du gesehen? Weißt du was am Donnerstag passiert ist?“ Paul nickte. Dann blickte er auf den Rücksitz des Trabanten. Dort hatte er währenddessen ein in eine Decke eingewickeltes Bündel entdeckt. Das Bündel war flach und groß. Breit genug um den gesamten Rücksitz einzunehmen.

 

„Was ist denn da drin?“ Paul fragte weniger aus Neugier. Eigentlich versuchte er sich durch die Frage ein wenig länger wachzuhalten. Er mochte den Mann irgendwie. Doch einschlafen wollte er lieber nicht. Er wollte wach sein und aufpassen. Sehen, wohin es ging.

 

„Ach… Ach nichts. Das habe ich so `nem Prahlhans abgenommen. Das hat der mir geschuldet.“ Wieder zeigte er dieses schiefe Lächeln. Paul nickte nur. Wie auch immer.

 

Der Junge hatte keine Angst vor dem Mann, auch wenn Pauls Eltern und seine Erzieher ihm immer wieder eingetrichtert hatten, Fremden nicht vorbehaltlos zu vertrauen. Man durfte sich nicht in Sicherheit darüber wähnen, dass die „Deutsche Demokratische Republik“ ein Land ohne Mord und Verbrechen war. Schließlich konnte einer immer der Erste sein. „Verbrecher“ oder sogar „Mörder“ gab es ausschließlich im verwahrlosten Westen. Und was wäre, wenn einer von diesen verbrecherischen Westlern in die DDR käme? Wenn es überhaupt eine Form des Verbrechens in der „Deutschen Demokratischen Republik“ gab, dann höchstens im Fernsehen. Dort bekam man jedoch exemplarisch vorgeführt, dass sich Verbrechen niemals auszahlten, da man jeden Übeltäter ohnehin bald schnappen und in eine Haftanstalt sperren würde. Dennoch sollten die Kinder auf sich Acht geben und keine unnötigen Gefahren eingehen. Auch wenn nichts geschehen konnte. „Vergesst das nicht!“ hatten ihre Erzieher sie unablässig ermahnt. Paul war zu jung um den Widerspruch zu verstehen. Einen Widerspruch, wie ein kreatives System der Wahrheit, das sich nicht nur durch den sogenannten Sozialistischen Idealstaat zog. Sondern ebenso auf die eine oder andere Weise auch durch jedes andere System auf diesem Planeten. Denn was „wahr und richtig“ ist, bestimmten schon immer „die da oben“. Nein. Paul hatte keine Angst vor dem Mann mit seinem beigen Trabbi, auch wenn er ein Fremder war. Schließlich hatte Paul seinen Eltern vertraut. Und nun sah man, wohin ihn das gebracht hatte. Das Leben begann Paul Unterricht zu erteilen.

 

Es war kein übermäßig weiter Weg bis zu der Wohnung des Mannes, in einem Wohnkomplex eines Plattenbaus gelegen, die dem Heimatort seiner Eltern sehr ähnelte. Der Trabbi wurde geparkt und einen Augenblick lang hätte ein unbeteiligter Beobachter sich wundern können, was der Mann nun zuerst aus dem Auto tragen wollte: Das völlig erschöpfte Kind – oder das ominöse Pakte auf dem Rücksitz. Dann stieg der Mann aus, schnappte sich das Kind vom Beifahrersitz und trug es in den ersten Stock. Mit dem Jungen im Arm öffnete er seine Wohnungstür, nachdem er es letztendlich doch noch geschafft hatte, den Schlüssel ungelenk in das Türschloss zu bugsieren. Der Knabe wurde von dem fremden Mann, der gar nicht nach Zigaretten, sondern nach Waschmittel roch, auf das osttypische Standardsofa gelegt. Die Schuhe wurden Paul ausgezogen. Dann schlief der Junge ein, noch bevor der Mann ihn zudecken konnte.

