1. Das Gesicht hinter dem Fenster
2. Das Abenteuer beginnt
3. Eingesperrt
4. Regenbogen
5. Detektive
6. Wer war es?
7. Die Nase
8. Lotte, die Mutige
9. So zeichnest du ein unheimliches Fenster
10. So zeichnest du eine glückliche Kuh
11. Ausmalbild Frau Struck
12. Rätselecke
Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll,
dass niemand weiß, wie er ihn meiden soll.
(Johann Wolfgang von Goethe)
Die elfjährige Lotte und die ein Jahr ältere Marie waren Freundinnen, seit sie denken konnten. Sie hatten sich irgendwann in einem der endlosen Sommer auf der Dorfstraße kennengelernt und waren seitdem unzertrennlich. Meistens spielten sie bei Lotte, die im Försterhaus wohnte und mehr Platz hatte. Marie hatte sieben Geschwister und dort ging es immer hoch her. Die Ruhe bei Lotte tat ihr gut und sie brauchte manchmal einfach den Abstand von der lärmenden Bande und ihren nervigen Brüdern, die ihr oft Streiche spielten.
Lotte und Marie liebten ihr Dorf. In den Sommermonaten waren sie immer draußen. Sie ließen Schiffchen fahren auf dem kleinen Bach, spielten Huckekasten auf der Straße oder malten mit Kreidesteinen Bahnen für die Rollschuhe auf. Oft schaukelten sie stundenlang auf dem Holzspielplatz oder bauten sich eine Bude an der Bahnböschung. Sie wussten genau, an welcher Ecke welcher Hund auftauchen würde und sie kannten sie alle mit Namen.
Im Winter fuhren sie Schllitten auf dem Netteberg oder rutschten auf den zugefrorenen Teichen herum. Sie halfen Lottes Vater bei der Wildfütterung und bauten riesige Schneemänner.
Im Herbst sammelten sie Kastanien oder Bucheckern, sie bastelten Laternen und gingen am Martinsabend von Haus zu Haus um zu singen und dafür Bonbons zu bekommen. Marie war einmal allerdings sehr enttäuscht gewesen, als ihr jemand die scharfen Fishermen`s friends in die Tüte geworfen hatte.
"Vielleicht hatten die Leute keine Süßigkeiten mehr!", versuchte Lotte ihre Freundin zu trösten.
Für Lotte gab es nichts Schöneres, als im Sommer die Kühe von Bauer Kroymann abends in den Stall zu treiben und dafür bekamen die Mädchen auch noch ein bisschen Taschengeld.
Die eine oder andere Kuh hatten sie liebgewonnen und ihnen sogar Namen gegeben. Maries Lieblingskuh war Elisa und Lottes Lieblingskuh hieß Hannelore. Die beiden Freundinnen wollten später Tierärztinnen werden und zusammen eine Praxis aufmachen. Aber die Zukunft war noch so weit weg, dass sie sich darum noch keine Sorgen machen mussten.
Die beiden Mädchen waren im Dorf überall bekannt und beliebt, weil sie auch sehr viel halfen und die Leute freundlich grüßten.
Der alten Frau Struck trugen sie oft die schwere Einkaufstasche nach Hause. Auch wenn sich Lotte früher immer ein bisschen vor ihr gefürchtet hatte, hatte sie inzwischen ihre Angst verloren und besuchte sie sogar manchmal am Sonntagnachmittag, um ein wenig mit ihr zu plaudern.
Bei Frau Struck war immer Halloween. Ihr Haus war von geschnitzten Kürbissen umgeben und in den Fenstern hingen Papierskelette, die sie in stürmischen Winterabenden ausschnitt und in mühevoller Kleinarbeit zusammenfädelte.
Die Alte hatte wundersame Eigenschaften. Sie konnte wilde Tiere zähmen und bei Vollmond Warzen wegzaubern. Frau Struck betonte aber dabei immer, dass sie das nur konnte, wenn man wirklich daran glaubte.
Die alte Frau Struck hatte immer eine aufregende Geschichte parat und untermalte diese gerne mit vergilbten Bildern, die sie stapelweise in ihrer muffigen Schublade aufbewahrte.
"Hier ist mein ganzes Leben drin!", hatte sie Lotte einmal erklärt.
Da die alte Frau alle Geheimnisse des Dorfes kannte, wusste Lotte bald gut Bescheid über die alten Traditionen und die Schicksalsschläge, die den einen oder anderen Dorfbewohner heimgesucht hatten.
Das Dorfleben war einfach wunderschön und die beiden Freundinnen konnten sich nicht vorstellen, das Dorf jemals zu verlassen.
Als die Mädchen nach einem heißen Sommertag wieder einmal die Kühe von Bauer Kroymann in den Stall trieben, kamen sie wie jeden Abend an der alten Dorfkirche vorbei. Die Glocken läuteten gerade, denn es war bereits sechs Uhr.
Pastor Warges kam ihnen entgegen und winkte fröhlich. "Ich hoffe, ihr kommt morgen in den Gottesdienst!", rief er den Mädchen zu. Marie zuckte zusammen. Morgen wollte sie eigentlich bis zum Mittagessen durchschlafen, wie sie es jeden Sonntag machte.
"Ja, natürlich!", rief Lotte und erntete dafür von Marie einen giftigen Blick.
"Was sollte ich machen? Ich hätte ihm doch nicht sagen können, dass wir lieber ausschlafen wollen, wie hätte das denn ausgesehen?", flüsterte Lotte hilflos.
"Vielleicht gar nichts sagen ...?", schlug Marie vor, doch da war es zu spät, denn Pastor Warges war schon an ihnen vorbei gerannt, weil er eine panische Angst vor Kühen hatte.
Aber alles sollte noch schlimmer kommen.
Plötzlich hörten sie ein platschendes Geräusch.
Was war das? Etwas Warmes spritze an Maries Beinen hoch.
"Oh, nee! Jetzt bin ich auch noch in einen Kuhfladen getreten, nur wegen dem doofen Pastor!", schimpfte sie und besah sich ihr linkes Hosenbein, an dem eine grüne Pampe herunterlief. Lotte unterdrückte ein lautes Lachen, weil sie Marie nicht noch wütender machen wollte.
Eine Kuh scherte plötzlich aus, doch Lotte trieb sie rechtzeitig zurück.
"Ab in den Stall!", rief sie und war froh über die Ablenkung.
Die Sonne ging gerade unter und tauchte das Dorf in ein warmes Orange.
Unzählige Fliegen umschwirrten die Mädchen und der typische Geruch nach Kuh hing in der Luft. Nur das laute Geklapper der Kuhhufe durchbrach die abendliche Stille. Das war es, was Lotte so liebte, alles war so friedlich und so beschützt.
Kurze Zeit später waren alle Kühe im Stall gelandet, der zufriedene Bauer drückte den Mädchen fünf Euro in die Hand und sagte: "Vielen Dank für eure Hilfe, morgen könnt ihr gerne wieder kommen! Ich zähle auf euch!"
"Tschüss Elisa, tschüss Hannelore!", riefen die Mädchen in den Stall. Doch die Lieblingskühe drehten sich nicht einmal um, sondern fraßen gierig das Heu, das ihnen der Bauer hingeworfen hatte.
Die Freundinnen machten sich auf den Rückweg, denn es war schon spät.
"Tut mir leid, das mit deiner Hose!", sagte Lotte schließlich. "Und wegen dem Gottesdienst!", fügte sie schuldbewusst hinzu.
Marie hatte sich zum Glück wieder etwas beruhigt, sie konnte ihrer Freundin nicht lange böse sein.
"Komm, lass uns noch ein Eis kaufen!", sagte sie. Lotte nickte erleichtert. Sie war froh, dass wieder gute Stimmung herrschte.
"Wir nehmen eine Abkürzung!", schlug Marie vor und sprang mit einem Satz auf die kleine Mauer vor der Kirche. Lotte folgte ihr, kam jedoch ins Straucheln und landete unsanft im Gras.
Als sie sich aufrappelte, blieb ihr Blick an dem kleinen schwarzen Fenster in der Kirchenwand hängen.
Schon immer hatte sie Angst vor diesem Fenster gehabt, sie konnte sich nie erklären, warum das eigentlich so war.
Vielleicht hatte die alte Frau Struck ihren Anteil daran, denn sie hatte ihr einmal an einem verregneten Sonntag eine Geschichte dazu erzählt.