 

Als Paul am nächsten Morgen erwachte, saß der Mann auf einem Stuhl neben ihm. Zweifellos hatte ihn der Fremde die letzte Zeit beim Schlafen beobachtet. Paul schrak beunruhigt auf. Dann ließ er sich wieder in das durchgesessene Kanapee sinken. Die Wohnung als karg zu beschreiben wäre eine Untertreibung. Hätte das Kind den Vergleich gekannt, hätte es die Wohnung des Mannes als „Modell-Planwirtschaftshaushalt“ bezeichnet. Davon abgesehen, dass es dort keinen einzigen Gegenstand aus dem Westen zu geben schien, fanden sich nicht einmal persönliche Dinge in der Wohnung. Würde man den Mann, der Paul am Straßenrand aufgelesen hatte, anhand seiner Inneneinrichtung beschreiben müssen, wäre er ein Mann ohne Eigenschaften. Einzig das schmucklose evangelikale Kreuz über der Eingangstür erinnerte an so etwas wie einen persönlichen Geschmack oder Eigenart. Einem unbedachten Besucher aus dem Westen wäre das Kreuz nur wie ein weiteres Accessoire in Erinnerung geblieben, das die Modellbaueinrichtung vervollständigte. Kein einziges Foto von Verwandten, Lebensabschnittspartnern oder ihm selbst war zu sehen. Nicht einmal einen Röhrenfernseher gab es. Nur ein mitleiderregendes Radiogerät mit speckigem Kassettenfach stand bei der Küchenzeile. Ein Schallplattenspieler wie der von Pauls Mutter existierte hier nicht. Somit gab es an diesem Ort auch keine Schallplattenhüllen mit lustigen Covern, die Paul zu Hause so bewundert hatte. Nutz- und lieblos gab es da zwar noch ein Bücherregal, doch dieses war vor allem mit Leere gefüllt und gehörte einmal dringend abgestaubt.

 

„Guten Morgen“, lächelte der Mann ihn aufrichtig nett an.

„Guten Morgen“, Paul lächelte unsicher zurück. Es tat gut in der Wärme der Bettdecke zu liegen, die allem Anschein nach die Bettdecke des Mannes war. Die Decke mit dem Blumenmuster war so groß, dass sie von dem Kanapee auf den Boden reichte. Sie roch ein wenig merkwürdig. Ohne Zweifel war dies der Eigengeruch des Mannes. Hinter dem Mann war eine große Fensterscheibe mit den gleichen Gardinen wie zu Hause. Durch das Fenster konnte Paul einen weiteren osttypischen Plattenbau erspähen. Dabei stach nichts aus der Wirklichkeit hervor, die Paul sein ganzes Leben lang gekannt hatte. Hätte sich der Junge selbst quälen wollen, wäre die Vorstellung, dass sein Zuhause samt Eltern und Großeltern im Wohnhaus gegenüber sei, nicht abwegig gewesen.

 

„Willst du Tee? Ich habe Kekse“, zu seinen Worten deutete der Mann auf den Beistelltisch vor Paul. Dort befand sich ein leicht beschädigter Teller, von dem ein kleines Stückchen Porzellan fehlte. Auf dem Teller war ein kleiner Haufen Kekse aufgebaut. Die Packung lag daneben.

 

„Ja, danke“, antwortete Paul schüchtern, worauf der Mann aufstand und den Tee aus der Küchenzeile holte. Der Tee war natürlich der gleiche Früchtetee, den Paul von zu Hause kannte. Und auch wenn die trockenen Kekse nichts Besonderes waren, freute sich der Junge sichtlich über die ihm ebenfalls bekannten „Wikana Kekse“, die der Mann ihm angeboten hatte. Wie so oft in der DDR, war alles wie immer.

 

„Ich war eine gute Weile… Eine lange Zeit nicht hier… Deshalb kann ich dir nicht mehr anbieten als die Kekse und den Tee… Wir waren…“ Der Mann dachte nach. Verwarf dann seinen Gedankengang und fuhr fort. „Also Mirko. Ich weiß. Es ist schwierig. Doch wir müssen darüber reden, wie es weitergeht.“ Paul aß mit großem Enthusiasmus. Auf diesen Satz hin hörte er damit auf und saß nun wieder schweigsam in die Decke auf dem fremden und doch so vertrauten Kanapee gehüllt. Wie in der Nacht sah Paul den Mann nicht an, sondern auf den leergegessenen Teller. „Ich hab` viel nachgedacht.“ Der Mann machte eine Pause und sah hilflos in seiner Wohnung herum. „Weißt du. Es ist viel passiert. Nicht nur bei dir. Auch in diesem Land… Und bei mir. Also… Bei uns allen… Ach… Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin der Ronny.“ Der Mann streckte Paul seine große Männerhand entgegen. „Mirko“, flüsterte Paul kaum hörbar. „Ich weiß“, lächelte Ronny schief wie in der Nacht zuvor, nachdem sich die große und die kleine Hand berührt hatten.

 

Durch seinen Oberlippenbart lächelte der Ronny irgendwie doppelt. Einmal mit den Lippen. Und einmal mit dem Bart. Der Ronny, der schien ein netter Typ zu sein. Wie er da aus seiner ebenfalls wie Pauls Teller leicht ramponierten Kaffeetasse trank.

 

„Weißt du, Mirko. Es ist verrückt. Du kannst dir gar nicht vorstellen was ich die letzten Wochen alles erlebt habe. Was ich durchmachen musste… So viel Schei… Entschuldige. Und plötzlich steht so ein kleiner Junge mitten im Nirgendwo… Als wäre das ein Zeichen… Ich weiß. ZEICHEN. Verrückt, nicht? Und doch… Ich weiß nicht ganz, was ich mit dir machen soll. Aber die Geschichte von deinen Eltern… Du hast ja jetzt noch Mehl in den Haaren. Das ist echt furchtbar. Ganz ehrlich. Das ist komplette Scheiße. Du scheinst ein netter Junge zu sein, oder? (Paul nickte) Und deine Eltern sind total kaputt… Ich meine. Die sind total wahnsinnig. Man lässt sein Kind nicht zurück. Und dann erst recht nicht da. Also dass… Ich weiß nicht.“ Ronny gestikulierte sehr viel beim Reden, sprang regelrecht auf dem Stuhl hin und her. Paul gefiel das. Auch wenn er nicht wirklich begriff, was der Mann ihm eigentlich sagen wollte. „Da habe ich mir also überlegt, was es bringen würde, deine Eltern zu suchen. Und. Ich weiß… Das ist jetzt sehr hart, wenn man es so ausspricht. Aber deine Mutti und dein Vati, die wollen dich nicht mehr. Was da kaputt ist, zwischen denen und dir. Das wird nicht mehr gut… Die hätten ja auch einfach zurückkommen können… Hast du andere Verwandte?“ Paul schwieg. Zu Pauls eigener Verwunderung drängte sich ihm kein Schmerz über Ronnys Worte auf. Er wusste das ja auch selbst. Er hatte es auf die härteste Art und Weise gelernt. Er blickte nur weiter auf den leeren Porzellanteller. Ganz ohne „Wikana Kekse“. „Und was würde es nützen, wenn ich dich zu den Vopos bringen würde? Die Bullen stecken dich irgendwo in ein Heim. Und ich meine. Na ja. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm in so einem Heim. Wer weiß. Der Staat mag zwar gemein gewesen sein, auf seine Art. Aber um die Kinder hat er sich dann doch immer gekümmert. Trotzdem. Weil. Es ist verrückt. Und das kann irgendwie kein Zufall sein. Du und ich. Mitten in der Nacht. Und ich komme direkt aus Berlin. Ich bin seit Wochen nicht zu Hause gewesen. Weißt du?“ Paul sah Ronny an. Der Junge wusste gar nichts. Dafür redete Ronny einfach weiter: „Deshalb habe ich auch nur die Kekse da. Tut mir leid. Mehr war nicht da.“

 

„Ich mag die Kekse, danke.“ Paul versuchte Ronny irgendwie seine Dankbarkeit zu zeigen. Am liebsten hätte er Ronny in die Arme genommen, so wie er es früher immer getan hatte, wenn er sich für etwas bedanken wollte. Es fühlte sich nur nicht richtig an, dies mit diesem geradezu neuen Mann zu tun.

 

„Nein“, Ronny machte eine Abwehrbewegung mit der Hand. „Es geht nicht um die Kekse. Es geht darum, dass ich glaube, dass du bei mir bleiben sollst. Wenigstens die nächste Zeit. Kein Kinderheim. Keine anderen Leute. Nur du und ich. Es gibt ohnehin… Gründe… Warum ich nicht lange hierbleiben will. Und ich will mich jetzt auch nicht mit den Vopos oder irgendwelchen Behörden auseinandersetzen… Weißt du? Also? Willst du bei mir bleiben?“ Paul sah den Mann ratlos an. Paul wusste, wer die „Vopos“ waren. Die Volkspolizei. Bis zu diesem Augenblick waren die „Vopos“ für Paul Helden gewesen. Die tapferen und verlässlichen Polizisten, die den Verbrechern ihre Grenzen aufzeigten. Nun selbst zu der Polizei zu gehen um nach deren Hilfe zu fragen, erfüllte Paul auf einmal mit einem unguten Gefühl. Er wollte nicht noch mehr fremde Leute um sich haben. Er war erschöpft und brauchte nur noch seine Ruhe. Seinen Frieden. Paul hätte nie gedacht, dass er einmal sein Kinderzimmer mit dem blutigen Teppich so sehr vermissen würde. Es gab noch eine andere Möglichkeit. Er könnte dem netten Mann von seinen Großeltern erzählen. Denn ganz gleich, wohin seine Eltern auch gegangen sein mochten; da waren immer noch Omi und Opi. Oder? Und was wäre, wenn sie ihn auch nicht bei sich haben wollten? Wäre er dann nicht ganz alleine auf der Welt? Hatte der Großvater denn nicht gesagt, dass es Paul ohnehin zu gut gehen würde?