"Weißt du Lotte, es gibt da dieses kleine Fenster an der Rückwand der Kirche. Da darfst du nicht reingucken, sonst bekommst du eine lange Nase!"
Lotte war ganz weiß geworden.
"Woher wissen Sie das?", hatte sie die alte Frau Struck gefragt und zitternd ihren Becher abgestellt, so dass der Kakao übergeschwappt war.
"Meine Großmutter hat es mir erzählt und die Großmutter meiner Großmutter hat es ihr erzählt. So wurde die Geschichte von Generation zu Generation weitergegeben", hatte Frau Struck berichtet und dabei einen ganz verklärten Blick bekommen, fast so, als würde sie in weiter Ferne etwas sehen.
Lotte war sehr nachdenklich geworden.
"Hat denn jemand eine lange Nase bekommen? Und wie ist das überhaupt möglich?", hatte sie nachgefragt.
"Oh, Lotte! Es ist viel mehr möglich, als du dir vorstellen kannst!", hatte die alte Frau gelacht und ihr dabei mit ihren knochigen Fingern die Hand getätschelt.
"Und ja, meine Großmutter hatte eine übernatürlich große Nase. Sie wollte den Fensterspuk einfach nicht glauben und hat eines Nachts tatsächlich dort hineingeguckt. Und als sie am nächsten Morgen in den Spiegel sah, ist sie vor Schreck umgefallen. Hier, schau dir das Bild an!"
Frau Struck war davongehumpelt und hatte aus einer Schublade ein altes vergilbtes Bild herausgeholt. Darauf war eine alte Frau zu sehen, die aussah wie eine Hexe. Die Nase war riesengroß.
"Wurde die Nase nie mehr wieder kleiner?", hatte Lotte wissen wollen. Die Alte hatte nur traurig den Kopf geschüttelt und leise geantwortet:"Nein, sie blieb immer die große Knollnase und diese Geschichte zeigt wieder einmal, dass man eine alte Lebensweisheit ernst nehmen muss und das Schicksal nicht herausfordern sollte! Aber nun geh nach draußen zum Spielen, mein Kind, ich will dir keine Angst machen."
"Aber es muss doch eine Möglichkeit gegeben haben, den Zauber rückgängig zu machen!", hatte Lotte noch einmal gefragt.
"Du bist sehr hartnäckig ... ja, es gab eine Möglichkeit, aber die hat sich die Großmutter meiner Großmutter, die übrigens Emma hieß, nicht getraut!", hatte Frau Struck erklärt. Wieder war ihr Blick ganz glasig gewesen und weit in die Ferne gerichtet.
"Emma hätte um Mitternacht in der Feldmark unter der Brücke den Schleppetebe rufen sollen. Dann wäre der Zauber zurückgegangen. Doch Emma hatte sich dafür entschieden, lieber mit der Nase herumzulaufen, als den Schleppetebe herauszufordern. Sie war eine sehr ängstliche Person, die Emma. Ihren Hermann hat sie ja trotz der Nase kennengelernt, er fand die Nase gar nicht so schlimm. Und um ihr seine Liebe zu beweisen, hatte er freiwillig in das Fenster geschaut und dann auch eine große Nase bekommen. Sie sahen sich dann sogar ein bisschen ähnlich, der Hermann und die Emma.
Ich weiß, dass damals im Dorf viele Leute lange oder dicke Nasen hatten. Manchmal haben die Leute auch aus Versehen in das Fenster geschaut und wussten gar nicht, dass sie deshalb die große Nase hatten.
Viele wussten auch nicht, wie man den Zauber rückgängig macht. Die Bewohner der Nachbardörfer machten sich sogar lustig darüber und es gab deshalb einige Kämpfe. Jetzt aber genug von den alten Geschichten, du bist jung und dir wird so etwas nicht passieren!", hatte Frau Struck gelacht. Doch es war kein echtes Lachen gewesen und hatte sehr aufgesetzt gewirkt.
"Ich hätte den Namen nicht erwähnen sollen!", hatte Frau Struck sich geärgert und war zum Fenster gehumpelt. Sie hatte es aufgerissen und sich hektisch umgesehen.
"Welchen Namen hätten Sie nicht erwähnen dürfen?", hatte Lotte gefragt.
"Na, du weißt schon. Ich kann den Namen wirklich nicht noch einmal nennen!", hatte die Alte geantwortet und das Fenster wieder verschlossen. Dann hatte sie schnell die Gardinen zugezogen und die Außenrollos runtergelassen.
"Den Schleppetebe?", hatte Lotte verängstigt gerufen.
"Sei still! Geh nach Hause, Mädchen. Du fragst zu viel und willst zu viel wissen. Das ist nie gut gegangen! Das ist nie gut gegangen ...!", hatte die alte Frau gemurmelt und Lotte zur Tür geschoben. "Spute dich und lauf nach Hause!"
Lotte hatte tief durchgeatmet und war dann nach Hause gegangen. Sie hatte sehr viel zum Nachdenken.
Sie war an diesem Abend völlig verstört zu Hause ankommen und hatte sich in den Schlaf geweint. Immer und immer wieder hatte sie die Stimme der alten Frau Struck gehört. "Ich hätte seinen Namen nicht nennen dürfen! Ich hätte seinen Namen nicht nennen dürfen!" Dann hatte sie versucht, das schreckliche Fenster und den Spuk so gut es geht zu vergessen. Doch es hatte nicht geklappt.
Die Geschichte war so furchtbar für sie gewesen, dass sie sie noch nicht einmal Marie erzählt hatte.
Und jetzt hatte sie in das geheimnisvolle Fenster gestarrt. Unwillkürlich fasste sie sich sofort an die Nase. Alles schien in Ordnung zu sein.
Doch dann passierte etwas, was sie ihre Nase vergessen ließ.
Aus der Dunkelheit heraus starrten sie zwei Augen an.
"Marie! Ein Geist! Er starrt mich an!", rief Lotte aufgebracht und zog die Freundin mit sich fort.
Marie wusste nicht, wie ihr geschah.
"Was meinst du, Lotte? Wo soll denn hier ein Geist sein? Es ist ja noch nicht einmal Geisterstunde!"
"Hinter dem schwarzen Fenster, ich habe ihn genau gesehen!", schrie Lotte. Sie war ganz weiß im Gesicht und zitterte am ganzen Körper.
"Das gibt es doch nicht, komm, wir gucken nach!", sagte Marie, die das immer noch gar nicht fassen konnte.
"Auf keinen Fall, da kriegen mich keine zehn Pferde hin!" , heulte Lotte. "Ich bin fix und fertig!"
Die Mädchen liefen nach Hause und erzählten alles Lottes Mutter, die gerade das Abendbrot machte.
"Mama, da war ein Geist in der Kirche, ich habe ihn eben selber gesehen! Er lebt in der kleinen Kammer in der Kirche, dort, wo das kleine Fenster ist", sprudelte es aus Lotte heraus.
"Hahaha, der Heilige Geist!", lachte Laura, Lottes große Schwester, die gerade die Treppe herunter kam und keine Gelegenheit ausließ, ihre fünf Jahre jüngere Schwester zu veräppeln.
"Es gibt bestimmt eine Erklärung dafür, vielleicht hast du den Friedhofsgärtner gesehen!", versuchte Lottes Mutter die Situation zu retten.
"Was sollte der Friedhofsgärtner in dem kleinen Zimmer im hinteren Teil der Kirche machen?", fragte Marie. "Der Friedhof ist doch ganz woanders!"
"Oder du hast eine Katze gesehen!", schaltete sich die Oma in das Gespräch, die in ihrem Ohrensessel saß und strickte und alles mitgehört hatte.
Lotte verzweifelte. Keiner schien ihr zu glauben.
"Es war keine Katze! Ich kann doch eine Katze von einem Menschen unterscheiden!"
"Vielleicht war es ein Katzenmensch?", überlegte Laura. "Der kommt heute Nacht und frisst dich!"
Mit diesen Worten packte sie die kleine Schwester am Arm und schüttelte sie, wobei sie auch noch Fauchgeräusche machte. Lotte befreite sich wütend von ihrem Griff und schimpfte: "Lass mich los!"
Völlig niedergeschlagen ging sie mit Marie zurück in ihr Kinderzimmer. Marie tat es sehr weh, die Freundin so traurig zu sehen. Da hate sie plötzlich eine Idee."Lotte, es gibt nur eine Lösung. Wir müssen morgen nach dem Gottesdienst Pastor Warges fragen, ob er uns das Zimmer zeigt!"