 

„Aber… Aber wer sind Sie denn?“ fragte der Knabe schüchtern und kleinlaut. Worauf der Mann zu Lachen begann: „Ich bin der Ronny. Das sagte ich doch schon. Also? Bist du dabei?“ Paul zuckte mit den Schultern: „Wieso nicht?“ Der Mann lachte schnaufend durch seine Nase und fuhr dann mit einer väterlichen Stimme fort: „Hast ja sonst nicht so viele Optionen, hm? Pass auf. Wir probieren das jetzt einfach mal miteinander. Machen zusammen einen kleinen Urlaub. Und dann sehen wir mal.“

 

Paul nickte. Er konnte nicht einmal im Ansatz erahnen, dass er gerade die beste und gleichzeitig schlechteste Entscheidung in seinem Leben getroffen hatte.

„Gut“, Ronny klatschte in seine Hände. „Wenn jemand fragt, dann bis du der Sohn meiner Schwester.“

Paul nickte abermals. Ein Gefühl der Hoffnung stieg in ihm auf. Vielleicht würde sein Leben doch noch zu einem Abenteuer. Er begriff in diesem Augenblick nicht, dass er seine Eltern wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würde. Paul dachte, dass dieser Mann, dieser Ronny seine beste Option wäre. Denn auch wenn Paul nichts über Ronny wusste, so war ihm bewusst, dass Ronny im Moment die einzige Person auf der ganzen Welt war, die ihn bei sich haben wollte. Warum auch immer dieser Ronny so nett zu ihm war. Paul würde ihn nicht enttäuschen. Er würde alles dafür tun, nicht die gleichen Fehler zu machen, die am Ende seine Eltern dazu gezwungen hatten, ihn in dunkler Nacht zu verlassen.

 

„Also, wer bist du?“ Euphorisch ballte Ronny seine Faust. Als würde er dem Schicksal ein Zeichen geben, sich vor ihnen in Acht zu nehmen.

„Der Sohn Ihrer Schwester.“

„Du musst mich DU nennen, Mirko, sonst funktioniert das nicht…“

„Und wie heiße ich?“

„Öh. Na ja. Mirko, oder?“

„Kann ich keinen anderen Namen haben?“

„Einen anderer Namen? Puh… Den musst du dir dann aber auch merken…“

Paul nickte wie wild. Ein anderer Name. Das war nun wirklich ein Abenteuer! Ein neuer Name. Ein neues Leben.

 

Der Mann legte seinen Kopf schief auf seine rechte Seite und sah das spärlich gefüllte Bücherregal an der Wand an. Scheinbar ging sein Blick durch die Wand hindurch, als er überlegte und nach einem passenden Namen forschte. Dann blickte er Paul gespielt grübelnd an. Er wirkte auf Paul wie ein Spitzbub. „Ich schätzeeee“, meinte Ronny zu dem Jungen. „Du siehst aus wie ein Paul…“
„Paul? Das ist doch langweilig…“

 

„Es darf nicht zu auffällig sein, Paul“, Ronny zwinkerte ihn an. „Außerdem ist dein ganzer Name Paul Fleming.“

„Paul Fleming… Hm… Das ist ganz gut. Woher hast du den Namen?“ „Chingachgook“ oder „Harmonika“ hätten ihm besser gefallen; „Harmonika“ war der Name eines Cowboys aus einem Film, den er kannte. „Fleming“ besaß jedoch auch einen besonderen Klang.

 

Ronny zeigte, als er sich von dem Sessel erhob, auf das Bücherregal: „Das ist der Name eines Dichters. Mein Großvater hat mir ein Buch von ihm vererbt. Ist schon ewig alt. Hab`s nie ganz gelesen.“ Paul wandte sich zu dem Regal um. Er konnte das Buch nicht erkennen, auf dem sein neuer Name stand. Zwar konnte er ein wenig lesen, doch diese merkwürdige altdeutsche Schrift konnte er nicht entziffern. Dabei spielte es keine wirkliche Rolle: „Paul Fleming ist gut.“
„Vielleicht ein wenig zu auffällig“, überlegte Ronny, als er seine Tasse in die Spüle stellte. „Aber was soll´s?“

 

Die Beiden lächelten sich unsicher in Ronnys Ost-Modellbauwohnung an. Und wäre Paul am nächsten Tag nicht 8, sondern 18 Jahre alt geworden, hätte er den Elefanten im Raum geradeheraus angesprochen: War dieser Plan denn nicht einfach nur totaler Irrsinn? Wohin sollte das führen? Was blieb ihnen denn für eine Zukunft? Doch keiner von Beiden, weder der Mann, der es besser wissen musste, noch der Junge, der höchstwahrscheinlich zu seinen ungeliebten Großeltern zurückkehren konnte, verlor über das Ganze noch ein weiteres Wort. Es war beschlossen. Also wusch Pauls neuer Freund Ronny noch schnell das ohnehin kaum gebrauchte Geschirr ab und steckte Paul solange in die Badewanne. Es würde kalt werden. Einmal mehr. Sie mussten bereit sein.

Kapitel 3

 

Wer seine Kindheit und Jugend in der „Deutschen Demokratischen Republik“ verbrachte, besuchte zwangsläufig eines der verschieden Wehr- oder Freizeitlager. Die Betriebsferienlager waren den Kindern vorbehalten. Die Wehrlager dagegen den Jugendlichen. Für alle männlichen Schüler, die die neunte Klasse besuchten, wurden zweiwöchige Wehrlager abgehalten. In diesen durchliefen die Heranwachsenden eine Ausbildung, in der sie zum Beispiel die Orientierung im Gelände, Übungen mit Gasmasken, Ausdauerläufe, bis hin zu Training mit Waffen wie das Hantieren mit Handgranaten sowie das Schießen mit Luft- oder Kleinkaliber-Maschinenpistolen erlernten. Wie echte Soldaten trugen die Schüler dabei eine Uniform. Die gleichaltrigen Mädchen mussten zur selben Zeit statt dem Dienst an der Waffe einen Lehrgang für Zivilverteidigung besuchen. In diesem wurden sie vornehmlich in „Erste Hilfe“- und Evakuierungsmaßnahmen geschult. Zudem wurden während der jährlichen Schulsommerferien für die „Pioniere“ und „FDJler“ zusätzlich „zentrale Pionierlager“ abgehalten. Ein Besuch in diesen besonderen Lagern galt als Auszeichnung für gute schulische und/oder gesellschaftliche Leistungen. Weiterhin existierten in der DDR noch diverse Ausbildungszentren des „Ministeriums für Staatsicherheit“ und der „Nationalen Volksarmee“, die zur echten militärischen Schulung dienten. Diese Zentren schlossen sogar Kämpfer aus anderen Ländern mit ein, wie z.B. Widerstandskämpfer aus Südafrika, die in den deutschen Wäldern einer militärischen Ausbildung unterzogen wurden.

 

Betriebsferienlager dagegen legten ihren Fokus auf die Jüngsten der Gesellschaft. Diese Ferienlager wurden von Betrieben, Einrichtungen und Genossenschaften abgehalten. Sie waren für die Kinder der Betriebsmitarbeiter vorbehalten und wurden im Normalfall in einem Zeitraum von zwei bis drei Wochen durchgeführt. Da es im Sozialstaat DDR offiziell keine Arbeitslosen gab, war es nur natürlich, dass jedes Kind einen „arbeitenden“ Elternteil besaß, wodurch automatisch alle Kinder Ferien in einem der bis zu 5000 über das Land verteilten Betriebsferienlager verbrachten. In diesen Freizeitlagern ging es weit weniger militärisch oder formell zu, als in den Wehrlagern für Ältere. In den Kinder-Ferienlagern wurde zwar eine Erziehung der Kinder zu sozialistischen Persönlichkeiten angestrebt, jedoch stand dort weit mehr die Betreuung und Unterhaltung der Kinder im Vordergrund. Der tägliche Fokus lag auf Freizeitaktivitäten wie gemeinsamen Spielen, Wandern oder sportlichen Aktivitäten. Einem fortgeschrittenen Alter angepasst, wurden sogar Nachtwanderungen und darüber hinaus Disko-Abende abgehalten. Zudem existierte weiterhin ein jahrzehntewährender Ferienaustausch zwischen der BRD und der DDR, durch den Kinder aus dem Westen Ferienlager im Osten besuchten. In der BRD gab es keine vergleichbaren professionell organisierten Strukturen der Kinder- und Jugendbetreuung. Für viele Kinder im Sozialismus waren diese Ferienlager mehr als nur eine willkommene Abwechslung. Ihnen bot sich die Möglichkeit, endlich einmal fernab der Eltern zu sein, in einem auf ihre Altersgruppe angepassten Rahmen. Alles war ein Abenteuer. Und bevor die Ferienlager als simple Kinderveranstaltungen zu langweilig wurden, tauschten nicht wenige Schüler in diesen Wochen ihre ersten Küsse aus.