Lotte zuckte zusammen.
"Aber wieso denn?", fragte sie aufgebracht.
"Du musst dich deinen Ängsten stellen, sonst wirst du dein ganzes Leben lang Angst vor diesem Zimmer und diesem Gesicht haben!", sagte Marie und sah Lotte eindringlich an. "Du wirst sehen, dass da nichts ist und kannst darüber lachen!"
Lotte brauchte einige Minuten um sich zu beruhigen und um über den Vorschlag nachzudenken.
Vielleicht machte es Sinn, sich seinen Ängsten zu stellen.
Das hatte sie schon einmal so gemacht, damals, als sie neun Jahre alt gewesen war und so viel Angst vor Kessy, Frau Dittmeyers Hund, gehabt hatte. Kessy hatte sie immer angesprungen und wütend gebellt, wenn sie zum Akkordeonunterricht gegangen war.
Eines Tages hatte sie Kessy ein Stück Wurst mitgebracht und sie gestreichelt. Dann war alles gut gewesen. Sie waren zwar nicht die besten Freunde geworden und Kessy war ganz bestimmt nicht ihr Lieblingshund, doch Lotte hatte ihren Unterricht fortsetzen können und war ganz stolz gewesen, dass sie einen Weg gefunden hatte.
"OK, wenn es nicht anders geht ...!", gab Lotte schließlich nach.
Lotte konnte den ganzen Abend an nichts anderes denken. Selbst "Mord mit Aussicht" im Fernsehen nach dem Abendbrot konnte sie nicht aufheitern. Immer wieder kam ihr das Gesicht in den Sinn, welches sie angeguckt hatte.
Gegen zehn Uhr sagte sie allen in der Familie "Gute Nacht" und verzog sich in ihr Zimmer.
Der Mond schien hell hinein und aus dem Hundezwinger hörte sie ein Schnaufen. Dann blickte sie wieder in den Himmel, eine winzige Wolke hatte sich unmerklich vor den Mond geschoben und verdeckte ihn fast. Da sah sie zwei helle Punkte im Garten, die sich langsam auf sie zubewegten. Eine kratzige Stimme rief:"Ich bin der Katzenmensch! Ich bin gekommen, um dich zu holen! Buuuuuuuuh!"
Lotte stockte der Atem, sie schrie aus Leibeskräften. Dann hörte sie lautes Lachen und jemand rief: "Lotte, du bist wirklich der größte Angsthase unter der Sonne!"
Laura knipste ihre Taschenlampen aus und zog den Haarreif mit den Katzenohren vom Kopf. Dann lachte sie Lotte aus und zeigte mit dem Finger auf sie.
"Reingefallen!"
Lotte fühlte sich sehr blamiert und schwor Rache. Aber die musste warten, denn morgen musste sie sich davon überzeugen, dass auch wirklich niemand in dem kleinen Zimmer hauste und sie sich alles nur eingebildet hatte.
Am nächsten Morgen wusste Lotte zunächst gar nicht, wo sie war. Sie hatte unheimliche Träume gehabt von verrückten Fratzen, die sie anstarrten.
Beruhigt stellte sie fest, dass sie in ihrem Kinderzimmer in ihrem Bett lag und dass es ein ganz normaler Sonntagmorgen war.
Doch nein, da war doch noch etwas?
Richtig, sie musste in die Kirche, weil sie es gestern Pastor Warges versprochen hatte. Schnell sprang sie aus dem Bett und machte sich fertig. Zehn Minuten später klingelte auch schon Marie an der Tür, die sie abholen wollte.
Frau Lohmeier, Lottes Mutter, winkte den beiden hinterher.
Lotte knurrte während des Gottesdienstes sehr der Magen, weil sie es nicht mehr geschafft hatte, zu frühstücken. Zu allem Übel waren sie fast die Einzigen in der Kirche und Pastor Warges hatte sie aufgefordert, in die erste Reihe zu kommen.
"Fräulein Lohmeier und Fräulein Maibohm, kommt bitte nach vorne, dahinten kann ich euch gar nicht richtig sehen!"
Marie drehte sich um.
"Ach du Schreck, da hinten sitzen nur noch der alte Oppermann und drei Frauen!", flüsterte sie aufgeregt.
Lotte fühlte sich auch sehr unbehaglich und war erleichtert, als die Konfirmanden laut schwatzend die Kirche betraten.
"Liebe Gemeinde, heute müssen wir leider ohne die Orgel auskommen, Frau Dittmeyer ist krank geworden!", begann der Pastor seine Predigt.
Auch das noch! Die Orgelmusik war immer noch das Schönste bei der ganzen Angelegenheit ...!
Was dann folgte, zog sich hin wie ein endloser Kaugummi. Die Mädchen hörten gar nicht mehr zu und wurden nur ab und zu durch Lottes Magenknurren aufgeweckt. Einmal störte sie damit sogar die Predigt. Pastor Warges hielt inne und sah sich um.
"Hat jemand einen Hund mitgebracht?", fragte er in die verschlafene Runde. Die Konfimanden lachten und Bernhard rief: "Darf man das?"
"Natürlich nicht!", antwortete der Pastor und predigte weiter.
"In unserem Dorf müssen wir zusammenhalten und uns gegenseitig helfen ...!"
Plötzlich hörte man die Titelmusik vom Bergdoktor, Maries Lieblingssendung.
"Have a little patience" klang laut durch die Kirche. Marie schrak zusammen und wühlte in ihrer Jackentasche verzweifelt nach dem Handy. Sie sah, dass ihre Schwester Leonie die Anruferin war und wollte den Anruf schnell wegdrücken, doch es war zu spät. Wütend stand der Pastor neben ihr.
"Das Ding nehm ich dir jetzt ab!", schnaubte er. "Ihr wisst genau, dass ihr eure Handys auf lautlos stellen sollt!", fuhr er fort und blickte auch die Konfirmanden nicht gerade freundlich an. Zu oft wurde er in seinen Predigten durch die neue Technik gestört und das machte ihn fertig. Maries Handy verschwand irgendwo in dem schwarzen Umhang und der Pastor ging zurück zur Kanzel. Wehmütig starrte Marie ihm hinterher und irgendetwas in ihr sagte ihr, dass das kein gutes Zeichen war. Sie hatte das gleiche mulmige Gefühl wie vor einigen Wochen, als die schwarze Wolkenwand aufgezogen war, als sie mit Lotte ein Picknick vorm Waldrand gemacht hatte. Das Unwetter hatte sie damals voll erwischt und sie waren völlig durchnässt und mit klappernden Zähnen zu Hause angekommen.
"Megapeinlich! Wie konnte dir das passieren?", flüsterte Lotte und war froh, ihr eigenes Handy zu Hause vergessen zu haben. Marie glaubte im Boden versinken zu müssen und antwortete Lotte noch nicht einmal
Endlich waren zwei Stunden vergangen und es klang wie eine Erlösung, als der Pastor sein übliches "Bis nächste Woche, liebe Gemeinde! Ich muss jetzt noch nach Engelade und die Kollekte ist für die Freiwillige Feuerwehr bestimmt" sagte.
"Na toll, das schöne Wetter ist weg!", bemerkte Marie mürrisch. Tatsächlich waren Wolken aufgezogen und ein heftiger Wind wehte, so dass die Zweige der umstehenden Bäume wie knochige Hände an die Kirchenfenster kratzten.
"Fragst du den Pastor, ob er uns das Zimmer zeigt? Du musst ja sowieso fragen, ob du das Handy wiederbekommst", schlug Lotte vor und sah Marie eindringlich an.
"Na gut, das kann ich machen!", gab diese zur Antwort. Marie war schon immer die Mutigere der beiden Freundinnen gewesen.
Der Pastor stand jedes Mal vor der Kirche und schüttelte jedem die Hand beim Herausgehen. Und das nicht nur Heiligabend.
Marie nahm ihren ganzen Mut zusammen, denn sie hatte immer etwas Angst vor dem Mann mit dem schwarzen Umhang.
"Können Sie uns noch das kleine Zimmer zeigen, das mit dem Fenster im hinteren Teil der Kirche? Und dann würde ich gerne mein Handy wiederhaben ..."
Pastor Warges sah die Mädchen verwundert an.
"Warum wollt ihr das sehen?", fragte er nach. "Das ist nur ein kleiner Abstellraum, in dem ein paar Bibeln liegen, ich habe heute wenig Zeit und muss gleich nach Engelade! Das Handy müssen deine Eltern bei mir im Pfarrhaus abholen!"