 

Auch Paul hatte gute Erinnerungen an seine Tage in den sommerlichen Ferienlagern. Er hatte es jedes Mal aufs Neue genossen mit den anderen Kindern zu spielen, Faxen zu machen oder sich an den Wettbewerben zu beteiligen. Er liebte es regelrecht durch den Wald zu marschieren und dabei zusammen mit den anderen zu singen. Mal schlief er mit größeren Gruppen in Bungalows oder in kleinen Einheiten in Zelten. Zelten mochte Paul besonders. Es erinnerte ihn auf eine herrliche Weise an die Abenteuer der Indianer und der Klassenfeinde, der weißen Imperialisten. Beim ersten Ausflug, als ihn die Eltern ins Betriebsferienlager schickten, hatte er sich noch vor der neuen Situation gefürchtet und damit gefremdelt. Als er zwei Wochen später nach dem Lageraufenthalt nach Hause musste, war es keine Frage mehr ob er im nächsten Jahr noch einmal dorthin wollte: Er wollte es unbedingt. Pauls Einschätzung nach hatte er bis zu jenem unsäglichen Tag, dem 9. November 1989, eine behütete Kindheit, in der es ihm an nichts gefehlt hatte. Und plötzlich war all das vorbei. Das Leben, das er kannte, war einfach so, ohne Vorwarnung oder einer leisesten Ankündigung in sich zusammengebrochen. Und all das nur wegen eines alten Mannes, der ein paar Wochen vor dem 9. November auf irgendeinem Balkon in einer fremden Stadt nicht einmal seinen Satz zu Ende sprechen konnte. Selbstverständlich war in Pauls Kindheit in der DDR nicht alles eitel Sonnenschein gewesen. Und doch hatte Paul im Vergleich zu denen, die im Westen aufgewachsen waren, weder das Gefühl etwas verpasst zu haben, noch ungerecht behandelt worden zu sein. Es war seine Kindheit gewesen. Er kannte keine andere. Er war einfach nur ein fröhlicher Bub gewesen, der viel und gerne gelacht hatte. Der, auch wenn er hin und wieder böse Sachen anstellte, seine Taten im ersten Moment immer mit den besten Absichten vollzogen hatte. Paul hatte seine Kindheit in der DDR, ebenso wie seine Eltern, vorbehaltlos geliebt. Von einem Moment auf den anderen hatte sowohl das Eine wie das Andere aufgehört zu existieren. Sein ganzes Leben war mit einem Fingerschnipsen verschwunden. Über Nacht geflüchtet. Zusammengebrochen. Verdunstet. Als wäre ein ganzes Land nach einem mehrere Jahrzehnte dauernden Rauschzustand mit der Überzeugung erwacht, dass alles, wofür es bisher gestanden hatte, ein Fehler war. Als müsste man sich plötzlich für das schämen, was einem noch vor ein paar Tagen oder Wochen lieb und teuer erschien. Dabei war weiß Gott nicht alles schlecht gewesen. Natürlich hatte es hin und wieder einmal Schläge gegeben, wenn Paul oder der Rest des Landes aus der vorgegebenen Norm fielen. Unternahm man etwas, das dieser merkwürdig fremden erzieherischen Instanz zu egoistisch oder zu frech war, musste man mit den Konsequenzen rechnen. Doch möglicherweise hatte es diese Form der Kontrolle benötigt, um die öffentliche Ordnung am Leben zu halten. Schließlich konnte ja nicht jeder einfach machen was er wollte. Das wusste selbst Paul. Und wer konnte schon sagen, was nun auf sie zukommen sollte. Welchen Weg das „befreite“ Land einschlagen würde; Ronny erzählte auf der Fahrt viel davon, was er vermutete, was nun mit dem staatlichen Sozialismus geschehen würde. Noch mehr erzählte Pauls neuer Freund davon, wovon sich die Ostdeutschen nun in Acht nehmen müssten. Der Westen sei voller Gefahren.