"Das mit dem Zimmer ist wichtig, ich habe ein Gesicht hinter dem Fenster gesehen!", schaltete sich Lotte ein. Ihr Herz begann schon wieder zu rasen und sie bekam vor aufregung einen heftigen Schluckauf.
Pastor Warges lachte laut. "Das war wohl dein eigenes Gesicht, das sich in der Scheibe gespiegelt hat, hahaha! Ich schließe euch schnell auf, dann könnt ihr euch überzeugen, dass da nichts ist. Zieht die Tür aber hinter euch zu, ich muss schnell weg!"
Die Mädchen folgten dem Pastor mit gemischten Gefühlen. Auch Marie war nicht mehr ganz so mutig wie am Vortag, außerdem war sie wütend, weil die Handyrückgabe nicht geklappt hatte.
Doch jetzt konnten sie nicht mehr zurück.
Und dann nahmen die Dinge ihren Lauf ...
Die Mädchen folgten dem Pastor mit seinem wehenden Umhang bis hinter den Altar. Draußen war inzwischen ein Unwetter aufgezogen und es donnerte sogar. Hagelkörner prasselten an die Scheibe der Kirche und ein Windzug blies die letzte Kerze aus.
"Da habt ihr euch aber einen ganz unheimlichen Zeitpunkt ausgesucht! Passt bloß auf, dass euch der Schleppetebe nicht holt!", rief der Pastor lachend aus. Lotte schluckte. Ihre Beine fühlten sich an wie Pudding.
"Sie dürfen den Namen nicht erwähnen!", sagte sie, ihre Stimme klang wie ein heiseres Flüstern.
"Natürlich darf ich den Namen erwähnen. Du glaubst doch hoffentlich nicht an diesen Unfug?", fragte Pastor Warges ein wenig gereizt. Er war spät dran und die Gemeinde in Engelade wartete sicher schon auf ihn.
Lotte versuchte zu lächeln. "Nein, natürlich nicht!" Dann stupste sie Marie in die Seite und flüsterte:"Wollen wir nicht ein anderes Mal wiederkommen? Noch können wir umdrehen!"
In diesem Moment hatte Pastor Warges bereits sein Schlüsselbund aus der Hose gezogen und fing an, einen der vielen Schlüssel auszuprobieren.
"Ich war hier länger nicht mehr drin, es kann etwas dauern!", sagte er entschuldigend.
Doch plötzlich öffnete sich die Tür wie von selber mit einem lauten Quietschen.
Eine kleine Maus huschte Marie über die Füße, doch sie merkte es nicht einmal.
"Huch, wie ist das denn passiert?", rief der Pastor verwundert aus und kratzte sich am Hinterkopf.
"Wie dem auch sei, ich muss mich sputen!", sagte er und eilte davon.
"Bitte bleiben Sie doch noch!", hätte Lotte am liebsten gerufen, doch das traute sie sich nicht. Jetzt waren die Beiden ganz allein. Allein mit dem Grauen, das in der Dunkelheit auf sie wartete.
Ein Blitz erhellte die kleine Kammer. Muffiger Geruch umhüllte die Mädchen und nahm ihnen fast den Atem.
"Also, Bibeln sind hier auf jeden Fall nicht!", stellte Marie sachlich fest. Sie hatte ungebwusst Lottes Hand genommen und drückte sie ganz fest.
"Aber auch nichts anderes. Jetzt kannst du wieder beruhigt schlafen!"
Lotte hielt den Atem an. Der Donner grollte, das Gewitter war jetzt genau über ihnen.
Wie konnte das sein?
Gewitter kamen doch immer nachts?
Wieder durchzuckte ein Blitz die Dunkelheit. Durch das kleine Fenster schien nur ein spärliches Licht, man konnte fast nichts erkennen.
"Wenn wir bloß eine Taschenlampe hätten!", seufzte Lotte.
Dann entdeckte sie es.
Ein kleines Heft mit einem Fineliner daneben.
"Da ist ein Heft!", rief sie aufgeregt. Ihre Stimme klang dabei allerdings so, als hätte sie "Da ist ein Totenkopf!"geschrien.
"Lotte, es ist nur ein Heft, du brauchst deshalb nicht so zu kreischen!", motzte Marie, die sich durch den lauten Schrei vor Schreck auf die Unterlippe gebissen hatte, sodass sie blutete.
Lotte nahm das Heft an sich, auch wenn sie bei der Dunkelheit nichts erkennen konnte.
"Da ist noch etwas!", rief Marie plötzlich. Sie hob das glänzende weiße Ding auf. "Das sieht so aus wie eine Verpackung! Und es klebt! Igitt, was ist das? Blut?"
Voller Ekel schmiss sie die weiße Schachtel wieder weg. Lotte bückte sich und roch daran.
"Es riecht nach Essen. Ich glaube, da war ein Hamburger drin oder ein Big Mac. Schau, da liegt auch noch ein Salatblatt!"
Marie nickte. "OK, jetzt lass uns aber verschwinden, das ist zwar alles merkwürdig, aber unheimlich ist es nicht!"
Lotte nickte und stimmte ihrer Freundin zu.
Erleichtert, den Ort verlassen zu können, liefen sie aus dem Zimmer heraus und befanden sich wieder im Innenraum der Kirche.
Sie rannten zu der Eingangstür und wollten hinaus in den Regen laufen. Doch die schwere Klinke ließ sich nicht herunterdrücken. Pastor Warges war nämlich ganz in Gedanken gewesen und hatte wie immer abgeschlossen.
"Ich fasse es echt nicht! Pastor Warges hat uns eingesperrt! Und er hat mein Handy!", schrie Marie entsetzt. Lotte fing augenblicklich an zu heulen.
"Ich will hier raus, ich muss auch gleich zum Mittagessen!"
In diesem Moment knurrte wieder ihr Magen und ihr fiel ein, dass sie seit Ewigkeiten nichts gegessen hatte.
"Du und dein Essen!", stellte Marie spöttisch fest. "Wir haben jetzt wirklich andere Sorgen. Und außerdem: Hinter dem Altar findest du bestimmt noch ein paar Oblaten!"
"Bist du verrückt, die kann ich doch nicht einfach so essen, dann bin ich sicher verflucht!", heulte Lotte verzweifelt, obwohl der Gedanke an eine große Schale Oblaten sehr verlockend war. Lotte fühlte sich einfach nur ratlos und war wie gelähmt. Wie waren sie nur in so eine verrückte Situation geraten?
Marie bollerte unterdessen gegen die gußeiserne Kirchentür.
"Hilfe, Hilfe, wir sind hier eingesperrt!"
Doch niemand kam.
Kein Wunder, bei dem Regen wagten sich nicht einmal die Dorfhunde auf die Straße und kuschelten sich lieber an die warme Heizung im Haus.
Kein Mensch hörte ihre verzweifelten Hilferufe.
"Wer klopft da so laut?", meldete sich plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihnen. Die Mädchen schrien laut auf und drehten sich um.
Da erkannten sie den alten zahnlosen Oppermann, der vermutlich während der Predigt eingeschlafen war und jetzt unsanft geweckt wurde. Da er hinter einem Pfeiler gesessen hatte und völlig in sich zusammengesunken war, hatten die Mädchen ihn übersehen.
"Herr Oppermann!", entfuhr es Lotte. "Was machen Sie denn noch hier?"
Eine Antwort erhielt sie nicht, der alte Mann war bereits schon wieder eingeschlafen und schnarchte laut.
"Was machen wir jetzt mit ihm?", fragte Marie.
"Keine Ahnung!", antwortete Lotte. "Am besten, wir lassen ihn einfach so sitzen. Er kann uns ja auch nicht helfen!"
"Bestimmt sucht mich meine Schwester schon, es kann nicht mehr lange dauern, bis wir gefunden werden!", versuchte sich Lotte schließlich zu beruhigen.
"Träum weiter! Sie wird dich nicht suchen, sie weiß ja auch gar nicht, dass du in der Kirche bist!", gab Marie zu bedenken.
"Ja, aber meine Mutter weiß es. Sie wird mich suchen!"
Frau Lohmeier wunderte sich wirklich, warum Lotte nicht um ein Uhr zum Essen erschienen war.
"Ach, die Lotte hat wieder andere Pläne!", dachte sie und war sich sicher, dass ihre Tochter irgendwo im Dorf spielte, wie sie das öfter machte. Auch bei Regenwetter hatten die Mädchen ihre Lieblingsplätze. So hockten sie bestimmt in dem alten Gartenhaus von Marie und malten. Mit diesen Gedanken versuchte sich Lottes Mutter zu beruhigen.
Auch in Maries Familie war das Fehlen von Marie nicht weiter aufgefallen. Da dort immer sehr viele Kinder am Tisch saßen, ging es immer sehr laut zu.
"Ich will noch mehr Würstchen!", schrie Robert und schmiss dabei seinen Apfelsaft um. Die große Pfütze auf dem Tisch wurde von allen ignoriert und einige Fruchtfliegen badeten darin. Der zottelige Hasso bellte und wollte auch seinen Anteil haben.
"Es sind genug Würstchen für alle da!", rief Onkel Kurt fröhlich, der ebenfalls ein Zimmer im Haus der Großfamilie bewohnte.
Tobi schmiss Robert spontan ein Würstchen zu.
"Hier, gönn dir!", rief er fröhlich. Robert war schlecht im Fangen und das Würstchen landete hinter ihm auf dem Küchenboden.
Das war ein Glück für Hasso. Innerhalb von Sekunden hatte er das Würstchen heruntergeschlungen. Leonie lachte laut auf und applaudierte.
"Leute, ich halte diesen Krach einfach nicht mehr aus!", beschwerte sich Maries ältester Bruder Felix. Er sprang auf und lief hinauf in sein Zimmer, ohne seinen Teller überhaupt angerührt zu haben. Felix war schon 18 und arbeitete in Braunschweig bei Siemens.
"Ach, der arme Junge! Er wird immer dünner!", jammerte die Oma verzweifelt und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand hungrig den Tisch verließ und Felix war bestimmt sehr hungrig. Schnell fischte sie sich ein Würstchen aus dem großen Topf und versteckte es blitzschnell in ihrer Schürzentasche, um es später ihrem Enkel noch zu geben.
Onkel Kurt lachte laut und sagte: "Hauptsache, der Felix wird nicht immer dümmer!"
"Der Felix ist komisch geworden!", stellte Leonie fest, der das Verhalten des großen Bruders ziemlich merkwürdig vorkam. Ständig zog er sich zurück und machte sein eigenes Ding. Fast so, als wollte er mit niemandem mehr etwas zu tun haben.
"Ich finde, er wird immer dümmer!", stellte Tobi fest und kaute genüsslich auf zwei Würstchen herum. Alle lachten. Keinem fiel auf, dass Marie nicht wie gewohnt auf ihrem Platz saß. Niemand vermisste sie.
Lotte und Marie hatten es inzwischen aufgegeben, um Hilfe zu rufen. Sie saßen in der zweiten Reihe und blätterten ziellos in einem Gesangsbuch herum. Es war sehr kalt und sehr still in der menschenleeren Dorfkirche. Nur ein dicker Brummer flog unaufhörlich gegen eine der übergroßen Fensterscheibe und versuchte ebenfalls, aus der Kirche herauszukommen. Leider auch vergeblich. Ab und zu hörte man das laute Schnarchen des alten Herrn Oppermanns, das sich anhörte wie eine kaputte Säge.
"Wollen wir eine Kerze anzünden?", fragte Marie in die Stille der Kirche. Jedes Wort hörte sich viel zu laut an.
"Ja, gerne!", antwortete Lotte im Flüsterton. Kerzen waren immer toll. Sie hatten so etwas Beruhigendes.
Doch die Mädchen fanden keine Streichhölzer und kein Feuerzeug. Enttäuscht sahen sie sich an. Endlose Minuten des Schweigens vergingen.
"Wir können oben auf der Orgel etwas spielen!", schlug Marie vor. Was für eine tolle Idee! Warum waren sie da nicht früher drauf gekommen?
Aufgeregt liefen die Mädchen die kleine hölzerne Treppe hinauf und Lotte setzte sich kerzengerade wie Frau Dittmeyer auf den Orgelhocker.
Ganz laut klang bald "Es ist ein Mann in den Brunnen gefallen" durch die Kirche. Der Boden vibrierte, die Töne füllten das gesamte Kirchenschiff aus. Selbst der dicke Brummer hatte aufgehört zu brummen und lag erschöpft irgendwo auf dem Kirchenboden herum.
"Mann, das hört sich total gruselig an, hör lieber wieder auf!", rief Marie und hielt sich die Ohren zu.
Lotte nickte, sie gingen langsam wieder hinunter und setzten sich auf die Bank. Es gab wirklich nicht viel, womit man sich in einer Kirche beschäftigen konnte ...
"Irgendwann muss hier jemand aufschließen!", sagte Marie schließlich. Die Mädchen lauschten dem Regen und dem abziehenden Gewitter. Lotte betete still vor sich hin.
"Das Gewitter hat aufgehört!", stellte Marie nach kurzer Zeit fest.
"Ja, dafür habe ich auch gebetet!", freute sich Lotte. Dann fügte sie hinzu: "Die Gesangsbücher sind so langweilig. Ich kenne kein einziges Lied!"
Da fiel ihr plötzlich das Heft wieder ein, das sie gefunden hatte und das ihr beim Bollern an die Tür heruntergefallen war. Sie erhob sich ruckartig und rannte den Gang entlang bis zur großen Kirchentür. Da lag das unscheinbare Heft achtlos auf dem Boden.
"Marie, schau dir das an: Geschichten vom Schleppetebe!"
Marie kam herbeigelaufen und beide starrten auf den Umschlag mit der kruckeligen Beschriftung.
"Oh Mann!", entfuhr es Marie und die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Der Schleppetebe war ein unheimlicher Geist, der sich in der Feldmark herumtrieb und die Leute erschreckte. Natürlich war alles nur eine Legende, doch Lotte und Marie hörten diese Geschichten immer sehr gerne, wenn sie auf Dorffesten erzählt wurden.
Aufgeregt schlugen sie die erste Seite auf.
Lotte las vor.
"Vor langer Zeit lebte in der Feldmark ein unheimlicher Geist. Es war der Schleppetebe. Man durfte seinen Namen nicht nennen oder über ihn lästern. Man roch ihn schon auf große Entfernung. Wenn jemand in seine Fänge geriet, konnte er nichts machen, er war verloren ...!"
Dann stoppte der Eintrag.
Hektisch blätterten die Mädchen weiter, doch die restlichen Seiten waren leer. Zwischen den letzten beiden Seiten klebte ein verlorener Zwiebelring.
"Ich hab solche Angst!", heulte Lotte wieder.
"Das ist doch nur ein Eintrag, weiter nichts!", stellte Marie fest. Sie nahm Lotte in den Arm und versuchte sie zu trösten. Doch ihr war auch ganz flau im Magen.
"Ich habe ihn gesehen, Marie. Ich habe sein Gesicht gesehen!"
"Das war nicht der Schleppetebe! Der lebt doch in einer Höhle am Katzenstein. Das war ganz bestimmt jemand anders!", versuchte Marie Lotte zu beruhigen.
"Nein, es war der Schleppetebe und kein anderer! Das ist das perfekte Zimmer für ihn. Dunkel, unheimlich und grottig. Wenn er irgendwo wohnt, dann hier!", sagte Lotte tonlos.
Marie sah Lotte eindringlich an und packte sie an den Schultern.
"Lotte, jetzt überleg doch mal. Der Schleppetebe würde sich doch nicht ein Zimmer ausgerechnet in einer Kirche aussuchen. Da wird er ja am Sonntagmorgen immer von der lauten Orgelmusik gestört und da will er doch bestimmt ausschlafen, nachdem er das ganze Wochenende Menschen erschreckt hat! Du hast einfach immer viel zu viel Angst in deinem Leben. Angst vor allen möglichen Dingen. Vor Gewitter. Vor Dunkelheit. Vor dem Pastor. Ich bin doch bei dir, ich halte zu dir, vergiss das nicht. Dir kann nichts passieren!"
Lotte nickte stumm. "Du hast ja Recht, aber ist es nicht ganz normal, dass man vor einem Geist Angst hat?", versuchte Lotte sich zu verteidigen.
In diesem Moment hörten die Mädchen, wie jemand sich an der Kirchentür zu schaffen machte. Sie hielten den Atem an.
Sollten sie laut rufen?
Instinktiv versteckten sie sich unter der Bank und warteten ab.