 

Kurz nachdem er seinen beigen Trabanten in Marsch gesetzt hatte, weihte er Paul in seinen Plan ein, über den Winter in ein Ferienlager zu fahren. Paul sei doch bestimmt schon einmal in einem gewesen. Paul freute sich in dem Moment sogar darauf. Natürlich! In ein Ferienlager! Dort würden Paul und Ronny ihre Sorgen schnell vergessen. Dieser Ort war in Pauls Erinnerung so sehr mit positiver Energie aufgeladen, dass er direkt euphorisch wurde. Doch schon ein paar Minuten später stahl sich der Gedanke in Pauls Bewusstsein, dass er lieber eine einzige Stunde in den Armen seiner Mutter verbringen würde, als eine Woche im besten Kinderferienlager der Welt. Er vermisste seine Eltern, ganz besonders seine liebe Mutti, tausendmal mehr, als er sich auf das Ferienlager freuen konnte. Dennoch bemühte er sich aus Leibeskräften, positiv in die Zukunft zu blicken. Dabei passte es trotz aller forcierten Vorfreude nicht in Pauls Denkweise, dass Ferienlager im Winter überhaupt existieren. Ein Ferienlager im Winter? Das klang verrückt. Kein einziges Mal war er in der Winterzeit in einem dieser Lager gewesen. Er hatte nicht einmal daran gedacht. Sein junger im Jetzt verorteter Verstand hatte sich nie die Mühe gemacht, sich mit dem Gedanken zu beschäftigen, was mit solchen Orten geschieht, wenn sie nicht benutzt wurden. Ein Abenteuer blieb es für Paul allemal. Nur Ronny und er durften in das Lager. Alle anderen Kinder mussten zu Hause bleiben. Das war doch schon einmal etwas!

 

„Ein Kumpel von mir kümmert sich um die Anlage und er hat gesagt, dass wir den Winter bleiben können. Na ja. Ein bisschen Geld ist auch im Spiel. Und wir sollen das Gelände in Stand halten. Also nichts kaputtmachen. Im Haupthaus soll es eine Heizung geben, in den Bungalows nicht“, erklärte Ronny, als er den Trabanten mit seinem 2 Takt-Motor und den 26 PS gefühlt im Schritttempo durch einen weiteren Waldabschnitt steuerte. Anhöhen hinauf und wieder hinab. Sie fuhren weder durch eine Vielzahl von Ortschaften, noch sahen sie viele Straßenschilder an den Kreuzungen.

 

Vorrausschauend wie Ronny war, hatten sie vor der Reise vollgetankt und eingekauft. Hier, nun wirklich im Nirgendwo unterwegs, schauderte es Paul bei der Vorstellung, in dieser Umgebung mit dem Auto liegen zu bleiben.

 

„Schon wieder ein Wald…“ Paul gab sich schmallippig. Die vergangene Nacht unter freiem Himmel lag wie eine eiskalte Erinnerung auf seinem Herzen. Ronny seufzte laut. „Ich räume ein, für dich wäre ein Platz an der Ostsee… Ach was rede ich, die Grenzen sind ja auf… Für dich wären viele andere Orte jetzt besser als ein Haus im Wald. Für uns aber“, Ronny hob den rechten Zeigefinger samt geballter Faust von dem Lenkrad und wirkte damit auf Paul wie eine lustige Karikatur eines Studienrats, „ist es der beste Ort überhaupt! Wald ist spitze! Und wenn wir wo unsere Ruhe haben werden. Dann da. Ist eh nur ein paar Kilometer bis in den nächsten Ort. Das ist ideal. Außerdem, ich weiß nicht ob dir das aufgefallen ist, haben wir bisher einen extrem milden Winter. Das spielt uns in die Karten. Selbst bei der NVA war ich gerne draußen. Das wird ein Spaß!“

„Ich wäre fast erfroren.“

„Na ja. Vielleicht sollte man als Kind trotz mildem Winter nicht die ganze Nacht draußen sein. Außerdem“, Ronny legte beruhigend seine Hand auf die von Paul, „So was kommt ja jetzt nicht mehr vor.“

 

Der Ronny nahm die kleine Hand von Paul in die seine und drückte sie ein wenig zu fest. Da war auch wieder dieses schwer zu deutende Lächeln, das gleiche Lächeln, das Ronny Paul gezeigt hatte, als Paul in seinen Trabant gestiegen war. Irgendwie war Ronny ein lustiger Kerl. Seine Augenbrauen tanzten jedes Mal aufs Neue, wenn er ins Erzählen kam. Nur lächeln konnte Ronny nicht so gut. 