Mit einem lauten Quietschen ging die Tür auf und die Mädchen hörten, wie jemand die Treppe zur Orgel hinaufging und stark hustete. Wenige Minuten später erklang ein Akkord, der die Mädchen zusammenfahren ließ, weil er falsch gegriffen wurde. Dann folgte das Präludium in F von Johann Sebastian Bach.
"Das ist nur Frau Dittmeyer, die will bestimmt noch für den nächsten Gottesdienst üben, obwohl sie krank ist ... Komm, wir laufen schnell nach Hause!", flüsterte Marie. Die Freundinnen rannten nach draußen so schnell sie konnten.
Am Horizont hatte sich ein Regenbogen gebildet, Marie nahm das als gutes Zeichen.
Es war bereits drei Uhr nachmittags, als die Freundinnen bei Lotte zu Hause ankamen. Lotte stürzte sich gleich auf die Reste des Mittagessens, die sie noch in der Küche fand. Noch nie hatte Leberkäse so gut geschmeckt. Auch Marie musste sich erstmal stärken.
"Wo kommt ihr jetzt erst her?", wunderte sich Frau Lohmeier.
"Wir waren an der Nettequelle und haben die Zeit vergessen!", anwortete Lotte schnell.
"Wieder eure kleinen Schiffchen gebaut?", spottete Laura, die neugierig aus ihrem Zimmer gekommen war. Lotte ignorierte die Bemerkung.
"Wir gehen jetzt oben ein bisschen malen!", sagte sie zu ihrer Mutter und zog Marie mit sich die Treppe hoch.
"Wir erzählen keinem von unserem Abenteuer!", flüsterte Lotte, als sie in ihrem Kinderzimmer angekommen waren."Mir glaubt sowieso keiner, dass ich ein Gesicht gesehen habe!"
"Wir finden auch alleine heraus, wer sich in diesem Zimmer versteckt!", stimmte Marie ihr zu. Die beiden rieben sich die Hände.
"Jetzt sind wir dem Geheimnis schon etwas näher. Was haben wir alles?", fragte Lotte und kam sich unglaublich wichtig vor. "Hier schreib auf!" Mit diesen Worten reichte sie Marie einen Schmierblock.
Marie schrieb auf: Heft mit einer Geschichte vom Schleppetebe und eine Verpackung von einem Hamburger.
"Vielleicht war es der Pastor selber!", überlegte Lotte. Marie notierte gleich den Namen.
Pastor Warges.
"OK, wer könnte es noch gewesen sein?", fragte Lotte weiter.
"Der alte Oppermann!", warf Marie ein.
"Nein, der hat nicht mehr die Energie für so etwas!", sagte Lotte.
"Aber es könnte doch sein, dass er seinen Schlaf nur vorgetäuscht hat?", überlegte Marie. "Er hat gewartet, bis wir draußen sind und dann hat er sich an die Arbeit gemacht. Er ist so alt und tief im Dorf verwurzelt, er kennt alle Geschichen und will jetzt ein Buch schreiben, das macht Sinn!"
Lotte war nicht ganz überzeugt, schrieb den Namen aber trotzdem auf.
Alter Oppermann
"Frau Dittmeyer! Sie hat offensichtlich einen Schlüssel für die Kirche!", bemerkte Marie und notierte auch diesen Namen.
Frau Dittmeyer
"Oft ist die Kirche aber auch einfach offen! Das habe ich neulich gesehen, als wir die Kühe in den Stall getrieben haben. Da ist ein Fensterputzer einfach so reingegangen!", erzählte Lotte und nagte nachdenklich an ihrem Stift. Dann schrieb sie auf:
Fensterputzer
"Apropos Kühe! Wir müssen los!", rief Marie und sprang mit einem Satz in die Höhe.
Fast hätten sie Bauer Kroymann und die Kühe vergessen!
So schnell sie konnten liefen sie zurück ins Dorf.
Auf dem Weg zur Weide fiel es Lotte auf.
"Wir haben das Heft in meinem Zimmer einfach so auf dem Bett liegen gelassen. Meine Mutter schnüffelt immer rum, hoffentlich findet sie es nicht!"
"Ach du Schreck, das darf uns nicht noch einmal passieren!", rief Marie aufgeregt und ärgerte sich über diese schreckliche Nachlässigkeit.
Doch jetzt war es zu spät.
"Ihr kommt spät, aber Hauptsache, ihr kommt!", empfing sie Bauer Kroymann etwas mürrisch. Lotte und Marie kletterten gleich auf den Trecker und der Bauer trat das Gaspedal durch. Knatternd fuhren sie durch das Dorf. Das war das Beste an diesem Job: die Treckerfahrt zu der Weide.
"Haben Sie eigentlich mal was vom Schleppetebe gehört?", fragte Marie scheinbar ganz beiläufig.
Der Bauer zuckte zusammen.
"Sprich nicht seinen Namen aus, das bringt Unglück!", flüsterte er und die Angst stand in seinen Augen. Marie biss sich verlegen auf die Unterlippe. Das war dumm von ihr gewesen. Der Bauer sprach den ganzen Weg kein Wort mehr und blickte in die Ferne.
Endlich waren sie an der Weide angekommen.
Die Kühe kamen im Galopp auf sie zugelaufen und Lotte spürte eine leichte Welle von Angst in sich aufsteigen.
Doch was hatte Marie ihr in der Kirche gesagt? "Du hast vor allem Angst, aber ich bin doch bei dir!" Lotte schaute zu Marie hinüber und sie lächelten sich zu. Es war so schön, so eine gute Freundin zu haben. Ihr konnte wirklich nicht viel passieren, zu zweit waren sie stark.
"Nicht so wild, nicht so wild!", beruhigte der Bauer seine Kühe. Dann machten sie sich auf den Weg in den Stall. Wieder umschwirrten Fliegen die Mädchen und einige Kühe mussten wie immer angetrieben werden, weil sie so träge waren.
Lotte musste immer an das Gesicht denken, das sie gesehen hatte. Es ging ihr einfach nicht aus dem Sinn. Wieso hatte ausgerechnet sie das Gesicht gesehen?
Einige Minuten später waren sie wieder vor der Kirche angekommen. Lotte starrte unweigerlich zu dem kleinen Fenster. Und dann stockte ihr der Atem. Wieder sah sie einen Schatten und glaubte, zwei Augen würden sie anstarren.
"Marie, da ist es wieder! Das Gesicht!", rief sie. Die Mädchen konnten nicht anders. Die Kühe mussten die letzten Meter alleine gehen. Die Freundinnen liefen zum Haupteingang und rannten zu dem kleinen Zimmer. Sie mussten es einfach wissen, auch wenn die Angst noch so groß war.
Die Türen waren offen, in wenigen Minuten standen sie auf der Schwelle zu der Kammer.
"Was geht hier vor?", rief Marie aufgeregt. Ihre Stimme klang unnatürlich laut und hörte sich so an, als würde sie durch ein Rohr sprechen. Lotte hatte vor Aufregung wieder ihren Schluckauf. Plötzlich trat eine Gestalt aus der Dunkelheit, die sie entsetzt anstarrte und mindestens genauso viel Angst hatte wie sie.
Wie in Zeitlupe passierte das Folgende.
"Felix! Was machst du denn hier?", schrie Marie verwirrt.
Felix schaute die Mädchen verwundert an.
"Ich, ich ....ich schreibe hier. Einen Roman. Doch er ist verschwunden ...!", stammelte er verlegen.
"Und warum schreibst du ausregrechnet hier?", wunderte sich Marie. Lotte stand immer noch wie versteinert da.
"Weil es bei uns zu Hause so laut ist ... hier ist es unheimlich und still und hier kommen mir die besten Ideen!", erklärte Felix.
"Doch der Roman ist jetzt verschwunden!"
"Den haben wir!", erklärte Lotte, die endlich die Sprache wiedergefunden hatte.
"Viel hattest du ja noch nicht geschrieben!", stellte Marie fest.
Felix` Gesicht verfinsterte sich augenblicklich.
"Ich habe eine Schreibblockade. Die Ideen sind alle da, aber ich kann sie nicht in Worte fassen, es ist wie verhext!"
"Dann habe ich dein Gesicht gesehen!", rief Lotte erleichtet aus. "Du bist kein Geist!"
"Nee, ich bin kein Geist. Aber es stimmt, ich habe manchmal rausgeguckt, um eine Idee zu finden. Ich habe auch gesehen, wie du hingefallen bist!", erklärte Felix. "Tut mir leid, wenn ich dir Angst eingejagt habe...!"
Lotte und Marie fingen an zu lachen. Sie waren so erleichtert.
"OK, jetzt beruhigt euch mal wieder. Kann ich mein Heft wieder haben?", fragte Felix.
"Ja, ich bringe es dir vorbei. Es liegt bei mir zu Hause in meinem Zimmer. Aber eine Sache musst du uns noch erklären: Woher kommt die Hamburgerverpackung?", wollte Lotte wissen.
"Ich arbeite ja in Braunschweig und bevor ich nach Hause fahre, hole ich mir auf dem Bahnhof immer etwas von Mc Donald`s zum Mitnehmen!", gestand Felix,"Oft esse ich beim Schreiben! Zu Hause komme ich nicht dazu!"
Da hörten sie plötzlich eine Stimme und zuckten zusammen.
"Felix, dein Würstchen!"
"Oma!", riefen Marie und Felix gleichzeitig.
Die Oma humpelte auf Felix zu und zog das Würstchen, das inzwischen kalt geworden war, aus ihrer Schürze.
"Ich bin dir heimlich durch das halbe Dorf gefolgt. Wollte endlich rausfinden, was mit dir los ist! Junge, ich bin so stolz auf dich!", sagte sie und klopfte ihm auf die Schulter.
Alle sahen sich an und mussten lachten. Felix umarmte seine Oma und verspeiste sein Würstchen.
Da hörten sie eine tiefe Stimme.
"Ist die Kirche schon aus?"
"Herr Oppermann!", rief die Oma. "Die Kirche ist schon lange aus! Warten Sie, ich bringe Sie nach Hause!"
Maries Oma kümmerte sich spontan um den alten Mann und hakte sich bei ihm ein. Sie schritten aus der Kirche wie ein Hochzeitspaar.
Lotte war so glücklich wie schon lange nicht mehr. Sie hatte das Gefühl, die ganze Welt umarmen zu können. Marie hatte recht gehabt: Wenn die Mädchen nicht nachgeforscht hätten, hätte sie wohl noch in zehn Jahren an das unheimliche Gesicht gedacht.
"Ihr müsst mir noch etwas versprechen!", bat Felix. "Bitte sagt keinem, dass ich hier schreibe! Das ist mir peinlich."
Die Mädchen sahen sich an und nickten. Das Geheimnis war bei ihnen sicher.
"Und du versprichst uns, dass wir etwas von deinem Geld abbekommen, wenn du das Buch verkaufst!", sagte Marie. Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, dass das noch lange dauern würde ...
Felix nickte. "Ist gut, das kann ich machen. Ich werde euch sogar im Nachspann erwähnen!"
"Und du musst mir helfen, meine Schwester Laura zu erschrecken. Lass dir was Gutes einfallen, du schreibst schließlich Horrorbücher!", sagte Lotte und grinste. Felix fühlte sich sehr geschmeichelt und lächelte.
"Das geht klar, ich habe sogar schon eine Idee!"
Lotte lief überglücklich nach Hause und rannte gleich die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Von dort hörte sie ein lautes gleichmäßiges Brummen. Da sah sie ihre Mutter, die mit Lockenwicklern unter der Trockenhaube an ihrem Schreibtisch saß und eifrig in ein Heft schrieb.
"Was machst du da?", schrie Lotte gegen den Lärm der Trockenhaube an.
Lottes Mutter zuckte zusammen und verdeckte das Geschriebene schnell mit ihrer Hand. Dann lächelte sie verschmitzt.
"Och, nichts Besonderes .... ich glaube, ich habe eine spannende Idee für einen Roman gefunden ...!"
Dann versteinerte ihr Lächeln plötzlich und sie sah Lotte mit weit aufgerissenen Augen an.
"Kind, was ist mit deiner Nase passiert...?"
Lotte fasste ihre Nase an. Sie fühlte sich an wie geschwollen. Panik ergriff sie. Jetzt war sie für immer entstellt.
"Wir müssen schnell zu Doktor Voss, dich hat sicher etwas gestochen!", sagte Frau Lohmeier und stellte ihre Trockenhaube aus, obwohl die Haare noch nass waren. Sie versuchte Ruhe zu bewahren, doch die Nase ihrer Tochter schien im Sekundentakt zu wachsen.
Lotte heulte hemmungslos.
"Ich habe in das Fenster geguckt, es ist der Fluch! Doktor Voss kann mir auch nicht helfen!"
"Du bist verrückt! Das hat dir bestimmt die alte Frau Struck eingeredet, das ist ein ganz normaler Mückenstich!", beharrte Frau Lohmeier und zog Lotte mit sich fort ins Auto.
Wenige Minuten später saßen sie bei Doktor Voss im Wartezimmer und Lotte wurde von den anderen Patienten angestarrt und fühlte sich entsetzlich. Sie dachte an die arme Emma und ihr Schicksal.
Im Gegensatz zu Emma, die damals auf Hermanns Liebe setzen konnte, war sie sich nicht sicher, ob Max Meier aus der Klasse über ihr, in den sie heimlich verliebt war, ebenfalls in das Spukfenster schauen würde, um dann auch eine große Nase zu bekommen.
Im Gegenteil: Lotte war sich ziemlich sicher, dass Max sie auslachen und einen Spottvers auf sie dichten würde. Es war einfach alles zum Heulen!
Einige Patienten tuschelten und steckten die Köpfe zusammen. Ein kleines Kind fragte ganz direkt: "Warum hast du so eine dicke Nase?"
Lotte wäre am liebsten in einem tiefen Loch verschwunden, doch das passierte leider nicht.
Doktor Voss ließ Lotte eher hereinrufen, weil Frau Lohmeier klargemacht hatte, dass es sich um einen Notfall handeln würde.
Der Arzt besah sich die Nase und schüttelte den Kopf.
"Nach einen Mückenstich sieht es nicht aus. Bist du denn hingefallen oder gegen eine Wand gelaufen?", fragte er nach.
Lotte fing wieder an zu heulen.
"Nein, ich bin verflucht, weil ich in das Kirchenfenster geguckt habe. Genau wie die Emma!"
Doktor Voss und Frau Lohmeier lachten lauthals.
"Diesen Quatsch wirst du doch wohl nicht glauben, das ist völlig absurd!", sagte Doktor Voss. Er verschrieb eine Salbe und verabschiedete sich von Mutter und Tochter.
"Kommen Sie morgen wieder, die Salbe sollte das Ganze etwas abkühlen!"
Lotte saß im Auto und schwieg. Sie wusste, dass die Salbe nicht helfen würde, doch sie wusste, was sie heute Nacht zu tun hatte.
Kaum war sie zu Hause angekommen, schrieb sie eine Nachricht an Marie.
Marie, bitte komm sofort. Ich brauche heute Nacht deine Hilfe. Ich muss den Schleppetebe rufen. Unter der Brücke in der Feldmark.
Kaum hatte sie auf Senden gedrückt fiel ihr auf, dass der Pastor ja immer noch das Handy hatte. So etwas Doofes!
Es war inzwischen schon 19 Uhr geworden und Lotte durfte nicht mehr raus. Sie sollte in ihrem Zimmer bleiben und sich ausruhen.
Laura hatte sie im Flur getroffen und auf einen fiesen Spruch gewartet. Doch Laura war so geschockt von der Nase, dass die kleine Schwester ihr sehr leid tat und sie nur leise "Alles Gute" murmelte. Da wusste Lotte, dass es um sie sehr schlimm bestellt war.
Sie legte sich in ihr Bett und versuchte sich etwas zu erholen. Den Wecker stellte sie auf 23 Uhr 30, denn eine halbe Stunde Weg musste sie schon einrechnen. Tatsächlich fiel sie in einen leichten Schlaf und bekam kaum mit, dass ihre Mutter sie zudeckte und der Vater "Ach du Schreck!" sagte.
Als der Wecker dann klingelte, wusste sie zunächst nicht, wo sie war. Doch dann fiel ihr auf, dass sie noch Schuhe anhatte und ihre Jacke. Die Taschenlampe hatte sie sich auch schon zurecht gelegt.
Leise schlich sie sich aus dem Haus, am Hundezwinger vorbei und dann ging sie an den Bahnschienen entlang. Der Mond schien hell und eine Katze fauchte sie an.