 

„Ich hab` dich sehr gerne.“ Aufmunternd, wenn auch ein wenig zu gezwungen lächelte Paul seinen neuen Freund an. Ronny zuckte übermäßig erschrocken zusammen, als hätte ihm Paul gerade nicht seine Zuneigung gestanden, sondern als hätte Ronny selbst in diesem Moment ein unvermittelt aufgetauchtes Kaninchen überfahren. Überrascht von Pauls Geständnis, ließ er die Hand des Jungen frei. Nur um sie danach einem überspannten Impuls folgend mehr tröstend als einwilligend zu tätscheln. Als wollte er damit sagen: „Ist schon gut. Das wird schon wieder.“ Paul hatte sich diesen Satz nicht vorausschauend zurechtgelegt. Die Worte waren einfach so aus ihm herausgestolpert.  Eine einfache Kinderwahrheit, für die keine langen Überlegungen benötigt wurden. Ronny hatte ihn aus dem kalten, dunklen Wald gerettet und kümmerte sich nun um ihn; wie hätte der Junge ihn nicht gernhaben können? Es war ganz einfach. Für Pauls Verständnis war Ronny ein Held. Ein echter Held. Der ohne Rücksicht auf sich selbst und die damit verbundenen Konsequenzen das Richtige getan hatte. Er hatte den Jungen gerettet. Vielleicht sogar vor dem Tod. Dabei war Paul kein normales Kind. Paul war das Kind, das nicht einmal von seinen eigenen Eltern gewollt wurde. Wie lange würde Ronny brauchen, um ihn zu durchschauen? Wann würde Ronny ihm das Gleiche antun, was seine eigenen Eltern ihm angetan hatten? Nein. Paul hatte keine Angst vor Ronny und seinen möglichen Absichten. Er musste ihm einfach vertrauen. Musste glauben, dass der Mann ihn nicht aus niederen Gründen in den nächsten Wald entführte. Wie er es auch drehte und wendete: Ronny blieb Pauls beste Option. Paul konnte es sich nicht erlauben, Ronny mit einem (wenn auch angebrachten) Grundmisstrauen zu begegnen. Dabei hatte die jüngere Vergangenheit gezeigt, dass Paul nicht einmal seiner eigenen Mutter hätte vertrauen dürfen. Wie konnte er dann diesem merkwürdigen Typen in seiner Arbeiterkleidung vertrauen, der in einer seelenlosen Wohnung hauste? Die Situation an sich war einfach nur grotesk. Hätte der kleine Junge noch vor einer Woche geahnt, er würde alleine mit einem fremden Mann im Wald leben, dessen Nachnamen er auch jetzt noch nicht gehört hatte, von dem er nicht einmal wusste, ob „Ronny“ sein echter Name war, wäre Paul vor lauter Panik davongelaufen. Und jetzt war er auch noch drauf und dran, mit diesem fremden Kerl den ganzen Winter in ein abgelegenes Haus in einem fremden Wald zu ziehen. Nein, hätte er das früher gewusst, wäre er sicherlich vor Angst gestorben. Ein dunkler Wald. Ein fremder Mann. Keine Eltern… Was konnte einem Jungen Schlimmeres passieren?

 

Im Nachhinein konnte Paul nicht mehr sagen, ob er seine bisherige Kindheit nicht zu sorglos durchlebt hatte, ob er nicht viel zu naiv an die Sache herangegangen war, oder ob er, auch wenn er es in diesen Stunden im Auto nicht verstand, einfach nur unfassbar verzweifelt war. Es hatte sich etwas in dem kleinen Jungen verändert, der vor einigen Stunden noch wie ein Stück Müll in einem Busch lag. Paul hatte in jenen kalten Stunden, als er ausgestoßen wie in einem grauenvollen Märchen durch den Wald irrte, sich fest dafür entschlossen, weder aufzugeben, noch jemals wieder zu weinen. Seine Entscheidung war ebenso kindlich trotzig wie endgültig. Paul wollte tapfer sein. Er

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 21.03.2022
ISBN: 978-3-7554-0994-6

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