Alles war so unheimlich, doch Lotte wollte auf keinen Fall ihr Leben lang mit der Nase herumlaufen. Sie musste ihre Angst einfach besiegen und riss sich zusammen.
Kurz vor Mitternacht hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie stellte sich unter die Brücke und wartete. Die Minuten zogen sich hin wie Kaugummi. Dann hörte sie, wie die Kirchturmuhr zwölf mal schlug.
Was für ein verrückter Tag war das gewesen!
Es kam ihr endlos lange her vor, dass sie mit Marie in der Kirche eingesperrt gewesen war, dabei war es vor einigen Stunden passiert.
Als der letzte Schlag verhallt war, flüsterte Lotte: "Schleppetebe, Schleppetebe, kriegst mich sowieso nicht!"
Sie hielt die Luft an und wartete ab.
"Vielleicht habe ich es zu leise gesagt!", ging es ihr durch den Kopf. Sie rief: "Schleppetebe, Schleppetebe, kriegst mich sowieso nicht!"
Da kam ein Schatten auf sie zu. Eine Figur, die einen langen Mantel trug und kein richtiges Gesicht hatte. Vielleicht konnte man das Gesicht aber auch nicht sehen, weil lange, dünne Haare davor waren. Lotte fühlte sich wie gelähmt. Sie wollte weglaufen, doch sie konnte es nicht. Ihre Beine waren wie mit dem Boden verwachsen. Ein grässliches Lachen ertönte und ein beißender Geruch nach Verwesung schlug ihr entgegen und eine Hand griff nach ihr.
"Halt!", hörte sie plötzlich eine Stimme.
Lotte fuhr herum und auch die unheimliche Figur blieb wie versteinert stehen.
"Halt und keinen Schritt weiter!"
Lotte erkannte Pastor Warges. Er hielt ein Kreuz in die Höhe und stellte sich zwischen Lotte und den Schleppetebe. Der Schleppetebe stieß einen unmenschlichen Schrei aus und lief davon.
Lotte brach zusammen und der Pastor fing sie auf.
"Pastor Warges!", schluchzte sie.
"Es wird alles gut, mein Mädchen, dir kann nichts passieren! Der Landstreicher ist weg, ich rufe gleich die Polizei an", sagte der Pastor und brachte sie mit seinem Auto nach Hause.
"Woher wussten Sie, dass ich in Not war?", fragte Lotte kurz vor ihrem Haus.
Der Pastor schmunzelte.
"Ich hab eine Message bekommen!", sagte er und hielt Maries Handy in die Höhe.
Lotte musste lachen.
Kurz bevor Lotte aussteigen musste, fragte sie:" Können Sie kurz das Licht im Auto anmachen?"
Der Pastor drückte auf den Schalter und Lotte reckte sich. Sie besah sich ihre Nase im Rückspiegel und atmete erleichtert durch.
"Alles in Ordnung?", fragte Pastor Warges.
Lotte lächelte.
"Ja, alles super. Vielen Dank für alles!"
Viel Schlaf bekam Lotte in dieser Nacht nicht mehr. Als sie am nächsten Morgen zur Schule ging und Marie an der Ecke traf, strahlte sie trotzdem vor lauter Glück.
"Was ist denn mit dir passiert?", fragte die Freundin verwundert.
"Das ist eine lange Geschichte, ich erzähl sie dir im Bus!", entgegnete Lotte und sie hatte das tolle Gefühl, dass sie alle Probleme des Tages locker meistern würde. Und sie wusste, dass sie unbedingt Frau Struck besuchen musste, auch wenn es erst Montag war.
Material: Du brauchst ein Blatt Papier (am besten kariert), einen spitzen Bleistift, ein Lineal und einen Radierer.
1. Zunächst zeichnest du ein Rechteck.
2. Dann verbindest du die Ecken, so dass sich die Linien überschneiden. So entsteht der Fluchtpunkt.
3. Du zeichnest in das große Rechteck ein kleineres Rechteck und radierst die Hilfslinien aus.
4. Jetzt zeichnest du einen Maueransatz um die Öffnung herum und schattierst einige Steine.
Was du in das Fenster hineinzeichnest, ist deiner Fantasie überlassen
Tipp: Das Schattieren funktioniert mit Zeichenkohle sehr gut. Sprühe das Bild hinterher mit Haarspray ein, dann verwischt es nicht mehr.
Viel Spaß!
Fange zunächst mit den Umrissen an.
Zeichne Ohren und Augen und Hörner dazu.
Zeichne dann die Umgebung und gestalte deine Kuh farbig.
1. Die alte Frau ...
2. Marie tritt im ersten Kapitel in etwas hinein.
3. Die Schwester von Lotte
4. Der Hund von Frau Dittmeyer
5. Das Musikstück spielt Frau Dittmeyer in der Kirche.
6. Die Großmutter der Großmutter von Frau Struck
7. Sie ist auf dem Buchcover zu sehen.
8. So heißt das fünfte Kapitel des Buches.
9. Herr Kroymann hat diesen Beruf.
10. Lotte spielt dieses Instrument.
Die Lösung ist: __ __ __ __ __ __ __ __ __ __ __ __
Wenn dir die Geschichte von Lotte und Marie gefallen hat, entdecke weitere Bücher von ihnen.
In diesem Band gehen die Abenteuer mit Lotte und Marie weiter. Die gemeinsame Silvesterparty endet mit einer Katastrophe: Lottes treuer Hund Barth flieht kurz vor Mitternacht panikartig ins Dorf, weil ein Silvesterknaller ihn erschreckt hat. Die Mädchen müssen eine große Suchaktion starten, ohne dass Lottes Vater davon erfährt. Aber überall lauern Gefahren: So trifft Hendrike den schrecklichen Christoph vor der Dorfkirche und erlebt ihr blaues Wunder.
Endlich taut der Schnee weg und die Kinder bauen mit vereinten Kräften ein Baumhaus in Lottes Garten. Doch am nächsten Tag ist es komplett zerstört. Wer ist der geheimnisvolle Baumhauszerstörer? Da kann nur Onkel Kurt helfen.
Pechvogel Lotte bleibt auch nichts erspart. Den 102. Geburtstag von Tristans Oma wird sie wohl nie vergessen.
Im Februar freuen sich alle Kinder aus dem Dorf auf den Kinderfasching. Doch Lotte und Marie sind die ersten, die den Zettel an der Gastwirtschaftstür lesen: Der Fasching soll ausfallen. Da kann nur noch Onkel Kurt helfen. Ob er es schafft, den Fasching zu retten?
Lottes erste Vier in Mathe sorgt für viel Wirbel – ebenso die Enkelin der alten Frau Struck, die urplötzlich aus Amerika auftaucht und das ruhige Leben in der Straße vollkommen durcheinanderbringt.
Marie verliebt sich in den neuen Mitschüler in ihrer Klasse und erlebt eine bittere Enttäuschung. Wie gut, dass Lotte ihr zur Seite steht und sie nicht alleine lässt.
Schließlich stehen die Osterferien vor der Tür und Lotte und Marie dürfen das erste Mal alleine zu Lottes Großeltern reisen. Dort angekommen, halten sie Oma und Opa ganz schön in Atem und werden schließlich sogar von der Polizei im Einkaufszentrum aufgegriffen.
Paulchen Kaiser leidet unter seinem Ruf, ein netter und hilfsbereiter Junge zu sein. Er will sich unbedingt verändern, aber seine Verwandlung bringt nichts Gutes ... oder doch?
Dörte Müller, geboren und aufgewachsen im Harz, denkt sich für ihr Leben gern Geschichten aus.
Hat die Sommer ihrer Kindheit an der Ostsee verbracht.
Spielte in ihrer Jugend mit einer Freundin auf Dorffesten Akkordeon.
Hört gerne Hits aus den Achtzigern und Bruce Springsteen.
Findet, dass Santiago de Compostela in Galizien ein magischer Ort ist.
Läuft jeden Tag sechs Kilometer am Rhein entlang.
Träumt davon, am Meer zu leben und Aquarelle zu malen.
Die Idee zu diesem Buch kam ihr bei einem Besuch in ihrem Heimatdorf im Sommer 2023, als sie gemeinsam mit ihrer Freundin einen Spaziergang durch das Dorf gemacht hatte. Das kleine Fenter gibt es wirklich und als Kind (und auch noch heute) hatte sie immer Angst davor.
Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Cover: pixabay/ bearbeitet von D. Müller
Tag der Veröffentlichung: 15.10.2023
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Kirsten